Das Universum in dir - Neil Shubin - E-Book

Das Universum in dir E-Book

Neil Shubin

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Beschreibung

Die Gesamtgeschichte der Erde und des Menschen und von Allem – ungewöhnlich, unterhaltsam und packend! Seit dem Urknall haben sich Galaxien, Sonnensysteme und Planeten gebildet und im Laufe der Äonen entwickelte sich das Leben auf der Erde. Angesichts dessen könnten wir Menschen uns unbedeutend vorkommen – doch tief in uns verborgen liegt das große Wunder des Lebens: Das Universum ist in uns! Der weltbekannte Paläontologe Neil Shubin geht in seinem neuen Buch den Rätseln unseres Lebens nach: Er erzählt von der Zusammensetzung der Moleküle, findet eine Erklärung dafür, weshalb wir einen Regenbogen sehen können und zeigt, wie das Universum unseren Schlafrhythmus und die Geschwindigkeit beeinflusst, mit der sich unsere Zellen teilen. Ein wissenschaftliches Abenteuer, nach dem wir besser verstehen, wer – und was – wir sind.

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Seitenzahl: 349

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Neil Shubin

Das Universum in dir

Eine etwas andere Naturgeschichte

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Michele, Nathaniel, und [...]Prolog1 Wir rocken die Welt2 Ein Knall aus dem All3 Glückliche Sterne4 Es wird Zeit5 Der Aufstieg des Großen6 Die Punkte verbinden7 Könige auf dem Hügel8 Fieber und Schüttelfrost9 Eiskalte Tatsachen10 Gelegenheit macht erfinderischLiteratur und AnmerkungenDanksagungenBildnachweiseRegister

Für Michele, Nathaniel, und Hannah

Prolog

Da mein Blick während eines großen Teils meiner Berufslaufbahn auf Steine am Boden gerichtet war, habe ich mir eine ganz bestimmte Sichtweise auf das Leben und das Universum zu eigen gemacht. Mein beruflicher Ehrgeiz, Anhaltspunkte für die Entstehung unseres Körpers zu finden, richtet sich auf versengte Wüstenböden oder das tiefe Innere der eisigen Arktis. Ein solcher Ehrgeiz mag exzentrisch wirken, er unterscheidet sich aber kaum von den Bestrebungen jener Kollegen, die nach dem Licht ferner Sterne und Galaxien spähen, den Boden der Ozeane kartieren oder die Oberfläche der öden Planeten in unserem Sonnensystem vermessen. Alle unsere Tätigkeiten sind durch einige der machtvollsten Ideen verbunden, welche die Menschheit jemals entwickelt hat – Ideen, mit denen man erklären kann, wie wir und unsere Welt ins Dasein getreten sind.

Solche Gedanken wurden zur Anregung für mein erstes Buch Der Fisch in uns. In jedem Organ, jeder Zelle und jedem Stück unserer DNA liegt die mehr als 3,5 Milliarden Jahre lange Geschichte des Lebendigen. Deshalb finden wir Hinweise auf die Vergangenheit des Menschen auch in den Abdrücken von Würmern im Gestein, der DNA von Fischen und den Algenklumpen in einem Teich.

Als ich über jenes Buch nachdachte, wurde mir klar, dass Würmer, Fische und Algen nur der Ausgangspunkt für noch tiefer liegende Zusammenhänge sind – Zusammenhänge, die noch Jahrmilliarden weiter in die Vergangenheit reichen als die Existenz des Lebens oder der Erde. In uns ist auch die Geburt der Sterne festgeschrieben, die Bewegung der Himmelskörper über das Firmament, ja der Ursprung aller Tage überhaupt.

Während der letzten 13,7 Milliarden Jahre (so in etwa) entstand das Universum durch den Urknall, Sterne wurden geboren und starben, und Materie im Weltall ballte sich zu unserem Planeten zusammen. In den seither vergangenen Zeitaltern umkreiste die Erde unsere Sonne, während Gebirge, Meere und ganze Kontinente kamen und gingen.

In den letzten 100 Jahren hat eine Entdeckung nach der anderen bestätigt, dass die Erde viele Milliarden Jahre alt ist, dass der Kosmos ungeheure Ausmaße hat und dass unsere Spezies im Stammbaum des Lebens auf unserem Planeten eine sehr bescheidene Stellung einnimmt. Vor diesem Hintergrund kann man mit Recht fragen, ob es zum Berufsbild des Naturwissenschaftlers gehört, den Menschen angesichts der gewaltigen Größe von Raum und Zeit ein Gefühl der Kümmerlichkeit und Bedeutungslosigkeit zu vermitteln.

Aber indem wir die kleinsten Atome zertrümmern und die größten Galaxien vermessen, das Gestein auf den höchsten Bergen und in der Tiefe der Meere erforschen und uns mit dem Erbgut aller Arten von Lebewesen vertraut machen, enthüllen wir eine Wahrheit von erhabener Schönheit. In jedem von uns liegt eine der tiefgründigsten Geschichten von allen.

1Wir rocken die Welt

Aus der Luft müssen mein Begleiter und ich ausgesehen haben wie zwei schwarze Flecken hoch oben auf einer riesigen Ebene aus Gestein, Schnee und Eis. Wir waren am Ende einer langen Wanderung und kämpften uns den Weg zurück ins Lager über einen Felsgrat, der zwischen zwei der größten Gletscher unseres Planeten lag. Der klare nördliche Himmel wölbte sich über einem Panorama, das vom Packeis des Nordpolarmeeres im Osten bis zur scheinbar endlosen Eiskappe Grönlands im Westen reichte. Nach einem produktiven Tag auf Fossiliensuche und einer berauschenden Wanderung hatten wir angesichts des majestätischen Panoramas das Gefühl, wir hätten den Gipfel der Welt bestiegen.

Dann aber riss uns ein Wechsel im Gestein unter unseren Füßen abrupt aus unseren Tagträumen. Als wir das Muttergestein überquerten, ging der braune Sandstein plötzlich in rosafarbene Streifen aus Kalkstein über, und aufgrund unserer früheren Entdeckungen erkannten wir darin ein deutliches Anzeichen dafür, dass Fossilien in der Nähe waren. Nachdem wir ein paar Minuten lang die Felsbrocken inspiziert hatten, läuteten die Alarmglocken; ein ungewöhnliches Flimmern, das von einer Ecke eines Gesteinsbrockens von der Größe einer Melone kam, erregte meine Aufmerksamkeit. Die Erfahrungen im Feld hatten mich gelehrt, auf das Gefühl zu hören, das von einem solchen Moment ausgelöst wird. Wir waren nach Grönland gereist, um kleine Fossilien zu suchen, und so musterte ich, über meine Lupe gebeugt, sorgfältig das Gestein. Das Glitzern, das mich gefesselt hatte, kam von einem kleinen weißen Fleck, nicht größer als ein Sesamkorn. Die nächsten fünf Minuten bückte ich mich über den Stein und betrachtete ihn aus nächster Nähe, bevor ich den Brocken an meinen Kollegen Farish weitergab und ihn nach seiner fachkundigen Meinung fragte.

Als der Fleck unter seiner Linse auftauchte, erstarrte er. Sein Blick traf mich mit einem Ausdruck freudiger Erregung, Unglauben und Überraschung. Er erhob sich aus seiner kauernden Haltung, riss sich die Handschuhe von den Händen und warf sie drei Meter hoch in die Luft. Dann wurde ich von einer der gewaltigsten Umarmungen, die ich jemals erlebt habe, fast erdrückt.

Farishs Überschwang ließ mich vergessen, wie absurd es eigentlich war, sich so über die Entdeckung eines Zahnes zu freuen, der nicht viel größer war als ein Körnchen Sand. Wir hatten drei Jahre lang unzählige Dollars und zahlreiche Bänderdehnungen investiert und endlich gefunden, wonach wir gesucht hatten: ein 200 Millionen Jahre altes Bindeglied zwischen Reptilien und Säugetieren. Aber dieses Projekt war keine Trophäenjagd im Kleinformat. Der winzige Zahn stellt die Verbindung zwischen uns selbst und einer längst vergangenen Welt dar. Hier, verborgen in den Felsen Grönlands, liegen die tiefreichendsten Verbindungen zu den Kräften, die unseren Körper, unseren Planeten und sogar das gesamte Universum geformt haben.

Unsere Zusammengehörigkeit mit der Natur erkennen zu wollen, gleicht dem Versuch, das verborgene Muster in einem Kaleidoskop zu entziffern. Mit Lebewesen, Steinen und Sternen haben wir es in unserem Leben tagtäglich zu tun. Übt man den Blick ein wenig, machen die vertrauten Gegenstände einer tiefer liegenden Realität Platz. Wenn man lernt, die Welt durch diese Brille zu sehen, werden Lebewesen und Sterne zu Fenstern in eine Vergangenheit, die nahezu unbegreiflich weit zurückreicht, hin und wieder von Katastrophen geprägt wurde und den Lebewesen und dem Universum, das sie hervorgebracht hat, immer gemeinsam war.

Wie kann eine solche große Welt in einem winzigen Zahn liegen, ganz zu schweigen von unserem eigenen Körper? Die Geschichte beginnt damit, wie wir überhaupt auf diesen eisigen Gebirgsrücken in Grönland kamen.

 

Stellen wir uns einmal vor, wir stünden vor einem Panorama, so groß wie das Auge reicht. Gleichzeitig wissen wir, dass unsere Suche einem Fossil gilt, das so groß ist wie der Punkt am Ende dieses Satzes. Fossile Knochen können sehr klein sein. Dasselbe trifft auch auf ganze Panoramen zu, die im Verhältnis zur Oberfläche der Erde wirklich winzig sind. Wenn man Lebewesen früherer Zeiten finden will, darf man Steine nicht als unveränderliche Objekte betrachten, sondern muss lernen, in ihnen Gebilde mit einer dynamischen und oftmals turbulenten Vergangenheit zu sehen. Das bedeutet auch zu begreifen, dass unsere Körper und unsere gesamte Umwelt nur kurze Augenblicke im Ablauf der Zeit darstellen.

Das Drehbuch, mit dessen Hilfe Fossilienjäger sich neue Orte zum Suchen auswählen, ist während der letzten 150 Jahre mehr oder weniger unverändert geblieben. Rational betrachtet, ist es ganz einfach: Finde diejenigen Orte, an denen das Gestein genau das richtige Alter hat, um damit die Fragen beantworten zu können, die dich interessieren; suche Gesteinstypen, die wahrscheinlich Fossilien enthalten werden und außerdem an der Oberfläche freiliegen. Je weniger du buddeln musst, desto besser. Diese Herangehensweise, die ich bereits in meinem Buch Der Fisch in uns beschrieben habe, führte 2004 dazu, dass meine Kollegen und ich einen Fisch fanden, der an der Schwelle des Überganges zum Leben an Land stand.

Während meines Studiums in den Achtzigern fühlte ich mich zu einer Arbeitsgruppe hingezogen, die fortschrittliche, neue Methoden zur Suche nach Fossilienfundstätten entwickelt hatte. Ihr Ziel war es, die ältesten Verwandten der Säugetiere in versteinerter Form zu entdecken. Die Gruppe hatte an mehreren Orten im Westen Nordamerikas kleine, an Spitzmäuse erinnernde Fossilien und eng mit ihnen verwandte Reptilien gefunden. Doch Mitte der 1980er Jahre steckten sie nach ersten Erfolgen in einer Sackgasse. Am besten formuliert man das Problem mit dem Paläontologenwitz »Jedes neu entdeckte fehlende Bindeglied reißt zwei neue Lücken in der Fossilienreihe auf«. Auf diese Weise hatte das Team einen ganzen Haufen dieser Lücken geschaffen, und sah sich jetzt mit einer solchen Lücke in 200 Millionen Jahre altem Gestein konfrontiert.

Die Suche nach Fossilienfundstätten bekommt Beihilfe von Wirtschaft und Politik: Wenn die Aussicht auf nennenswerte Öl-, Gas- und Mineralienvorkommen besteht, besteht für die Staaten ein Anreiz, die geologischen Verhältnisse innerhalb ihrer Grenzen genau zu kartieren und zu erfassen. Deshalb finden sich in praktisch jeder geologischen Fachbibliothek zahlreiche Artikel, Berichte und – hoffentlich – auch Kartenmaterial, aus denen Alter, Aufbau und Mineraliengehalt des Gesteins hervorgehen, das an der Oberfläche verschiedener Staaten und Regionen freiliegt. Die Herausforderung besteht darin, die richtigen Karten zu finden.

Die besagte Arbeitsgruppe am Museum für Vergleichende Zoologie der Harvard University wurde von Professor Farish A. Jenkins Jr. geleitet. Fossilien zu entdecken war für ihn und seine Mannschaft das täglich Brot, und die Arbeit begann in der Bibliothek. Chuck Schaff und Bill Amaral, zwei Kollegen aus Farishs Labor, spielten dabei eine Schlüsselrolle; die beiden hatten ihr Verständnis der Geologie so verfeinert, dass sie mutmaßliche Fundstätten vorhersagen konnten, und – noch wichtiger – sie hatten ihren Blick so trainiert, dass sie tatsächlich selbst winzig kleine Fossilien fanden. Ihre Beziehung hatte oft die Form einer langen, freundschaftlichen Diskussion: Der eine stellte eine neue Idee in den Raum, und der andere bemühte sich erbarmungslos darum, sie zunichtezumachen. Hielt der Gedanke dem zumeist liebenswürdigen Meinungsaustausch stand, stellten sich beide hinter den Vorschlag und legten ihn Farish vor, der ihn mit seinem genauen Gespür für Logistik und Wissenschaft beurteilen sollte.

Eines Tages im Jahr 1986, während er noch mit Chuck seine Gedanken durchkaute, fand Bill auf dem Schreibtisch seines Kollegen ein Exemplar des Shell Oil Guide to the Permian and Triassic of the World. Beim Durchblättern des Buches stieß er auf eine Karte von Grönland, auf welcher an der Ostküste der Insel, ungefähr auf 72 Grad nördlicher Breite – was ungefähr der Höhe des Nordkaps oder der Nordspitze Alaskas entspricht –, ein kleines, schraffiertes Gebiet mit Trias-Gestein eingetragen war. Daraufhin legte Bill los, indem er verkündete, dies könne ein geeignetes neues Arbeitsgebiet sein. Nun folgte die übliche Debatte: Chuck meinte, es handele sich nicht um den richtigen Gesteinstyp, Bill antwortete darauf, und Chuck konterte erneut.

Durch schieres Glück verfügte Chuck über ein Mittel, mit dem er die Debatte direkt aus seinem Bücherregal heraus beenden konnte. Ein paar Wochen zuvor hatte er in aussortiertem Material aus der Bibliothek gestöbert und einen Artikel mit dem Titel »Revision of Triassic Stratigraphy of Scoresby Land and Jameson Land Region, East Greenland« aus dem Stapel gezogen. Verfasst hatte ihn ein dänisches Geologenteam in den 1970er Jahren. Was noch niemand wusste: Dieser vor dem Mülleimer gerettete Zufallsfund sollte für unser Leben in den nächsten zehn Jahren eine gewaltige Rolle spielen. Praktisch vom ersten Augenblick an, nachdem Bill und Chuck sich die Landkarten in dem Nachdruck angesehen hatten, war die Diskussion vorbei.

Mein Doktoranden-Arbeitszimmer lag auf der anderen Seite des Korridors, und wie üblich schaute ich am späten Nachmittag bei Chuck vorbei, um mich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Bill trieb sich ebenfalls dort herum, und es war klar, dass noch ein Rest ihrer Diskussion in der Luft lag. Bill sagte nicht viel; er knallte einfach Chucks geologischen Sonderdruck vor mir auf den Tisch. Ein Kartenausschnitt in dem Artikel zeigte genau das, worauf wir gehofft hatten. An der Ostküste Grönlands, auf der nach Island gerichteten Seite, lag genau das Gestein frei, in dem man frühe Säugetiere, Dinosaurier und andere wissenschaftliche Schätze findet.

Die Landkarten sahen eigenartig und sogar verdächtig aus. Die Ostküste Grönlands ist eine abgelegene Gebirgsgegend. Und die Namen erinnern an Entdecker früherer Zeiten: Jameson Land, Scoresby Land und Wegener Halvø. Dass ich wusste, dass ein paar der Entdecker auf ihren Reisen in diese Region ums Leben gekommen waren, machte die Sache auch nicht besser.

Glücklicherweise lagen die Expeditionen, die schließlich stattfanden, in den Händen von Farish, Bill und Chuck. Gemeinsam konnten die drei auf ungefähr 60 Jahre Felderfahrung zurückblicken und hatten sich durch harte Arbeit ein umfangreiches Wissen darüber erworben, wie man unter den unterschiedlichsten Bedingungen im Feld zurechtkommt. Natürlich hatten wir kaum Erfahrungen, die uns auf dieses Unternehmen hätten vorbereiten können. Oder wie ein berühmter Expeditionsleiter einmal zu mir sagte: »Es geht nichts über deine erste Reise in die Arktis.«

In jenem ersten Jahr in Grönland lernte ich vieles, was mir elf Jahre später, als ich anfing, meine eigenen Arktisexpeditionen zu organisieren, von Nutzen sein sollte. Ich hatte undichte Lederstiefel, ein kleines, gebrauchtes Zelt und eine riesige Taschenlampe mit in das Land von Schlamm, Eis und Mitternachtssonne gebracht; damit hatte ich in jenem ersten Jahr so viele Fehlentscheidungen getroffen, dass mir – um weiter lächeln zu können – nichts anderes übrig blieb, als im Kopf immer wieder mein eigenes Motto zu wiederholen: »Tu’ nie etwas zum ersten Mal.«

Den nervenaufreibendsten Augenblick auf dieser ersten Reise erlebten wir, als wir den Ort für unser Basislager aussuchten; eine Entscheidung, die wir auf die Schnelle während eines Hubschrauberfluges treffen mussten. Mit jeder Drehung des Rotors fliegt Geld aus dem Fenster – ein Helikopterflug in der Arktis kann bis zu zweieinhalbtausend Euro pro Stunde kosten. Angesichts eines normalen Paläontologenbudgets, das sich eher für ramponierte Pickups als für teure Hubschrauber des Typs Bell 212 Twin Huey eignet, darf man da keine Zeit verlieren. Sobald wir uns über einer vielversprechenden Stelle befinden, die wir zuvor auf den Karten im Labor gefunden haben, gehen wir schnell eine Checkliste wichtiger Eigenschaften durch, bevor wir aufsetzen. Es ist eine lange Liste: Wir müssen ein trockenes, flaches Stück Land finden, das trotzdem nahe genug am Wasser liegt, damit wir den täglichen Bedarf im Camp befriedigen können. Gleichzeitig muss es weit genug landeinwärts liegen, damit die Eisbären nicht zum Problem werden, muss windgeschützt sein und sich außerdem in der Nähe des freiliegenden Gesteins befinden, das wir untersuchen wollen.

Das Grönland-Team; von links oben im Uhrzeigersinn: Farish mit militärischer Kurzhaarfrisur; Chuck, der kluge Fossilsammler; Bill, der bei den Trips im Feld alles am Laufen hält; und ich. Man beachte: In jenem Jahr traf ich viele schlechte Entscheidungen.

Anhand der Landkarten und Luftaufnahmen hatten wir uns bereits einen guten Eindruck von dem Gebiet gemacht, und landeten am Ende auf einem hübschen kleinen Stück Tundra mitten in einem weiten Tal. Hier gab es kleine Bäche, an denen wir Wasser holen konnten. Das Gelände war flach und trocken, so dass die Zelte sich gefahrlos aufbauen ließen. Außerdem hatten wir einen großartigen Ausblick auf ein schneebedecktes Gebirge und einen Gletscher am Ostende des Tales. Bald bemerkten wir jedoch auch einen wichtigen Nachteil. Es gab keine anständigen Gesteinsaufschlüsse in der näheren Umgebung.

Nachdem wir das Lager zu unserer Zufriedenheit eingerichtet hatten, machten wir uns jeden Tag mit einem einzigen Ziel auf den Weg: Wir wollten das Gestein finden. Dazu kletterten wir in der Nähe des Lagers auf die höchsten Erhebungen und suchten in der Umgebung mit dem Fernglas nach den Gesteinsaufschlüssen, die in dem von Bill und Chuck aufgestöberten Artikel so auffällig eingetragen waren. Erleichtert wurde unsere Suche dadurch, dass die Gesteinsschichten wegen ihres charakteristischen Farbtons unter dem Oberbegriff »rote Flöze« bekannt waren.

Mit der Vorstellung von rotem Gestein machten wir uns gruppenweise auf den Weg. Chuck und Farish kletterten auf Hügel, die ihnen einen Blick nach Süden ermöglichten, Bill und ich begaben uns an Stellen, von denen wir nach Norden blicken konnten. Nachdem wir drei Tage lang gesucht hatten, kehrten beide Gruppen mit derselben Neuigkeit zurück. In der Ferne, ungefähr zehn Kilometer nach Nordosten, war ein roter Streifen zu erkennen. Wir diskutierten über diesen kleinen Gesteinsaufschluss und musterten ihn während der ganzen restlichen Woche bei jeder Gelegenheit mit dem Fernglas. An manchen Tagen, wenn das Licht stimmte, wirkte er wie eine Reihe von Graten, die sich ideal für die Fossiliensuche eigneten.

Wir fassten den Entschluss, dass Bill und ich einen Weg zu den Felsen ausfindig machen sollten. Da ich nicht wusste, wie man in der Arktis wandert, und da ich außerdem meine Schuhe unglücklich gewählt hatte, wurde der Weg zu einer Tortur: Zuerst ging es über Geröllfelder, dann über kleine Gletscher und fast den gesamten übrigen Weg durch Schlamm. Der Schlamm bestand aus feuchtem Ton, der mit jedem Schritt ein unanständiges schlurp unter unseren Füßen aufsteigen ließ. Zurück blieben keine Fußabdrücke, sondern nur eine glibberige, zähflüssige Masse.

Nachdem wir es drei Tage lang auf verschiedenen Routen probiert hatten, fanden wir einen gangbaren Weg zu den vielversprechenden Felsen. Nachdem wir vier Stunden lang marschiert waren, verwandelte sich der rote Streifen, den wir mit den Ferngläsern gesehen hatten, in eine Reihe von Felsvorsprüngen, Graten und Hügeln; sie alle bestanden genau aus dem Gestein, das wir brauchten. Mit ein wenig Glück würde die Verwitterung an seiner Oberfläche Knochen freigelegt haben.

Das Ziel war jetzt, mit Farish und Chuck an die Stelle zurückzukehren und die Wanderung dabei so schnell wie möglich hinter uns zu bringen, um noch genügend Zeit für die Suche nach Knochen zu haben, bevor wir den Heimweg antreten mussten. Als wir mit der gesamten Crew vor Ort waren, fühlten Bill und ich uns wie stolze Hausbesitzer, die ihr Anwesen vorführen. Farish und Chuck waren müde von der Wanderung, aber auch aufgeregt durch die Aussicht, Fossilien zu finden; in der Stimmung zu reden waren sie nicht. Schnell verfielen sie in den paläontologischen Rhythmus: Den Blick auf den Boden gerichtet, gingen sie langsam auf den Felsen auf und ab und suchten an der Oberfläche systematisch nach Knochen.

Bill und ich machten uns zu einem Grat auf, der einen knappen Kilometer entfernt war und uns einen Blick auf das verschaffen würde, was uns weiter nördlich erwartete. Nach einer kleinen Pause suchte Bill die Landschaft nach allem ab, was interessant werden konnte: nach unseren Kollegen, Eisbären und anderen Tieren. Plötzlich hielt er inne und sagte: »Chuck ist unten.« Ich richtete mein Fernglas in die gleiche Richtung und konnte sehen, dass Chuck tatsächlich auf allen vieren systematisch auf dem Gestein hin und her kroch. Für einen Paläontologen konnte das nur eines bedeuten: Er sammelte fossile Knochen ein.

Ein kurzer Spaziergang zu Chuck bestätigte, was der Blick mit dem Fernglas schon angedeutet hatte: Er hatte tatsächlich ein kleines Knochenstück gefunden. Aber unsere Wanderung an diesen Fleck hatte vier Stunden gedauert, und jetzt mussten wir den Rückweg antreten. Farish, Bill, Chuck und ich gingen hintereinander in ungefähr zehn Metern Abstand. Nach etwa 400 Metern fiel mir auf dem Boden etwas ins Auge. Es war ein Schimmern, das ich zuvor schon einmal gesehen hatte. Wie Chuck eine Stunde zuvor, warf ich ich mich auf die Knie und sah es in voller Pracht: ein Stück Knochen, so groß wie meine Faust. Links davon lagen weitere Knochen, rechts noch mehr. Ich rief nach Farish, Bill und Chuck. Keine Antwort. Als ich aufblickte, wusste ich, warum: Sie krochen ebenfalls auf Händen und Knien herum. Wir alle stöberten in dem gleichen riesigen Feld nach zerbrochenen Knochen.

Als der Sommer zu Ende ging, brachten wir kistenweise fossile Knochen ins Labor, und dort setzte Bill sie wie ein riesiges dreidimensionales Puzzle zusammen. Das Tier war ungefähr sechs Meter lang und hatte eine Reihe flacher Zähne, einen langen Hals und einen kleinen Kopf. Die Anatomie der Gliedmaßen war charakteristisch für einen Dinosaurier, allerdings einen relativ kleinen.

Diese Gruppe von Dinosauriern, Prosauropoden genannt, nimmt in der nordamerikanischen Paläontologie einen wichtigen Platz ein. Anfangs entdeckte man Dinosaurier im Osten Nordamerikas an Wasserläufen, Eisenbahnlinien und Straßen, den einzigen Stellen, an denen größere Gesteinsflächen freilagen. Der berühmte Paläontologe Richard Swann Lull (1867–1957) von der Yale University fand einen Prosauropoden in einem Steinbruch in Manchester (Connecticut). Problematisch war dabei nur, dass es sich um das Hinterteil handelte. Wie er zu seinem Kummer erfuhr, hatte man den Block mit dem Vorderende bereits in der Kleinstadt South Manchester in einen Brückenpfeiler einbetoniert. Aber Lull ließ sich nicht abschrecken: Er beschrieb den Dinosaurier ausschließlich von hinten. Als die Brücke 1969 abgerissen wurde, kamen die übrigen Bruchstücke ans Licht. Wer weiß, welche Dinosaurierfossilien es tief im Inneren von Manhattan noch zu entdecken gibt? Die berühmten rotbraunen Häuser auf der Halbinsel bestehen aus dem gleichen Typ Sandstein.

In Grönland bilden die Berge große Felstreppen, die nicht nur die Stiefel ruinieren, sondern auch die Geschichte vom Ursprung dieses Gesteins erzählen. Harte Sandsteinschichten, die fast so widerstandsfähig sind wie Beton, ragen aus weicherem Gestein heraus, das schnell verwittert. Praktisch identische Treppen findet man auch weiter südlich: Ganz ähnlichen Sandstein, Schluffstein und Schiefer gibt es von North Carolina über Connecticut bis hinauf nach Grönland. Diese Schichten zeigen ein charakteristisches Muster von Rissen und Sediment; sie erzählen von Stellen, an denen vor Urzeiten Seen in schmalen Tälern lagen, die sich durch das Zerbrechen der Erdkruste bildeten. Das Muster der Risse, Vulkane und Seeböden in solchem Gestein sieht fast genauso aus wie an den Seen im Rift Valley – dem Victoria- und Malawi-See – im heutigen Afrika: Bewegungen im Erdinneren führen dazu, dass Teile der Oberfläche auseinanderbrechen und sich trennen; dabei bilden sich klaffende Risse, die sich mit dem Wasser von Seen und Flüssen füllen. Früher erstreckten sich solche Risse parallel zur gesamten Küste Nordamerikas.

Wir hatten von Anfang an den Plan gehabt, dem Verlauf der Rifts zu folgen. Da wir wussten, dass das Gestein im Osten Nordamerikas sowohl Dinosaurier als auch kleine, säugetierähnliche Tiere enthält, verschaffte uns Chucks geologischer Sonderdruck einen Aha-Moment. Und der wiederum führte uns nach Nordgrönland. Dort liefen wir den Entdeckungen am Boden hinterher wie Tauben, die einer Spur aus Brotkrumen folgen. Die Suche dauerte drei Jahre, aber Anhaltspunkte in den roten Gesteinsschichten führten uns letztlich zu dem eisigen Bergrücken, den ich zusammen mit Farish bestiegen hatte.

Fossiliensuche in übereinstimmenden Gesteinsformationen (schwarz). Erfolgreiche Arbeiten in Connecticut und Nova Scotia führten uns nach Grönland.

Vom Gipfel des Grates sahen die Zelte unseres Lagers aus wie winzige weiße Flecken knapp unterhalb des Horizonts. Auf dem Bergrücken wehte ein eisiger Wind, aber der Vorsprung aus rosa Kalkstein, auf dem wir saßen, schuf einen kleinen Windschatten; hier konnten Farish und ich unseren Fund begutachten. Farishs Jubel bestätigte meine Vermutung, dass es sich bei dem weißen Fleck im Gestein tatsächlich um einen Säugetierzahn handelte. Mit seiner charakteristischen Form – drei Höcker und zwei Wurzeln – stand er stellvertretend für ein ganzes Tier.

Mit der Zuversicht, die wir durch diese erste Entdeckung gewonnen hatten, suchte die Arbeitsgruppe in weiten Bereichen Ostgrönlands, und in den folgenden Jahren fanden wir schließlich weitere Säugetierfossilien. Sie gehörten zu einem kleinen Tier, das einer Spitzmaus ähnelte und ungefähr halb so groß war wie eine Hausmaus. Es besaß kein beeindruckendes Skelett, das die Eingangshalle eines Museums schmücken könnte; seine Schönheit liegt anderswo.

Als eines der ersten Tiere in der Reihe der dokumentierten Fossilienfunde trägt es Zähne des gleichen Typs wie wir: Die Kauflächen haben Höcker, die an Ober- und Unterkiefer aufeinander passen; die Zahnreihe gliedert sich in Schneidezähne, Eckzähne und Backenzähne. Auch seine Ohren ähnelten den Unseren: Sie enthielten kleine Knochen, die das Trommelfell mit dem Innenohr verbanden. Schädelbau, Schultern und Gliedmaßen sind ebenfalls typisch für Säugetiere. Wir wissen es zwar nicht sicher, aber wahrscheinlich hatte das Wesen ein Fell und andere säugetiertypische Merkmale wie Milchdrüsen. Jedes Mal, wenn wir kauen, hohe Töne hören oder unsere Hände drehen, nutzen wir Teile unserer Anatomie, die man über die Primaten und andere Säugetiere bis zu den körperlichen Merkmalen dieser kleinen Tiere aus der Zeit vor 200 Millionen Jahren zurückverfolgen kann.

Auch das Gestein verbindet uns mit der Vergangenheit; Risse in der Erdkruste wie jene, die uns nach Grönland und zu den Säugetierfossilien führten, haben ihre Spuren nicht nur in der Kruste unseres Planeten, sondern auch in unserem Körper hinterlassen. Das Gestein aus Grönland gleicht einer einzelnen Seite in einer riesigen Bibliothek, in deren unzähligen Büchern die Geschichte unserer Welt geschrieben steht. Milliarden von Jahren gingen diesem winzigen Zahn bereits voraus, und 200 Millionen Jahre folgten ihm. Im Laufe der Erdzeitalter öffneten und schlossen sich die Meere, Gebirge stiegen in die Höhe und verwitterten wieder – und Asteroiden krachten herab, während der Planet seine Bahn durch das Sonnensystem zog. Die Gesteinsschichten zeichneten Zeitalter für Zeitalter die Veränderungen des Klimas, der Atmosphäre und der Erdkruste auf. Ständiger Wandel ist in der Welt an der Tagesordnung: Lebewesen wachsen und sterben, Arten entstehen und sterben aus, und alle Aspekte unseres Zuhauses auf der Erde und im Weltall durchlaufen entweder allmähliche Veränderungen oder Episoden der katastrophalen Umwälzungen.

Gestein und Körper sind eine Art Zeitkapsel: Sie tragen die Spuren großer Ereignisse, durch die sie geformt wurden, in sich. Die Moleküle, aus denen sich unser Körper zusammensetzt, entstanden bei längst vergangenen kosmischen Ereignissen zu Beginn unseres Sonnensystems. Veränderungen in der Erdatmosphäre formten unsere Zellen und unseren gesamten Stoffwechselapparat. Wellen der Entstehung von Gebirgen, Veränderungen der Planetenumlaufbahnen und Umwälzungen auf der Erde selbst hatten Auswirkungen auf unseren Körper, unseren Geist und die Art, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen.

 

So wie der menschliche Körper ist auch dieses Buch entlang einer Zeitachse aufgebaut. Unsere Geschichte beginnt vor ungefähr 13,7 Milliarden Jahren, als das Universum aus dem Urknall entstand. Wir verfolgen dann die Geschichte unseres kleinen Winkels in diesem Universum weiter und betrachten die Auswirkungen der Entstehung des Sonnensystems, des Mondes und der Erdkugel auf die Organe, Zellen und Gene in jedem Einzelnen von uns.

2Ein Knall aus dem All

H375000000 O132000000 C85700000 N6430000 Ca1500000P1020000 S206000 Na183000 K177000 Cl127000 Mg40000 Si38600Fe2680 Zn2110 Cu76 I14 Mn13 F13 Cr7 Se4 Mo3 Co1

 

So lautet die Formel der Elemente, die den menschlichen Körper ausmachen. Wir sind eine sehr spezielle Mischung von Atomen. Unser Körper besteht vorwiegend aus Wasserstoff: Auf jedes Kobaltatom kommen beispielsweise fast 400 Millionen Wasserstoffatome. Was aber das Gewicht angeht, enthalten wir so viel Sauerstoff und Kohlenstoff, dass wir damit im bekannten Universum mehr oder weniger einzigartig sind.

Ein ganz bestimmtes Element fehlt jedoch im Körper des Menschen, und dahinter steht eine lange Geschichte. Helium, das zweithäufigste Element im Universum, kann aufgrund der inneren Struktur seiner Atome keine Elektronen mit anderen Elementen austauschen. Deshalb kann es auch nicht an den chemischen Reaktionen teilnehmen, die das Leben definieren – Stoffwechsel, Fortpflanzung und Wachstum. Sauerstoff und Kohlenstoff sind zwanzigmal seltener als Helium, ihre Atome aber treten leicht mit verschiedenen anderen Elementen in Wechselwirkung und bilden die vielfältigen chemischen Bindungen, die in lebender Materie unentbehrlich sind. Die Fähigkeit zur Reaktion ist für die häufigsten Atome unseres Körpers eine unentbehrliche Voraussetzung; Einzelgänger brauchen es gar nicht erst zu versuchen.

Materie als russische Puppe: Winzige Teilchen bilden Atome, Atome bilden Moleküle, Moleküle bilden größere Gebilde.

Die Mengenverhältnisse der Atome sind nur ein Aspekt im Aufbau unseres Körpers. Der Organismus ist aufgebaut wie ein Satz russischer Puppen: Winzige Teilchen bilden Atome, Gruppen von Atomen bilden Moleküle, und Moleküle finden sich auf unterschiedliche Weise zusammen, um als Bestandteile unserer Zellen, Gewebe und Organe zu interagieren. Jede Organisationsebene hat neue Eigenschaften, die mehr sind als die Summe ihrer Teile: Selbst wenn man alles über jedes Atom in unserer Leber wüsste, wäre damit noch nichts über die Funktionsweise einer Leber gesagt. Der hierarchische Aufbau aus kleinen Elementen, die zu Bausteinen größerer Gebilde mit neuen charakteristischen Eigenschaften werden, ist das grundlegende Organisationsprinzip der Welt, und letztlich offenbaren sich darin unsere tiefsten Verbindungen zum Universum, unserem Sonnensystem und unserem Planeten.

Man braucht heutzutage nur eine biologische Fachzeitschrift aufzuschlagen, und schon bestehen gute Aussichten, dass man darin einen Stammbaum von Verwandtschaftsverhältnissen findet. Jedes Lebewesen, vom Menschen über das Rennpferd bis zur preisgekrönten Kuh hat einen Stammbaum. Diese Bäume zeigen, wie eng verwandt die Lebewesen sind: Vettern ersten Grades stehen einander näher als Vettern zweiten Grades. Den Stammbaum zu kennen wird zur Grundlage, um zu verstehen, welche Beziehungen zwischen verschiedenen Lebewesen bestehen, wie die Arten entstanden sind, ja sogar warum bestimmte Individuen krankheitsanfälliger sind als andere. Das ist der Grund, warum Ärzte bei der medizinischen Untersuchung nach Krankheitsfällen in der Familie fragen.

Eine entscheidende Erkenntnis der modernen Biologie lautet: Unsere Familiengeschichte schließt auch alle anderen Lebewesen mit ein. Um diese Verwandtschaftsverhältnisse zu entschlüsseln, muss man verschiedene Arten sehr genau miteinander vergleichen. Die Ordnung im Reich des Lebens zeigt sich in den Eigenschaften der Lebewesen: Sind sie eng verwandt, haben sie mehr ähnliche Merkmale als weitläufige Verwandte. Eine Kuh hat mit Menschen mehr Organe und Gene gemeinsam als mit einer Fliege: Haare, Warmblütigkeit und Brustdrüsen sind bei allen Säugetieren vorhanden, fehlen aber bei Insekten. Solange nicht jemand eine behaarte Fliege mit Brüsten findet, betrachten wir die Fliegen als entfernte Verwandte von Kühen und Menschen. Packen wir zu dem Vergleich noch einen Fisch dazu, stellen wir fest, dass auch Fische mit Kühen und Menschen deutlich enger verwandt sind als mit Fliegen. Der Grund sind wiederum die gemeinsamen Eigenschaften: Fische haben wie Menschen eine Wirbelsäule, einen Schädel und Extremitäten, bei Fliegen gibt es all das nicht. Nach dieser Logik können wir eine Spezies nach der anderen hinzunehmen, und immer stellen wir fest, dass derselbe große Stammbaum eine Beziehung zwischen Menschen, Fischen, Fliegen und den Millionen anderen biologischen Arten auf der Erde herstellt.

Doch warum soll man sich auf Lebewesen beschränken?

Die Sonne verbrennt Wasserstoff. Andere Sterne verbrennen Sauerstoff und Kohlenstoff. Die grundlegenden Atome, aus denen unsere Hände, unsere Füße und unser Gehirn bestehen, dienen auch als Brennstoff für die Sterne. Das heißt nicht nur, dass sich die Atome in unserem Körper in den Weiten des Universums wiederfinden: Auch Moleküle, die unseren Körper bilden, gibt es im Weltraum. Die Bausteine der Proteine und größeren Moleküle in unserem Organismus – Aminosäuren und Nitrate – regnen mit Meteoriten auf die Erde und liegen sowohl in der Gesteinskruste des Mars als auch auf den Jupitermonden. Wenn unsere chemischen Cousins in Sternen, Meteoren und anderen Himmelskörpern vorhanden sind, müssen die Indizien für unsere tiefreichendsten Verbindungen zum Universum in dem Himmel über unseren Köpfen liegen.

Gesetzmäßigkeiten am Himmel zu finden – die Formen der Galaxien, die Eigenschaften der Planeten oder die Bestandteile eines Doppelsterns – ist keine einfache Aufgabe. Nicht nur unsere Augen brauchen einige Zeit, um sich auf die Dunkelheit einzustellen, sondern auch unsere Wahrnehmung. Man muss den Blick trainieren, um am nächtlichen Himmel schwache Muster zu erkennen. Wenn wir versuchen, unscharfe Sternenhaufen im Teleskop oder mit dem Fernglas zu sehen, spiegeln Phantasie und Erwartung uns häufig Bilder in der Leere vor. Um sie beiseitezulassen und schwach leuchtende Objekte im Weltraum tatsächlich zu erkennen, muss man sich des peripheren Sehens bedienen und den lichtempfindlichen Teil unserer Augen einsetzen; nur damit können wir das schwache Licht aufnehmen und verschiedene unscharfe Flecken voneinander unterscheiden. Wenn wir lernen, den Himmel zu sehen, kristallisieren sich Farbe, Tiefe und Form in der Welt über unseren Köpfen ganz ähnlich heraus, als wenn uns plötzlich ein fossiler Knochen am staubigen Wüstenboden unter unseren Füßen ins Auge fällt.

Himmelskörper zu unterscheiden ist nur der erste Schritt, wenn man lernen will, den Himmel richtig zu sehen. Wie ein Gemälde, das schon seit Generationen dasselbe Haus ziert, so sieht auch die Sternenlandschaft, mit der wir es heute zu tun haben, mehr oder weniger genauso aus wie jene, die unsere Eltern, unsere Großeltern oder selbst unsere affenähnlichen Vorfahren zu sehen bekamen. Generationen von Menschen haben nicht nur den Himmel betrachtet, sondern im Lauf der Zeit auch neue Wege entwickelt, um unsere Verbindung mit ihm wahrzunehmen.

 

Unsere Beziehung zu den Sternen erlebte eine dramatische Veränderung durch neue Erkenntnisse, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die so genannten Harvard Computers gewonnen wurden. Edward Charles Pickering, der damalige Direktor des Harvard College Observatory, stieß auf eine Fragestellung, die umfangreiche Berechnungen und Analysen erforderte. Das Observatorium sammelte stapelweise Aufnahmen von Sternbildern, Sternen und Sternennebeln – so viele, dass schon das Verwalten und Ausdrucken der Bilder eine ungeheure Aufgabe darstellte. Computer, wie wir sie heute kennen, gab es zu jener Zeit natürlich noch nicht, man musste die Berechnungen von Hand durchführen. Pickering war ein notorischer Geizkragen und erklärte in einem Anfall der Empörung über seine Mitarbeiter, er könne auch sein Hausmädchen einstellen und die Arbeit für die Hälfte der Kosten erledigen lassen. Er verliebte sich in diese neue Idee, und bedrängte schließlich sein wirkliches Hausmädchen Williamina Fleming, eine Stelle am Observatorium anzunehmen.

Williamina Fleming war gerade einundzwanzig und hatte einen kleinen Sohn. Ihr Mann hatte sie verlassen und die junge Frau besaß weder einen Cent noch hatte sie einen Beruf. Pickering stellte sie zunächst als Putzhilfe in seinem Haus ein; dann, nach seinem voreiligen Ausspruch, nahm er sie mit ins Observatorium, wo sie seine Aufnahmen des Nachthimmels ordnen sollte. Nachdem Pickering eine größere Spende erhalten hatte, konnte er die Gruppe um einige weitere Frauen erweitern. Er hatte dabei aber sicher nicht geplant, dass aus seinem Team einige der größten Astronominnen seiner Zeit oder überhaupt aller Zeiten hervorgehen sollten. Diese Frauen wurden unter dem Oberbegriff Harvard Computers (»Harvard-Rechnerinnen«) bekannt: Sie nahmen die astronomischen Rohdaten – Bilder des Himmels – und werteten sie aus.

 

Henrietta Leavitt, die Tochter eines Gemeindepastors, kam 1895 an das Observatorium. Anfangs arbeitete sie als Freiwillige, später erhielt sie ein Gehalt von 30 Cent pro Stunde. Die Liebe zur Astronomie war bei ihr schon während der Schulzeit erwacht, und in den langen Jahren, die sie mit der todlangweiligen Katalogisierung von Fotoplatten mit Sternen und Nebeln zubrachte, leistete ihr diese Leidenschaft gute Dienste.

Leavitt wusste bereits, dass die Sterne am Himmel sich in ihrer Farbe und Lichtstärke unterscheiden. Manche Sterne leuchten nur schwach und sind klein, andere sind hell und groß. Natürlich konnte man nicht wissen, was die Lichtstärke über die tatsächliche Helligkeit eines Sterns aussagte, denn ein scheinbar schwach leuchtender Stern konnte entweder in Wirklichkeit hell und weit entfernt oder klein und der Erde relativ nahe sein.

Edward Charles Pickering (obere Reihe) und die »Harvard-Computers«. Williamina Fleming ist die Dritte von links in der vorderen Reihe. Henrietta Leavitt steht rechts neben Pickering.

Besonders fasziniert war Leavitt von einer bestimmten Kategorie von Sternen, die im Laufe von Tagen oder Monaten regelmäßig zwischen starker und schwacher Helligkeit wechselten. Sie kartierte insgesamt 1700 Sterne und zeichnete dabei alle Eigenschaften auf, die sie messen konnte: ihre Helligkeit, ihre Position am Himmel, die Geschwindigkeit der Helligkeitsschwankungen. In ihren Daten entdeckte Leavitt eine wichtige Gesetzmäßigkeit: Zwischen dem Tempo, mit dem manche Sterne von hellem zu schwachem Leuchten wechseln, und ihrer tatsächlichen Helligkeit besteht immer die gleiche Beziehung.

Auf den ersten Blick erscheint Leavitts Idee entsetzlich weit hergeholt, in Wirklichkeit ist sie aber ganz und gar stichhaltig. Wenn man davon ausgeht, dass Licht mit konstanter Geschwindigkeit wandert, und wenn man außerdem weiß, wie hell der Stern tatsächlich ist und wie hell er erscheint, kann man seine Entfernung von der Erde abschätzen. Mit dieser Erkenntnis verschaffte uns Henrietta Leavitt eine Art Lineal, mit dem wir Entfernungen im Weltraum messen können.

Wenn wir einschätzen wollen, welche Umwälzung Leavitts Entdeckung bedeutete, müssen wir uns die Astronomie jener Zeit vor Augen führen. Von Galilei bis Pickering hatten Menschen den Himmel beobachtet und Planeten, Nebel und unscharfe Lichtflecken mit immer größerer Klarheit gesehen. Die zentralen Fragen waren aber nach wie vor unbeantwortet: Wie groß ist das Universum? Ist unsere Galaxis, die Milchstraße, die einzige?

Leavitt hatte ihre Idee 1912 kaum formuliert, schon fingen andere Astronomen damit an, sie zu verfeinern und auf das Firmament anzuwenden. Ein niederländischer Wissenschaftler maß mit Leavitts Methode die Abstände zwischen einzelnen Sternen. Dabei gelangte er zu einer riesigen Zahl: Unsere Galaxie ist so unfassbar groß, dass man es sich fast nicht vorstellen kann. Dann bediente sich Edwin Hubble, mit Leavitts Idee ausgerüstet, des größten Teleskops seiner Zeit und veränderte damit fast über Nacht unsere gesamten Vorstellungen vom Universum.

Hubble, ein Rhodes-Stipendiat und Jurastudent, der sich zum Astronomen gewandelt hatte, richtete 1918 sein gewaltiges, auf dem Mount Wilson errichtetes, neues Teleskop auf einen der Sterne, die durch Leavitt berühmt geworden waren. Es war ein besonderer Stern: Er stand nicht allein im Himmel, sondern lag in einer Gaswolke, die als Andromedanebel bekannt ist. Als Hubble Leavitts Maßstab auf diesen Stern anwandte, stieß er auf eine verblüffende Tatsache: Der Stern und der ganze Nebel, zu dem er gehörte, war weiter von uns entfernt als alles, was man bis dahin vermessen hatte. Die umwälzende Erkenntnis lautete: Dieses Objekt war viel weiter weg als alle Sterne unserer Galaxie. Der Nebel war gar keine Gaswolke, sondern eine ganz eigene Galaxie – viele Lichtjahre von uns entfernt. Nach dieser Beobachtung wurde der Andromedanebel zur Andromedagalaxie, und die Welt über unseren Köpfen wurde so riesengroß und uralt, wie es sich fast nicht beschreiben lässt.

Hubble kartierte mit dem größten Teleskop seiner Zeit alle Objekte, in deren Innerem er Leavitts veränderliche Sterne erkennen konnte. Andromeda-Galaxie und Milchstraße waren nur die Spitze des Eisbergs; das Universum ist voller Galaxien, von denen jede aus Milliarden von Sternen besteht. Viele der unscharfen Flecken, die Beobachter schon seit mindestens 100 Jahren gesehen und für Gaswolken gehalten hatten, waren in Wirklichkeit Sternenhaufen, die sich weit außerhalb unserer eigenen Galaxis befinden. In einem Zeitalter der Naturwissenschaft, in dem die Menschen sich noch mit dem Alter der Erde herumschlugen und es in dem Bereich zwischen zehn und 100 Millionen Jahren ansiedelten, zeigten Alter und Größe des Universums, dass unser Planet nur ein winziges Körnchen in einem gewaltigen Universum aus unzähligen Galaxien ist. All diese Erkenntnisse kristallisierten sich heraus, weil die Menschen lernten, den Himmel mit ganz neuen Augen zu sehen.

Hubble vermaß die Himmelskörper auch mit einer anderen Methode, die sich auf eine entscheidende Eigenschaft des Lichtes stützte. Licht aus einer Quelle, die sich auf uns zu bewegt, sieht stärker blau aus als solches, dessen Quelle sich von uns entfernt – dieses wirkt eher rot. Zu der Farbverschiebung kommt es, weil Licht einige Eigenschaften von Wellen besitzt: Wellen aus einer Quelle, die sich uns nähert, werden stärker zusammengedrückt als solche, deren Quelle von uns zurückweicht. In der Welt der Farben befinden sich Wellen mit geringeren Abständen am blauen Ende des Spektrums, solche mit größeren Abständen am roten. Während also Leavitts Verfahren einen Maßstab zur Messung von Entfernungen im Weltraum darstellt, ist die Suche nach Farbverschiebungen im Licht eine Art Radarpistole zur Messung von Geschwindigkeiten.

Mit diesem Werkzeug fand Hubble eine Gesetzmäßigkeit: Sterne senden nach rot verschobenes Licht aus. Das konnte nur eines bedeuten: Die Objekte im Universum bewegen sich von uns weg, und das Universum als Ganzes expandiert. Die Größenzunahme geht auch nicht chaotisch vonstatten; es gibt ein gemeinsames Zentrum der Ausdehung. Dreht man die Zeit zurück, so war alle Materie im Universum in einer entfernten Vergangenheit an einem zentralen Punkt versammelt.

Diese neue Idee gefiel nicht jedem; manche Experten verabscheuten sie sogar. Es gab für den Ursprung des Universums eine Fülle von Konkurrenztheorien. Einer ihrer Vertreter machte sich über Hubble lustig, indem er dessen Vorstellung mit dem Spottnamen »Urknall« (»big bang«) belegte. Tatsächlich fehlte in Hubbles Theorie – wie übrigens auch in allen anderen – ein Beleg in Form einer unmittelbaren Beobachtung.

Den Durchbruch brachte ein zufälliges Nebenprodukt, das aus dem Kommunikationsbedürfnis der Menschen erwuchs. Mit den technischen Fortschritten der Funktechnik und der Ausweitung von internationalem Handel und Zusammenarbeit wuchs Ende der 1950er Jahre die Nachfrage nach der Übertragung von Radio-, Fernseh- und anderen Signalen über die Ozeane. Zu diesem Zweck entwickelte die NASA einen besonderen Satelliten mit dem Codenamen Echo 1. Er sah aus wie ein großer, glänzender Metallballon und sollte Signale, die von einem Teil der Erde ausgesandt wurden, zu einem anderen zurückwerfen. Das System war nur mit der Schwierigkeit verbunden, dass die zur Erde zurückkehrenden Signale häufig viel zu schwach waren, um sie auswerten zu können.

An den Bell Laboratories des Unternehmens AT&T, damals ein Utopia für kreative Wissenschaftler, entwickelten Arno Penzias und Robert Wilson eine Antennenschüssel, mit der sie die äußerst schwachen, von Echo 1 zurückgeworfenen Mikrowellensignale auffangen wollten. Auf die Entwicklung einer solchen Antenne verwendeten sie enorm viel Zeit, Geld und Fachkenntnisse. Im Jahr 1962 schließlich schoss die NASA den Satelliten Telstar in den Orbit, der Signale nicht nur passiv zurückwarf, sondern sie auch selbst noch verstärkte. Für Penzias und Wilson war das eine schlechte Nachricht: Ihre Satellitenschüssel war nun für die NASA nutzlos.

Doch es gab auch eine gute Nachricht: Nachdem Penzias und Wilson sich nun nicht mehr nach fremden Prioritäten richten mussten, konnten sie die Schüssel für ihr eigentliches Ziel verwenden: die Beobachtung der Radiowellen, die aus dem Weltraum auf die Erde treffen. Aber ihr wunderbarer Apparat war der neuen Aufgabe nicht gewachsen. Die Empfindlichkeit der Instrumente, welche für den Einsatz bei der NASA entscheidend gewesen war, machte die Schüssel nun zu einem Albtraum im Arbeitsalltag. Sie fing alle möglichen schwachen Signale und Geräusche auf – fast wie das Geflimmer auf einem alten Röhrenfernseher.

Ihre Bemühungen, das Rauschen zu beseitigen, wirken heute wie der Versuch, die Nadel im Heuhaufen zu finden. Zuerst hatten sie probiert, die von Radios produzierten Signale herauszufiltern. Vergeblich – die Störungen blieben bestehen. Dann kühlten sie das Messgerät auf minus 270 Grad Celsius herunter, eine Temperatur, bei der die Moleküle ihre Bewegungen fast einstellen. Immer noch Störungen. Sie kletterten in die große Antennenschüssel und fanden im Inneren eine Menge Vogelmist. Nachdem sie die Sauerei beseitigt hatten, trat eine gewisse Besserung ein, aber die Störungen waren immer noch da. Das Hintergrundrauschen war Tag und Nacht gleich und fast hundertmal stärker als erwartet.

Was Penzias und Wilson nicht wussten: In Princeton bemühten sich Wissenschaftler gerade darum, mit Computermodellen eine Vermutung anzustellen. Wenn es einen Urknall gegeben hatte, müsste ein Teil der Energie noch im Universum vorhanden sein – ganz ähnlich wie die Rauchsäule nach einer Explosion. Und da das Universum sich seit dem Ereignis 13,7