Der Fisch in uns - Neil Shubin - E-Book

Der Fisch in uns E-Book

Neil Shubin

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Beschreibung

Wussten Sie, dass sich Ihre Zähne aus dem Panzer haiähnlicher Fische entwickelt haben? Und wussten Sie auch, dass Ihre Hände und Füße von einer Fischflosse abstammen? Der preisgekrönte Paläontologe Neil Shubin, der selbst spektakuläre Fossilien entdeckt hat, erzählt die spannende Geschichte unseres Körpers und seiner Evolution und zeigt, warum wir so aussehen, wie wir aussehen. »Anspruchsvoll und wissenschaftlich fundiert, mit alltäglichen Beispielen.« Galore

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Neil Shubin

Der Fisch in uns

Eine Reise durch die 3,5 Milliarden Jahre alte Geschichte unseres Körpers

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort1. Wie man einen inneren Fisch findet2. Die Sache in den Griff bekommen3. Nützliche Gene4. Zähne, Zähne, Zähne5. Vorwärtskommen6. Die besten (Körper)baupläne7. Abenteuer beim Körperbau8. Düfte9. Sehen10. Ohren11. Was das alles bedeutet12. Warum Geschichte uns krank machtEpilogAnmerkungen und LiteraturangabenDanksagungNamen- und Sachregister

Vorwort

Dieses Buch ist einem außergewöhnlichen Umstand in meinem Leben zu verdanken. Ich musste vertretungsweise den Anatomiekurs an der medizinischen Fakultät der Universität Chicago leiten. Das ist die Lehrveranstaltung, in der nervöse Medizin-Studienanfänger Leichen sezieren und dabei die Namen und den Aufbau der meisten Organe, Körperhöhlen, Nerven und Blutgefäße lernen. Es ist ihr glorreicher Einstieg in die Welt der Medizin, ein prägendes Erlebnis auf dem Weg zum Arztberuf. Auf den ersten Blick hätte man sich für die Aufgabe, die nächste Medizinergeneration auszubilden, keinen schlechteren Kandidaten vorstellen können: Ich bin Paläontologe und hatte meine Berufslaufbahn zum größten Teil damit zugebracht, Fische zu untersuchen.

Aber wie sich herausstellte, hat man als Paläontologe einen großen Vorteil, wenn man die Anatomie des Menschen unterrichtet. Warum? Weil die besten Landkarten für die Wege zum menschlichen Körper in anderen Tieren liegen. Wie die Nerven im Kopf eines Menschen verlaufen, bringt man den Studenten am besten bei, indem man ihnen die Verhältnisse bei Haien vor Augen führt. Der beste Weg zu den Gliedmaßen führt über die Fische. Reptilien sind eine große Hilfe, wenn es um den Aufbau des Gehirns geht. Das alles hat einen besonderen Grund: Der Körperbau dieser Tiere ist eine einfachere Version unseres eigenen.

Als ich den Kurs im zweiten Jahr leitete, arbeitete ich während der Sommerferien mit Kollegen in der Arktis. Dort entdeckten wir Fische, die uns weitreichende neue Aufschlüsse über die Besiedelung des trockenen Landes vor rund 375 Millionen Jahren lieferten. Diese Entdeckung und mein Ausflug in die Arbeit eines Anatomiedozenten waren für mich der Anlass, mich genauer mit einem tiefgreifenden Zusammenhang zu beschäftigen. Aus dieser Beschäftigung ging das vorliegende Buch hervor.

1.Wie man einen inneren Fisch findet

Seit ich erwachsen bin, verbringe ich den Sommer meistens in Schnee und Schneematsch: Ich hämmere Steine an Klippen, die sich weit nördlich des Nordpolarkreises befinden. Meistens ist mir kalt, ich bekomme Blasen und finde absolut nichts. Aber manchmal habe ich auch Glück, und dann stoße ich auf Knochen urzeitlicher Fische. Für die meisten Menschen mag sich das nicht gerade nach einem Schatz anhören, aber für mich ist es kostbarer als Gold.

Die Knochen vorzeitlicher Fische können uns helfen, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wer wir sind und warum wir so sind. Kenntnisse über unseren Körper gewinnen wir aus scheinbar bizarren Quellen, von fossilen Würmern und Fischen, die aus Gestein aus der ganzen Welt ans Licht kommen, bis zu der DNA in praktisch allen heutigen Lebewesen. Aber das erklärt noch nicht, warum ich so sicher bin, dass Skelettreste aus der Vergangenheit – und zwar gerade auch die Überreste von Fischen – Aufschlüsse über den grundlegenden Aufbau unseres Körpers liefern.

Wie können wir uns Ereignisse vor Augen führen, die sich vor vielen Millionen oder in manchen Fällen sogar Milliarden Jahren abgespielt haben? Augenzeugen gibt es nicht – damals war noch keiner von uns auf der Welt. Während eines großen Teils jener Zeit lebte noch nichts, was sprechen konnte, was einen Mund oder auch nur einen Kopf gehabt hätte. Und was noch schlimmer ist: Die Tiere, die damals die Erde bevölkerten, sind schon so lange tot und begraben, dass ihr Körper nur in den seltensten Fällen erhalten geblieben ist. Man muss es sich einmal klarmachen: Über 99 Prozent aller biologischen Arten, die jemals gelebt haben, sind ausgestorben; nur ein sehr kleiner Prozentsatz von ihnen ist in Form von Fossilien erhalten geblieben, und von diesen wird wiederum nur ein sehr kleiner Teil gefunden. Eigentlich ist also jeder Versuch, unsere Vergangenheit zu betrachten, von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Fossilien ausgraben – und uns selbst sehen

Zum ersten Mal sah ich einen unserer inneren Fische an einem Julinachmittag im Schnee. Ich untersuchte das 375 Millionen Jahre alte Gestein auf der Ellesmere-Insel, die auf mehr als 80 Grad nördlicher Breite liegt. Meine Kollegen und ich waren in diesen abgelegenen Winkel der Erde gereist, weil wir eine der entscheidenden Übergangsformen aus der Entwicklung der Fische zu Landlebewesen finden wollten. An einer Stelle ragte ein Fischmaul aus dem Felsen. Es war nicht irgendein Fisch, sondern einer mit flachem Kopf. Als wir ihn sahen, wussten wir, dass wir eine heiße Spur hatten. Wenn wir im Gestein der Klippe noch mehr von diesem Skelett fanden, würden wir daraus etwas über die Geschichte unseres eigenen Kopfes, unseres Halses und sogar unserer Gliedmaßen erfahren.

Was besagt der flache Kopf über den Übergang vom Meer zum Land und über unsere eigene Vergangenheit? Und, was für meine persönliche Sicherheit und mein Wohlbefinden noch wichtiger war: Warum befand ich mich in der Arktis und nicht auf Hawaii? Um solche Fragen zu beantworten, muss man wissen, wie wir Fossilien finden und wie wir mit ihrer Hilfe unsere eigene Vergangenheit entschlüsseln.

Wenn wir mehr über uns selbst erfahren wollen, bilden Fossilien eine der wichtigsten Indizienketten. (Andere sind Gene und Embryonen – auf sie werde ich später zu sprechen kommen.) Was die meisten Menschen nicht wissen: Die Fossilsuche ist häufig eine erstaunlich präzise, berechenbare Angelegenheit. Wir leisten zu Hause die Vorarbeit und schaffen so die größtmöglichen Erfolgsaussichten für die Tätigkeit im Freiland. Dann verlassen wir uns auf das Glück.

Den paradoxen Zusammenhang zwischen Planung und Zufall beschrieb niemand so gut wie der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower in seiner Bemerkung über den Krieg: »Ich habe festgestellt, dass Planung für die Vorbereitung von Schlachten unentbehrlich ist, aber Pläne sind nutzlos.« Genauso verhält es sich, kurz gesagt, auch mit der paläontologischen Freilandarbeit. Wir machen alle möglichen Pläne, um an vielversprechende Fossilfundstätten zu gelangen, und wenn wir dann dort sind, werfen wir oft sämtliche Planungen über Bord. Die irdischen Tatsachen können die besten Pläne zunichtemachen.

Immerhin können wir aber Expeditionen so anlegen, dass sie uns die Beantwortung gezielter wissenschaftlicher Fragen ermöglichen. Mit ein paar einfachen Überlegungen, die ich noch genauer erläutern werde, können wir recht genau voraussagen, wo wir wichtige Fossilien finden werden. Natürlich gelingt es nicht immer, aber wir haben immerhin so oft Erfolg, dass die Sache interessant bleibt. Genau auf diese Weise habe ich Karriere gemacht: Ich habe frühe Säugetiere gefunden und damit wichtige Fragen nach dem Ursprung dieser Tiergruppe beantwortet. Mit Hilfe der ersten Frösche habe ich Fragen nach der Herkunft der Frösche beantwortet, und mit Hilfe einiger früher Arten mit Gliedmaßen habe ich Erkenntnisse über die Entstehung der landlebenden Tiere gewonnen.

Für uns Freilandpaläontologen ist es heute in vielerlei Hinsicht einfacher als je zuvor, neue Fundstätten aufzuspüren. Durch die geologischen Untersuchungen der nationalen Behörden sowie der Gas- und Ölkonzerne wissen wir heute mehr über die geologischen Verhältnisse der einzelnen Regionen. Das Internet verschafft uns schnellen Zugang zu Landkarten, den Ergebnissen der Landvermessung und Luftaufnahmen. Mit meinem Laptop kann ich in Ihrem Garten nach vielversprechenden Fossilfundstätten suchen. Und die Krönung des Ganzen: Mit Bildgebungsgeräten und Strahlenmessinstrumenten können wir sogar in manche Gesteinsarten hineinblicken und die Knochen in ihrem Inneren sichtbar machen.

Trotz solcher Fortschritte läuft die eigentliche Suche nach wichtigen Fossilien heute noch fast genauso ab wie vor hundert Jahren. Immer noch müssen die Paläontologen sich das Gestein ansehen und ganz buchstäblich darauf herumkriechen, und die Fossilien muss man häufig von Hand daraus befreien. Bei der Erkundung und Bergung fossiler Knochen muss man viele Entscheidungen treffen, denn alle diese Vorgänge lassen sich kaum automatisieren. Außerdem macht die Fossilsuche auf dem Computerbildschirm einfach nicht so viel Spaß wie wenn man tatsächlich nach Fossilien gräbt.

Schwierig wird die Sache, weil Fossilfundstätten dünn gesät sind. Um die Erfolgschancen zu vergrößern, achten wir darauf, dass drei Dinge zusammenkommen: An den Orten, nach denen wir suchen, muss das Gestein das richtige Alter haben, es muss sich um eine Gesteinsform handeln, in der Fossilien erhalten bleiben, und das Gestein muss an der Oberfläche frei liegen. Und dann kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: der glückliche Zufall.

Ein Beispiel dafür, wie man diese Regeln bei der Fossilsuche anwendet, handelt von einem der großen Übergänge in der Geschichte des Lebendigen: die Besiedelung des trockenen Landes durch die Fische. Viele Millionen Jahre lang spielte sich das Leben ausschließlich im Wasser ab. Dann, vor rund 365 Millionen Jahren, wurde auch das Land besiedelt. Das Leben sieht in diesen beiden Umfeldern völlig unterschiedlich aus. Die Atmung erfordert im Wasser ganz andere Organe als an Land. Das Gleiche gilt für Ausscheidung, Nahrungsaufnahme und Fortbewegung. Ein ganz neuer Körperbau musste entstehen. Auf den ersten Blick scheint die Kluft zwischen den beiden Lebensräumen fast unüberbrückbar zu sein. Aber wenn wir uns die Belege ansehen, ändert sich alles: Was unmöglich erscheint, hat sich tatsächlich abgespielt.

Wenn wir nach Gestein mit dem richtigen Alter suchen, kommt uns eine bemerkenswerte Tatsache zu Hilfe. Die Fossilien verteilen sich nicht nach dem Zufallsprinzip auf die Felsen der ganzen Welt. Wo solche Felsen liegen und was sie enthalten, entspricht einer genauen Ordnung, und anhand dieser Ordnung können wir unsere Expeditionen planen. In den Jahrmilliarden des ständigen Wandels wurde auf der ganzen Welt eine Gesteinsschicht auf die andere gehäuft. Deshalb lautet eine erste, vorläufige Annahme, die sich leicht überprüfen lässt: Gestein, das oben liegt, ist jünger als Gestein, das sich darunter befindet. Diese Regel gilt vor allem in Gebieten wie dem Grand Canyon, in denen die Gesteinsschichten einfach wie die Schichten einer Torte übereinandergestapelt sind. Aber durch die Bewegungen der Erdkruste können auch Brüche entstehen, sodass sich die Lagen gegeneinander verschieben und ältere Schichten über jüngeren liegen. Kennt man aber die Brüche, kann man häufig dennoch die ursprüngliche Reihenfolge der Schichten rekonstruieren.

Auch die Fossilien liegen in diesen Gesteinsschichten in einer ganz bestimmten Abfolge: Tiefere Schichten enthalten ganz andere biologische Arten als höhere. Könnten wir eine einzige Gesteinssäule ausgraben, in der die gesamte Geschichte des Lebendigen enthalten ist, so würden wir darin ein ungeheuer breites Spektrum verschiedener Fossilien finden. Die untersten Schichten würden kaum erkennbare Spuren von Leben enthalten, und solche, die sich ein wenig höher befinden, beherbergen Abdrücke von einer breiten Vielfalt quallenähnlicher Lebewesen. In noch höheren Schichten wären Lebewesen mit Skelett, Körperanhängen und verschiedenen Organen (zum Beispiel Augen) anzutreffen. Darüber kämen dann die ersten Schichten mit Tieren, die eine Wirbelsäule haben, und so weiter. Die Schichten mit den ersten Menschen lägen in noch größerer Höhe. Natürlich gibt es eine solche Säule, in der die gesamte Erdgeschichte abgebildet ist, in Wirklichkeit nicht. An jedem einzelnen Ort der Erde entspricht das Gestein nur einem kleinen Abschnitt der gesamten Vergangenheit. Wenn wir das Gesamtbild sehen wollen, müssen wir das Gestein selbst und die darin eingeschlossenen Fossilien vergleichen und so die Einzelteile zusammensetzen wie bei einem riesigen Puzzle.

Dass in einer Gesteinssäule nacheinander verschiedene Fossilien auftauchen, ist vermutlich keine große Überraschung. Weniger naheliegend ist der Gedanke, dass wir durch Vergleiche mit heutigen Tierarten recht genau voraussagen können, wie die biologischen Arten in den einzelnen Schichten vermutlich aussahen. Mit Hilfe solcher Informationen können wir dann prophezeien, was für Fossilien wir in alten Gesteinsschichten finden werden. Wir können sogar die gesamte Abfolge der Fossilien im Gestein der ganzen Welt voraussagen, indem wir uns selbst mit den Tieren in einem Zoo oder Aquarium vergleichen.

Was nützt uns ein Spaziergang durch den Zoo, wenn wir wissen wollen, wo wir im Gestein am besten nach wichtigen Fossilien suchen sollen? Im Zoo sehen wir viele ganz unterschiedliche Tiere. Aber für die Unterschiede interessieren wir uns in diesem Fall nicht; wenn wir nützliche Voraussagen machen wollen, müssen wir uns auf ihre Gemeinsamkeiten konzentrieren. Anhand der gemeinsamen Merkmale können wir dann Gruppen von Tieren mit ähnlichen Eigenschaften erkennen. Man kann alle Lebewesen nach dem Prinzip der russischen Puppen einteilen, mit kleineren Tiergruppen, die in größeren Tiergruppen enthalten sind. Wenn wir das tun, gewinnen wir eine sehr grundsätzliche Erkenntnis über die Natur.

Alle Tierarten in Zoo und Aquarium haben einen Kopf und zwei Augen. Diese Arten wollen wir einmal als »Alle« bezeichnen. Ein Teil von ihnen hat außer Kopf und Augen auch noch Gliedmaßen. Diese nennen wir »Alle mit Gliedmaßen«. Wiederum eine Untergruppe der mit Kopf und Gliedmaßen ausgestatteten Tiere hat ein sehr großes Gehirn, geht aufrecht und kann sprechen: Das sind wir, die Menschen. Nach dem gleichen Prinzip könnten wir natürlich noch viel mehr Untergruppen abgrenzen, aber schon diese Dreiteilung ist für Vorhersagezwecke nützlich.

Für die Fossilien in den Gesteinen der Erde gilt in der Regel die gleiche Einteilung, und diese Tatsache können wir bei der Expeditionsplanung nutzen. Kehren wir noch einmal zu unserem Beispiel zurück: Das erste Mitglied der Gruppe »Alle«, ein Tier mit Kopf und zwei Augen, finden wir als Fossil lange vor dem ersten »Alle mit Gliedmaßen«. Oder genauer gesagt: Der erste Fisch (ein typisches Mitglied von »Alle«) taucht vor dem ersten Amphibium (einem »Alle mit Gliedmaßen«) auf. Natürlich verfeinern wir diese Beobachtung: Wir betrachten mehr Tierarten und viel mehr gemeinsame Eigenschaften der einzelnen Gruppen; außerdem versuchen wir das Alter des Gesteins selbst zu ermitteln.

Genau solche Analysen machen wir in unseren Labors, allerdings mit Tausenden und Abertausenden von Tierarten und Eigenschaften. Wir sehen uns jedes nur denkbare anatomische Detail an, und oft untersuchen wir auch lange DNA-Abschnitte. Dabei gewinnen wir so viele Daten, dass oft nur ein leistungsfähiger Computer uns die in Gruppen eingebetteten Gruppen zeigen kann. Dieses Verfahren ist das Fundament der Biologie, denn mit seiner Hilfe können wir Hypothesen über die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Lebewesen aufstellen.

Durch jahrhundertelanges Sammeln von Fossilien haben wir nicht nur die Gruppeneinteilung der Lebewesen immer weiter verfeinert, sondern wir verfügen auch über eine gewaltige Bibliothek oder einen Katalog für die Zeitalter der Erde und ihrer Lebewesen. Wir kennen heute allgemeine Zeitabschnitte, in denen sich wichtige Veränderungen abspielten. Sie interessieren sich für die Entstehung der Säugetiere? Dann halten Sie sich an Gestein aus der Zeit, die man als frühes Mesozoikum bezeichnet; es ist, wie wir aus geochemischen Analysen wissen, rund 210 Millionen Jahre alt. Sie möchten etwas über die Ursprünge der Primaten wissen? Dann müssen Sie in der Gesteinssäule ein Stück höher steigen, bis zur Kreidezeit, deren Gestein etwa 80 Millionen Jahre alt ist.

Die Reihenfolge der Fossilien in den Gesteinen auf der ganzen Welt ist ein stichhaltiger Beleg dafür, dass wir mit allen anderen Lebewesen in Verbindung stehen. Wenn wir bei Grabungen in 600 Millionen Jahre alten Felsen die ältesten Quallen unmittelbar neben dem Skelett eines Murmeltiers finden würden, müssten wir unsere Lehrbücher neu schreiben. Dann wäre das Murmeltier in den Fossilfunden früher aufgetaucht als die ersten Säugetiere, Reptilien und auch Fische – ja sogar vor dem ersten Wurm. Außerdem würde unser uraltes Murmeltier uns auch sagen, dass das meiste, was wir über die Geschichte der Erde und des Lebens zu wissen glauben, falsch ist. Aber obwohl Menschen mittlerweile seit über 150 Jahren auf allen Kontinenten der Erde und in praktisch allen zugänglichen Gesteinsschichten suchen, hat man so etwas nie beobachtet.

Ein Spaziergang durch den Zoo spiegelt die Anordnung der Fossilien in den Gesteinen auf der ganzen Welt wider.

Kehren wir nun zu unserer früheren Frage zurück: Wie finden wir die ersten Verwandten der Fische, die an Land gingen? In unserem Ordnungsschema stehen diese Lebewesen irgendwo zwischen »Alle« und »Alle mit Gliedmaßen«. Stellen wir das in Zusammenhang mit unseren Kenntnissen über Gesteinsformen, so deuten stichhaltige geologische Indizien darauf hin, dass die Zeit vor 380 Millionen bis 365 Millionen Jahren der entscheidende Zeitraum ist. Jüngeres, etwa 360 Millionen Jahre altes Gestein enthält verschiedene fossile Tiere, in denen man Amphibien oder Reptilien erkennen kann. Meine Kollegin Jenny Clack von der Universität Cambridge und andere entdeckten Amphibien in Gestein aus Grönland, das rund 365 Millionen Jahre alt ist. Sie haben einen Hals, Ohren und vier Beine, das heißt, sie sehen überhaupt nicht wie Fische aus. In 385 Millionen Jahre altem Gestein dagegen findet man ganze Fische, und die sehen – nun ja – eben wie Fische aus: Sie haben Flossen, einen spitz zulaufenden Kopf, Schuppen und keinen Hals. Wenn wir die Übergangsformen zwischen Fischen und landlebenden Tieren finden wollen, sollten wir uns also auf Gestein mit einem Alter von ungefähr 375 Millionen Jahren konzentrieren.

Nun haben wir uns für unsere Forschung einen Zeitraum ausgesucht, und wir wissen auch, welche Schichten der geologischen Säule wir untersuchen wollen. Als Nächstes müssen wir nach Gestein suchen, das unter den richtigen Bedingungen entstanden ist und Fossilien einschließen konnte. Gestein kann unter ganz unterschiedlichen Umweltbedingungen entstehen, und diese Anfangsbedingungen hinterlassen in den Gesteinsschichten charakteristische Spuren. Vulkangestein bleibt in der Regel außen vor: Man kennt keinen Fisch, der in Lava überleben kann. Und selbst wenn es einen solchen Fisch gäbe, hätten seine Knochen die extreme Hitze bei der Entstehung von Basalt, Rhyolit, Granit und anderen Vulkangesteinen nicht überstanden. Ebenso können wir metamorphes Gestein wie amorphen Schiefer und Marmor außer Acht lassen, denn die haben seit ihrer Entstehung ebenfalls große Hitze oder extremen Druck erlebt. Alle Fossilien, die sie vielleicht früher einmal enthalten haben, sind längst nicht mehr vorhanden. Ideale Voraussetzungen für die Erhaltung von Fossilien bieten dagegen die Sedimentgesteine: Kalkstein, Sandstein, Schluffstein und Schieferton. Diese entstehen im Vergleich zu Vulkan- und metamorphem Gestein durch wesentlich sanftere Prozesse, beispielsweise durch das Wirken von Flüssen, Seen und Meeren. Solche Umfelder sind nicht nur beliebte Lebensräume für Tiere, sondern wegen der Sedimentationsvorgänge bleiben Fossilien auch eher erhalten. In einem Ozean oder See zum Beispiel setzen sich ständig Teilchen aus dem Wasser ab, bleiben am Boden liegen und werden im Laufe der Zeit durch später abgelagerte Schichten zusammengepresst. Durch den steigenden Druck in Verbindung mit chemischen Prozessen, die sich über lange Zeit hinweg im Inneren des Gesteins abspielen, bestehen für die in den Sedimenten enthaltenen Skelette gute Aussichten, zu Fossilien zu werden. Ähnliche Prozesse spielen sich auch in und an Wasserläufen ab. Eine allgemeine Regel besagt: Je langsamer ein Bach oder Fluss fließt, desto besser eignet er sich für die Fossilbildung.

Jeder Stein, der auf der Erde liegt, kann eine eigene Geschichte erzählen: Er berichtet darüber, wie die Welt aussah, als er entstanden ist. Im Inneren des Gesteins liegen Anhaltspunkte für das Klima und die Umwelt früherer Zeiten, und die unterscheiden sich oftmals gewaltig von den heutigen Verhältnissen. Manchmal könnte die Trennung zwischen Früher und Heute krasser gar nicht sein. Ein Extrembeispiel ist der Mount Everest: Nicht weit von seinem Gipfel, in mehr als acht Kilometern Höhe, liegt Gestein von einem vorzeitlichen Meeresboden. Begibt man sich an die Nordflanke des Berges in Sichtweite der berühmten Hillary-Stufe, so findet man die fossilen Gehäuse von Meerestieren. Ganz ähnlich auch in unserem Arbeitsgebiet in der Arktis, wo die Temperaturen im Winter bis auf minus 60 Grad sinken können: In manchen Gesteinen dieser Region findet man die Überreste eines tropischen Flussdeltas aus der Vorzeit, das fast aussieht wie die Gegend am Amazonas, mit fossilen Pflanzen und Fischen, die nur in einer warmen, tropischen Umwelt gedeihen konnten. An Wärme angepasste Tiere in Regionen, die heute in extremer Höhe oder weit im Norden liegen, sind der augenfällige Beleg dafür, wie stark unser Planet sich wandeln kann: Berge steigen hoch und sinken ab, das Klima wird wärmer und kälter, die Kontinente verschieben sich. Nachdem wir begriffen haben, wie lang die Zeiträume sind und welch außerordentliche Veränderungen die Erde schon erlebt hat, können wir mit Hilfe solcher Erkenntnisse auch neue Expeditionen zur Fossilsuche planen.

Wenn wir verstehen wollen, wie die ersten Tiere mit Gliedmaßen entstanden sind, können wir uns jetzt mit unserer Suche auf Gestein beschränken, das rund 375 bis 380 Millionen Jahre alt ist und sich in Meeren, Seen oder Flüssen gebildet hat. Vulkanisches und metamorphes Gestein können wir ausschließen, und damit kristallisiert sich ein klareres Bild von vielversprechenden Stellen heraus.

Aber damit haben wir erst einen Teil des Weges zur Planung einer neuen Expedition hinter uns. Wenn unser vielversprechendes Sedimentgestein tief in der Erde liegt, oder wenn sich darüber Gras, ein Einkaufszentrum oder eine Stadt befindet, haben wir nichts gewonnen. Dann würden wir blind graben. Man kann es sich leicht vorstellen: Wenn wir ein Loch bohren, um ein Fossil zu finden, sind die Erfolgsaussichten sehr gering – es ist, als würden wir Dartpfeile auf eine Zielscheibe werfen, die hinter einer Schranktür aufgehängt ist.

Am besten suchen wir in Regionen, in denen wir kilometerweit über das Gestein wandern können, bis wir Stellen finden, an denen die Knochen durch Verwitterung freigelegt werden. Fossile Knochen sind häufig härter als das umgebende Gestein; deshalb verwittern sie etwas langsamer und bilden dann an der Gesteinsoberfläche ein erhabenes Profil. Am besten ist es also, wenn wir über nacktes Muttergestein gehen, bis wir an der Oberfläche die Umrisse von Knochen entdecken; an dieser Stelle fangen wir dann an zu graben.

Um eine Fossilexpedition zu planen, geht man also folgendermaßen vor: Man sucht Gestein des richtigen Typs (Sedimentgestein) und mit dem richtigen Alter, das außerdem auch noch frei liegt, und schon kann man anfangen. An idealen Fossilfundstätten ist das Gestein kaum von Erde und Pflanzenwuchs bedeckt, und es wurde bisher möglichst wenig von Menschen verändert. Ist es da verwunderlich, dass ein beträchtlicher Teil der Entdeckungen in Wüstengebieten gemacht wird? In der Wüste Gobi. In der Sahara. In Utah. Und in arktischen Wüsten wie Grönland.

Das klingt alles völlig logisch, aber wir dürfen auch den Zufall nicht vergessen. Tatsächlich brachte ein glücklicher Zufall unser Team auf die Spur unseres inneren Fisches. Die ersten wichtigen Entdeckungen machten wir nicht in einer Wüste, sondern an einem Straßenrand mitten in Pennsylvania, wo die Chancen schlechter kaum sein konnten. Und die Krönung des Ganzen: Wir suchten dort nur deshalb, weil wir nicht viel Geld hatten.

Wenn man nach Grönland oder in die Sahara reisen will, braucht man viel Zeit und Geld. Für ein Projekt in der näheren Umgebung jedoch muss man keine großen Forschungsmittel auftreiben, sondern nur das Geld für Benzin und Straßengebühren. Für einen jungen Doktoranden oder einen frischgebackenen Collegedozenten sind solche Kriterien von entscheidender Bedeutung. Als ich meine erste Stelle in Philadelphia antrat, ließen wir uns von einer Felsgruppe in Pennsylvania anlocken, die als Catskill-Formation bekannt ist. Die Formation wurde schon seit über 150 Jahren eingehend erforscht. Ihr Alter war gut bekannt: Es beinhaltete das späte Devon. Außerdem eignete sich das Gestein hervorragend für die Erhaltung von Tieren mit Gliedmaßen und ihren engsten Verwandten. Um das zu verstehen, sollte man sich einmal ausmalen, wie Pennsylvania im späten Devon aussah. Dazu schlägt man sich Philadelphia, Pittsburgh oder Harrisburg am besten aus dem Kopf und denkt stattdessen an das Amazonasdelta. Im östlichen Teil des heutigen US-Bundesstaates befand sich eine Hochebene. Das Wasser floss über mehrere Flüsse von Osten nach Westen aus dem Gebirge ab, und die mündeten ungefähr da, wo heute die Stadt Pittsburgh liegt, in ein großes Meer.

Bessere Voraussetzungen für die Fossilsuche kann man sich eigentlich kaum wünschen – nur ist die Mitte von Pennsylvania mit Ortschaften, Wäldern und Feldern übersät. Freiliegendes Gestein gibt es vor allen an den Stellen, wo das Verkehrsministerium des Bundesstaates sich zum Bau großer Straßen entschlossen hat. Wenn eine Straße gebaut wird, finden Sprengungen statt. Wenn gesprengt wird, liegt anschließend Gestein frei. Es sind nicht immer die besten Stellen, aber wir nehmen, was wir bekommen können. In der billigen Wissenschaft bekommt man das, was man bezahlt hat.

Außerdem gibt es auch glückliche Zufälle ganz anderer Art. Im Jahr 1993 kam Ted Daeschler zu uns, um unter meiner Leitung Paläontologie zu studieren. Die Partnerschaft sollte unser beider Leben verändern. Mit unserem unterschiedlichen Temperament ergänzten wir uns hervorragend: Ich habe ständig Ameisen im Hintern und bin auf dem Sprung, um am nächsten Ort zu suchen, Ted dagegen ist geduldig und weiß genau, wann man an einer Stelle bleiben muss, um ihre Reichtümer zu erkunden. Gemeinsam machten wir uns an eine Vermessung des Devongesteins in Pennsylvania, denn wir hofften, dass wir dabei auf Anhaltspunkte für die Entstehung der Gliedmaßen stoßen würden. Zunächst fuhren wir im östlichen Teil des Bundesstaates praktisch zu allen großen Straßenbaustellen. Schon kurz nachdem wir mit den Untersuchungen begonnen hatten, fand Ted zu unserer Überraschung einen ausgezeichneten Schulterknochen. Dem Tier, zu dem er gehörte, gaben wir den Namen Hynerpeton – das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet »kleines Kriechtier aus Hyner«. Hyner in Pennsylvania war die nächstgelegene Ortschaft. Hynerpeton hatte eine kräftige Schulter, ein Indiz, dass diese Tiere auch über gut ausgeprägte Gliedmaßen verfügten. Leider fanden wir nie das vollständige Skelett des Tiers; dazu waren die Stellen mit freiliegendem Gestein zu klein. Warum? Leicht zu erraten: Pflanzenbewuchs, Häuser und Einkaufszentren.

An den Straßen von Pennsylvania befanden wir uns in einem alten Flussdelta ähnlich dem heutigen Amazonas-Mündungsgebiet. Der US-Bundesstaat Pennsylvania (unten) mit der Geländeform im Devon (oben)

Nachdem wir in diesem Gestein Hynerpeton und andere Fossilien entdeckt hatten, waren Ted und ich ganz erpicht auf bessere freiliegende Gesteinsaufschlüsse. Wenn wir uns mit unserem ganzen Forschungsprojekt nur auf einzelne Bruchstücke stützen konnten, würden wir auch nur sehr begrenzte Fragen beantworten können. Also gingen wir bei der Suche nach Gestein des richtigen Typs mit dem richtigen Alter in Wüstenregionen wie im Lehrbuch vor, das heißt, ohne ein einführendes Lehrbuch der Geologie hätten wir die größte Entdeckung unserer Laufbahn nicht gemacht.

Ursprünglich liebäugelten wir mit Alaska und der Yukon-Region als Expeditionsziel, und zwar vor allem deshalb, weil andere Arbeitsgruppen dort bereits bedeutende Entdeckungen gemacht hatten. Am Ende verzettelten wir uns in hitzigen Diskussionen über geologische Details, und in der Hitze des Gefechts griff einer von uns auf dem Schreibtisch nach dem glückbringenden Buch. Als wir es durchblätterten und feststellen wollten, wer von uns recht hatte, stießen wir auf ein Diagramm. Die Zeichnung ließ uns den Atem stocken: Sie zeigte alles, wonach wir gesucht hatten.

Die Diskussion war beendet, und die Planung für eine neue Freilandexpedition begann.

Aufgrund früherer Funde aus geringfügig jüngerem Gestein waren wir überzeugt, dass vorzeitliche Süßwasserflüsse das beste Umfeld für den Beginn unserer Suche darstellten. Das Diagramm zeigte drei Regionen mit Süßwassergestein aus dem Devon – in allen diesen Fällen handelte es sich um Flussdeltas. Die erste liegt an der Ostküste Grönlands. Dort wurde das Jenny-Clack-Fossil gefunden, ein sehr altes Lebewesen mit Gliedmaßen und einer der ersten bekannten Vierbeiner. Die zweite ist der Osten Nordamerikas, die Heimat von Hynerpeton, in der wir bereits gearbeitet hatten. Und dann gibt es ein drittes großes Gebiet, das sich von Osten nach Westen quer durch die kanadische Arktis zieht. In der Arktis gibt es keine Bäume, keine Erde und keine Städte. Dort bestehen gute Aussichten, Gestein des richtigen Typs und mit dem richtigen Alter zu finden, das außerdem sehr gut frei liegt.

Die Gesteinsaufschlüsse Kanadas sind insbesondere bei den kanadischen Geologen und Paläobotanikern, die sie bereits kartiert haben, bestens bekannt. Ashton Embry, der Leiter der Arbeitsgruppe, die einen großen Teil dieser Arbeiten durchgeführt hat, sieht zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den geologischen Verhältnissen in kanadischem Gestein aus dem Devon und denen in Pennsylvania. In dem Augenblick, als Ted und ich diesen Satz gelesen hatten, wollten wir nur noch die Koffer packen. Was wir an den Landstraßen von Pennsylvania gelernt hatten, konnte uns nun im hohen Norden Kanadas helfen.

Die Karte, mit der alles anfing. Die Darstellung Nordamerikas zeigt in gedrängter Form alles, wonach wir gesucht hatten. Die verschiedenen Schattierungen machen deutlich, wo Gestein aus dem Devon als Meeres- oder Süßwassersediment frei liegt. Drei frühere Mündungsgebiete von Flüssen sind mit Namen gekennzeichnet. Verändert nach Abb. 13.1, R. H. Dott und R. L. Batten, Evolution of the Earth (New York: McGraw-Hill 1988). Wiedergabe mit Genehmigung der McGraw Hill Companies.

Interessanterweise ist das Gestein in der Arktis sogar noch älter als die fossilführenden Schichten in Grönland oder Pennsylvania. Die Region erfüllt also voll und ganz unsere drei Kriterien: Alter, Typ und freiliegende Stellen. Und was noch besser war: Wirbeltierpaläontologen kannten sie bisher nicht und hatten deshalb dort nicht nach Fossilien gesucht.

Jetzt standen wir vor einer ganz anderen Herausforderung als zuvor in Pennsylvania. An den Landstraßen dieses Bundesstaates hatten wir riskiert, während der Fossilsuche von den vorüberbrummenden Lastwagen überfahren zu werden. In der Arktis lauerten ganz andere Gefahren: Wir konnten von Eisbären gefressen werden, der Proviant konnte uns ausgehen oder wir konnten ins im schlechten Wetter verirren. Jetzt war es nicht mehr möglich, einfach ein paar belegte Brote ins Auto zu packen und zu den fossilführenden Schichten zu fahren. Stattdessen waren für jeden Tag im Freiland acht Tage der Planung notwendig, denn die Fundstellen waren nur aus der Luft zu erreichen, und die nächste Möglichkeit, Nachschub zu beschaffen, lag 400 Kilometer entfernt. Mit dem Flugzeug konnten wir gerade ausreichend Lebensmittel und Ausrüstung für unser Team einschließlich einer gewissen Sicherheitsreserve mitnehmen; und was am wichtigsten war: Wegen der strengen Gewichtsbeschränkungen konnten wir nur einen kleinen Teil der gefundenen Fossilien nach Hause bringen. Wenn man dann noch bedenkt, dass man in der Arktis jeden Sommer nur während eines kurzen Zeitraumes arbeiten kann, so wird deutlich, dass wir uns hier mit ganz neuen, furchteinflößenden Schwierigkeiten herumschlagen mussten.

Jetzt kam mein Doktorvater ins Spiel, Dr. Farish A. Jenkins Jr. von der Harvard University. Farish hatte über viele Jahre hinweg Expeditionen nach Grönland geleitet und verfügte über die nötige Erfahrung, um ein solches Vorhaben durchzuziehen. Damit war das Team vollständig. Es umfasste drei Akademikergenerationen: meinen früheren Studenten Ted, meinen Doktorvater Farish und mich selbst. Gemeinsam wollten wir in die Arktis reisen und uns Mühe geben, Belege für den Übergang von den Fischen zu den Landlebewesen zu entdecken.

Ein Handbuch für die paläontologische Arbeit in der Arktis gibt es nicht. Was die Ausrüstung anging, erhielten wir Ratschläge von Freunden und Kollegen, außerdem lasen wir Bücher – aber dabei wurde uns nur klar, dass wir uns auf das eigentliche Erlebnis nicht vorbereiten konnten. Und nie spürt man das so eindringlich wie in dem Augenblick, wenn man vom Hubschrauber ganz allein in einem gottverlassenen Winkel der Arktis abgesetzt wird. Der erste Gedanke gilt den Eisbären. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich den Blick über die Landschaft schweifen ließ und nach beweglichen weißen Punkten suchte. Die Angst kann einem vieles vorgaukeln. Während unserer ersten Woche in der Arktis sah einer aus unserer Gruppe einen weißen Fleck, der sich bewegte. Er sah aus wie ein rund 400 Meter entfernter Eisbär. Eilig griffen wir nach Gewehren, Leuchtpistolen und Pfeifen, aber dann stellten wir fest, dass es sich in Wirklichkeit um einen 60 Meter entfernten Schneehasen handelte. In der Arktis, wo keine Bäume oder Häuser beim Schätzen der Entfernung helfen, verliert man leicht die richtigen Maßstäbe.

Die Arktis ist riesengroß und öde. Das Gestein, für das wir uns interessierten, lag in einem rund 1500 Kilometer breiten Gebiet frei. Die Tiere, nach denen wir suchten, waren einen guten Meter lang. Irgendwie mussten wir uns auf einen kleinen Gesteinsabschnitt beschränken, in dem sich unsere Fossilien erhalten hatten. Gutachter, die Forschungsgelder bewilligen, können sehr unangenehm sein und fragen ständig nach solchen Schwierigkeiten. Am besten konnte es einer, der den Antrag für eine von Farishs ersten Arktisexpeditionen beurteilen sollte: Er schrieb in seinem Gutachten über den Antrag (und das, so sollte ich hinzufügen, in nicht gerade freundschaftlichem Ton), die Aussicht, in der Arktis neue Fossilien zu finden, sei »geringer als bei der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen«.

Wir brauchten vier Expeditionen zur Ellesmere-Insel im Laufe von sechs Jahren, dann hatten wir unsere Nadel gefunden. So viel zum Thema glückliche Zufälle.

Wir fanden das Gesuchte durch Ausprobieren und Fehlschläge, aus denen wir lernten. Die ersten Untersuchungsstellen, die wir in der Freilandsaison 1999 aufsuchten, befanden sich auf der Melville-Insel ganz im Westen der Arktis. Was wir damals noch nicht wussten: Wir hatten uns an der Küste eines vorzeitlichen Ozeans absetzen lassen. Das Gestein war voller Fossilien, und wir fanden mehrere Fischarten. Das Problem war nur, dass es sich bei allen um Tiefseebewohner handelte, und mit denen würde man in den flachen Flüssen oder Seen, aus denen die landlebenden Tiere hervorgingen, nicht rechnen. Auf der Grundlage von Ashton Embrys geologischen Befunden entschlossen wir uns im Jahr 2000, das Expeditionsgebiet in östlicher Richtung zur Ellesmere-Insel zu verlegen, denn dort enthielt das Gestein alte Flussbetten. Es dauerte nicht lange, dann hatten wir die ersten, wenige Zentimeter großen Bruchstücke fossiler Fischknochen gefunden.

Den eigentlichen Durchbruch erlebten wir gegen Ende der Freilandsaison des Jahres 2000. Es war kurz vor dem Abendessen, ungefähr eine Woche bevor wir abgeholt werden sollten. Die ganze Mannschaft war wieder im Lager, und wir gingen unseren üblichen Feierabendtätigkeiten nach: die tagsüber gesammelten Stücke ordnen, Expeditionsprotokolle schreiben, Abendessen zubereiten. Nur Jason Downs, damals ein Paläontologiebegeisterter Collegestudent, war nicht pünktlich ins Lager zurückgekehrt. Das war ein Anlass zur Sorge, denn normalerweise gehen wir immer zu mehreren ins Freiland, und wenn wir uns trennen, machen wir eine genaue Uhrzeit aus, zu der wir uns wieder treffen. In der Gegend gab es Eisbären, und häufig zogen unerwartete Unwetter auf – wir durften kein Risiko eingehen. Ich weiß noch, wie ich mit den anderen im Hauptzelt saß – die Sorge um Jason wuchs mit jeder Minute. Als wir gerade überlegten, wie wir die Suche organisieren sollten, hörte ich den Reißverschluss des Zelteingangs. Zuerst sah ich nur Jasons Kopf. In seinem Blick lag etwas Wildes, und er völlig außer Atem. Als er ins Zelt trat, wussten wir, dass wir es nicht mit einem Eisbärenüberfall zu tun hatten: Die Schrotflinte hing noch an seiner Schulter. Der Grund seiner Verspätung wurde klar, als er mit immer noch zitternden Händen einen fossilen Knochen nach dem anderen hervorzog. Er hatte sämtliche Taschen damit vollgestopft: Manteltaschen, Hosentaschen, Sweatshirt, Tagesrucksack. Ich glaube, er hätte auch noch Schuhe und Strümpfe mit Fossilien gefüllt, wenn er dann noch hätte laufen können. Alle diese kleinen fossilen Knochen hatten ungefähr eineinhalb Kilometer vom Lager entfernt auf einem kleinen Areal, nicht größer als der Parkplatz für einen Kleinwagen, an der Oberfläche gelegen. Das Abendessen musste warten.

Die Arktis ist weit und öde. Unser Lager (oben) wirkt in der gewaltigen Landschaft winzig. Mein Sommerferienhaus (unten) ist ein kleines Zelt, das meist durch aufgehäufte Steine vor dem Wind, der mit bis zu 80 Stundenkilometern weht, geschützt ist. Fotos vom Autor.

Da es im arktischen Sommer rund um die Uhr hell ist, brauchten wir uns keine Sorgen um die hereinbrechende Dunkelheit zu machen. Also schnappten wir uns ein paar Schokoriegel und machten uns zu Jasons Fundstelle auf den Weg. Sie lag an einem Berghang zwischen zwei hübschen Flusstälern und war, wie Jason entdeckt hatte, dich bei dicht mit fossilen Fischknochen übersät. Ein paar Stunden lang sammelten wir die Bruchstücke ein, machten Fotos und schmiedeten Pläne. Diese Stelle sah ganz so aus, als böte sie genau das, was wir suchten. Als wir am nächsten Tag wieder hinkamen, hatten wir ein neues Ziel: Wir wollten ganz genau feststellen, welche Gesteinsschicht die Knochen enthielt.

Das war entscheidend: Wir mussten wissen, woher Jasons viele Knochenbruchstücke stammten – nur so bestand die Aussicht, vollständige Skelette zu finden. Das Problem dabei waren die arktischen Bedingungen. Die Temperatur sinkt jeden Winter auf unter minus 50 Grad. Im Sommer, wenn die Sonne nie untergeht, kann sie bis auf plus zehn Grad ansteigen. Durch das abwechselnde Gefrieren und Auftauen zerbröckelt das Gestein an der Erdoberfläche: Im Winter kühlt es sich ab und zieht sich zusammen, im Sommer erwärmt es sich und dehnt sich aus. Wenn es auf diese Weise an der Oberfläche über Jahrtausende hinweg jedes Jahr größer und kleiner wird, zerfallen die Knochen. Die Folge: Wir standen vor einer Riesenmenge von Knochen, die über den ganzen Berg verstreut waren, aber aus welcher Gesteinsschicht sie stammten, war nicht klar. Mehrere Tage lang folgten wir den Spuren der Knochenfragmente, gruben probeweise Löcher und setzten unsere Geologenhämmer gewissermaßen als Wünschelruten ein, um festzustellen, an welcher Stelle des Felsens die Knochen ans Licht kamen. Nach vier Tagen legten wir die Schicht schließlich frei, und nun fanden wir ein fossiles Fischskelett nach dem anderen – oft lagen sie zu mehreren übereinander. In zwei aufeinanderfolgenden Jahren verbrachten wir jeweils einen großen Teil des Sommers damit, diese Fische auszugraben.

Unser Arbeitsgebiet: die Ellesmere-Insel im Nunavut-Territorium in Kanada, 1500 Kilometer nördlich des Polarkreises

Dann folgte der nächste Fehlschlag: Bei allen Fischen, die wir fanden, handelte es sich um längst bekannte Arten; ähnlich alte Exemplare hatte man schon an mehreren Stellen in Osteuropa gefunden. Und zu allem Überfluss waren diese Fische nicht sonderlich eng mit landlebenden Tieren verwandt. Im Jahr 2004 entschlossen wir uns, es noch einmal zu versuchen. Es war eine Situation nach dem Motto »jetzt oder nie«. Die Arktisexpeditionen waren sehr teuer, und wenn wir nichts aufsehenerregendes entdeckten, würden wir sie einstellen müssen.

Anfang Juli 2004 brachten vier aufeinanderfolgende Tage den Umschwung. Ich hämmerte auf den Boden des Steinbruchs, musste dabei aber häufiger auf Eis schlagen als auf Gestein. Als ich wieder einmal das Eis beseitigte, bot sich mir ein Anblick, den ich nie mehr vergessen werde: ein geschupptes Stück, das ganz anders aussah als alles, was uns hier bisher begegnet war. Es wies uns den Weg zu einem anderen eisbedeckten Klumpen. Er sah aus wie zwei Kieferknochen, und auch die waren ganz anders als alle Fischkiefer, die ich bis dahin gesehen hatte. Ich hatte den Eindruck, als hätten sie zu einem flachen Kopf gehört.

Am nächsten Tag schlug mein Kollege Steve Gatesy weiter oben im Steinbruch das Gestein auf. Als er einen Brocken von der Größe einer kleinen Faust entfernte, starrte ihm die Schnauze eines Tiers entgegen. Es hatte wie mein eisbedeckter Fisch am Boden der Grube einen flachen Kopf. Damit war es etwas Neues, eine wichtige Entdeckung. Aber im Gegensatz zu meinem Fisch hatte der von Steve echtes Potenzial. Zu sehen war nur das Vorderende, und wenn wir Glück hatten, steckte das übrige Tier noch fest im Gestein. Den ganzen restlichen Sommer brachte Steve damit zu, den Felsen Stückchen für Stückchen zu entfernen, bis wir schließlich das ganze Skelett ins Labor bringen und reinigen konnten. Steves meisterhafte Arbeit an diesem Fund hatte dazu geführt, dass wir eines der bis heute schönsten Fossilien aus der Zeit des Überganges vom Wasser ans Land entdeckt hatten.

Bei den Stücken, die wir nach Hause ins Labor brachten, handelte es sich eigentlich nur um Felsbrocken mit eingeschlossenen Fossilien. Im Laufe von zwei Monaten wurde das Gestein von den Präparatoren im Labor Stück für Stück entfernt, häufig mit Zahnarztwerkzeugen oder kleinen Pickeln. Jeden Tag kam ein neuer Teil der Anatomie unseres fossilen Lebewesens ans Licht. Fast jedes Mal, wenn wir einen größeren Abschnitt freigelegt hatten, erfuhren wir etwas Neues über die Entstehung der landlebenden Tiere.

Ein Fossilfund beginnt mit einer Gesteinsmasse, die im Laufe der Zeit freigelegt wird. Die Bilder zeigen den Weg eines Fossils vom Freiland ins Labor, wo es vorsichtig herauspräpariert wird. Am Ende hat man das Skelett des Tiers vor sich. Foto links oben vom Autor, übrige Fotos mit freundlicher Genehmigung von Ted Daeschler, Academy of Natural Sciences of Philadelphia.

Was aus diesen Felsen im Herbst 2004 nach und nach ans Licht kam, war ein wunderschönes Mittelding zwischen einem Fisch und einem Landbewohner. Fische und landlebende Tiere unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Fische haben einen spitz zulaufenden Kopf, bei den ersten landlebenden Tieren dagegen sah er eher aus wie bei einem Krokodil: flach und mit den Augen auf der Oberseite. Fische haben keinen Hals: Ihre Schultern sind über eine Reihe von Knochenplatten unmittelbar mit dem Kopf verbunden. Die ersten landlebenden Tiere dagegen besaßen wie alle ihre Nachkommen durchaus einen Hals, das heißt, sie konnten den Kopf unabhängig von den Schultern bewegen.

Darüber hinaus gibt es weitere große Unterschiede. Fische sind ganz und gar mit Schuppen bedeckt, landlebende Tiere nicht. Und was ebenso wichtig ist: Fische haben Flossen, Landbewohner verfügen über Gliedmaßen mit Fingern, Zehen, Hand- und Fußgelenken. Wir könnten die Vergleiche fortsetzen und eine lange Liste mit Unterschieden zwischen Fischen und landlebenden Tieren zusammenstellen.

Aber unser neu entdeckter Fisch passte nicht zu dieser Trennung der beiden Tiergruppen. Wie alle Fische hatte er Schuppen auf dem Rücken und Flossen mit Flossenhäuten. Aber der Kopf war wie bei Landbewohnern flach, und einen Hals hatte das Tier auch. Und als wir das Innere der Flosse untersuchten, fanden wir Knochen, die dem Ober- und Unterarm sowie Teilen des Handgelenks entsprachen. Auch die anderen Gelenke waren vorhanden: Wir hatten einen Fisch mit Schulter, Ellenbogen und Handgelenk vor uns, alles innerhalb einer Flosse mit Flossenhaut.