Der Fisch in der Streichholzschachtel - Martin Amanshauser - E-Book

Der Fisch in der Streichholzschachtel E-Book

Martin Amanshauser

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Beschreibung

Auf der Karibik-Kreuzfahrt, die Fred mit seiner Frau Tamara und dem pubertären Nachwuchs unternimmt, herrscht gähnende Langeweile. Als der Familienvater an Bord ausgerechnet auf seine Exfreundin Amélie trifft und das Schiff auch noch in einen Orkan gerät, ist es mit der Seelenruhe schlagartig vorbei. Der Kontakt zur Außenwelt ist unterbrochen, als eine Horde eigenwilliger Piraten aus der Vergangenheit das Schiff kapert. Diese haben es auf Pfefferstreuer und Toilettenpapier abgesehen und reagieren panisch auf die technischen Errungenschaften aus dem 21. Jahrhundert. Was zur Hölle geht hier vor? Eine hinreißende Satire, eine Liebesgeschichte mit Humor aus einer Welt voller Wunder.

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Deuticke E-Book

Martin Amanshauser

Der Fisch in derStreichholzschachtel

Roman

Deuticke

ISBN 978-3-552-06302-0

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2015

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Motiv: © Arcturus/Naaisha Hanief

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

»Das deutsche Volk hat die See nicht verstanden.«

Großadmiral von Tirpitz

1

Ich bin ein Familienvater, treu bis zur Lächerlichkeit. Normalerweise finde ich das normal. Doch zum Beispiel jetzt, auf diesem gigantischen Schiff, geradezu einem Symbol der Ausweglosigkeit, rebelliert etwas in mir. Ohne dass Tamara es bemerkt, flüstere ich mir zu: Du warst doch früher anders! Du hast eine Zigarette nach der anderen geraucht, ganze Nächte zur Musik der Pixies durchgetanzt, Where is My Mind, mit den Frauen war alles leicht, und wenn es einmal schwierig war, gab es interessante Dramen. Wann genau hat sich das Blatt gewendet? An dem Tag, als du das Rauchen aufgabst?

Ich schöpfe Luft. Mir muss der Teufel die Kreuzfahrt mit der Atlantis in den Kopf gesetzt haben. Natürlich war es nötig, Tamaras Vierzigsten zu feiern. Eine Fahrt auf einem Luxusliner, kein schlechtes Geschenk. Andere Frauen wünschen sich in diesem Alter ein wirksames Psychopharmakon. Andere Frauen würden an ihrer Stelle … Moment, stopp. Es führt zu unproduktiven Gedanken, Sätze mit andere Frauen zu beginnen. Ich habe mit anderen Frauen und sämtlichen dazugehörigen Gedanken abgeschlossen. Für beides fehlt mir Zeit, Energie, Geld. Das Geld fehlt seit Jahren. Und das Geld für ihr Geschenk schießt wieder einmal Tamara selbst vor, weil ich nicht liquide bin. Mir bleibt die Hoffnung, die Rechnung von der ersten Prämienausschüttung zu begleichen, die Alarm Fred an mich weiterleitet, mein Einzelunternehmen für Alarmanlagen, genau das Fachgebiet, bei dessen Erwähnung sich die Leute auf der Party abwenden.

Die Kabine 5040 riecht nach frischer Bettwäsche und einem Zedernduft-Desinfektionsmittel, eine intensivere Sauberkeit als zu Hause. Gedankenverloren spüre ich meinen Schmerzen im Unterleib nach, die sich auch drei Wochen nach dem Eingriff nicht zurückziehen wollen. Der Arzt hatte gemeint, die Nachwirkungen würden nach ein paar Tagen weg sein. Die beiden Schnittwunden sind gut verheilt, aber der Schmerz ist geblieben, als wollte er mich für meinen Alleingang bestrafen.

»Tut dir was weh?«, fragt Tamara.

»Ich frage mich«, antworte ich, »ob ich von der Länge her in diese Streichholzschachtel passe.«

Als großer Mensch sollte man weder mit dem Flugzeug fliegen noch mit der Eisenbahn fahren, ganz zu schweigen von zwölf Tagen Traumurlaub in einer Gummizelle.

Die Matratze ist in Ordnung, was mich irritiert. Zum Glück sind die Kissen zu hoch und zu hart.

»Über die Kissen sprechen wir morgen früh. Sonst ist alles super.«

»Wirkt nicht echt, wenn du super sagst«, sagt Tamara.

Ich frage, wie ich super aussprechen soll, damit sie glücklich ist.

»Enthusiastischer«, sagt Tamara und sieht mich mit ihren großen Augen an. »Mit mehr Leidenschaft.«

Ich teste die Ohrenstöpsel. Aus irgendeinem Grund verstärkt sich dadurch der Geruch der Bettwäsche. Das Motorenbrummen bahnt sich trotzdem seinen Weg in mein Bewusstsein. Der Katalogtext leugnet dieses Geräusch. Tatsächlich handelt es sich weniger um ein Geräusch als um ein vages Vibrieren, das alles durchzieht.

»Alles ist super«, brüllt mir Tamara zu, »so muss das klingen.«

Die Ohrenstöpsel schlucken gut die Hälfte ihrer Lautstärke. Nichts ist super. Der Schmerz flackert nach, verstärkt sich. Sobald er sich zurückzieht, öffne ich mich. Nein, doch nicht. Dann grüble ich über Berufliches. Ohne Prämienausschüttung werde ich ein weiteres Jahr Verluste schreiben, diesmal stellt mir die Bank den Kredit fällig, und Alarm Fred ist samt seinem Besitzer verloren.

Lehmkuhl, der Gebäudemanager, will alle Wohnungen des neuen Hochhauses in der Seestadt Nord mit Spitzenalarmanlagen ausrüsten, die ich liefere und installiere. Es fehlt nur noch eine Info des Aufzugbetreibers Schindler über die Sicherung des Garagendecks. Gibt Lehmkuhl seine Zusage und tätigt die Überweisung, können Tamara und ich noch in Kabine 5040 anstoßen.

Mich beunruhigt, dass Lehmkuhl sich gar nicht mehr meldet. Erst nach seinem letzten Okay kann ich offiziell davon sprechen, dass diese Reise bezahlt und das Finanzjahr gerettet ist.

Alles wäre dann super. Außer ein paar Details. Eigne ich mich als Tourist auf einem Luxuspassagierschiff? Anders gefragt, wie überstehe ich die nächsten zwölf Tage? Die Route verläuft Miami–San Juan–Isla Margarita (Venezuela)–Tobago–Barbados–Dominica–St. Kitts and Nevis–Bonaire–Curaçao–Santa Marta (Kolumbien) und wieder Miami. All die Orte würde ich nie kennenlernen, wenn ich nicht aus einer wahnsinnigen Eingebung heraus Tamara eine Schiffsreise vorgeschlagen hätte. Dabei hätte ich bedenken sollen, dass Kreuzfahrten nicht so ideal zu jemandem passen, der ungern mit anderen verschmilzt, vor allem nicht mit Braungebrannten ohne jede erkennbare Individualität.

Zwar lässt sich das Gepäck in den Kabinen bequem unterbringen, und sogar ich mit meiner Übergröße passe ins Bett, doch nur körperlich. Ein nicht fassbarer Teil von mir ragt über das Bett hinaus, fließt wie Gelee über das Geländer des Minibalkons, hängt tief und schlapp ins Wasser, ist längst versalzen und aufgeweicht. Mein Körper liegt brav neben Tamara, die in meine Richtung atmet – in mir steigt wegen der unverschämten und doch so berechtigten Nähe ihres Gesichts eine altbekannte, abscheuliche Aggression auf, die ich mit regungsloser Miene bekämpfe.

Die Nebenkabine 5042 bewohnen Malvi und Tom, fünfzehn und elf Jahre alt. Sie sind das Wichtigste in meiner Welt, doch der Gedanke an sie ist verbunden mit dem erheblichen Kostenfaktor, den sie darstellen. Früher bedeuteten die beiden für mich ein ungetrübtes Glück, aber seit sie in diesem Alter sind, in dem Smartphones einen Großteil der Erziehungsaufgaben übernehmen, läuft alles falsch. Tamara erträgt die Teenagerzeit der Kinder besser, abfällige Bemerkungen scheinen ihr wenig auszumachen. Ich kann leider nicht anders, als es persönlich zu nehmen. Zugegeben, teilweise bin ich selbst schuld. Im letzten halben Jahr lag meine Konzentration ausschließlich auf Alarm Fred.

Ich trage drei oder vier Romane im Koffer, weil das im Urlaub so üblich ist, doch nichts könnte mich weniger interessieren als eine erfundene Geschichte, womöglich noch mit Liebe garniert, zwischen fremden, papierenen Personen, um die ich mich einen Dreck schere. Was die eigene Liebe betrifft, so hat sie sich nach mehr als fünfzehn Jahren in etwas anderes verwandelt. Man mag einander und hat weiterhin miteinander zu tun. Das ist nicht wenig. In unserem Fall hat sich auch noch ein Wettkampf um die Vorherrschaft der Meinungen entwickelt, manchmal mit Härte geführt, meistens freundschaftlich. Es steht nicht schlecht um uns – obwohl ich vor kurzem etwas getan habe, was Tamara sehr verletzen würde, wenn sie davon wüsste. Entgegen meinen Berechnungen bereitet es mir immer noch körperliche Schmerzen. Es war keine Heldentat. Ich wusste nur keinen besseren Ausweg. Ein drittes Kind würde unsere Beziehung nicht vertragen. Es ist eine Entscheidung für uns beide, und Tamara muss ja nie davon erfahren.

Ein viel konkreterer Krisenherd ist das Loch in meinem Budget. Tamara zahlt die Miete, die Privatschulen, das Auto, kurz gesagt, sie zahlt alles. Für die Finanzierung ihres Geburtstagsgeschenks habe ich mir Geld bei Tamara geliehen, ein privater Überbrückungskredit ohne Zinsen. Ich habe ihr versichert, die Summe schon vom Schiff aus online zurücküberweisen zu können.

Tamara glaubt leider, dass der Auftrag fix ist – ich warte aber weiterhin auf die Zusage. In Treue bin ich eine große Nummer, Ehrlichkeit gehört offenbar weniger zu meinen Stärken.

Das Grübeln wird von der Eintönigkeit verstärkt, vom müden Surren der Aircondition in diesem Kanister aus getäfelten Planken und plastikverschaltem Stahl. Ich bezweifle, ob ich die Fahrt »genießen« kann, wie es der Katalog vorschreibt, und ob ich mich so sehr »verwöhnen« lassen will. Ich zähle siebzehn Nennungen des Wortes verwöhnen. Auch wird mir ins Bewusstsein gebracht, dass die Sonne »herunterknallen« wird und die Häfen »veritable Perlen« sind, nämlich »neun Karibikinseln auf dem Tablett«. Ich verstehe nicht mehr, wie ich die Idee haben konnte, einen solchen Irrsinn zu buchen. Aus welchem Grund liege ich in dieser Kabine? Was tue ich hier? Wieso fletscht dieser Familienvater, der ich bin, nicht die Zähne und schreit: Where is my mind, where is my mind, macht euch die Kreuzfahrt allein! Papa will nicht, er hat genug. Papa kauft sich wieder Zigaretten. Papa ist weg. In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

2

Könnt ihr auf mich bauen, oder könnt ihr das nicht? Ich mache das, was ich am besten beherrsche, ich grüble meine Andersartigkeit in mich hinein. Wenn die philippinischen Zimmerboys klopfen, öffne ich freundlich die Tür und stelle den Familienvater dar. Dabei schmerzt mein Hodenbereich, als Erinnerung an die Person, die ich geworden bin: privat und beruflich gleichermaßen ein Lügner.

Lehmkuhl habe ich zum Beispiel verschwiegen, dass ich in der entscheidenden Phase auf Urlaub gehe. Egal. Zum Glück kann ich schnell reagieren, moderne Kreuzfahrtschiffe sind angelegt wie ein Homeoffice. Nur unter der Bedingung einer Satellitenleitung bin ich überhaupt an Bord gegangen.

»Erschöpft, Flipper?«, fragt Tamara.

»Glänzend gelaunt«, sage ich matt, nehme den Katalog zur Hand und versuche, meine Miene dem Anlass anzupassen. »Flipper ist Vergangenheit.«

»Du hast angefangen.«

Im Namen Flipper habe ich mich nie wiedererkannt. Die Schulkollegen nannten mich so, seit ich 200 Meter Lagen in 2:17,08 geschwommen war, was damals Jugendrekord des Bundeslands und Rang 320 in der inoffiziellen Jugend-Weltrangliste bedeutete. Heute würde ich um die vier Minuten benötigen, wenn ich überhaupt die Kraft für einen korrekten Schlüssellochzug und den geschlossenen Beinschlag beim Schmetterling hätte.

Ich zähle die Palmen durch. Es sind auffällig viele Palmen abgebildet, neunzehn Stück. Dafür sieht man nirgends Bilder von den Speisesälen, nur Mahlzeiten in Super-Zoom, in einem Styling, das von einer Massenküche niemals angeboten werden kann.

Angesichts der Abbildung stelle ich mir vor, wie eines meiner Kinder an der Gräte eines solchen Lachses erstickt. Wie die Erste Hilfe versagt, wir das Kind auf den Kopf stellen, aber der Kopf immer dunkelblauer wird, die Augenbrauen aufzuplatzen scheinen, das Kind nach Luft ringt, wie ich mit dem Kopf gegen die Wand renne. Wie ich den Rest meines Lebens verfluche, diese Reise gebucht zu haben. Das sind keine produktiven Gedanken, aber ich kann nicht anders. Sie verfolgen mich. Schon als Kind erschlug die Tafel meine Grundschullehrerin. Sie war völlig zerquetscht, man musste alles auf den Müll werfen, Tafel und Lehrerin.

Um eine Kreuzfahrt zu genießen, sollte man gerne mit Puppenhäusern spielen und ein rechtes Herdentier sein. Die ersten Stunden an Bord sind laut Katalogtext »spannend«, in Wirklichkeit gehören sie dem Erlernen einer Routine, die jegliche Spannung unterbindet. Wir werden in die Seenotrettungsübung geschickt, ein ironisches Zitat eines Notfalls. Wie altes Vieh lassen wir uns auf das Mitteldeck treiben. Wir stehen in Reihen, Anwesenheitscheck, Stewards lesen die Passagiernamen von einer Liste. Es herrscht einige Verwirrung und Gelächter, weil sie die Namen lustig aussprechen, vor allem die deutschen.

Wir sind angeblich 22 Nationen an Bord.

»Schöne Grüße von der Costa Concordia«, sagt ein Typ mit zwei Beulen auf der nackten Kopfhaut.

»Ruf es nicht herbei, Uwe«, weist ihn seine ältere Partnerin zurecht, während sie ihm mit einem Papiertaschentuch die Stirn abtupft.

Tom zeigt mit dem Finger auf eine faltige Glatze vor ihm. Beinahe berührt er sie. Er will Malvi auf die Glatze aufmerksam machen, aber seine Schwester starrt über alle hinweg.

Unsere Spezies, denke ich, ist so grausam. Mein leicht fettleibiger Sohn macht sich über einen kahlen Zwerg lustig. Ich wende mich ab. Sollen es die Kinder anderer Leute sein, ich habe nichts mit ihnen zu tun.

Tamara kriegt nichts davon mit, sie fahndet nach der Kreuzfahrtdirektorin Rafaela, die als unsere Bekannte gilt. Diese Rafaela ist eine Bekannte von Lotte, Tamaras bester Freundin. Ich weiß daher, dass Rafaela allein lebt, keinen Partner hat und Flugreisen ebenso hasst wie Möbelhäuser oder Unpünktlichkeit. Ich hatte immer gehofft, Rafaela würde eines Tages der Seefahrt den Rücken kehren und Lotte stärker als bisher für sich beanspruchen, damit dieser weniger Zeit für Tamara bliebe.

Lotte arbeitet in der PR-Abteilung jener Fluglinie, die uns hierher transportiert hat. Der Flug war, dank Lotte, gratis. Die Buchungslage der Riesenschiffe in der Karibik ist gerade »unter den Erwartungen«, als crew friends zahlen wir ein Drittel weniger als im Prospekt.

Bei dieser Reise kommen mir drei Frauen preislich entgegen – Tamara, Rafaela und Lotte.

Lotte bezieht ihr Vokabular aus Celebrity, Vanity Fair oder Joy. Lotte misstraut Männern. Gegen mich hegt sie nicht einmal eine spezielle Abneigung, sie betreibt nur ihr gewohnheitsmäßiges negatives Lobbying gegen mein Geschlecht.

Endlich werden auch unsere Namen aufgerufen, vierstimmig krächzen wir »yes« und »here«.

Die Seenotrettungsübung löst sich auf, wir schließen uns dem Gänsemarsch in die Kabinen an, ich stelle mir eine Massenpanik vor, wie die Leute rings um mich zertrampelt und zerdrückt werden, und ich selbst, gegen die Wand gepresst, noch versuche, die Hand meiner sterbenden Frau zu berühren, die sich mir entgegenstreckt, wie in der Sixtinischen Kapelle … Keine produktiven Gedanken, klar.

Ich lege mich mit Ohrenstöpseln aufs Bett und blättere zum technischen Teil des Katalogs. Bei der Atlantis handelt es sich um ein Doppelhüllenschiff. Das bringt im Falle einer Kollision oder bei Grundberührung eine erheblich höhere Sicherheit.

Irgendwann höre ich meinen Namen, ich lockere die Ohrenstöpsel.

»Fred ist wieder einmal schockgefroren«, sagt Tamara, die Fachbegriffe für meine Eigenheiten hat.

Ich ziehe die Stöpsel heraus.

»Alles ist super«, sagt Tamara.

»Alter Sack!«, ruft Tom. »Man kann heute ausnahmsweise bis zwölf Uhr frühstücken!«

Beim Frühstück sind wir die perfekte Familie, Fred, Tamara, Tom und Malvi. Die Hoden schmerzen, als würde mir ein unsichtbarer Feind Tritte versetzen. Ich verziehe keine Miene, kreise entschlossen um das Buffet, an dem sie uns »mit allem verwöhnen«. Es ist eine Lüge, Haferflocken fehlen. Es gibt allerlei zuckerreiche Haferflocken-Mischungen mit Rosinen und Schokostreuseln, aber keine Haferflocken ohne Zusatz.

»I need Ha-fer-flocken … Oat flakes … avena, in spanish avena«, erkläre ich dem Kellner.

Er nickt freundlich, verlässt den Tisch, ohne das Problem zu begreifen, und lehnt sich drei Meter entfernt an eine Säule, zufrieden ins Nichts blickend.

»Er versteht oat flakes nicht«, sage ich zu Tamara, »ich kenne das Wort sogar auf Spanisch, nur auf Filipino, falls es diese Sprache gibt, kann ich es leider nicht sagen.«

Tamara konzentriert sich auf ihr Couscous, über das ein Spiegelei rinnt. Mich stört es nicht, wenn sie nicht antwortet, sie sieht beim Essen wunderschön aus. Mit ihren großen, runden Augen mustert sie die zerronnene Mischung vor sich wie ein wertvolles Kunstwerk.

Plötzlich fällt mir ein, dass auf den Philippinen ja zumindest teilweise Spanisch gesprochen wird – ob der Mann sich absichtlich dumm stellt?

»Señor, por favor!«, fahre ich auf.

Der Filipino, wie ein Buddha konzentriert auf Vorgänge in seinem Inneren, bleibt regungslos wie eine Statue.

»Asiatische Ruhe?«, frage ich mit lauter Stimme.

»Kannst du dich bitte etwas zurückhalten, bitte«, sagt Tamara, worauf ich antworte, dass sie gar nicht abschätzen kann, wie sehr ich mich zurückhalte, worauf sie sagt, mein Tonfall klingt wie das Gegenteil von Zurückhaltung, worauf ich sage, dass es nicht um den Tonfall geht, sondern um Grundsätzliches wie Haferflocken.

»Schrei Mama bitte nicht so an!«, schreit Tom, worauf ich ihm in aller Ruhe erkläre, dass nicht ich derjenige bin, der schreit.

Tom nimmt meine Erklärung mit satter Miene auf und wendet sich seiner Portion Belgian Waffles unter Schokoladensauce zu. Fehlt im Gegensatz zu Haferflocken nirgends. Ich habe das Süßigkeitsverbot gelockert, um mein ohnehin mittelmäßiges Renommee nicht auf einem weiteren Gebiet zu beschädigen. Tamara verbietet ihnen gar nichts.

Sie selbst isst jetzt noch einen Fruchtsalat, wie die meisten Frauen an den Nebentischen. Auf den Tellern der Männer türmen sich Schinken, Speck und Eier.

»Tagalog«, sagt Tamara.

»Wie?«, fahre ich auf.

»Die Sprache der Filipinos heißt Tagalog.«

»Nutzloses Wissen«, sagt Malvi.

Ich frage mich, wie unser Gespräch das Bewusstsein meiner Tochter erreicht, wo ihre Ohrhörer doch vor Lautstärke beben. Sie trinkt grünen Tee, isst Melonenscheiben und starrt, als würde da draußen das große Nichts warten, durch das Fenster auf die blitzblanke Fläche des Ozeans.

»Ruhe da drüben«, sagt Tamara. »Alles ist super!«

»Außer dem Haferflockenskandal«, sage ich.

»Du weißt nie, wann Schluss ist«, sagt Tamara.

»Jetzt«, sagt Malvi, ohne den Blick zu heben.

Malvi steht auf der Passagierliste, sie ist an Bord, und gleichzeitig fehlt sie. Das ist normal in ihrem Alter, sagt Tamara.

Sie sieht völlig anders aus als ein durchschnittliches fünfzehnjähriges Mädchen. Die meiste Zeit trägt sie eine Art Strumpfhose über den Haaren, hat die Nägel dunkelbraun lackiert, denn schwarz war gestern, ihr Makeup ist aber schwarz, denn da war dunkelbraun gestern. Neben dem Metall im Gesicht trägt sie Gürtel, Schnallen und Nieten, und sie benötigt auch in der Karibik unbedingt Stiefel von einer bestimmten Marke. Zu meiner Zeit hätte man Mädchen wie Malvi Gothic oder Grufti genannt, später Emo. Ihr Styling hat selbstverständlich nichts mit diesen »Schlagwörtern aus dem 20. Jahrhundert«, wie sie es nennt, zu tun. Sie hält auch Tamara und mich für so etwas wie »Schlagwörter aus dem 20. Jahrhundert«, für sehr – oder »massiv« – uncool – falls uncool nicht gerade ein uncooles Wort ist.

Die Nahrungsaufnahme hat sie weitgehend eingestellt, um ihre halsbrecherische Figur zu betonen, die siebzehnjährige Jungen anziehen soll, die ihre Freizeit in Fitnessstudios verbringen und durch Ganzkörperdepilationen zerbrechlichen Babypuppen unklaren Geschlechts gleichen. Malvi trägt durchgehend Ohrhörer, die sie mit einem Quell an »Musik« verbinden, eine Art Lebenselixier, das als fein dosierte Droge in ihre Ohren fließt. Sie stillt wohl den Schmerz der Welt. Ich bevorzugte in ihrem Alter andere Mittel zur Schmerzstillung, die damals, wie ich fest glaube, auf individuellerer Basis verabreicht wurden – doch vielleicht irre ich an diesem Punkt.

Malvi hält absichtslos mit einer Hand das weiße Kabel fest, als würde sie sich so der Existenz des Musikgeräts versichern. Lieber ließe sie sich eine Zehe abschneiden, als sich von ihm zu trennen.

Es hat keinen Sinn, sie anzusprechen. Sobald meine Stimme an ihre Ohren dringt, verzieht sie den Mund. Ihrer Sichtweise der Welt folgend, entscheidet sie mittlerweile selbst, was sie tut und lässt. Da an ihr ein Wollen nur in äußerst geringer Ausprägung zu erkennen ist, läuft es darauf hinaus, dass wenig getan wird.

Ich habe ihr einmal Where is My Mind von den Pixies geschenkt, ich weiß nicht, ob sie sich das je angehört hat.

An unserem Tisch ist eine Pause entstanden.

»Tagalog, okay«, setze ich die Haferflocken-Sache fort. »Oder der Typ ist einfach ein Idiot.«

»Hey du, wir stehen unter Beobachtung«, sagt Tamara in dem eindringlichen Tonfall, mit dem sie mich für Dinge in die Pflicht nehmen will, die mir gleichgültig sind.

Mein Körper reagiert direkt darauf und schickt mir einen stechenden Hodenschmerz.

Ich frage Tamara, wie sie das meint, worauf sie sagt, dass wir nicht negativ auffallen sollen, wenn wir schon mit einem Dreißig-Prozent-Rabatt als crew friends reisen, worauf ich sage, dass ich persönlich nicht im Geringsten crew friend bin, weil ich Freundschaft anders definiere, worauf sie mich bittet, jetzt nicht meinen Facebook-Hass auszubreiten.

»Facebook hat nichts damit zu tun«, stelle ich richtig, »aber ich zahle genug, um nicht als Gast zweiter Klasse zu fahren.«

»Mama zahlt, nicht du«, wirft Tom ein.

»Nein, mein Lieber, ich zahle diese Reise«, sage ich und wende mich Tamara zu, »ich wollte nichts als mit einem Kellner eine gemeinsame Sprache für Haferflocken finden.«

»Musst du diese Kleinigkeiten immer mit einer solchen Penetranz verfolgen?«

Ich atme aus und sage, dass sie ja recht hat, worauf sie lächelt und sagt, dass es schon in Ordnung ist, abweichende Meinungen zu vertreten, worauf ich sage, dass ein solches Schiff sich nicht für abweichende Meinungen eignet, worauf Tamara sagt, dass sie an mir eigentlich die abweichenden Meinungen am liebsten hat, worauf Tom sagt, sie soll nicht so kitschig sein.

»Okay, morgen klopfe ich in der Früh bei Rafaela und frage nach ihrem Privatvorrat Haferflocken«, sage ich.

»Untersteh dich«, sagt Tamara und lacht.

»Na endlich, ihr schafft das«, sagt Tom, der solche Sätze in Vorabendserien hört.

3

Bei einer Schiffsreise mit 1.200 Passagieren ist die Wahrscheinlichkeit vernachlässigbar, jemanden zu kennen. Ein Luxuskreuzfahrtschiff auf einer 12NC, dem Fachbegriff für 12 Nights Caribbean, ist der allerletzte Ort, an dem ich erwartet hätte, Amélie Brecher nach fünfzehn Jahren über den Weg zu laufen. Die Frau mit der Kamera, die ich aus dem Augenwinkel wahrnehme, hat die gleiche Idee wie ich, sie will die gelben Badeliegen ohne Menschen fotografieren.

Ihre langen Haare haben einem präzisen Kurzschnitt Platz gemacht. Sie trägt eine Military-Hose und eine schwarze Bluse, anders als die Freizeitmodelinie unserer Mitpassagiere. Sie passt als ganze Person nicht an diesen Ort. Amélie, auf den ersten Blick eine auffallend hübsche, aber längst erwachsene Studentin, sieht nicht aus wie jemand, der eine Kreuzfahrt bucht. Ihr Outfit signalisiert Geisteswissenschaften.

Aber Amélie ist nicht die Person, die einem um den Hals fällt. Eine absonderliche Pantomime beginnt. Wir signalisieren einander mit übertrieben höflichen Gesten, uns gegenseitig ins Bild laufen zu dürfen. Dabei kippt ihr ein Buch aus der Umhängetasche. Naokos Lächeln von Haruki Murakami. Mit drei Schritten bin ich dort und hebe es auf.

»Mrs. Amélie Brecher, wenn ich mich nicht irre?«

»Hey du?« Beim Lachen wird der kleine Abstand zwischen den Vorderzähnen sichtbar. »Mr. Dreher?«

»Dein Buch sieht toll aus … du auch!«

Ich strecke es ihr statt eines Handschlags entgegen. Da ist es wieder, dieses Brennen im Bauch. Ein hüpfendes, fliegendes Brennen, so wie vor fünfzehn Jahren.

»Der Fisch kann das Flirten nicht lassen«, sagt sie und nimmt das Buch. »Sprichst du noch immer jede Frau an?«

Amélie muss 37 sein. Vielleicht sind ihre Schultern jetzt rundlicher, aber insgesamt haben die fünfzehn Jahre ihr nicht geschadet. Damals studierte sie Publizistik und hatte ein Praktikum bei einer Zeitung begonnen. Die meisten, die so ins Berufsleben einstiegen, endeten in der Universitätsverwaltung oder hielten sich kurz in einer Online-Redaktion, ehe sie schlecht besuchte Kurse in der Bundeszentrale für politische Bildung leiteten.

»Nenn mich nicht Fisch. Der Spitzname war Flipper«, stelle ich richtig.

»Fisch aber auch.«

»Bist du mit Stefan an Bord?«, frage ich. »Kinder?«

»Stefan ist tot«, sagt sie, »er starb ein Jahr, nachdem wir beide aufhörten, uns zu sehen.«

»Das tut mir leid.«

Meine Stimme klingt seltsam maschinell.

»Und du, führst du immer noch mehrere Beziehungen gleichzeitig?«

»So hab ich das nie gesehen«, sage ich, und weil wir uns nach fünfzehn Jahren nicht auf die Wangen küssen, strecke ich ihr jetzt doch die Hand hin.

Ihr Händedruck erzeugt bei mir Gänsehaut, kein unangenehmes Gefühl, aber sollte nicht sein, passt nicht in mein Leben.

»Bist du noch mit dieser Tamara zusammen?«

»Bin ich.«

So wie ich es zugebe, klingt es wie ein Verbrechen.

»Klassisch verheiratet, zwei Kinder?«

»Hast du uns beim Einsteigen beobachtet?«

Früher dachte ich oft, ich hätte in ihrer Anwesenheit einfach einen schlechten Tag. Amélie strahlte etwas aus, was das Gegenüber um eine Stufe dumpfer machte. Man war ihr gegenüber nicht so schlagfertig, so selbstsicher wie sonst. Lag es daran, dass sie gerne den Eindruck erweckte, sie könnte jederzeit aufspringen, das Feld räumen? Und was wäre so schlimm daran gewesen, wenn sie verschwunden wäre? Als sie wirklich verschwand, kam ich darüber hinweg.

»Die meisten haben zwei Kinder. Bin gespannt, wie Tamara aussieht.«

Das alles ist der pure Irrsinn, denn es sollte mir völlig egal sein. Amélie war immer wie ein Sog für mich. Leider hat sich daran nichts geändert.

»Liest du das auf der Reise?«

Ich zeige auf das Buch von Murakami und schäme mich für meine Frage. Das gleiche Phänomen wie damals. Neben ihr bin ich weniger souverän, weniger wahrhaftig.

»Kennst du das, wenn man ein Buch mag und eine wichtige Figur überhaupt nicht aushält?«

»Passiert mir dauernd!« Wie oft hatten wir solche kleinen Gemeinsamkeiten gefunden. »Meinst du diese abscheuliche Reiko?«

»In Wirklichkeit ist Reiko die einzige Geisteskranke dort, und immer spielt sie diese grässlichen Lieder auf der Gitarre. Sie ist so mitfühlend.«

»Ich hasse diese sanfte … diese esoterische Hippie-Attitüde«, ergänze ich, »eine total ärgerliche Person!«

So wie früher haben wir beide auch heute noch miteinander zu tun. Nicht, dass ich auf dieser Reise noch einen zusätzlichen Schmerz benötige, aber diesen begrüße ich nun, nehme ihn auf wie einen guten, alten Bekannten, einen Bruder des Schmerzes im Intimbereich.

»Wie sich diese Reiko überall einmischt, wie sie die Kleidung von Naoko trägt … Die ganze Kommunikation läuft über diese Bestie!«

»Und am Ende schläft sie auch noch mit ihm, mit diesem Erzähler«, ergänze ich, »mit dem … Wie heißt er?«

»Murakami?«

Wir lachen beide.

Ich stecke die Kamera ein. Ich hätte dieses Treffen gerne aufgenommen, doch ein Foto von mir und Amélie würde nicht in mein Album 12NC passen.

»Sag mal … Am Ende schläft er mit Reiko, so weit geht das?«

Ich nicke und sie antwortet mit gespielter Enttäuschung, dass sie das Buch jetzt wegwerfen könne, aber ich höre nicht zu, weil mir etwas einfällt.

Bei einigen Frauen, die ich kannte, stand beim Orgasmus das tiefe Atmen im Vordergrund, oder sie schrien, manche gaben kaum einen Laut von sich, wieder andere sagten mehrere Male hintereinander »ja«. Amélie war die einzige, die beim Höhepunkt ihren eigenen Namen stöhnte. »Amélie, Amélie.« Plötzlich stand ich dieser »Amélie, Amélie« wieder gegenüber.

»Mit wem bist du hier?«, frage ich, und sie sieht mich erstaunt an, so dass ich nachsetze: »Die meisten haben einen Partner und zwei Kinder.«

»Ich nicht.«

»Allein?«, wage ich mich vor. »Du warst nie so die Zielgruppe für Luxuskreuzfahrten.«

Sie verfasst als Freelancerin Reiseartikel für größere deutsche Tageszeitungen. Die Reederei hat sie kurzfristig eingeladen, weil das Schiff nicht voll war. Offenbar werden Kreuzfahrten mit schlechter Auslastung durch crew friends und Journalisten aufgefüllt.

»Und du musst positiv darüber berichten?«

»Da gefällt mir das Wort müssen nicht«, sagt Amélie. »Es sind keine Lobpreisungen, da würden sich die Leser aufregen. Aber klar werde ich in meiner Geschichte nicht den Schwerpunkt darauf legen, wie schlecht der Meeresfrüchtereis schmeckt oder wie klein das Pooldeck ist.«

»Ziemlich schlecht und ziemlich klein hier?«

»Mir ist die Gastronomie egal. Die Logistik dahinter ist interessant.«

Wir setzen uns auf eine der Liegen. Es gibt ungefähr hundert Liegen. Wir nehmen Platz auf der selben, unsere Schenkel parallel, nahe beieinander.

»Wie alt sind deine Kinder?«

»Vierzehn und elf.« Auf diese Frage bin ich vorbereitet – ich lüge fast nicht, ich korrigiere nur das Alter von Malvi um ein Jahr nach unten.

»Vierzehn?« Es scheint sie auch so zu irritieren. »Da hast du schnell gemacht!«

»Kann man sagen. Und bei dir?«

»Ein paar Partner, ein paar Praktika. Dann kam der beschissene Film.«

»Du hast in einem Film mitgespielt?«

»Nur mein Name. Die fabelhafte Welt. Hat mein Leben verändert. Plötzlich interessierten sich alle für mich. Jeder wollte die kleine Amélie auf Reisen schicken, weil ich so eine Süße, Romantische war.«

»Du siehst ja auch so aus.«

»Mein Name zaubert den Leuten dieses verblödete Lächeln auf das Gesicht. Mittlerweile nutzt sich der Effekt langsam ab.«

»Ich wäre ehrlich gesagt dankbar, wenn mir ein Film namens Freds Welt einen Sympathiebonus verschafft. Hast du ihn nicht gemocht?«

»Boykottiert.«

»Sei doch froh, dass deine Eltern frankophil waren, lass dich nicht von den Leuten …«

»Ich habe dir den Grund für diesen Namen nie erzählt. Ich hatte eine ältere Schwester namens Melanie. Sie starb bei der Geburt.«

»Echt?«

Die Neuigkeit ist ein Schlag in den Bauch, direkt auf das fliegende Brennen. Ich frage mich, was sie mir damals noch alles verschwiegen hat.

»Echt. Und du, noch immer technische Physik?«

»Nur vier Semester. Studienabbrecher wie du.«

»Wie ich? Genau wie ich, oder? Deine Spezialität war ja immer, Gemeinsamkeiten zwischen uns zu konstruieren, die mich motivieren sollten, die Dinge zu tun, die du wolltest.«

Mir fällt keine Antwort ein. Sie kramt in ihrer Tasche und holt Zigaretten hervor.

»Du hast sicher aufgehört, als du schwanger warst«, sagt sie.

»Genau. Deine erste Kreuzfahrt?«

»Meine dritte, Fisch. Aber erstmals Karibik.«

»Niemand nennt mich Fisch«, sage ich, »Urlaub für andere machen muss ein deprimierender Job sein.«

»Die Leute nennen es einen Traumjob.« Amélie lächelt. »Ist zwar falsch gedacht, aber vom Neid und von der Bewunderung zehre ich.«

Sie zündet sich im Wind mit meiner Hilfe eine Zigarette an. Ich ziehe mich zurück.

»Hast du Tamara nie davon erzählt?«

»Wovon?«

»Von deinem Spitznamen. Er passt so gut.«

»Du bist die Letzte, die das denkt«, sage ich. »Das Alleinsein stelle ich mir bei deiner Art von Reisen schwierig vor.«

»Glaubst du, ich bin seit Stefans Tod ewige Witwe?«

»Ich hoffe doch sehr.«

»Ich finde den Job auch anstrengend«, setzt sie fort, »aber ich bin immer gerne unterwegs. Natürlich sind fünfzig, sechzig Flüge im Jahr eine Herausforderung.«

»Ich fliege fast nie.«

»Ich hätte Murakami fragen sollen«, sagt sie, »wie er zu Reiko steht.«

»Kann man einem Schriftsteller einen Leserbrief schreiben?«

»Ich habe ihn vor ein paar Monaten interviewt. Er hat mir dieses Buch signiert.«

Sie zeigt mir die Widmung und erzählt, wie sie von Murakami in seinem Apartment in Tokyo-Aoyama empfangen wurde.

»Die romantische Vorstellung war bald dahin. Er beschäftigt mehrere Sekretärinnen, ein richtiger Kleinbetrieb. Aber er nahm sich eine Stunde Zeit. Ich hätte dieses Reiko-Elend vorher lesen sollen, dann hätte ich ihm ein anderes Buch hingehalten.«

»Dein Leben zwischen Murakami und der Karibik scheint recht abwechslungsreich zu sein.«

Es fühlt sich wie ein Verrat an, mit dieser Frau, die ich von früher viel zu gut kenne, Schenkel an Schenkel auf einer Liege zu sitzen.

Obwohl ich den Gedanken nicht mag, frage ich mich, wie mein langweiliges, neues Ich auf sie wirkt.

»Lässt du dich noch immer von deiner Mutter kontrollieren?«, fragt sie.

»Nein«, sage ich. »Ich meine, sie ruft dauernd an, was soll ich tun, sie ist alt.«

»Sie war immer alt. Und schlau.«

»Ich bringe zum Beispiel gerade einen Auftrag unter Dach und Fach. Sie ruft an, und ich erzähle ihr, ich kriege den Auftrag. Ist bestimmt wieder kein Geld, sagt sie. Doch, ist gut bezahlt, sage ich. Frisst bestimmt alles die Steuer, sagt sie.«

Amélie lacht.

»Welche Art von Aufträgen?«

»Ich entwickle Alarmanlagen.«

»Du hattest immer ein krankhaftes Sicherheitsbedürfnis.«

»Deswegen haben wir die Kabine auf dem Fünferdeck. Da sind die Überlebenschancen am höchsten«, sage ich.

»Wir«, wiederholt Amélie und mustert mich wie ein abgegriffenes Spielzeug. »Was kann man bei Alarmanlagen entwickeln? Sind sie nicht schon perfekt?«

Ich könnte ihr jetzt erzählen, wie weit sich das Portfolio von Alarm Fred erstreckt, von Planung über Montage bis zur Wartung jeglicher Alarmanlagen, daneben auf angrenzende Gebiete wie Arbeitssicherheit oder Brandschutz. Es gibt auf dem Sektor Alarmanlagen einige Attraktionen, Zutrittskontrolle, akustische Glasbruchmelder, Installation von Bewegungsmeldern, Außensirenen mit Blitzlampen, dazu die Grundentscheidung, ob man eine verkabelte oder eine Funkalarmanlage oder auch eine Hybridalarmanlage bevorzugt.

»Die Tendenz geht von der Sirene zur Stillen Alarmierung. Heute wirst du per SMS informiert, wenn eine Maus durch dein Ferienhaus rennt.«

»Machst du das seit fünfzehn Jahren?«, fragt Amélie, um mich endgültig abzuschreiben.

»Vorher habe ich in der gleichen Branche für den Marktführer gearbeitet. Und noch vorher Richtmikrofone entwickelt.«

»Soso!«

Ich notiere, Amélie Brecher hält mich für einen Familienvater mit Alarmanlagen und Richtmikrofonen – für den, der ich geworden bin.

»Wenn Carreras oder Mick Jagger in einem Stadion stehen, will man, dass ausschließlich der Gesang übertragen wird. Aber die hüpfen oder schlurfen über die Bühne, der Schweiß rinnt, die kümmern sich nicht um den vorgegebenen Abstand zum Mikrofon, und so weiter. Das Mikrofon soll trotzdem die beste Qualität einfangen.«

»Spannend!«

Amélie hört nicht mehr zu. Sie ist eine gute Zuhörerin, die beste, die ich kenne, aber wenn sie etwas nicht interessiert, schaltet sie ab und zeigt das auch – eigentlich fast wie Malvi.

»Ich finde es wirklich spannend. Es ist ein kniffliges Gebiet. Brauchbare Mikrofone verfügen über eine hohe Abschirmwirkung, auch wenn die Schallquelle weit entfernt ist.«

»Wieso bist du dann zu Alarmanlagen übergegangen?«

»Die Richtmikrofone waren am Ende schon derart perfekt«, sage ich, »da gab es keine Entwicklungsmöglichkeit mehr.«

»Wieso tust du dir eine Kreuzfahrt an?«, wechselt sie das Thema.

»Ehrlich gesagt kennen wir jemanden, der für die Reederei arbeitet. Ein Drittel Rabatt. Ist immer noch verdammt teuer.«

»So eine Reise muss schön sein«, lächelt Amélie, als wäre ihre Reise eine andere. »Letzte Frage. Er schläft mit Reiko, aber er kommt mit Midori zusammen, oder? Ich meine, wenn Naoko tot ist, muss er doch mit Midori zusammenkommen?«

»Hab ich vergessen«, sage ich, »aber wenn du den Murakami nicht ins Meer wirfst, erfährst du es und kannst es mir noch an Bord mitteilen.«

»Willst du schon wieder Treffen erzwingen?«, fragt Amélie, und jetzt legt sie wieder den Kopf schief, genau, das war eine Angewohnheit von ihr.

»Ja«, sage ich.

Es wirkt nicht souverän.

»Ich muss jetzt zu einem Meeting.« Aus ihrem Mund klingt es völlig einleuchtend, dass auf diesem Schiff irgendwelche Meetings stattfinden. »Denk mal darüber nach, Fisch!«

»Sag es, wie du willst.« Mit starrem Blick starre ich sie an. »Amélie, noch eine Sache … Das von vorhin … das tut mir leid, wegen deiner Schwester!«

»Mach dir keine Sorgen!« Die kleinen Fältchen neben ihren Augen explodieren in einem Lachen. »Ist nur eine Geschichte, die ich mir für die Amélie-Filmfans ausgedacht habe. Inzwischen glaub ich selbst dran … Deine Familie stellst du mir vor?«

Weg ist sie. Und da vergeht das Brennen. Dafür kehrt der Hodenschmerz zurück, ein paar Stiche und ein ziehendes Gefühl im Unterbauch. Wozu wird mich diese Frau bringen, und soll sie das?

Ich bleibe noch länger auf meiner Hälfte der Liege sitzen und denke an Reiko und verschiedene Dinge.

4

Bevor ich von den Ereignissen berichte, die uns widerfuhren, nachdem der menschengefüllte Turm zu Babel in unserer Welt landete, muss ich uns wohl vorstellen. Die auffälligste Tatsache ist, dass keinem unserer Mannschaftsmitglieder ein Auge fehlt. Kapitän Störtebeker trägt zwar links eine Klappe und verweist auf einen »Kampf mit dem Spanier«. Aber wenn sie verrutscht, blickt ein unbeschädigtes, funkelndes Auge hervor. Der Chinese meinte einmal im Vertrauen, der Kommandant habe wohl eher mit einem dicken spanischen Küchengehilfen um Kabeljau gestritten.

Natürlich drückte der Chinese das auf seine Art aus.

»Stockfisch Kampf«, sagte er. »Aug Capitano sicher.«

Der Chinese war durchaus kein Gegner des Kommandanten, er betrachtete ihn mit der Milde der Loyalität. Doch die übertriebene Vorsicht, die den jüngsten Entscheidungen Störtebekers zugrunde lag, passte nun einmal nicht zu uns. Die Lage war angespannt. Es herrschte jene Mischung aus Unzufriedenheit und Überdruss, die bei der Mannschaft zu Unruhe, Spott und üblen Einfällen führt.

»Wir sind keine Piraten, wir sind Muskatnüsse«, sagte jüngst einer der Zimmermänner aus Danzig – man konnte sie kaum voneinander unterscheiden, zwei von ihnen waren Brüder, und der dritte sah dem ersten ähnlich.

Obwohl es der wahrhaftigste Witz war, den ich seit langem vernommen hatte, war das Lachen kurz und kam fast ausschließlich von polnischer Seite. Seit geraumer Zeit lachte außer den Danzigern niemand mehr. Zuerst schien uns eine Pechsträhne an jeden Ort unter der Sonne zu verschlagen, nur nicht zur Beute. Sobald jedoch endlich eine Prise am Horizont auftauchte, zögerte der Kommandant trotz Kampfbereitschaft der Mannschaft eine Attacke hinaus. Entweder er drehte ab, weil wir seiner Auffassung nach nicht für einen Kampf gerüstet waren, oder die Kauffahrer fuhren uns am Ende davon. Die Stimmung war vergiftet. Störtebeker mochte es weiterhin ignorieren, doch bei uns lag Meuterei in der Luft.

Wir kommen zu spät, zehn, zwanzig Jahre zu spät. Das karibische Meer ist ausgefischt. Vorbei die Zeiten der kanonenlosen Westindienfahrer und Handelsschiffe, die auf der Spanish Main den Horizont zierten wie fette Krabben. New Providence ist längst nicht mehr Piratenhauptstadt. Es vegetiert als brav regiertes Nest unter Kronverwaltung dahin. Vor zwölf Jahren hatte sich das Blatt endgültig gewendet, als einer von uns, der Verräter Woodes Rogers, durch seinen raffinierten Seitenwechsel lächerlicherweise zum Gouverneur des britischen Königs ausgerufen wurde.

Jede einzelne Ladung, die sie aus den Minen nach Europa schiffen, das spanische Silber, der Tabak, Rum oder Zucker wird mittlerweile von schwerbewaffneten Soldaten verteidigt. Dazu verfolgen uns die Kriegsschiffe, auf dem Weg von oder zu einem der zahlreichen Kriege, Scharmützel und Geplänkel, über die man als rechtschaffener Pirat den Überblick verliert. Gegen uns vereinigten sich sogar die europäischen Kronen, vor zehn Jahren noch unvorstellbar. Die Briten und Spanier werden einander zwar für ewig hassen, nach allem, was sie sich vor unseren Augen antun, aber jetzt gehen sie gemeinsam vor und werden ihre Ruhe erst finden, wenn sie uns erledigt haben. Sie jagen uns wie Löwen über alle Meere, stellen uns nach bis in die letzten Buchten. Ihr Ziel ist nichts weniger als die Ausrottung unseres Berufsstandes.

Wir Piraten haben heute keine Landmacht mehr, keinen Stützpunkt, keinen Ort zur Regeneration. Wer einmal unterwegs ist, muss in vielen Fällen auf Gedeih und Verderb auf dem Wasser bleiben. Piratenschiffe können sich nur auf offener See treffen. Nicht selten geraten sie bei ihren Zusammenkünften in Streit und reiben einander auf. Es gibt keine Ehre mehr, keinen Stil. Unsere Kodices der Vergangenheit haben sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in Luft aufgelöst. Jeder ahnt, das hier ist eine der letzten Fahrten einer Bande wie der unseren, vielleicht auch die allerletzte Kaperfahrt eines größeren Piratenschiffs.

Sicherlich sind wir ein Grüppchen, wie es in Zukunft nicht mehr zusammenfinden wird. Keiner von uns kennt die Seite der Sieger. Doch zwei Kerle haben wir dabei, die gefährlicher sind als Raubtiere und für die das Betreten des Landes mit Lebensgefahr verbunden ist, weil sie von allen Kronen steckbrieflich gesucht werden. Einer davon ist der Muskelmann. Vom ihm geht das Gerücht, er sei früher klein und schmal gewesen. Klein ist er weiterhin, bestimmt überragt er keine fünf Fuß, doch seine Breite macht ihn zur auffälligsten Erscheinung der Fín del Mundo. Unter seinem hohen Haaransatz breitet sich eine dicke, flache Stirn aus – ein Schädel, der trotz seiner relativen Jugend Ehrfurcht gebietet. Seine Unterarme haben den Umfang von zwei Oberschenkeln eines normal proportionierten Menschen. Ich bin noch niemandem begegnet, der im Kampf so umsichtig agiert wie er, er ist kompromisslos und von schneller Entscheidungsgabe. Eine unglaubliche Spannkraft steckt in seinem Körper. Er trachtet ihn zu stählen durch selbst erfundene Übungen, die er in jeder freien Minute ausführt und über die einige im Geheimen lästern. Einer der Danziger imitiert sie gerne, nicht ohne vorher sicherzugehen, dass der Muskelmann ihn dabei nicht beobachtet.

Die Narben, die seinen Körper überziehen, weisen auf den weiten Weg hin, der ihn vom Schmied und Böttcher zum Piraten werden ließ. Niemand kennt seinen Namen, und über alles Persönliche schweigt er. Es geht das Gerücht, er stamme aus dem Zarenreich. Wenn wir jedoch, was selten geschieht, auf einen Russen oder Ruthenen treffen, weigert er sich, Übersetzungstätigkeiten zu übernehmen. Nur er versteht das Kauderwelsch der Danziger, obwohl er seit geraumer Zeit so tut, als wäre es ein Rätsel für ihn. Wenn er etwas von sich gibt, so in einem schweren Deutsch, durchsetzt von holländischen Wörtern. Wir sprechen mehrheitlich Deutsch, doch Störtebeker und Anne Bonny sprechen miteinander Englisch. Es macht wenig Unterschied. Wer lange genug auf See ist, versteht das Nötige ohnehin in jeder Sprache, und wundert sich an Land, wie die Welt verschiedene Zungen spricht und die Leute sich missverstehen.

Wenn ich nicht irre, wird man spätestens in fünf Jahren, 1735, das Ende der Piraterie ausrufen müssen. Das vollständige Verschwinden unseres Metiers steht bevor, das mehr als hundert Jahre in der Karibik die Seefahrt prägte. Kämpfer wie der Muskelmann verschwinden dann in den Spelunken, Spiellokalen und Kerkern. Das heißt beileibe nicht, dass damit das Verbrechen auf den Meeren ausgerottet sein wird. Im Gegenteil, die Königreiche haben ein raffiniertes System entwickelt, das ihnen auf der Ebene der Piraterie ein Monopol zugesteht. Auf den dazugehörigen Kriegsschiffen tummeln sich keine Piraten mehr, sondern Soldaten Seiner Majestät und andere Ganoven. Die Bedingungen, unter denen solche Halunken auf dem Meer ihr Brot verdienen, sind traurig.

Bei uns herrschen Regeln der Ebenbürtigkeit, die bestimmt gerechter sind als alle Gesetze und das Gerichtswesen, das jeder bestechen kann, der ausreichend Reales de Plata oder Dukaten auf den Tisch legt. Piraten, die diesen Namen verdienen, teilen ihr gemeinsam Erworbenes untereinander auf, nach einem festgelegten Schlüssel. Sie leisten keinem König, Grafen oder sonstigen Würdenträger eine Zahlung. Die modernen Seeräuber jedoch liefern »ihrem« König den vollständigen Gewinn ab. Sie segeln unter Sold wie eine schwachköpfige Soldateska und brüllen dessen Parolen. Gegen diese bedauernswerten Hampelmänner waren ja die Freibeuter, die den Fünften Teil ablieferten, ein ehrenvolles Volk. Wenn sie nicht im Geheimen Großes beiseiteschaffen – der Tod steht darauf –, bleibt ihnen ein lächerlicher Anteil. Längst haben sie auf den Meeren die Vorherrschaft. Historienschreiber der Zukunft werden diesen Schiffswürmern die Ehrenprädikate entziehen, die sie sich gegenwärtig anmaßen.

Im Lauf dieser Fahrt hat sogar der Muskelmann begonnen, Reden zu schwingen, die über drei oder vier Wörter hinausgehen. Alle anderen gaben ihre unselige Meinung dazu, und heraus kam der Versuch einer Welterklärung, die zwar niemand später wiederholen konnte, die aber mit den höchsten theologischen Diskursen wetteiferte.

Wer sich an unfruchtbaren Debatten an Bord beteiligt, macht sich bei jedem Kommandanten der Welt unbeliebt. Doch unserer schritt gegen solche Auswüchse längst nicht mehr ein, weil er meist in seiner Kajüte hockte.

»Sind wir ein Schooner oder eine Schaluppe?«, fragte der Muskelmann, und jeder konnte seinem Tonfall entnehmen, was er meinte.

Ringsum hörte man ein zustimmendes Brummen. Sogar Corta-Cabeça schloss sich mit einem Nicken an.

Wir hatten uns angewöhnt, unsere Fín del Mundo, einen Zweimaster, als Schooner zu bezeichnen, weil es gut klang und der Kommandant es so sagte. Er unternahm alles, um unser Schiff wie einen Muskatschooner unter holländischer Flagge aussehen zu lassen. Wir hatten solcherart gefälschte Urkunden an Bord, wenn auch keinen einzigen Holländer. Die Fín del Mundo war zwar nicht mehr die Jüngste und erreichte keine hohen Geschwindigkeiten, doch sie war wendiger als die meisten Kauffahrer. Dazu kam, dass sie so stabil im Wasser lag wie kein Schiff, das ich je gesehen hatte.

Durch die Unentschlossenheit unseres Kommandanten hatten wir auf dieser Fahrt noch kein einziges Schiff kapern können. Viermal hätten wir die Gelegenheit angetroffen, Prisen aufzubringen, viermal hatte Störtebeker frühzeitig abgedreht. Die Tragik bestand darin, dass wir den Muskattransport nicht nur aus Gründen der Tarnung spielten, sondern längst dazu geworden waren. Würden wir so weitermachen, brächten wir eine Ladung Muskatnüsse von Saint Dominique nach Kòrsou, ganz wie ein Händler – falls wir sie nicht vorher selbst geraucht oder uns daran totgefressen hatten.

Dabei hätte alles dafür gesprochen, einmal etwas zu wagen. Die Fín del Mundo war früher ein Schmuckstück der See gewesen; jetzt, etwas heruntergekommen, strahlte sie wie manche ältere Schiffe eine gewisse Gemütlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit aus. Störtebeker hatte das Schiff nur mithilfe seiner hervorragenden Kontakte erhalten, oder weil ihm ein reicher Mann seine Seele schuldete. Über die Geschichte dahinter sprach er nie. Je weiter wir fuhren, desto weniger sprach der Kommandant. Denn die vier Schiffe, die uns begegnet waren, hätten sich als Prise allesamt hervorragend geeignet, das gab sogar der Chinese zu. Sie waren – so imaginierten wir es – voll von Gewürzen, Silber, Stoffen, Tabak und endlich wieder Schießpulver.

Was das Fiasko dieser Fahrt für mein künftiges Schicksal bedeuten würde, stand in den Sternen. Auf unserem Schooner war außer Störtebeker nur einer älter als ich, Georgios, der Wundarzt und ehemalige Kanonier in den glorreichen Zeiten des Sechspfünders. In meinem Alter hängen die meisten freien Seefahrer am Galgen oder liegen mit zerschmettertem Schädel am Grunde des Meeres. Wenn ich nicht endlich an eine Kiste Reales de Plata oder Dukaten kam, würde ich mein Leben als Ausgestoßener beschließen müssen. In den meisten Städten konnte ich mich als Lump nicht sehen lassen. Als reicher Mann war es eine andere Sache, wer die Münzen hatte, regelte alles. Doch wie selten gelang es bei einem Beutezug, die Prise gut aufzuteilen, zu behalten und sich nicht gegenseitig die Beute streitig zu machen. Wenn irgendjemand davon etwas verstand, so Störtebeker.

Für mich kam die Fahrt zum rechten Zeitpunkt, immerhin war ich frei und musste mich keiner Obrigkeit und keinem korrupten Gouverneur unterordnen, und meine Hoffnung auf Wohlstand starb nicht. Andere ziehen sich im vierzigsten Lebensjahre, wenn ihre körperlichen Kräfte nachlassen, in die Wälder zurück und sammeln Beeren. Doch wieso in Erdlöchern leben? Lieber die Debatten begleiten, zu denen eine müde und unzufriedene Mannschaft neigt, und der Chronist des Untergangs sein, lieber das Wasser unter den Füßen spüren, so lange, bis die Kehle ein letztes Mal Luft schnappt, ehe sich der Körper mit dem salzig Nassen vereinigt.

Störtebeker war der Hauptgrund gewesen, wieso ich noch einmal angeheuert hatte. Er war ein außerordentlicher Kommandant, keiner von denen, die ihre Autorität mit der Peitsche durchsetzen mussten. Er schwieg lieber als er sprach, legte Wert auf Disziplin und Sauberkeit, jeder musste einmal pro Woche an den Wasserbottich. Er selbst sah wie wir alle roh und gezeichnet aus, aber er stank nie, nicht einmal aus dem Mund. Verbissenheit war ihm fremd. Ohne den Schooner ähnelte er dem gemütlichen Chef einer Hafenkneipe. Mehr als dieser Mann hatte bestimmt keiner der Alt-Kapitäne in den Spelunken an den Hafenmauern geleistet, die sich auf das Erzählen verlegt hatten. Seines Zeichens nicht nur als Kapitän und Führer befähigt, sondern auch ein glänzender Seemann, roch er Gefahren und Untiefen, wie sie hier gelegentlich vorkamen. Oft kam er an Deck und ließ ohne ersichtlichen Grund den Kurs ändern. Ich weiß nicht, wie viele Male er gerade dadurch ein Riff umschiffte, das die Karten noch nicht verzeichnet hatten.

Kurz, ich hoffte, dass Störtebeker bald zu seiner alten Stärke zurückfinden würde.

Störtebeker teilte eine Eigenheit mit anderen Kommandanten – zum Beispiel mit dem alten Käptn Riddlesborough – er besaß das einzige Fernrohr an Bord. Er gab es selten aus der Hand und erlaubte bei Todesstrafe kein zweites, »sonst macht jeder seine eigene Rechnung«. Schon so wusste niemand, was in seinem Kopf vorging. Dass in entscheidenden Momenten alles von seinem Blickwinkel abhing, trug wie bei Riddlesborough zur allgemeinen Verstörung bei.

Im Lauf dieser Fahrt hatte sich die allgemeine Auffassung herausgebildet, dass die Regelung mit dem Fernrohr einer Änderung bedurfte. Noch wagte es keiner auszusprechen, aber Corta-Cabeça wartete auf die Gelegenheit. Das Problem war, wenn dem Kommandanten jemand etwas Feindseliges ins Gesicht sagte, nahm er die Fehde nicht auf, sondern winkte nur müde ab. In den letzten Wochen schien er stark gealtert. Manchmal dachte ich, Störtebeker habe seinen Namen und seine Position vergessen. Als Folge der vier Fehlversuche war er auf seinem eigenen Schiff ein Fremdling geworden.

Der legendäre Störtebeker war ja 300 Jahre lang tot. Dieser hatte zweifellos Heldentaten höchsten Ranges vollbracht. Auf der Habenseite unseres Störtebeker standen indes einige gelungene Prisenzüge, in ihrer Mehrzahl vor über zehn Jahren. Keine Fahrten, die Legenden heraufbeschworen hatten, aber er war seinen respektablen Weg gegangen. Für die goldene Generation der Kommandanten war Störtebeker zu jung gewesen, und gegenwärtig fehlten ihm die Möglichkeiten.

Wie sich jetzt herausstellte, wollte er nicht mehr Geschichte schreiben, ja er riskierte gar nichts. Er hatte die Angriffslust, die ihn in früheren Jahren ausgezeichnet hatte, ebenso eingebüßt wie seine Eckzähne. Auch das keine Folge des Kampfs mit einem Spanier. Sie fehlten ihm, seit ich ihn kannte.

Unter anderem, so lautete die vorherrschende Auffassung auf unserem Schiff, hing sein Niedergang mit Anne Bonnys Zustand zusammen. Schwanger wie ein Ball hatte sie die Reise angetreten und sich so in die Hand Gottes begeben. Viele rechneten damit, dass man ihren Körper bald über Bord werfen musste, denn wie sollte sie das überstehen, wenn es doch ein offenes Geheimnis war, dass sie nichts auf der Welt schrecklicher fand als eine Niederkunft. Einmal hatte sie mir gegenüber auf den Bauch gedeutet und Corta-Cabeças Handbewegung imitiert. Dazu hatte sie einen Fluch ausgestoßen, welcher, aus dem Mund einer Frau, sogar mir die Schamesröte ins Gesicht trieb. Die meiste Zeit saß sie in der Koje. Hätte man nicht gewusst, dass sie einst die berühmteste Piratin der Meere gewesen war, wäre man davon ausgegangen, wir hätten versehentlich eine schwermütige Küchengehilfin an Bord genommen.

Anne Bonny, früher gefürchtet, stand sichtlich am Ende ihrer Laufbahn. Die einst knabenhafte Figur, die ihr den Vorteil verschafft hatte, als Junge auftreten zu können, war in einer Flut weiblicher Reize ertrunken. Sie sah noch faszinierend aus, doch ihre schweren Lidbalken hingen wie bei einer Säuferin nach unten, ihre Oberarme schwabbelten wie abgegriffenes Schnittfleisch. Störtebeker hatte diese üppige und faltige Überfülle dennoch geschwängert. Wenn sie an Deck kam, streichelte sie mit versonnenem Blick ihren hervorquellenden Bauch. Anne Bonny hatte mehrmals ihren Nachwuchs nebenbei auf einer beliebigen Insel geworfen und dort zurückgelassen – eine unweibliche, aber unter den vereinzelten Piratinnen übliche Praxis.

Manchmal hatte ich den Verdacht gehört, wir führen einfach nur nach Kòrsou, weil sie es gewünscht hatte. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die andere große Piratin, ihre Gefährtin Mary Read, doch nicht vor neun Jahren im Gefängnis in Jamaica an einem Fieber zu Tode gekommen war, sondern als Fischerin in Kòrsou lebte. Ich hielt wenig von solchen Spekulationen, sie klangen für mich wie die Geschichte des auferstandenen Jesus, um zu glauben, hatte man den Glauben nötig. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass Störtebeker in einem solche Fall das Risiko eingegangen wäre, drei Starrköpfe wie Corta-Cabeça, den Muskelmann und den Chinesen in Saint Dominique anzuheuern.

Von ihr hörte man kein Wort dazu, wie sie überhaupt selten mit jemand anderem als Störtebeker sprach. Dadurch wurde die Idee in der Mannschaft verstärkt, sie wäre die wahre Herrscherin über das Schiff. Solchen Übertreibungen trat ich entgegen, wo ich sie hörte. In mir war eher der Eindruck entstanden, dass sie sich weniger für die nächste Prise interessierte als für die bevorstehende Mutterschaft. Zwar hatte sie nur abfällige Bemerkungen für ihren Bauch übrig, doch jüngst hatte sie die Frage in den Raum gestellt, ob wir Siegfried oder Hagen für gute Namen hielten.

Wenn sie Überlegungen dieser Art von sich gab, wartete sie übrigens, bis Störtebeker außer Hörweite war. Ich fand das unredlich von ihr, rückten solche Aussagen einen Mann doch in ein Licht der Schwäche. Passend wäre es allerdings, wenn das Kind Siegfried Störtebeker oder Hagen Störtebeker heißen würde. Der Rufname war inzwischen selbst nur noch Zitat, und wenn sich der Kommandant nicht zu einer Wundertat aufraffte – aber wie? –, würden er und seine Befehle, die immer noch mit großer Überzeugung kamen, ab einem gewissen Zeitpunkt wunderlich wirken. Der Tag nahte, an dem er abgewählt würde oder Schlimmeres, und es wurde mir unbehaglich bei der Überlegung, ob man Anne Bonny in einem solchen Fall schonen würde. Ihr peinlicher Zustand verschärfte bei weniger aufgeklärten Mannschaftsmitgliedern die Feindseligkeiten. Was sie noch schützte, war allein der Kommandant, und der wirkte schwach und lahm.

Ich habe Störtebeker als gerechten und ehrenwerten Mann kennengelernt, zudem als einen, der Bildung ebenso hochschätzt wie materielles Gut. Doch seine Befehlsgewalt hat deutlich abgenommen. Wenn man ihn heute köpfte, würde sein kopfloser Rumpf höchstens noch am engsten Familienkreis vorbeilaufen, an Anne Bonny und dem Bauch. Doch wer hatte schon ein Interesse, Störtebeker, den Muskathändler, zu köpfen? Nicht einmal die Spanier, die dringend Erfolge benötigten.

Diese Ausführungen bringen mich zu einer anderen wichtigen Ergänzung, die diesen Zeilen voranstehen sollte: Ich bin, zweifellos und ohne spätere Namensänderung, Salvino d’Armato degli Armati aus dem Fürstentum Piemont, Teil des Königreichs Sardinien, meines Zeichens Geograph und Chronist an Bord der Fín del Mundo. Mir kommt die Aufgabe zu, unser Abenteuer niederzulegen. Meine Abneigung gegen das starre Latein hat mich dazu gebracht, diese Zeilen in deutscher Sprache zu verfassen. Meine Hoffnung auf Leserschaft liegt an dem unerhörten Ereignis, von dem ich berichten werde, unserem außergewöhnlichen Treffen mit einem glatten, weißen Elefanten der Weltmeere, den niemand vor uns zu Gesicht bekam.

Bekanntlich empfahl Dionysios von Halikarnassos den Schriftgelehrten, zumal auf historischem Gebiet, eine lobende Parteilichkeit für das Land unserer Herkunft. Ich bin parteilich für das Königreich Sardinien und das Fürstentum Piemont, die Grafschaft Nizza und Savoyen, doch spielt unser Reich in der Seefahrt keine Rolle.

Die Region meiner Vorfahren kenne ich ausschließlich aus der Literatur. Wiewohl ich die Sprache fließend spreche und in mir spüre, wie irgendwo im Piemont ein Markgraf meines Namens für ein kleines Volk seine weisen Entscheidungen fällt, habe ich mit meiner Heimat nichts zu tun. Ich könnte mit gleichem Rechte das Meer als mein Vaterland bezeichnen wie das Königreich Sardinien-Piemont.

Als Kind fortgebracht und die ersten fünf Jahre aufgewachsen im Süden Frankreichs, verschlug es mich in das Kurfürstentum Hannover, auch Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg genannt, wo ich behütet zum Jüngling heranwuchs. Aufgrund politischer Intrigen war ich gezwungen, wollte ich überleben, die europäischen Gefilde zu verlassen. Als junger Mann bestieg ich das Schiff in den neuen Erdteil. In Paraguay lebte ich fast ein Jahrzehnt auf der Jesuitenreduktion der Guaraní, wo ich neben einer großen Bibliothek einen ausgezeichneten Lehrer hatte und mir alles aneignete, was ich heute weiß. Am Ende wusste ich zu viel über die Patres und musste gehen. In Brasilien kam ich auf einer Plantage für Kakao unter und lebte zunächst ein geruhsames Leben. Doch entbrannte ich in Leidenschaft zu einer Wäscherin, wodurch meine Lage prekär wurde. Mit ihr hegte ich Fluchtpläne, doch als es so weit war, zog sie vor, zurückzubleiben.

Über die Hauptstadt Salvador schlug ich mich nach Rio de Janeiro durch, wo wegen der Goldvorkommen im Hinterland Arbeitskräfte dringend benötigt wurden. Ich arbeitete mehrere Jahre in einem Kontor am Hafen und unterhielt eine Liaison zur Ehefrau des Kaufmanns, der ihn betrieb. Da der Jüngste ihrer Söhne – ein hübscher Wuschelkopf, an den ich heute viel denke, der mir damals aber leider nur ein paar Blicke und das eine oder andere Spiel wert war – begann, mir allzu ähnlich zu sehen, musste ich Rio de Janeiro verlassen.

Eine Verkettung wunderbarer Zufälle führte dazu, dass ich lebendig auf der langen, schmalen Insel Eleuthera strandete und mich der See verschrieb. Ein Missverständnis, das mit einem Liebeshandel zu tun hatte, in den ich schuldlos verwickelt wurde, hatte zur Folge, dass ich, ein friedfertiger Mann, den das Leben zur Sünde gezwungen hatte, gar als Mörder gesucht wurde.

Auch meine Aufenthalte in New Providence und Cienfuegos endeten mit einer steckbrieflichen Suche. Innerhalb kürzester Zeit war mein Ruf, so ich je einen gehabt hatte, nachhaltig zerstört. Das Schicksal, Städte oder Orte nicht mehr betreten zu dürfen, hat mich immer wieder ereilt. Nach Vorfällen wie den angedeuteten ist es für mich unter meinem eigenen Namen kaum möglich, das Festland zu betreten.

Lange hatte ich nach einer Expedition auf die andere Seite der Welt gesucht. Ich dachte manchmal, ich würde im südlichen Pazifik, auf der Suche nach dem großen, neuen Kontinent, bei den dortigen hässlichen Völkern am glücklichsten werden. Endlich würde ich Raub und Kampf, wofür ich mich leidlich eignete, durch Forschung und Wissenschaft ersetzen, wozu ich mich in höherem Maße berufen fühlte. Doch diese Reisen gingen von Europa aus. Vielleicht war es dafür auch zu spät, vielleicht sollte aus mir einfach ein alter Knasterbart werden, der nicht zur Ruhe kam. Tief in mir spürte ich auch einen anderen Wunsch brennen, nämlich den, sesshaft zu werden. Der Ort, an den es mich wirklich hinzog, war Rio de Janeiro, doch gerade dort durfte ich mich fünfzehn weitere Jahre nicht blicken lassen.

Ich spielte mit der Idee, in Kòrsou von Bord zu gehen. Störtebeker hatte keine Handhabe gegen mich. Vielleicht gelang es mir, unter Holländern und sephardischen Familien ein neues Leben zu beginnen. Vielleicht fände ich eine Frau, die niemand anderem zugehörte und deren Leibesfrüchte jenen bitter ins Fleisch schneidenden Gedanken an den kleinen Wuschelkopf zum Verschwinden brachten?

Ich schloss aus, je ins geliebte Piemont zurückzukehren, noch weniger nach Hannover, und wenn ich den Takt meines Bluts befragte, so fühlte ich auch keinen Drang danach. Alle Verwandten und die meisten Bekannten waren fort oder verstorben. Feinde gab es in ausreichender Anzahl. Allein mein Auftauchen in der piemontesischen Region würde, ob ich wollte oder nicht, eine jener Auseinandersetzungen über die Erbfolge mit sich ziehen, die bei uns sehr blutig zu verlaufen pflegen.

Nun muss man wissen, dass sich jene Piraten, die dem Gemetzel entgangen waren, nunmehr von den Handelsrouten fernhielten. Neben den Piraten lauerten dort einst Briten, Holländer und Franzosen auf den Reichtum, den jeder an sich bringen wollte, ehe er sicheren spanischen Boden erreichte. Inzwischen stieg wöchentlich die Gefahr, auf schwer Bewaffnete zu stoßen. All das wusste Störtebeker, doch schlimmer, alle wussten es. Unsere Idee hätte darin bestehen sollen, jene Kauffahrer aufzubringen, die abseits der Spanish Main und ohne Eskorte unterwegs waren. Für die Fahrt auf Nebenrouten gab es unterschiedliche Gründe. Die einen suchten nach günstigeren Winden, die anderen waren Privatunternehmen und verspürten keine Lust, einer großen Handelskompanie ihre Ware zu versteuern, die dritten hatten selbst etwas zu verbergen. Auf diese Schiffe setzten wir, doch gerade bei ihnen war Vorsicht geboten. Schmuggler waren heutzutage oft gut bewaffnet; es gab immer weniger harmlose Kaufleute.

Seit der Einschiffung auf Saint Dominique vollführten wir ein recht verdrießliches Taktieren, ein Herantasten an die geeignete Prise durch Ausschluss aller möglichen Gefahrenquellen. Immer, wenn die Mannschaft dachte, eine gefunden zu haben, bremste der Kommandant unseren Mut oder Übermut. Er hatte seine Gründe. Die eine Prise habe heutzutage verborgene Kanonen im Heck, der nächste Dreimaster ein zu schmales Deck, welches wir mit unserem Haken nur ungünstig entern konnten. Bei der dritten Prise hatte er durch das Fernrohr die Schatten bewaffneter Soldaten erkannt. Bei der vierten misstraute Störtebeker den vermeintlich gut verdeckten Kanonenrohren in der britischen Flagge.

Mit unserer eigenen Kanone, einem klassischen Sechspfünder, wären wir fähig gewesen, Kettenkugeln zu schießen, um die Takelage eines Gegners zu zerstören. Die letzte Zählung hatte leider ergeben, dass uns lediglich drei Kettenkugeln blieben. Jedem an Bord graute davor, dass der Kommandant eines Tages die Gurke für diese wenigen Schüsse in Betrieb nehmen würde. Er ignorierte sie. Das war auch die angemessene Art, mit ihr umzugehen. Eine Kanone richtete meist nicht viel aus, das Zielen auf hoher See war schwierig. Eine Kanone ohne Schießpulver war natürlich noch weniger sinnvoll.

Was Feuerwaffen betraf, so trug der Kommandant eine und Corta-Cabeça die andere, aber sie waren aus Mangel an Schießpulver nicht in Verwendung. Die Munition war heutzutage elendiglich teuer. Bei unseren Männern herrschte ohnehin die Auffassung vor, der Pirat würde seine Aufgaben mit Dolchen oder Entermesser erledigen. Die traditionellen Handelsschiffe waren uns meist unterlegen. Sie gingen mit Waffen ungeschickt um. Wenn der Gegner jedoch über Zwölfpfünder am Achterdeck verfügte, waren wir gut beraten, das Weite zu suchen.

»Haben wir Aussicht auf eine Prise, Kommandant?«, fragte Corta-Cabeça, »ich spreche hier für die Mannschaft.«

Er hatte die Eigenschaft, seine Ansichten im Namen der Mannschaft zu verkünden, denn er wusste, wie ungern man ihm widersprach.

»Geduld, es gibt sie«, sagte Störtebeker, »wer im Kuchen sucht, findet die Rosine.«

»Dann suchen wir doch«, sagte Steppard, der sich im Schutz des Maats vortraute.

Niemand konnte einschätzen, wie viel Geduld in der Mannschaft steckte. Ich hoffte, Störtebeker irrte in seiner Einschätzung nicht. Denn das Geschwätz nahm überhand.

Dazu kam das Possenspiel des einzigen Raubzugs auf unserer Route. Wir näherten uns einer Prise, die von der Ferne wie ein Einmaster aussah, in Wirklichkeit aber ein Fischkutter von einer nahen Insel war. Durch sein Fernrohr musste Störtebeker das frühzeitig erkannt haben, er teilte dieses Wissen aber nicht mit der Mannschaft, wodurch Schreie der Enttäuschung und Wut hervorbrachen, als die Wahrheit ans Licht kam.

Wir kaperten die armen Fischersleute und raubten ihnen den Fang. Der Muskelmann und Corta-Cabeça beteiligten sich ebenso wenig wie der Chinese am »Kampf«. Dorst, Weigand und Krampus, der stumme Segelmacher, enterten den fremden Kahn und kehrten erwartungsgemäß mit der Nachricht zurück, dass unsere Kontrahenten Hungerleider waren und nichts Bares an Bord hatten. Sie holten zwölf Thunfische, große Kerle, auf die Fín del Mundo. Sie hätten alle am Leben gelassen, wenn Dorst nicht voller Torheit dem alten Fischer zum Abschied sein Entermesser ins Herz gestoßen hätte.

»Störtebekers großer Fischzug«, sagte Corta-Cabeça, wenn der Kommandant außer Hörweite war, ließ sich aber den Thunfisch schmecken.

5

Ich betrete 5040 mit den Schritten einer Katze. Tamara, die immer alles bemerkt, fragt sofort, was mit mir los ist, worauf ich eine Erschöpfung vortäusche, worauf sie mich voll Interesse mustert. Ich räume ein paar Kleidungsstücke von einer Tasche in die andere und stelle mir vor, wie meine Familie während eines Landausflugs, den ich nicht mitmache, mit dem Taxi verunglückt. Alle tot, Amélie ist frei. Nach einem Jahr Trauerphase werden wir zusammenkommen, was sag ich, halbes Jahr, drei Monate.

Je mehr ich versuche, Amélie aus meinen Gedanken zu streichen, umso deutlicher erscheint das Bild der um fünfzehn Jahre älteren und nun noch begehrenswerteren Amélie vor meinen Augen.

»Bist du fertig?«, fragt Tamara, und erst da erinnere ich mich an unseren Termin.

Ich schlucke am Klo eine Paracetamol. Die letzten haben kaum gewirkt, der Schmerz sitzt tiefer.

Auf dem Weg zum Pflichtbesuch bei der Kreuzfahrtdirektorin könnte Amélie auf jedem Stufenabsatz lauern, aus jedem Flur auftauchen. In der Luft liegt ein harziger Geruch, als hätte jemand etwas gestrichen. Ich schleiche hinter meiner Frau durch das Schiff wie einer, der etwas zu verbergen hat. Dabei bin ich in jeder Hinsicht unschuldig.

Mit wie vielen Personen hatte ein Mensch im Leben zu tun