Der Fisch im Kirschbaum - Peter B. Zunke - E-Book

Der Fisch im Kirschbaum E-Book

Peter B. Zunke

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Beschreibung

Wie ein geschliffener Edelstein, der bei unterschiedlichem Lichteinfall je nach Tageszeit in seinen diversen Facetten verschieden strahlt, so glänzen in diesem Buch die Geschichten des Autors über weitflächige Farbnuancen in ganz unterschiedlichen Bereichen, von Habgier und Selbstfindung, von Liebe und Absonderlichkeiten, von Sehnsüchten und Erfüllungen ist hier zu lesen.

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Seitenzahl: 227

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Inhalt

Uferschwalben

Aus der feinen Gesellschaft

Abgestempelt

Kugelfaust

Ein Schritt zu viel

Hauteng

In der Bahnhofshalle

Unter Maulwürfen

Salamander

Der Fisch im Kirschbaum

Die Hähne der Nacht

Der Nachbar

Ein gelber Ball

Neugier

Treffen aber wo?

Inselkoller

Das letzte Rendezvous

Ausblick

Uferschwalben

Er lugte vorsichtig hinter dem Bauzaun hervor und konnte gerade noch erkennen, wie das Paar auf der Promenade stehenblieb, sich küsste und dann die hölzerne Treppe zum Strand hinunterstieg. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und folgte langsam. Zum Glück war es nicht mehr so heiß wie in der letzten Woche, aber auch jetzt Anfang September waren die Tage angenehm temperiert. Die Touristen lagen in den Strandkörben herum und einige planschten sogar im Wasser herum. Vor allem natürlich die Kinder. In ein, zwei Wochen wären auch diese deutlich weniger, dachte er. Denn dann sind die Ferien in allen Bundesländern vorüber und der ganz normale Alltag beginnt überall. Nur bei ihm sicher nicht.

Vor drei Wochen hatte er seine Ehefrau mit ihrem Liebhaber zum ersten Male Hand in Hand gesehen, zufällig; er war in diesem Vorort wegen einer Versicherungsangelegenheit – es ging um einen Wildschaden an einem Neuwagen – in diese kleine Straße eingebogen, da hatte er das Auto seiner Frau vor einer Gärtnerei gesehen, er war stehen geblieben, und während er noch überlegte, was sie wohl hier zu tun hätte, da war sie Arm in Arm mit einem hochgewachsenen Mann aus dem Laden gekommen. Sie hatte eine Rose, eine einzelne rote Rose in der Hand gehalten, hatte gelacht und an der Blume gerochen, war stehen geblieben und hatte den großen Mann zu sich herabgezogen und ihn innig und lange geküsst. Das Paar war dann in ihren Wagen gestiegen und fortgefahren. Er selbst hatte wie angewurzelt reglos am Steuer gesessen und erst nach einer ganzen Weile war er wieder bei sich.

Das hätte er nie von ihr gedacht. Sie hatte ein Verhältnis. Einen Liebhaber. Einen Geliebten. Seine Frau. Und wie fröhlich sie ausgesehen hatte. Zu Hause war sie in den letzten Wochen immer sehr zurückgezogen, er hatte gemeint, sie habe sich verkrochen wegen der bevorstehenden Familienfeiern.

Offensichtlich ging das schon länger. Die beiden schienen sehr vertraut miteinander zu sein. Er setzte sich in seinem Sitz aufrechter und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Sein Blick war getrübt, das waren aber keine Trauertränen, es war eher so etwas wie Wut. Und dann hatte er begonnen, seiner Frau systematisch nachzugehen, nachzufahren, nachzuspionieren.

Da waren diese heimlichen Telefonate, wenn er ins Zimmer kam, hatte sie das Handy schon weggelegt. Einmal war er sogar fast von ihr erwischt worden, als er auf ihrem Handy nach der Adresse ihres Liebhabers, ihres Geliebten suchte. Er hatte er in dem Adressbuch nur die Namen der Freundinnen abrollen können, dann war sie schon auf dem Flur zu hören gewesen und er hatte das Handy schnell wieder auf den Schreibtisch gelegt. Und nun war er ihr hinterher gefahren, hatte zum Glück auch einen Parkplatz an der Strandpromenade bekommen und war ihr bis hierher gefolgt. Mit der hellen Windjacke und der schwarzen Stretchhose konnte er sie gut erkennen. Vor dem großen Hotel hatte dieser Mann, Ihr Geliebter, auf seine Ehefrau gewartet, sie waren sich fest in die Arme gefallen und hatten sich lange geküsst, dann in enger Umarmung waren sie die Promenade entlang zum Hundestrand gegangen und nun die Treppe zum Wasser hinunter. Er stand oben und schaute vorsichtig, ja, da waren die beiden, sie bewegten sich in Richtung Steilufer. Sie würden also am Steilufer entlang an der Wasserkante schlendern. Also passt das ja hervorragend, er würde oben folgen und dann mit seinem Handy die Bilder machen können, die laut Aussage seines Anwaltes ausreichen würden bei einem Scheidungsprozess. Denn das konnte er sich doch nicht bieten lassen, sie betrog ihn nach all den Jahren, und das in aller Öffentlichkeit. Wenn sie wenigstens so viel Anstand gehabt hätte, ihre Liebschaften heimlich zu treffen und in aller Stille und in verschwiemelten Hotels oder so, das konnte man doch immer wieder in Fernsehfilmen erleben, aber nein, sie tat es in aller Öffentlichkeit, am helllichten Tag ging sie mit ihrem Galan unter all den Menschen spazieren, als ob daran nichts Verwerfliches wäre. Alle sollten es wohl sehen, und wenn jemand aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis sie erwischen sollte, dann war das eben so. So würde sie sich das wohl gedacht haben. Falls sie überhaupt etwas gedacht hatte. Er hatte bei seinem Hinterherschleichen fast den Eindruck gehabt, dass sie gar nichts dachte, sondern schlicht und einfach nur glücklich war und alle Welt darüber vergessen hatte. Auch ihn.

Direkt am Wasser ging das Paar durch den Sand, dann erhob sich allmählich das Steilufer. An der Wasserlinie lagen herabgefallene Felsbrocken, Geröllhaufen und angeschwemmte Äste. Auf dem ausgetretenen Pfad oben am Rande schritt der Mann wacker aus, blieb immer wieder stehen und lauschte, wenn von unten das Lachen der Frau zu hören war. Dann wagte er auch einen raschen Blick hinunter, das Handy schon gezückt, aber augenscheinlich gab es für ihn noch keine so offensichtlich belastende Situation unten an der Wasserkante, die er im Bilde festhalten wollte.

So ging es immer weiter westwärts. Das Ufer wurde steiler und höher, unten schlugen kleine Wellen an die abgerutschten Felsbrocken, oben zeigten sich in den vielen kleinen Löchern kurz unter der Kante die ein- und ausfliegenden Uferschwalben, hoch oben in der Bläue kreischten Möwen und folgten einem Fischkutter, der in den Hafen einfuhr. Der Mann oben lugte immer wieder hinab und beobachtete, wie der große Geliebte die Frau über Felsbrocken hob und sie sich dann jedes Mal eng an ihn schmiegte und glücklich lächelte, oft küssten sie sich, aber für ein Foto auf dem Handy war es meist zu spät. Der Ehemann oben an der Kante ging vorsichtig und schaute sich oft um, aber da waren keine anderen Menschen zu sehen, er war allein dort oben. An diesem Tag schienen nur wenig Leute den Weg am Steilufer nehmen zu wollen.

Dann kam die Wegstrecke, an der die Stadtverwaltung mit einem rotweißen Absperrband den Rand des Steilufers abgesperrt hatte, weil in der Woche zuvor ein gutes Stück Erde abgebrochen war und nun unten in der See lag. Man hatte auch davon in der Bürgerschaft gesprochen, der Ehemann war durch die Zeitung informiert worden, dass man von Seiten des Bürgermeisters überlegte, den ganzen Spazierweg neu festzulegen und zwar sehr viel weiter landeinwärts, denn es war damit zu rechnen, dass bei den Herbststürmen weitere Abbrüche erfolgen könnten; und man musste schließlich als verantwortliche Behörde an die Gefährdung der Bevölkerung denken und Sorge tragen, dass keiner zu Schaden kam.

Das flatternde Absperrband hob er an und tief gebückt schlich er an den Rand. Ja, dort unten waren sie. Gerade hob der Geliebte mit seinen sichtlich kräftigen Armen die Frau über einen angeschwemmten Baumstamm, sie hielt ihn fest und küsste ihn. Der Mann oben auf dem Pfad hob sein Handy und machte zwei, drei Bilder davon. Dann gingen unten an der Wasserkante die beiden weiter, Hand in Hand, lachten laut auf und die Frau deutete auf den Horizont. Die Seeschwalben zeigten sich unbeeindruckt von den beiden Wanderern, ebenso die Wellen.

Der Mann oben am Steilufer schritt langsam voran, er wollte mit den beiden unten wandernden stets auf gleicher Höhe sein. Dann lag ein ziemlich großer Baum quer über den Strandweg zwischen den Felsbrocken; der große Mann kletterte behände über das Hindernis und wandte sich dann zu der Frau, nahm ihre beiden Hände und zog sie behutsam aber kraftvoll auf die andere Seite. Dort lachten beide, schmiegten sich aneinander, die Hände des Liebhabers glitten unter die Jacke der Frau, diese lehnte sich an den sperrigen Baumstamm und überließ sich nur zu gern den forschenden tastenden Händen ihres Geliebten. Der Mann oben richtete sich etwas auf und drückte fleißig auf den Auslöser seines Handys, dann rutschte er weg. Sein halblauter Aufschrei verwehte im Wind, er fiel hinab an den Fuß des Steilufers. Sein Kopf zerplatzte auf einem Granitfels, das Handy in weitem Bogen stieß zunächst gegen einen kleinen Stein, prallte ab und versank dann zwischen einem Hühnergott und einem Miesmuschelhaufen in der See. Möwen und Seeschwalben hatten das Ereignis nicht weiter beachtet, es betraf sie nicht. Das Paar am Fuße des Steilufers hatte nichts mitbekommen und ging engumschlungen weiter bis zum nächsten Ort. Dort setzten sie sich an der großen Landungsbrücke in das Fischlokal und aßen Schollenfilet mit Kartoffelsalat. Für die Rückfahrt nahmen sie den Postbus.

Aus der feinen Gesellschaft

Jutta Pahlke schaute aus dem hohen Fenster, das zur Straße ging. Sie reckte den Kopf auf ihrem dürren Hals vor und steckte die etwas spitze Nase ganz weit hinaus, denn sie wollte unbedingt Frau Scheuer erblicken. Das war ihre Nachbarin, die sie auch nicht leiden konnte; aber sie wusste von Frau Delonge, die sie gestern über den Gartenzaun gesprochen hatte, als sie vorsichtig ihre Rosen beschnitten hatte, dass heute morgen Frau Scheuer zur Drogerie gehen wollte. Und weil Jutta nicht nur von Natur aus neugierig war, sondern Frau Scheuer auch nicht leiden konnte, hoffte sie, dass sie aus den Einkäufen ersehen konnte, ob endlich das eingetroffen war, was sie sich schon so lange gedacht oder besser erhofft hatte, dass nämlich Frau Scheuer unter einer Blasenschwäche zu leiden hatte. Denn sie würde sicher bei dem Sonderangebot einen Haufen Erwachsenenwindeln eingekauft haben. Und so spähte Jutta eifrig aus dem Straßenfenster ihres Wohnzimmers, ja, sie zappelte sogar mit den Füßen, die auch heute wieder in den warmen Hausschuhen steckten. Denn Jutta fror sehr leicht, und sie trug auch im Sommer diese fellgefütterten Hausschuhe. Sie konnte kalte Füße nicht leiden, das war schon in ihrer Ausbildung so gewesen, damals hatte sie im Labor gelernt und musste oft in den weiß gefliesten Räumen bei ziemlich kühlen Temperaturen die Versuche durchführen, die der Laborleiter ihr aufgetragen hatte. Seit der Zeit war sie gegen Kälte allergisch, wie sie ihrer Damenrunde, mit der sie seit über dreißig Jahren Bridge spielte, nicht müde wurde mitzuteilen. So hatte sie mehrere Bettjäckchen und einige Schals, die sie auch gern zu den Mahlzeiten trug.

Seit sie vor mehr als zwanzig Jahren das Haus von ihrer Mutter geerbt hatte, lief die Heizung auch im Sommer, und nur selten, so wie heute, öffnete sie eines der Fenster. Viel lieber schaltete sie den Ventilator an und ließ die warme Luft durcheinanderwirbeln und hatte dann die Vorstellung, es sei ein kleiner Luftzug, der sie erfrischen könnte. Im Wohnzimmer standen noch die meisten Möbel ihrer Mutter, denn sie konnte sich nicht trennen, weder vom durchgesessenen roten Sofa, das doch so herrlich bequem war, besonders beim Fernsehen, wenn am Nachmittag ihre Lieblingssendung Bares für rares lief, sie erregte sich dann über die jeweiligen Verkäufer, wie die sich wieder nur für das Fernsehen herausstaffiert hätten oder wie viel Geld diese Händler dann für den meist kunstvollen Schrott an Geldscheinen hinblätterten. Sie selbst war umgeben von diversen Kunst- und Kitschfiguren, die zum größten Teil auch von der Mutter ererbt waren, da war der bronzenen Elefant, den ihr Großvater aus Thailand mitgebracht hatte, oder die drei holzgeschnitzten Affen aus Japan, eine porzellanene Tänzerin aus den Zwanzigern, die ihre Mutter einmal beim Tanzturnier gewonnen hatte, und nicht zu vergessen die umfangreiche Schneckensammlung, diese jedoch hatte Jutta selbst gesammelt, für sie war die Schnecke das ideale Tier: es war lautlos, bellte oder miaute nicht, fand sich niemals innerhalb einer Wohnung, war nur draußen in der sogenannten Natur und tat sich vor allem gütlich an den Beeten von Frau Scheuer, was Jutta besonders erfreute. Sie genoss es jedes Jahr aufs neue, wenn Frau Scheuer laut schimpfend die Schnecken absammelte und in einem großen Steinkrug ertränkte. Als sie das erste Mal das Gekreisch ihrer ungeliebten Nachbarin gehört hatte, wunderte sie sich zunächst über all die denkwürdigen Ausdrücke, die Frau Scheuer kannte Nun ja, sollte sie noch weiter hier am offenen Fenster stehen? Und wenn sie sich nun erkältete, wenn diese dumme Frau Scheuer schuld daran wäre, dass Jutta erkrankte? Das könnte der so passen! Nein.

Energisch schloss Jutta das Fenster und zog die Vorhänge zu. Sollte die doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, es gab hier im Haus wahrlich genug zu tun. Und dann setzte sich Jutta in das gemütliche Sofa und nahm erst einmal einen Schluck Kakao aus der leicht angestoßenen Henkeltasse von Tante Gisela. Die Tasse hatte ihr die Tante Gisela zum bestandenen Abitur geschenkt, denn sie war davon ausgegangen, dass Jutta Pahlke dann irgendwo studieren würde und für eine Studentenbude brauchte man auch Geschirr und eine etwas größere Tasse, eher ein Becher, den konnte eine junge Studentin sicher gut gebrauchen. Aber es war anders gekommen. Nach dem Abitur war Jutta erst einmal zur Erholung mit ihrer Mutter nach Berchtesgaden gefahren, dort hatte sie einen jungen Mann kennengelernt, der sich in sie verliebte, und der hatte einen Arbeitsplatz als Speditionskaufmann ausgerechnet im Hamburger Hafen. Also fuhren sie alle wieder in den Norden und Jutta begann eine Ausbildung im Chemielabor, an den Wochenenden traf sie sich dann mit dem jungen Mann, bis sie eines Tages merkte, dass dieser sich auch noch anderweitig orientiert hatte und im Tusculum seine homosexuellen Freunde traf. Angesprochen auf seine Bisexualität gab der das auch offen zu, er brauche eben die Abwechslung, und der Wechsel von weiblichen und männlichen Partnern eröffne ihm ganz neue Welten und erweitere sein Bewusstsein ungemein. Jutta gab ihm folgerichtig den Laufpass und widmete sich ganz ihrer Ausbildung und später dann der Arbeit, sie galt als ehrgeizig und strebsam, fleißig und genügsam, mit der Mutter lebte sie ein geruhsames, einförmiges Dasein ohne größere Höhepunkte, nur alle zwei Jahre machten sie eine kleine Reise, nach Dänemark oder Amsterdam oder, aus alter Anhänglichkeit der Mutter an ihre Jugendzeit, an das Steinhuder Meer.

Es klingelte. Jutta schaute auf die Uhr: Punkt zehn. Das musste Herr Bartels sein. Den Herrn Bartels hat Jutta auch von ihrer Mutter übernommen, er war sozusagen ein Faktotum. Seit über dreißig Jahren werkelte er schon hier in Haus und Garten herum, strich die Fensterrahmen oder beschnitt die Obstbäume, fegte den Schnee im Winter vom Bürgersteig und stutzte die ziemlich hohen Buchsbaumhecken, die den Garten an drei Seiten so schön von den neugierigen Blicken der Nachbarn abschirmten. Jutta stand auf und ging nach unten, wo Herr Bartels schon in der Küche auf einem Schemel Platz genommen hatte. Jutta goss ihm eine Tasse Kaffee ein, dieses Ritual hatte schon ihre Mutter so gemacht und sie sah keinen Grund, daran irgendetwas zu verändern. Sie setzte sich an den Küchentisch, stützte die Arme auf die blankgescheuerte Tischplatte und sie beredeten, was heute an diesem Tag zu tun sei. Das Beschneiden der Rosen war wieder einmal fällig und die große Gartenschere musste geschliffen werden, außerdem sollte Herr Bartels den Rasenmäher aus der Werkstatt abholen, er war vor vier Wochen dorthin gebracht worden zur Generalüberholung und zum Schleifen der Messer. Dann sollte Herr Bartels sich noch einmal die Fenster im oberen Stockwerk ansehen, ob die so noch über den Winter kommen könnten oder ob da wieder einmal etwas Farbe erforderlich sein würde. Nach den diversen Aufträgen und nachdem auch die zweite Tasse Kaffee ausgetrunken war, ging Herr Bartels an sein Tagwerk und Jutta stieg wieder in den ersten Stock in ihr Wohnzimmer.

Sie hatte es sich gerade auf dem Sofa gemütlich gemacht mit einer noch halbvollen Dose Konfekt und ihrem neuen Buch, da hörte sie es rascheln. Es war kein eigentliches Rascheln, es klang eher nach einem Getrippel, einem Schurren oder Ziehen als ob vielerlei Dinge über eine Platte huschen oder eine kleine Melodie zart angeschlagen würde auf einem Becken und dann immer wieder kurz unterbrochen wurde von einem Gepolter wie von einer gedämpften Kesselpauke. Jutta war sehr geräuschempfindlich, das war schon immer so gewesen; wenn in einem anderen Stadtteil die Feuerwehrsirene anhub, dann hatte sie sich schon als Kind die Ohren zugehalten und die Augen fest verschlossen.

Nun schaute sie eher ärgerlich als ängstlich an die Decke ihres Wohnzimmers; die Geräusche kamen eindeutig von oben. Sie erhob sich und stieg die steilere Holztreppe empor, die zu dem oberen Stockwerk führte. Dort verhielt sie und lauschte. Ja, da war etwas, oben, auf dem Dachboden. Als ob ein unbenanntes Dinges hin und herhuschen würde, als wenn ein Wischmopp herumgeisterte, in alle Ecken schaute und eine Art Tanz hinlegte. Dieses Wischen und Tapsen, das Ploppen und Ziehen, nein, das klang nicht wie Mäusegetrippel, das klang gänzlich anders. Mäuse hatte sie schon gehört, das war vor einigen Jahren gewesen, das war kurz nach dem Tode der Mutter gewesen, sie hatte nicht achtgegeben und da war ein Fenster im oberen Stockwerk offen geblieben und von dort aus mussten sich die Mäuse wohl in das Haus geschlichen haben über die Regenrinne vermutlich. Sie hatte erst Herrn Bartels mit der Beseitigung dieser unangenehmen Tiere beauftragt, als dieser es nicht geschafft hatte, musste sie wohl oder übel den Kammerjäger anrufen. Das gab natürlich wieder Gerede der Nachbarn, bei der Pahlke sind Ungeziefer oder gar schlimmeres im Haus oder ähnliches, sie hatte es sich damals gut vorstellen können, was man da alles über sie geredet hatte; insbesondere Frau Scheuer hatte sich da wohl hervorgetan, wie sie beim Einkaufen gehört hatte.

Jutta Pahlke schaute aus allen Fenstern und bemerkte Herrn Bartels hinten im Garten, er hielt den Rechen in der Hand und fegte alte Blätter zusammen. Jutta öffnete das Gartenfenster und nahm die bronzene Handglocke, die der Großvater aus Java mitgebracht hatte. Sie sollte angeblich aus einem Tempel stammen und ihr Klang vor bösen Geistern schützen. Jutta schüttelte die kleine Glocke heftig hin und her, Herr Bartels drehte sich nach ihr um. Jutta winkte und er kam langsam auf das Haus zu und blieb unten stehen, schaute erwartungsvoll zu ihr hoch und sie erzählte ihm, dass auf dem Dachboden irgendetwas sei und er möge doch demnächst einmal nachsehen, was das denn nur sein könne. Er nickte und ging wieder zurück zu den vertrockneten Blättern. Jutta schloss das Fenster und setzte sich an den Tisch. Sie lauschte, aber alles blieb ruhig. Nur ein Auto hielt mit quietschenden Bremsen ganz in der Nähe. Sie ging zum Straßenfenster und siehe da, Frau Scheuer stieg aus einem weißen Lieferwagen und der Fahrer, ein junger Schnösel mit einer Kappe auf dem Kopf, der öffnete die Seitentür und nahm drei, vier große braune Pakete heraus und trug sie Frau Scheuer in ihr Haus. Also doch! Jutta nickte vergnügt, sie hatte es doch geahnt, Frau Scheuer hatte nur keine kleine Packung der Windeln gekauft, sondern gleich vier Großpackungen erworben. Sie wollte es wohl so aussehen lassen, dass sie erst einmal für einen Monat genug im Hause hatte, oder war etwa ihre Blase noch undichter geworden als Jutta angenommen hatte? Auf jeden Fall freute Jutta sich, sie hatte Recht gehabt wie so oft.

Dann hörte sie die festen Schritte von Herrn Bartels, der die Treppen heraufkam und dann die Bodenklappe öffnete und die Zugleiter herabzog. Sie wartete geduldig und ließ genüsslich eine Praline im Munde zergehen. Lange hörte sie nichts, dann wieder Herrn Bartels Schritte und das Quietschen der Dachbodenleiter. Es klopfte an die Zimmertür, Jutta rief »Herein!« und Herr Bartels kam. Er berichtete, dass auf dem Dachboden sich wohl eine Gruppe von Mardern eingenistet habe, er habe eindeutige Spuren gesehen sowie auch den Kot gerochen: »Da muss man möglichst schnell etwas unternehmen, sonst bekommen die da oben noch viele Junge und dann wird es wohl ordentlich laut werden. So Marder sind sehr umtriebige Tierchen, und sie beißen in alles, was da rumliegt. Immer hinterlassen sie viel Müll und Dreck, vor allem Dreck. Ich würde Ihnen raten, sofort den Kammerjäger anzurufen.«

Jutta dankte ihm und griff zum Telefon. Die Nummer des Kammerjägers hatte sie gespeichert und nach kurzem Tuten erklang dessen Stimme und bat um Nachrichten nach dem Piepton. Jutta schilderte, dass sie seine Hilfe zur Marderbekämpfung benötigte und gab ihre Adresse durch, dann legte sie wieder auf. Herr Bartels grinste und ging dann wieder in den Garten. Jutta legte sich auf das Sofa und dachte zunächst daran, was das wieder alles kosten und ob es wohl schnell gehen würde.

Als der Kammerjäger nach drei Tagen immer noch nicht zurückgerufen hatte, nahm Jutta das Telefon und wählte nach acht Uhr abends noch einmal dessen Nummer. Nach kurzer Zeit wurde dort abgehoben und eine Frauenstimme meldete sich. Jutta sagte, sie wolle gern den Kammerjäger sprechen, und nach einigen Minuten war dieser auch am Telefon und meinte nur kurz und knapp, dass er keine Zeit und Lust habe, bei ihr zu arbeiten, sie solle sich gefälligst einen anderen suchen, seine Nerven seien ihm viel zu schade für eine Tätigkeit bei Jutta. Dann legte er auf. Jutta hielt entrüstet ihr Telefon ganz fest und schimpfte wie ein Rohrspatz auf diesen undankbaren Menschen, der sich ein gutes Geschäft entgehen ließ. Dann sah sie sich im Telefonbuch nach einem anderen um, der sie von ihren Untermietern auf dem Dachboden befreien konnte. Am nächsten Tag rief sie dann die neue Nummer an und siehe da, der neue Kammerjäger sagte ihr sein Erscheinen am nächsten Tag zu.

Jutta informierte Herrn Bartels und stand dann am nächsten Tag eher auf, kleidete sich besonders sorgsam an und als es klingelte, öffnete sie persönlich die Haustür. Sie war nett und freundlich und gemeinsam mit Herrn Bartels stieg der neue Kammerjäger, ein Herr Zimmermann, auf den Dachboden. Jutta wartete in ihrem Wohnzimmer und trank derweil Kakao.

Nach einer guten Stunde kamen die beiden Männer wieder herab und zu ihr. Herr Zimmermann erläuterte, wie viele Fallen er aufgestellt habe und dass er dann in drei Tagen nachschauen würde, ob sich schon etwas getan hätte. Dann ging er und Jutta verabschiedete ihn, nicht ohne ihm einen Zwanziger in die Hand zu drücken. Dann huschte sie schnell in ihr Wohnzimmer und schob die Gardine zur Seite, sie wollte sehen, welches Auto der Kammerjäger bestieg. Zu ihrer Zufriedenheit stieg Herr Zimmermann in einen ganz normalen Wagen ein, ohne jegliche Firmenaufschrift. Jutta hätte am liebsten in die Hände geklatscht, so sehr freute sie sich darüber.

Denn sie hatte schon befürchtet nach den Erfahrungen beim letzten Mal, dass die Nachbarschaft sich wieder den Mund zerreißen würde, wenn es überall bekannt geworden wäre, dass bei ihr wieder mal ein Kammerjäger zu tun hätte. Besonders diese Frau Scheuer hatte beim letzten Vorkommnis vor einigen Jahren sich nicht zurückgehalten und lauthals beim Kaufmann erzählt, dass »die Wohnverhältnisse bei dieser Frau Jutta Pahlke wohl nicht die Allerbesten seien, denn das wisse man ja, wenn erst der Kammerjäger kommen müsse, um die Ordnung wieder herzustellen, dann tummele sich das Ungeziefer wohl schon mitten im Wohnzimmer, von den Zuständen in der Küche oder gar der Speisekammer gar nicht erst zu reden. Es sei ja auch kein Wunder, wenn man sich das anschaue, was diese Jutta Pahlke so alles einkaufe, das seien doch förmlich Einladungen an alle Arten von Untieren, Ratten, Mäuse und Läuse würden sich schon die Servietten umbinden, wenn die Pahlke mit ihren Einkaufstüten durch die Haustür käme.«

Am Abend lauschte Jutta und hörte zunächst nichts von oben. Doch später, als sie die Nachrichten im Fernseher abgestellt hatte, da waren wieder kratzende und schurrende Geräusche vom Boden zu vernehmen. Nach drei Tagen kam Herr Zimmermann wieder und ging auf den Dachboden, er kam hochzufrieden mit einem Jutesack wieder zurück.

»Hier sind die Übeltäter drin. Ich hoffe, ich habe sie alle erwischt. Sie sollten jetzt wieder Ruhe haben unter Ihrem Dach, gnädige Frau!«

Jutta fühlte sich sehr gebauchpinselt. Gnädige Frau, wenn das nur die Frau Scheuer von nebenan hätte hören können! Das hatte jahrelang keiner zu ihr gesagt. Und sie nickte als Gnädige mit dem Kopf und winkte Herrn Zimmermann zum Abschied freundlich zu.

Nach einer Woche kam dann seine Rechnung und Jutta fiel fast die Brille von der spitzen Nase. Mit so viel hatte sie wahrlich nicht gerechnet. Aber immerhin, oben auf dem Dachboden war und blieb es still, und dieser Zimmermann war gleich gekommen und hatte offenkundig gute Arbeit geleistet. Am nächsten Tag schritt sie hocherhobenen Hauptes zur Sparkasse und überwies den hohen Betrag.

Abgestempelt

Sie sah kompetent aus, energisch und sachlich, so wie sie ihn ausfragte. Aber sie war ja auch die Leiterin des Ordnungsamtes. Das Haar trug sie halblang in einer Bobfrisur, leicht nach innen gerollt, etwas blondiert, die gestreifte Bluse war zwei Knöpfe von oben geöffnet und die graue Stoffhose über den flachen Sommerschuhen saß perfekt an ihren Hüften. Ihr Gesicht schien ungeschminkt, aber Herr Krüger war sich sicher, dass sie für ihr Aussehen jeden Morgen etwas tat, nur er konnte es nicht erkennen; auf jeden Fall war kein Lippenstift, kein Makeup deutlich zu sehen. Aber was wusste er denn schon von den kosmetischen Geheimnissen einer Frau. Bislang war er nur mit wenigen Frauen zusammen gewesen, auch die Mutter seiner unehelichen Tochter war diesbezüglich sehr zurückhaltend gewesen, keine von denen hatte ihm gestattet, in ihr Bad zu kommen oder gar ihr beim morgendlichen Zurechtmachen zuzuschauen. Er war also auf das angewiesen, was er von seiner Schwester gehört, erlebt oder gesehen hatte. In deren Studentenbude hatten nur ein paar Dinge auf der Glasplatte über dem Waschbecken gestanden, ein Eyeliner mit der Haarbürste, im Plastikbecher die Zahnbürste mit der Tube Blendax, ein Kamm, neben dem Waschlappen hing ein Haartrockner am Haken und ein Föhn. Ach ja, ein kleines Fläschchen Parfum stand neben einem Porzellantöpfchen Creme griffbereit. Das war alles, soweit er sich erinnerte.

»Für den neuen Pass benötige ich noch neue Bilder.« sagte Frau Lemke mit ihrer klaren angenehmen Stimme.

»Hier bitte, ich habe noch ein paar vom letzten Jahr, da holte ich mir doch den neuen Perso bei Ihnen ab.«

Herr Krüger zog aus seiner Brieftasche die drei Passfotos im weißen Umschlag und legte sich auf die polierte Tischplatte.

»Die sind nicht mehr gültig. Jedenfalls für den neuen Pass. Wir brauchen von ihnen Passbilder, die höchstens ein halbes Jahr alt sind.«

Mit einer Tut-mir-leid-Miene schob Frau Lemke ihm die alten Passfotos wieder hin. Er steckte sie ein und erhob sich.

»Gut, dann geh ich in die Stadt und lass mir ein paar neue machen. Die werden aber auch nicht besser aussehen als diese hier. Ich hab mich ja im seit dem letzten Jahr nicht mehr verändert. In meinem Alter, wissen sie …!«

Frau Lemke lächelte kurz und schaute ihn an:

»Ich kann es nicht ändern, alles muss nach Vorschrift gehen. Und Sie möchten doch auch nicht, das ich Ärger bekomme oder Sie keinen neuen Pass. Wozu brauchen sie eigentlich einen Pass?«

»Meine Tochter wohnt jetzt in den Vereinigten Staaten und ich möchte sie gern besuchen. Und wenn man in die USA reisen will, braucht man einen gültigen Pass und eine Impfbescheinigung.«

»Ah ja. Dann kommen Sie doch Donnerstag um drei wieder mit den neuen Bildern, wir können die Formulare schnell ausfüllen und sofort geht alles nach Berlin zur Bundesdruckerei und etwas später, in etwa drei Wochen, erhalten Sie den neuen Pass. Den können Sie sich einfach und unproblematisch vorn an der Rezeption abholen, dafür brauchen Sie dann keinen besonderen Termin. Sie erhalten mit der Post die Bestätigung, dass der Pass eingetroffen ist. Sie müssen dann nur noch herkommen und ihn persönlich abholen, weil Sie ihn ja in Gegenwart einer Amtsperson unterschreiben müssen.«

»Ah ja, ich verstehe, in Gegenwart einer Amtsperson also. Gut, ich werde Donnerstag wieder bei Ihnen vorbeischauen, mit den neuen Passbildern. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«