Der Fang des Tages - Gisela Stelly Augstein - E-Book

Der Fang des Tages E-Book

Gisela Stelly Augstein

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Beschreibung

"Der Fang des Tages" erzählt von einem Geschehnis, das auch die besten Familien ins Straucheln bringt: dem Erben. Elfriede Escher, Unternehmerwitwe, liegt auf dem Totenbett, da eilen die Kinder Alex, Dora, Benjamin herbei, alle drei lang aus dem Haus. Und Mila, die gerade erwachsene Nachzüglerin, die mit Gewissensbissen kämpft, weil sie in der Todesnacht neben der sterbenden Mutter eingeschlafen ist. Mit der Testamentseröffnung beginnt das Hauen und Stechen um das Erbe, die Villa, die Gelder auf den Schweizer Konten. Jeder ist sich selbst der Nächste, das gilt genauso für die angeheiraten Partner in diesem Familienroman, der, rasant erzählt, von einer mitunter bitterbösen Unterströmung getragen wird. Auf einer zweiten Ebene ihres raffinierten Romans entwirft Gisela Stelly Augstein das Szenario eines ganz anderen und dennoch ähnlichen Erb"falls" - des Todes eines Medientycoons. Ein dunkles Vergnügen …

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ebook Edition

Gisela Stelly Augstein

Der Fang des Tages

Roman

Mehr über unsere AutorInnen und Bücher:www.edition-w.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-949671-59-3

© Edition W GmbH, Frankfurt/ Main 2023

Umschlaggestaltung: Michaela Spohn Design unter Verwendung eines Motivs von André Rival

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel

DAS HAUS AM HUNDE­KEHLESEE

Prolog

6. Dezember 2005

1.

12. Oktober 2019

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

DIE SCHWARZE WITWE

9.

22. März 2020

10.

11.

12.

13.

14.

15.

EPILOG

28. Juli 2020

Stammbaum der Familie Escher

Autorin

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

TEIL EINS

DAS HAUS AM HUNDE­KEHLESEE

Prolog

6. Dezember 2005

Als Alex an Milas dreizehntem Geburtstag die Schokoladencremetorte anschneidet und das herausgelöste Kuchenstück auf den Teller seiner kleinen Schwester heben will, beginnt seine Hand zu zittern. Sie zittert auf die gleiche Art und Weise wie damals.

Damals war er mit dem Testamentsvollstrecker Dr. Grützke in das Haus seines Großvaters an den Hundekehlesee gefahren. Und während Grützke Alex’ Mutter Elfriede und den Arzt in ein Gespräch verwickelte, suchte er seinen todkranken Großvater auf. Zuvor hatte er das umfangreiche Testament des alten Poppe samt aller beglaubigter Abschriften geschreddert und verbrannt und es durch ein von ihm selber verfasstes ersetzt, das ihn zum Haupterben machte.

Als er aber am Sterbebett nach der Hand des vom Morphium betäubten alten Poppe greifen und sie zur Unterschrift unter das von ihm gefälschte Dokument führen wollte, durchfuhr ihn ein heftiges Beben und seine Hand zitterte plötzlich. Er musste innehalten. In diesem Moment kurz vor seiner Machtergreifung, indem er sich der Hand des Großvaters bemächtigte, durchfuhr ihn die Vision und der Schreck, das Unmögliche könnte möglich werden und der Sterbenskranke könnte ihm ob der schändlichen Tat seine Hand entreißen. Schlimmer, die Empörung über Alex’ Schandtat könnte den Großvater sich aufbäumen und emporfahren lassen, um das Schurkenstück zu zerreißen. Ja, schlimmer noch, angesichts der unerhörten Fälschung könnte sich der alte Poppe in einer Art Spontanheilung durch Schock vom Sterbebett erheben und ihn, Alex, vom Thron des selbsternannten Haupterben stoßen und durch Totalenterbung vernichten.

Und dieses Zittern von damals wiederholt sich jetzt an Milas dreizehntem Geburtstag. Und wieder hält er inne. Denn auch die Vision von damals wiederholt sich und auch der Schreck, nur ist es dieses Mal nicht allein der alte Poppe, der ihn des Erbbetrugs anklagt, die damals dreijährige Mila steht in der Tür zum Krankenzimmer und schaut ihn mit großen Augen an, und er sieht nur noch rot …

»Pass doch auf, Alex«, dringt die Stimme seiner Mutter Elfriede zu ihm, und sofort hört das Zittern auf, gewinnt er wie damals die Kontrolle über sich zurück und es gelingt ihm, das Tortenstück im letzten Moment auf Milas Teller zu hieven. Wo es allerdings, begleitet von Milas Protest und dem spitzen Aufschrei ihrer Freundinnen, zur Seite kippt.

»Das bringt Unglück«, erklärt Mila und nimmt ihrem großen Bruder den Tortenheber aus der Hand, »ich nehme mir lieber selber!«

Von seinem Kontrollverlust beunruhigt, verlässt Alexander Escher, er ist Jurist und als Wirtschaftsanwalt erfolgreich, wenig später die Geburtstagsfeier seiner jüngsten Schwester und kehrt in seine Kanzlei zurück.

1.

12. Oktober 2019

»Sie will, dass ich zu ihr ins Bett komme, was soll ich machen?«, flüstert Mila.

»Dann leg dich doch zu ihr«, sagt Larissa.

»Das kann ich nicht.«

»Wieso nicht?«

»Das weiß ich nicht … Sie ruft schon wieder, was soll ich machen?«

»Hast du Angst?«

»Kann sein.«

»Weshalb?«

»Sie ruft … ich muss zu ihr … bis später.«

Ihr iPhone in der Hand, läuft Mila aus der Küche und auf Zehenspitzen den Flur hinunter. Der Boden ist uneben, an manchen Stellen sind die Holzdielen seit letztem Jahr noch tiefer abgesackt, mit ihren nackten Füßen könnte sie sich einen Splitter einfangen.

»Emilia!«, hört sie die fremd klingende Stimme ihrer Mutter wieder den ungewohnten Namen rufen. Mila öffnet die Tür zu ihrem Schlafzimmer und verharrt auf der Schwelle. In der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit muss Elfriede von einer heftigen Unruhe erfasst, ja, überwältigt worden sein. Die Bettdecke ist verrutscht und ihr zarter Körper entblößt. Das Glas auf dem Nachttisch ist umgekippt und Wasser tropft auf den Teppich. Mit wenigen Schritten ist Mila bei ihr und hüllt sie hastig ein.

»Ich friere, leg dich zu mir«, bettelt Elfriede. Ihre Zähne schlagen leise aufeinander.

Mila zögert, kann sich dann aber überwinden und schlüpft zu ihr unter die Bettdecke. Doch statt Kälte strahlt Elfriede eine unnatürlich große Hitze aus. Mila will den Hausarzt anrufen, aber die Mutter klammert sich wie ein Äffchen an sie und hält sie fest. Mila gelingt es nicht, sich aus der Umklammerung zu lösen, und gibt schließlich auf.

Tatsächlich beruhigt sich Elfriede nun langsam, die fiebrige Hitze scheint zu weichen, ihre Umklammerung lockert sich, endlich schläft sie ein.

Mila hört den gleichmäßiger werdenden Atem ihrer Mutter und gleitet schließlich hinüber in einen unruhigen Schlaf. Als sie aufwacht, fällt bereits Licht durch die Vorhänge und in langen breiten Streifen über das Bett. Sie hört das Ticken des altmodischen Weckers auf dem Nachttisch, so still ist es. Sie richtet sich auf. Elfriede liegt mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund neben ihr. Auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck des Staunens.

»Wie bei einem Kind«, denkt Mila und weiß im selben Augenblick, ihre Mutter ist nicht mehr am Leben. Sie hält den Atem an. Wagt nicht, sich zu bewegen. Schlüpft endlich umsichtig wie eine Diebin aus dem Bett. Sie nimmt ihr Handy, das auf der Konsole liegt, und tappt zur Tür, lehnt sich draußen auf dem Flur dagegen und holt tief Luft. Sie will eine Nachricht an Larissa tippen, doch ihre Finger sind wie gelähmt.

Dora! Sie muss Dora anrufen.

Der Klingelton prallt jedes Mal, wie ein Tennisball gegen das Netz, gegen ihr Trommelfell und lässt sie zusammenzucken. Dabei kreiselt Doras strikte Anweisung vom Vortag durch ihren Kopf: Keinesfalls dürfe sie der Nörgelei von Elfriede nachgeben und zu ihr hinaus an den Hundekehlesee fahren, die Mutter veranstalte mal wieder ihre übliche Schau und Mila solle sich nicht immer wieder und immer weiter von ihr manipulieren lassen. Sie ist dann trotzdem gefahren.

»Oh«, haucht Dora als Antwort auf Milas Nachricht, dann folgt ein kurzer spitzer Schrei und ein schepperndes Geräusch, ihr Handy ist Dora aus der Hand gerutscht.

»Bist du noch da? Nichts anrühren«, kommandiert Dora. »Du rufst gleich Doktor Kramer an, Alex übernehme ich!«, befiehlt sie seltsam kühl.

»Armes Mäuschen«, sagt sie dann nach einer Pause.

Wenn Dora Mila »armes Mäuschen« nennt, ist der Höhepunkt mitfühlender Zärtlichkeit seitens der großen Schwester erreicht.

»Bin schnellstmöglich an der Hundekehle«, beendet Dora das Gespräch.

Wie in Trance geht Mila den Flur hinunter bis zur Halle, öffnet die Tür zu Elfriedes Büro, findet auf ihrem Schreibtisch ihr Telefonbuch mit der Nummer von Doktor Kramer.

»Elfriede Escher ist tot«, sagt sie zu seiner Sprechstundenhilfe. »Ja, er muss sofort kommen«, bestätigt sie und legt auf und geht in die Küche zu Olga.

»Mutter ist tot«, sagt sie, »Doktor Kramer kommt gleich.«

Sie kann Olga nicht ins erschrockene Gesicht sehen und geht an ihr vorbei in den Garten. Der Kies spickt ihre nackten Füße, die winzigen Steine springen auf und attackieren ihre Knöchel, doch sie spürt es nicht.

»Emilia!«, hört sie plötzlich die klagende Stimme von Elfriede hinter sich, dann ist die Stimme neben ihr. Sie lässt sich ins feuchte Gras fallen, drückt ihr Gesicht hinein und riecht das würzige Grün.

»Emilia!«, hört sie erneut die Mutter, doch dieses Mal scheint deren Stimme von tief unten aus der Erde zu kommen. Augenblicklich springt Mila auf und stolpert über die Wiese hin zum Baumhaus, Schutz- und Trutzburg ihrer Kindheit, setzt sich auf die untere Stufe der Holzleiter und umschlingt ihre schlotternden Knie.

Nach einer Ewigkeit ruft Olga in den Garten, Doktor Kramer sei eingetroffen. Kurz darauf hört sie die Stimme von Alex, springt auf und läuft ihm entgegen und fällt ihm um den Hals und heult los.

Als Dora mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern am frühen Nachmittag vor dem Haus vorfährt, hat Alex das meiste bereits geregelt. Und als Benjamin mit Familie aus den abgebrochenen Herbstferien auf Mallorca in Berlin-Tegel landet und von dort direkt am Hundekehlesee eintrifft, liegt Elfriede in ihrem Schlafzimmer bei geöffnetem Fenster bereits aufgebahrt im Sarg.

Aber niemand wagt sich zu ihr, alle drängen sich in der Küche zusammen, dem kleinsten Raum im ganzen Hause. Es wird Kaffee oder Tee getrunken und hastig an Keksen herumgeknabbert. Die Kinder durchstöbern wie gewohnt den Kühlschrank der Großmutter. Alle reden durcheinander, über Elfriede redet niemand. Schließlich nimmt Alex seinen jüngeren Bruder beiseite.

»Komm«, sagt er nur und macht eine Kopfbewegung in Richtung Elfriedes Schlafzimmer. Aber Benjamin schüttelt Alex’ Hand ab.

»Das ist wohl deine Idee«, murmelt er.

»Es ist ihr Wunsch«, beschwichtigt Alex und lächelt versöhnlich.

»Wohl mal wieder eine deiner allseits berüchtigten Interpretationen!«, bricht es aus Benjamin heraus, »zu Hause im offenen Sarg! So ein Quatsch.«

Plötzlich ist es ganz still in der Küche, die Stimmung, aufgeladen von nur mühsam unterdrückten Emotionen, droht zu kippen, schon ruft Doras Jüngste nach ihrer Oma und fängt an zu weinen.

»Wir gehen zusammen!« Mila hakt sich schnell bei Benjamin ein, widerstrebend lässt er sich von ihr mitziehen. Nach kurzem Zögern schließen sich die anderen an, und langsam bewegt sich die kleine Prozession von der Küche den Flur hinunter.

Einige Stunden später ist zumindest für die Jüngeren der Bann gebrochen, sie setzen sich mit ihren Zeichenblöcken und Buntstiften auf den Fußboden neben den Sarg, malen Flugzeuge mit Engelsflügeln und jede Menge Raumschiffe, mit denen ihre Oma in den Himmel fliegen soll. Die Älteren spielen im Garten lautstark Fußball. In der Küche bereitet Dora mit ihren Schwägerinnen das Abendessen vor. In Elfriedes Büro entwerfen Alex, Benjamin und Heiner, Doras Mann, den Text für die Traueranzeige mit anschließender Trauerfeier und stellen eine Liste von Adressen aus Elfriedes altem Telefonbuch zusammen.

Währenddessen liegt Mila auf ihrem Bett in ihrem früheren Zimmer und liest Larissas Nachrichten, liest sie noch einmal und immer wieder, sie kann sie bereits auswendig: »Wo bist du, was machst du, was ist los, melde dich, was ist mit Elfriede, ist was mit Elfriede, melde dich doch mal, melde dich endlich …«

Nein, sie kann Larissa nicht schreiben, was passiert ist. Und sie kann es Larissa auch nicht sagen, sie würde keinen Ton herausbekommen.

»Mila«, hört sie ihren Namen und schaut auf. Julia steht in der Tür.

»Du sollst in der Küche beim Salat helfen«, sagt Doras Älteste leise, »die Polin rührt keinen Finger!«

Tatsächlich weicht Olga, Elfriedes langjährige Haushaltshilfe, seit Stunden nicht von der Seite der Toten. Sie beugt sich von Zeit zu Zeit über sie, schaut ihr ins Gesicht, forscht darin, als suche sie etwas, als könnte ihr Elfriede noch etwas anvertrauen, als hätte sie ihr noch etwas Wichtiges mitzuteilen, wenn auch stumm, so doch lesbar, ablesbar von ihrem Gesicht. Schließlich presst sie ihre Lippen auf Elfriedes Stirn und beginnt, in polnischer Sprache Gebete zu murmeln, was von den anwesenden Kindern mit noch bunteren, noch wilderen Strichen auf ihren Zeichenblöcken kommentiert wird.

Als Mila die Tür einen Spalt breit öffnet und flüstert, dass das Essen auf dem Tisch steht, winkt Olga sie zu sich.

»Hatte große Angst zu sterben«, sagt sie leise mit ihrem immer noch unverkennbar polnischen Akzent und streicht sanft über Elfriedes Stirn. Sie ist glatt, die tiefen Falten zwischen den Augenbrauen sind verschwunden.

»Wegen Erbe. Konnte vor Sorgen wegen Erbe nicht mehr schlafen. Bist ihre Hoffnung. Mila wird aufpassen auf Erbe, hat sie gesagt.« Olga schaut auf: »Hast es ihr versprochen, ne?«

Mila nickt.

»Musst es ihr jetzt noch mal versprechen«, Olga sucht Milas Blick, »versprich es, ist noch hier, direkt über uns.« Ihre Augen wandern zur Zimmerdecke hinauf, Mila folgt ihnen unwillkürlich, die Kinder schauen sich verstohlen an.

»Seele schwebt über Körper, steigt am dritten Tag auf in himmlische Sphären«, flüstert Olga.

Daraufhin erklärt Jenny umgehend: »Ich habe Hunger!«, und wirft die Stifte hin und läuft aus dem Zimmer, gefolgt von Emil und Moritz.

»Ich bleibe«, sagt Olga, »halte Totenwache wegen Seele von Mutter, braucht Beistand. Bei uns in Polen weiß das jeder!«

Beim Abendessen bekommt Mila keinen Bissen hinunter, alle anderen stürzen sich mit Heißhunger auf die Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat und schnell hebt sich die gedrückte Stimmung. Nicht lange, und es wird über die Trauerfeier und die Gästeliste debattiert, Termine werden festgelegt und wieder verworfen, Trauergäste eingeladen und wieder ausgeladen. Und während es am Tisch im Wintergarten immer lebhafter zugeht, werden die Kinder zunehmend stiller, schleichen sich irgendwann davon und hinaus in den Garten, klettern trotz Verbot die Holzleiter zum Baumhaus hinauf, kauern sich zusammen und zücken ihre Handys. Im weißblauen Licht scheinen ihre Gesichter durch die Dunkelheit wie die von Kindern aus einem Stephen King-Horrorfilm. Während ihre Eltern im Wintergarten sich zu betrinken beginnen.

»Übrigens, morgen um elf ist Testamentseröffnung«, erhebt Alex seine Stimme. Das Gerede am Tisch verstummt.

»Schon morgen?!«, sagt Mila erschrocken.

»Bestimmt auch wieder auf Wunsch von Elfriede«, bemerkt Dora ironisch.

»Das wird keine große Sache, meint Bollinger«, sagt Alex.

»Rechtsanwalt Bollinger? Da kann man aber gespannt sein.« Dora lächelt süffisant.

»Kann man nicht, ist kaum noch was da zum Vererben«, behauptet Benjamin und löst damit Proteste aus.

»Damals«, sagt Mila so leise, dass es im vielstimmigen Gerede untergeht.

»Damals«, wiederholt sie etwas lauter, doch nur Heiner Lehmann hört es.

»Damals?«, fragt er mit fuchsiger Miene nach, »was war denn damals?«

»Damals bei der Testamentseröffnung von Großvater Poppe«, Mila stockt, »damals«, wiederholt sie und hört sich selber plötzlich sehr laut, so still ist es im Wintergarten geworden, »damals bei der Testamentseröffnung von Großvater Poppe ist Elfriede ohnmächtig geworden. Was war da los?«

»Hat sie mit dir darüber gesprochen?«, fragt Alex schließlich in die Stille.

»Nein. Ich habe es gerade wie in einem Film vor mir gesehen, ich muss dabei gewesen sein.«

»Ausgeschlossen, du warst ja höchstens drei Jahre alt,« Benjamin lacht belustigt.

»Ich erinnere nicht, dass du dabei gewesen bist«, sagt Dora und mustert Mila, im Blick jene Vermutung, die unter Milas Geschwistern gelegentlich die Runde macht: Die Kleine tickt nicht ganz richtig.

»Ich sehe es aber vor mir«, beharrt Mila, und ihr Blick ist auf die große Fensterfront des Wintergartens wie auf eine Kinoleinwand gerichtet, »ich sehe den Mann im schwarzen Anzug vor mir, er hält ein großes weißes Kuvert in Händen, das mit einem großen roten Siegel verschlossen ist, er bricht es, öffnet das Kuvert und zieht eine einzige Seite heraus, wendet sie hin und her und wedelt mit ihr herum und beginnt zu lesen, da steht Elfriede auf: Nein!, ruft sie und kippt um, Alex fängt sie auf«, Mila hält inne, so oder so ähnlich hat Elfriede es ihr erzählt, sie schaut in die Runde: »Was war da los?«

Wie auf ein Zeichen reden ihre Geschwister durcheinander, reden über den Rechtsanwalt Bollinger, auf den Elfriede hereingefallen ist, der bereits unnütz Kosten verursacht hat und weitere Kosten verursachen wird, was für eine Verschwendung, sagen sie, wo doch nun wirklich und wahrhaftig nichts mehr zum Verschwenden da ist, versichern sie einander. Niemand reagiert, als Mila den Wintergarten verlässt.

»Larissa hörst du mich?«, flüstert Mila kurz darauf in ihr iPhone.

»Endlich! Wo bist du? Geht’s nicht etwas lauter? Was ist los?«

»Meine Mutter ist gestorben.«

»Du sprichst so leise, was ist mit deiner Mutter?«

»Meine Mutter ist gestorben, ich weiß nicht, was ich machen soll«, schreit Mila und verstummt sogleich wieder.

»Bist du noch da?«

»Ich habe es geschafft«, flüstert Mila, »ich habe mich zu Elfriede ins Bett gelegt …«

»Okay, du hast es geschafft, ich liebe dich …«

Aber ich bin eingeschlafen, und deshalb ist sie gestorben, will Mila eigentlich sagen. Doch über ihre Lippen kommt kein Wort, nur so etwas wie ein Röcheln.

»Was ist los? Bist du noch da?«

»Nein«, flüstert Mila leise und beendet das Gespräch, wirft ihr Handy aufs Bett, zieht ihre dicke Kapuzenjacke an und dicke Socken, schlingt einen Schal um den Hals. Auf dem Flur begegnet ihr niemand. Aus dem Wintergarten hört sie gedämpft die Stimmen ihrer Geschwister. Sie überlegt zu lauschen, entscheidet sich dagegen. Kurz darauf betritt sie Elfriedes Schlafzimmer.

Olgas Augen leuchten auf: »Wusste, du wirst kommen zu Mutter.«

Das Fenster ist leicht geöffnet und die Heizung abgestellt, es ist herbstlich kühl. Wie Olga wickelt sich auch Mila in eine der Wolldecken und setzt sich neben sie.

Ich hätte nicht einschlafen dürfen, will sie zu Olga sagen, aber sie kann noch immer nicht darüber sprechen. Sie konnte es auch Alex nicht sagen und Dora nicht und nicht Benjamin.

Wäre ich nicht eingeschlafen, würde sie noch leben, hämmert es in ihrem Kopf, seit sie sich am Morgen wie eine Diebin aus Elfriedes Bett geschlichen hat.

»Ich werde nicht einschlafen«, sagt sie jetzt zu Olga, »leg dich ein paar Stunden hin.«

»Ich bleibe«, sagt Olga strikt und döst bald ein. Erwacht auch nicht, als es im Treppenhaus laut wird, Türen auf und zu gehen, Füße über den Flur tappen, Stufen knarren, dazwischen verhaltenes Reden und Rufen.

In dem alten Haus hier leiten die Heizungsrohre den Ton, hatte Olga behauptet und Mila beizeiten gewarnt, niemals in der Nähe eines Heizkörpers Geheimnisse auszuplaudern, sie könnten überall vom Dachboden bis in den Keller gehört werden. In den letzten Jahren aber war es still geworden im Haus am Hundekehlesee. Mitten im Berliner Grunewald strahlt es mit seinen schindelgedeckten Türmchen und Erkern, seinem Fachwerk und dem von grün und rot lackierten Holzpfeilern flankierten Wintergarten die Anmutung eines Schweizer Chalets der Jahrhundertwende aus, in dem es Verstecke, Lauschecken und Aussichtspunkte, verborgene Treppchen und Gänge gibt.

Am Ende eines dieser Gänge im ersten Stock liegt das Erkerzimmer, das ehemalige Kinderzimmer von Alex. Es wird seit Langem nur noch an Ostern und Weihnachten von ihm, Helene und ihren Kindern genutzt, trotzdem heißt es noch immer das Alexzimmer. Dort bezieht Helene gerade das Bett.

»Bei deiner kleinen Schwester piept es mal wieder, oder? Will sich als Dreijährige erinnern, so ein Quatsch, oder?«

Alex unterbricht sein Zähneputzen: »Erst ohne Vater, jetzt ohne Mutter, das packt Millie nicht so schnell«, ruft er aus dem winzigen Bad, »wir werden uns um sie kümmern müssen«, meint er und setzt das Zähneputzen fort.

»Wieso wir? Wen meinst du denn mit wir?«, fragt Helene misstrauisch, als Alex zu ihr unter die Bettdecke schlüpft.

»Wir Geschwister natürlich, sie wird die Summe für den Unterhalt des Hauses nicht aufbringen können, sie verdient in ihrem Job so gut wie nichts, zumindest nicht genug, und nichts deutet auf eine entscheidende Veränderung ihrer Kassenlage in absehbarer Zeit hin. Deshalb werden wir ihr ihren Anteil auszahlen müssen.«

»Gute Idee«, gurrt Helene beruhigt und schmiegt sich an Alex, »sehr gute Idee sogar«, flüstert sie in sein Ohr, ein Glucksen in der Kehle, ihre Hand gleitet über seinen Bauch.

»Pst, leise«, flüstert Alex, als sich Helenes Gurren und Glucksen steigert, »Dora schläft nebenan, wir wollen sie doch nicht wecken …«

Aber Dora schläft noch nicht, im Gegenteil, sie sitzt nebenan im sogenannten Dorazimmer komplett angekleidet und unschlüssig auf der Bettkante. Sie kann sich nicht entscheiden.

Es zeuge nicht gerade von geschwisterlicher Solidarität, Mila mit Olga allein zu lassen, meint sie mit gedämpfter Stimme. Heiner ist bereits am Wegdämmern.

Sie habe in ihrem ganzen Leben noch nie einen Toten im Sarg liegen sehen, grummelt sie vor sich hin, und wolle das auch jetzt nicht, und schon gar nicht nachts! Und dann noch die eigene Mutter …

»Totenwache!«, sie schüttelt sich kurz und heftig, »bestimmt eine Idee der Polin, die hat ja immer mehr Einfluss auf Elfriede gehabt …«

»Nun komm doch endlich ins Bett«, murrt Heiner und zieht die Bettdecke bis ans Kinn hoch.

»Sehr komisch, dass Mila sich an Grützke erinnert«, fährt Dora unbeirrt fort, »du weißt doch, Grützke!«, sie rüttelt an Heiners Schulter, »Rechtsanwalt Grützke, Testamentsvollstrecker von Poppi …«

»Kenne ich nicht«, kommt es unwillig von unter der Decke. Heiner weiß um die Monologe seiner Frau, wenn sie in Entscheidungsschwierigkeiten steckt, und offensichtlich kann sie sich nicht entscheiden, Mila beizustehen.

»Wetten, dass Grützke gemeinsame Sache mit Alex gemacht hat?«, monologisiert Dora weiter, »bestimmt haben sie gemeinsam das Testament von Poppi geändert … der Arme war unter Morphium …«

Heiner schiebt die Bettdecke ein Stück beiseite: »Unter Morphium?«, fragt er laut.

»Pst«, Dora legt den Finger auf den Mund, macht eine Kopfbewegung Richtung Alexzimmer: »So etwas konnte nur Alex hinbekommen, ein Testament, das uns zu gleichberechtigten Erben und die vormalige Alleinerbin Elfriede Escher zu einer Einfünftel-Erbin gemacht hat, notariell beglaubigt von Grützke! Deshalb ist sie ohnmächtig geworden!«

»Bisschen viel Fantasie, oder?«, flüstert Heiner.

Dora ignoriert seinen Einwurf.

»Elfriede war eine depressive Witwe mit Kleinkind«, redet sie weiter, »Alex sah voraus, dass sie einen Tröster suchen und als Alleinerbin auch finden würde. Mit dem hätten wir Geschwister dann eines Tages unser Erbe teilen müssen, verstehst du? Das hat Alex vorausschauend verhindert. Clever, oder?«

»Das hätte ihn seinen Beruf kosten können, er war doch schon Volljurist, oder?«

Dora nickt: »In Diensten bei Grützke und Partner. Grützke galt als Poppis Vertrauter, er hat Alex in alles eingewiesen.«

»Auch in die Schweiz?«

»Pst«, macht Dora und nickt.

»Da kann man ja auf die morgige Testamentseröffnung gespannt sein!«, meint Heiner.

»Nee, kann man nicht«, sagt Dora entschieden, »der Familienschmuck geht an mich, das ist traditionell geregelt, Elfriedes Anteil an der Hundekehle wird unter uns vier aufgeteilt, das ist auch geregelt, und sonst ist nicht mehr viel da.«

»Und die Schweiz?«, jetzt ist Heiner hellwach.

»Pst, nicht so laut«, mahnt Dora, flüstert dann: »Ist bereits vorvererbt!«

»Vorvererbt?« Heiner runzelt die Stirn, »wie das?«

»Kann ich nicht drüber reden, ist tabu.«

»Tabu! Immer dieses Tabu! Tabu!«, sagt Heiner genervt, dreht sich zur Seite und rollt sich unter der Bettdecke zusammen.

»Tabu, Tabu …«, hört Dora ihn grummeln. Unentschlossen bleibt sie auf der Bettkante sitzen.

»Du hast es nicht mitbekommen, wir kannten uns noch nicht«, sagt sie nach einer Weile, »wenige Wochen nach der Testamentseröffnung von Poppi ist Grützke mit seinem Fahrrad gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen. Er lag noch ein paar Tage im Koma. Damals habe ich gedacht, das ist die Strafe für das krumme Ding, das er mit Alex gedreht hat. Damals hatte ich Angst, dass auch Alex was passieren könnte …«

Dora springt plötzlich von der Bettkante hoch, Heiner richtet sich erschrocken auf: »Was ist los?«

»Mila«, flüstert Dora, »ich kann doch die Kleene nicht einfach so mit der Polin …«, murmelt sie und verlässt, ohne sich weiter um Heiner zu kümmern, das Dorazimmer, schleicht auf Zehenspitzen zum Treppenhaus, verharrt auf dem Absatz und lauscht, schaut hinunter in die Halle. Tagsüber fällt Licht durch ein Glasoktogon im Dach auf ein stets verstaubt wirkendes Zwei-Sessel-und-ein-Sofa-Ensemble aus braunem Leder, jetzt liegt es im schummrigen Dunkel, nur der schwache Schein der Wandlampe auf der Balustrade beleuchtet es. Sie hört die Stimme von Benjamin, er liest den Kindern vor, die sich auf dem Dachboden ein Schlaflager gebaut haben.

Dora zieht ihre Pumps aus, trotzdem knarren die Stufen unter ihren Schritten, in der Halle krächzt das Parkett und im Flur muss sie den Vertiefungen im Boden ausweichen.

»Du hast hier einen nicht mehr zu tolerierenden Renovierungsstau«, hat sie jahrelang Elfriede ermahnt, ohne dass etwas geschehen wäre. In ihrer Fantasie waren bereits mehrfach sowohl der Erker als auch die beiden Türmchen heruntergekracht, auch Teile des Geländers vom Treppenhaus hat sie in die Halle stürzen und die alten Bleirohre der Wasserleitungen platzen sehen.

»Vielleicht bricht uns morgen während der Testamentseröffnung die Bude über dem Kopf zusammen«, murmelt Dora vor sich hin, schiebt aber dann ihren aufschießenden Unmut beiseite und öffnet die Tür zu Elfriedes Schlafzimmer.

Mila ist allein, winkt der zögerlichen Dora.

»Sie sieht aus, als würde sie gleich die Augen öffnen«, sagt sie leise, »und wie jung sie plötzlich ist, sie wird von Stunde zu Stunde jünger!«

»Du siehst ja schon Gespenster«, flüstert Dora und vermeidet, die Tote anzusehen, »das war heute entschieden zu viel für dich, du gehst jetzt schlafen. Wo ist Olga?«

»Nein, ich bleibe, ich muss stark sein, hat sie zu Olga gesagt.«

»Wieso du? Wieso ausgerechnet du?«

»Wieso ist ihr Herz einfach stehen geblieben?«

»Dir hat wohl niemand von deiner späten Problemgeburt und Elfriedes jahrelangen Depressionen mit Tablettensucht …«

»Dorothea!«, Olga hat an der Tür gelauscht, »wie bist du nur so gemein und gibst Mila schuld! Mila war für Mutter ein großes Glück, das weißt du, das wissen alle hier im Haus …«

»Du weißt gar nichts, du warst noch zu Hause auf deinem Dorf, als das alles passiert ist«, unterbricht Dora.

»Am Sarg streitet man nicht«, flüstert Olga erschrocken und streicht Elfriede wie begütigend über die Stirn.

»Ich gehe.« Mila steht hastig auf und lässt Dora mit Olga zurück. Auf dem Flur begegnet ihr Benjamin.

»Du siehst scheußlich traurig aus! Komm, wir trinken was.« Er zieht Mila in die Küche, schenkt ihr einen Whisky ein.

»Es tut mir so leid, es tut mir alles so leid«, sagt er und nimmt Mila unbeholfen in den Arm, »trink, das wird dir guttun«.

Mila nimmt einen Schluck und gibt Benjamin das Glas zurück, er leert es in einem Zug, stöhnt wie erleichtert auf.

»Ich bewundere dich … ich habe einfach nicht den Mut … Totenwache!« Benjamin verdreht die Augen, schenkt sich einen zweiten Whisky ein.

»Ich war achtzehn, als mein Vater, ich meine, als mein und dein, ich meine natürlich, als unser Vater starb. Ich weiß nicht mehr, wie das war, vielleicht wollte ich es damals auch erst einmal gar nicht wahrhaben, aber Elfriede, das haut mich um, das ist ganz schlimm, sehr schlimm ist das!«

Er leert auch das zweite Glas in einem Zug, wieder gefolgt von einem erleichterten Stöhnen, er stellt das Glas ab und legt seine Hand auf Milas Schulter: »Ich werde dir immer helfen, das verspreche ich, darauf kannst du dich verlassen, du kannst dich auf mich verlassen, versprochen, ja? Versprochen! Ich muss wieder zu den Kids, also, Kopf hoch und nicht vergessen, Onkel Benny hilft!«

Er umarmt Mila, geht ein paar Schritte, kehrt wieder um: »Weißt du noch, wie du früher zu Alex und mir immer Onkel gesagt hast, Onkel Alex und Onkel Benny, und zu Dora Tante, Tante Dora! Niedlich, oder? Sehr niedlich … was wollte ich? Ach, die Kids, also vergiss nicht, kannst dich auf mich verlassen …« Er umarmt Mila noch einmal.

»Du zitterst ja«, sagt Mila.

»In Palma war es wärmer, bin ein bisschen müde, nee, alles okay«, er zögert, »vielleicht noch einen letzten?«

Er schüttelt den Kopf, schenkt aber doch noch einmal nach, schiebt dann das geleerte Glas weit von sich, drückt Milas Arm, bis es ihm endlich gelingt, aus der Küche rauszukommen. Vor Elfriedes Schlafzimmer hält er inne. Er überwindet sich schließlich und öffnet die Tür einen Spalt breit, blinzelt hindurch und erkennt im abgedunkelten Raum neben Olga Dora. Dora hat die Augen geschlossen und hält den Kopf gesenkt. Sie ist eingeschlafen, vermutet er. Ein kalter Luftzug weht ihm aus dem Zimmer entgegen, er schließt schnell wieder die Tür.

Aber Dora schläft nicht. Es zieht sie vor Gericht. Sie will anklagen. Sich selbst, Elfriede, Poppi, ihre Geschwister … sie weiß noch nicht, wen alles sie auf die Anklagebank ziehen wird. Sie fängt mit Elfriede an. Sie sei keine wirkliche Mutter für sie gewesen. Nicht, wie sie es für Benjamin war und viel später auch noch für Mila trotz ihrer Depression.

Sie sei auf die symbiotische Beziehung von Mila und Elfriede eifersüchtig und neidisch, behauptete Heiner. Das hat sie entschieden abgestritten. Das Paar Elfriede und Mila sei eine einzige Peinlichkeit, hat sie Heiner wissen lassen. Auf dieses Paar sei keiner in der Familie neidisch. Milas Geturtel um Elfriede gehe ihr einfach nur auf die Nerven. Wie allen anderen auch.

Nun, das ist jetzt vorbei, stellt Dora triumphierend fest, das hat jetzt ein Ende. Ein natürliches Ende.

Sie öffnet ihre Augen, Olga schläft. Dora lehnt sich mit einer gewissen Zufriedenheit zurück, dabei fällt ihr Blick auf ihre Mutter. Ganz ohne Scheu plötzlich. Auch verspürt sie keinerlei Ängstlichkeit mehr oder gar Schrecken, ja, sie ist ohne jedes Gefühl, bemerkt sie verwundert.

Wieso spüre ich keine Trauer?, fragt sie sich. Trauere ich nicht um meine Mutter? Wieso spüre ich nichts? Bin ich eine gefühllose Tochter? Eine schlechte Tochter?, eröffnet Dora nun ihre Anklage gegen sich selbst.

Als ihr Vater Konrad starb, war sie von ihrer Trauer so überwältigt, dass auch sie sterben wollte. Mit Konrad die Welt zu verlassen, schien ihr erträglicher, als von ihm verlassen, zurückgelassen zu werden. Selbst jetzt spürt sie noch das Entsetzliche. Die entsetzliche Kälte in einer Welt ohne Konrad. Von dem Augenblick an, als Alex ihr gesagt hatte, Konrad habe gegen das exponentiell wuchernde Schuppentier in seiner Bauchspeicheldrüse keine Chance, hatte sich unter ihr eine Falltür geöffnet und sie war haltlos in die Tiefe gestürzt. Keine Droge, die sie nicht genommen hätte. Und jede Nacht einen anderen Mann in einem anderen Bett. Sie ist in die Kellerlöcher von Ostberlin gekrochen und über die Straßen mit den tiefen Schlaglöchern getorkelt und im Stehen eingeschlafen, egal wo. Und zwischendurch hat sie gebetet, dass Konrad sie mitnimmt, dass er sie nicht zurücklässt, dass sie mit ihm stirbt …

Sie hat noch mehr Drogen genommen, noch wilder getanzt und sich in die Arme jedes x-Beliebigen geworfen. Manchmal wachte sie zwischen einem Haufen von Leuten auf …

Und dann im Krankenhaus. Weil Dora tobte und schrie, wurde sie ruhiggestellt. Ihr Kopf war bandagiert. Sie erfuhr, dass sie in einer Kneipe auf einem Tisch einen Bauchtanz probiert hatte und gestürzt war. Ja, wenn sie es auf einem Stuhl auf einem Tisch versucht hätte, dann hätte es bestimmt geklappt …

Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war Konrad gestorben. Sie aber lebte weiter, musste weiterleben, sie hatte den Kampf gegen sich selbst verloren.

Sie sei eine geborene Kämpferin, hatte Konrad immer stolz gesagt, wenn sie Preise nach Hause brachte. Erst Pokale als Siegerin im Einer, dann als Auszeichnungen für ihre ersten ziemlich durchgeknallten Kreationen an der Modeschule. Schon mit vierzehn hatte sie bessere Einfälle als Elfriede. Das wurde allerdings von allen ignoriert, vor allem von Poppi. Konrad aber lobte sie. Und wie. Damals gründete sich der geheime Bund zwischen ihr und ihrem Vater. Er wusste, dass sie mit ihrer Begabung Elfriede haushoch überlegen und die einzige durch Begabung legitimierte Erbin von eldamo war. Nach Poppis Willen aber sollte Alex sein Nachfolger werden …

Sie versuchte, Poppi von ihrer haushoch überlegenen Begabung zu überzeugen und schenkte ihm ihre besten, innovativsten Zeichnungen. Sie fand sie später in seinem Papierkorb. Ihre Scham darüber war so groß, dass sie das zerknüllte Papier heimlich heraus fischte und hastig im Garten verbrannte. Sollten doch Alex und Elfriede eldamo in die Pleite reiten, schwor sie sich dabei. Sie würde mit Konrads Hilfe und einem supermodernen Label, ihrem eigenen nämlich, supererfolgreich werden. In ihren Tagträumen, denen sie sich damals gern hingab, passierte genau das …

Nach Konrads Tod musste Dora für ihren Tagtraum alleine kämpfen, doch ihr fehlte die Motivation. Ihr fehlte Konrad. Ihr Kreativitätspegel sank Richtung null. Für ihren Abschluss an der Modeschule war er so weit gesunken, dass sie drei eldamo-Modelle von Elfriede kopierte. Kaufhausmode. Es war ihre Kapitulation. Und folgerichtig ihre Eintrittskarte bei eldamo, Kürzel für elegante Damenmode. Mit Poppis Segen bekam sie einen Job in der Schnittabteilung.

Ihr Selbstwertgefühl lag im Gully. Sie nahm ihr Training im Einer wieder auf. Aber ohne Konrads Lob lohnte sich die ganze Anstrengung nicht. Die Hundekehle mied sie. Dort dämmerte noch immer Elfriede als depressive Witwe mit Kleinkind vor sich hin, umsorgt von Großmutter Sophie, im Schutz vom immer bestgelaunt lärmenden Großvater Poppi, der, durch Mila zum Papa verjüngt, die Kleine von morgens bis abends vergötterte.

Da hörte sie von dem Job bei einer englischen Konkurrenz in London, bewarb sich und handelte einen Vertrag als Desi­gnerin für die Young Collection aus und lebte wieder auf. Rachegelüste beflügelten ihren Aufbruch nach London. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt.

Schon nach wenigen Tagen dachte sie nicht mehr daran, sich an Poppi zu rächen und eldamo Konkurrenz zu machen, die Chefdesignerin Betty stellte gleich zweifelsfrei fest, sie, Miss Betty Fisher, entwerfe die Kollektion, und sie, Miss Dora Escher, dürfe erst einmal diese Entwürfe in Schnitte übertragen. Dann sehe man weiter. Sie sagte okay und arbeitete erst einmal als Schnittmeisterin. Nicht gerade, was sie erträumt hatte. Sie arbeitete täglich zwölf Stunden und mehr. Und täglich aß sie weniger. Irgendwann begann sie, sogar die Reiskörner abzuzählen, damit sie so leicht und luftig, so ein Fliegengewicht blieb, wie sie es mittlerweile geworden war. Nichts erschien ihr erstrebenswerter, als hauchdünn zu sein.

Dass sie unter einer sich selbst verzehrenden Sehnsucht nach der verlorenen Liebe von Konrad litt, erfuhr sie durch ihren Therapeuten, Mister Gallagher. Betty hatte den ersten Termin mit ihm vereinbart, weil sie ihre begabte Schnittmeisterin nicht verlieren wollte. Sie lud sie nun auch zu sich nach Hause zum Essen ein, ihr Freund kochte. Beide fingen an, sie wie ihr Kind aufzupäppeln. Das gefiel Dora.

Sie habe keine Eltern gehabt, erzählte sie Mister Gallagher. Beide hätten gearbeitet und sie in die Krippe gegeben, weil Großmutter Sophie sich nur um Alex kümmern wollte. Auch Benny musste nicht in die Krippe, er sei Elfriedes Lichtgestalt gewesen, erzählte sie Mister Gallagher. Es seien auf dieser Lichtgestalt aber einige dunkle Flecke sichtbar geworden. Sie habe sie früh bemerkt und Benny dafür bestraft. Mister Gallagher wollte wissen, wie sie ihren jüngeren Bruder bestraft habe, sie wollte es ihm jedoch nicht verraten. Noch nicht.

Bevor sie das konnte, starb erst Sophie und kurz darauf auch Poppi. Sein Testament enthielt schwindelerregende Überraschungen. So hatte er einerseits das Erbe seiner Tochter Elfriede zugunsten seiner Enkel drastisch beschnitten, andererseits Elfriede aber zur Alleinerbin von eldamo bestimmt. Der Haken daran war allerdings, dass eldamo ziemlich am Boden lag.

Nach der Testamentseröffnung bekniete Alex Dora, ja, er beschwor sie, London aufzugeben und nach Berlin zurückzukommen, nur sie könne eldamoretten und damit Elfriedes Auskommen sichern. Sie war gerührt, ja, berührt …

Aber der richtige Knaller bei ihrer Rückkehr nach Berlin war dann Heiner. Produktionsassistent Heiner Lehmann. Sie merkte das erst, nachdem sie das erste Kilo zugenommen hatte, ohne panisch zu werden. Sie nahm weiter zu. Sie musste nur an ihn denken und schon wurde sie hungrig. Sie dachte ziemlich oft an ihn.

Bei ihrem ersten Rundgang durch die neuen Fabrikationsräume in der Kochstraße hatte er sie angesprochen. Konrad habe ihn kurz vor seinem Tod eingestellt, sagte er, und dass man in der Firma sehr froh über ihre Rückkehr sei, auch er sei sehr froh. Etwas in seinem Blick hatte Dora knallrot werden lassen. Die zwei Jahre in London hatte sie in strenger Askese verbracht. Bestrafung als Folge ihrer enthemmten Sexwut, während Konrad sich aus dem Leben verabschiedete, hatte Mister Gallagher analysiert.

Keiner außer Heiner Lehmann schien zu bemerken, wie sie jetzt Kilo um Kilo zunahm. Eines Tages setzte er sich in der Kantine zu Dora an den Tisch und sagte, er habe in seiner Schulzeit in Ostberlin nicht nur Russisch gelernt, er spreche und schreibe auch Chinesisch. Wieder war etwas in seinem Blick, das sie knallrot werden ließ, als hätte er sie auf verschlüsselte Weise zum Sex eingeladen.

»Chinesisch?«, stotterte sie und Bilder von exotisch-erotischen Szenen bestürmten sie.

»Ja, Chinesisch. Ich habe eine Idee, über die ich gern mit Ihnen reden möchte.«

Sie erwartete ihn aufgeregt, ja erregt. Als er mit dem Computer unterm Arm eintrat und erst einmal Excel-Tabellen öffnete, brauchte sie einige Zeit, bis sie sich und ihren Körper umgepolt hatte und ihm zuhören konnte, was er über Fabrikation und Preise in China erzählte. Danach lud sie ihn zum Essen in ein chinesisches Restaurant ein. Er bestellte tatsächlich auf Chinesisch und unterhielt sich später mit dem Wirt auf Chinesisch. Danach im Bett auch mit ihr. Mit Heiners Kenntnissen in Chinesisch startete eldamowie Phönix aus der Asche in ein neues Zeitalter …

»Und was hat uns das beschert?«, wendet sich Dora flüsternd an Elfriede, beugt sich vor und schaut ihr fragend ins Gesicht, als erwarte sie eine Antwort.