Die Geschichte des Lebens - Neil Shubin - E-Book
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Neil Shubin

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Beschreibung

Eine unvergleichliche Entdeckungsreise durch Raum und Zeit, die uns an den Ursprung des Lebens selbst führt: Anschaulich, zugänglich und lebendig erzählt der renommierte Naturwissenschaftler Neil Shubin von den großen, unerklärlich scheinenden Umbrüchen in der Evolutionsgeschichte. Sein Buch bietet eine neue Perspektive auf die Evolution menschlichen und tierischen Lebens, die erklärt, wie die verblüffende Artenvielfalt auf unserem Planeten entstanden ist. Über Milliarden Jahre entwickelten sich Fische zu Landbewohnern, Reptilien zu Vögeln, Primaten zu Menschen. In der Paläontologie und Archäologie suchen Forscher nach genau solchen Fossilien, nach evolutionären Meilensteinen, die den Lauf und Die Geschichte des Lebens veränderten. In den letzten zweihundert Jahren waren Funde wie diese die einzige zuverlässige Methode, um den Verlauf der Evolution nachzeichnen und verstehen zu können. Doch die moderne Paläontologie steht derzeit an einem entscheidenden Wendepunkt: Die Entdeckung von DNA und die fortschreitende Technisierung eröffnen dem Wissenschaftszweig neue Möglichkeiten. Die Untersuchung von Fossilien mithilfe von DNA hilft der Forschung dabei, die zentralen Fragen unserer Existenz zu beantworten: Wie kommt es zu den großen evolutionären Veränderungen? Ist unser Dasein auf der Erde das Produkt reinen Zufalls? Oder hätte es gar nicht anders kommen können? »Neil Shubin ist ein meisterhafter Erzähler und ein begnadeter Vermittler der Wissenschaft.« Wall Street Journal »[Shubins] vier Milliarden Jahre umspannende Geschichte – von alten Fossilien bis hin zur DNA – zeigt einer breiten Leserschaft das wahre Bild der Wissenschaft, mit einnehmenden Porträts großer Forscher aus der Vergangenheit und Gegenwart.« Nature »Eine Freude… Dieses hervorragende Buch erweckt die intellektuelle Begeisterung wissenschaftlichen Strebens auf eine Art und Weise zum Leben, die sowohl erhellt als auch unterhält.« Publishers Weekly »Persönlich und durchdacht… Aufregend… Eine weitreichende Evolutionsgeschichte.« Science

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Neil Shubin

Die Geschichte des Lebens

Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt

Aus dem Englischenvon Sebastian Vogel

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Prolog1. Fünf WörterEin Hauch frische LuftWie ein Flattern entsteht2. Ideen im EmbryoEntwicklungsgeschichtenDer AxolotlDer AmmocoetEin Bild des WandelsEine Zelle, sie alle zu beherrschen3. Der Maestro im GenomEine molekulare RevolutionGenome ohne GeneBakterien als RettungFinger weisen den WegVeränderte Rezepte4. Schöne MonsterDie FliegePerlen auf einer SchnurDas MonsterpüreeAusschneiden und EinfügenDas Monster in unsNeu nutzen, wieder nutzen, anders nutzen5. Der NachahmungstäterNoch einmal BridgesMusik für unsere GeneKopien überallDas große GehirnKopien außer Rand und BandMaisgene6. Unser inneres SchlachtfeldBedeutungsschwangerDie Hacker werden gehacktZombie-Erinnerungen7. Gezinkte WürfelDegeneriertesDie Welt aus der Sicht eines SalamandersUnordnung ist die OrdnungKalte FüßeExperimente der Natur8. Fusionen und ÜbernahmenDer notwendige ZusammenbauWenn alles zusammenkommtDie Summe der TeileMixologieDie Vereinnahmung der ZukunftEpilogWeiterführende Literatur und AnmerkungenDanksagungenAbbildungsnachweisRegister

In Erinnerung an meine Eltern, Seymour und Gloria Shubin

Prolog

Jahrzehntelanges Steineklopfen hat meinen Blick auf Lebewesen verändert. Wenn man weiß, wo man nachsehen muss, wird wissenschaftliche Forschung zu einer weltweiten Fossilien-Schatzsuche: Fische mit Armen, Schlangen mit Beinen und Menschenaffen, die auf zwei Beinen gehen – viele vorzeitliche Tiere können uns etwas über wichtige Augenblicke in der Geschichte des Lebens berichten. In Der Fisch in uns habe ich geschildert, wie Planung und Glück meine Kollegen und mich in den hohen Norden Kanadas und zu Tiktaalik roseae geführt haben, einem Fisch mit Hals, Ellenbogen und Handgelenken. Dieses Tier überbrückte die Kluft zwischen dem Leben im Wasser und dem Leben an Land und offenbarte damit den zentralen Moment, in dem unsere entfernten Vorfahren noch Fische waren. Entdeckungen wie diese zeigen uns seit fast zwei Jahrhunderten, wie die Evolution abläuft, wie ein Körper entsteht und wie er ins Dasein tritt. Mittlerweile steht die Paläontologie jedoch an einem wichtigen Wendepunkt, der vor über drei Jahrzehnten mit dem Beginn meiner Berufslaufbahn zusammenfiel.

Ich war mit dem Magazin National Geographic und Naturdokus aufgewachsen. Deshalb wusste ich schon in jungen Jahren, dass ich an Expeditionen teilnehmen und Fossilien entdecken wollte. Mein Interesse führte dazu, dass ich an der Harvard University meinen Abschluss machte, und dort leitete ich schließlich Mitte der 1980er Jahre auch meine ersten Reisen zur Fossilsuche. Da ich nicht in der Lage war, Exkursionen an exotische Orte zu organisieren, machte ich mich an den Straßenböschungen in der Nähe von Cambridge in Massachusetts auf die Suche. Als ich nach einem solchen Ausflug aus dem Freiland zurückkam, fand ich auf meinem Schreibtisch einen Stapel mit Fachartikeln vor. Durch sie wurde mir zum ersten Mal klar, welch dramatischen Wandel die Welt der Paläontologie erleben sollte.

Die Artikel hatte ein Doktorandenkollege in der Bibliothek gefunden: Sie berichteten darüber, wie man an mehreren Instituten die DNA entdeckt hatte, die für den Aufbau des Körpers von Tieren verantwortlich ist. Man hatte geklärt, welche Gene den Kopf, die Antennen und die Flügel von Fliegen entstehen lassen. Das allein war eine unglaubliche Tatsache, aber es war noch nicht alles: Versionen der gleichen Gene sorgen für die Entwicklung des Körpers von Fliegen, Mäusen und Menschen. Die Bilder in den Artikeln vermittelten eine Ahnung von einer neuen Wissenschaft, mit der man erklären konnte, wie aus dem Embryo ein fertiger Organismus wird und welche Evolution dieser im Laufe der Jahrmillionen durchgemacht hat.

Experimente mit der DNA versprachen Antworten auf Fragen, die früher die alleinige Domäne der Fossiliensammler gewesen waren. Tatsächlich konnten Kenntnisse über die DNA sogar zum genetischen Mechanismus der Veränderungen führen, die ich mit Hilfe uralten Gesteins erklären wollte.

Wie die fossilen Lebewesen aus unserer Vergangenheit, so musste auch ich mich entweder weiterentwickeln oder aussterben. Während Aussterben für einen Wissenschaftler bedeutet, dass er in der Bedeutungslosigkeit versinkt, würde ein tiefes Eintauchen in Genetik, Entwicklungsbiologie und die Welt der DNA mich weiter am Geistesleben teilhaben lassen. Seit jenen ersten Fachartikeln leite ich eine Art schizophrenes Labor: Im Sommer suchen wir im Freiland nach Fossilien, den Rest des Jahres arbeiten wir mit Embryonen und DNA. Beide Methoden können Antworten auf eine einzige Frage liefern: Wie kam es in der Geschichte des Lebens zu großen Veränderungen?

Während der letzten 20 Jahre folgten die technischen Fortschritte mit schwindelerregendem Tempo aufeinander. Genom-Sequenziergeräte sind heute so leistungsfähig, dass sie die Arbeit des Human Genome Project, die mehr als zehn Jahre andauerte und mehrere Milliarden Dollar kostete, an einem Nachmittag für weniger als 1000 Dollar erledigen können. Und die Sequenzierung ist nur ein Beispiel: Rechenleistung und bildgebende Verfahren versetzen uns in die Lage, in Embryonen hineinzublicken und sogar den Molekülen in den Zellen bei der Arbeit zuzusehen. Die DNA-Technik ist so weit fortgeschritten, dass man heute ganz unterschiedliche Tiere wie Frösche und Affen ohne weiteres klonen kann; Mäuse kann man mit den Genen von Menschen oder Fliegen ausstatten. Die DNA nahezu jeder Tierart lässt sich heute verändern, was uns die Möglichkeit verschafft, die genetische Information, die den Körper nahezu aller Tier- und Pflanzenarten aufbaut, zu entfernen und neu zu schreiben. Wir können auf Ebene der DNA fragen, welche Genkombination dafür sorgt, dass ein Frosch sich von einer Forelle, einem Schimpansen oder einem Menschen unterscheidet?

Diese Revolution hat uns einen bemerkenswerten Umbruch beschert. Wenn wir die Erforschung von Gestein und Fossilien mit der DNA-Technik kombinieren, können wir einigen klassischen Fragen nachgehen, mit denen Darwin und seine Zeitgenossen sich herumschlugen. Neue Experimente offenbaren die Geschichte von mehreren Milliarden Jahren, eine Geschichte von Kooperation, neuen Zielen, Konkurrenz, Diebstahl und Krieg. Und alles geschieht innerhalb der DNA. Das Genom, das ständig von Viren infiziert wird und dessen eigene Teile im Krieg miteinander liegen, ist in jeder einzelnen Zelle im Aufruhr, während es andererseits Generation für Generation seine Arbeit tut. Das Ergebnis dieser Dynamik waren neue Organe und Gewebe, biologische Innovationen, die unsere Welt verändert haben.

Nachdem das Leben entstanden war, bevölkerte ein Mikroorganismenzoo über Jahrmilliarden die ganze Erde. Vor ungefähr einer Milliarde Jahren brachten die einzelligen Mikroben erstmals Lebewesen mit einem vielzelligen Körper hervor. Einige hundert Millionen Jahre später war alles andere entstanden, von den Quallen bis zu Menschen. Seit jener Zeit haben die Tiere durch die Evolution gelernt, zu schwimmen, zu fliegen und zu denken; dabei war jede Erfindung eine Vorankündigung für die nächste. Vögel fliegen mit Flügeln und Federn. Tiere, die an Land leben, haben eine Lunge und Gliedmaßen. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Ausgehend von einfachen Vorfahren, haben sich die Tiere so entwickelt, dass sie in der Lage sind, am Meeresboden zu leben, öde Wüsten zu bewohnen, auf den Gipfeln der höchsten Berge zu gedeihen und sogar auf dem Mond spazieren zu gehen.

Die großen Umwälzungen in der Geschichte des Lebens haben umfangreiche Veränderungen in der Lebensweise und im Körperbau der Tiere mit sich gebracht. Die Evolution der Fische, die zu landlebenden Tieren führte, die Entstehung der Vögel und die Entwicklung des vielzelligen Körpers aus einzelligen Lebewesen – das sind nur einige der großen Revolutionen. Und die Wissenschaft, die ihnen auf die Spur kommt, ist voller Überraschungen. Wer glaubt, die Federn seien entstanden, um den Tieren beim Fliegen zu helfen, oder die Lungen und Beine haben von Anfang an den Zweck gehabt, Tieren das Gehen an Land zu erleichtern, der ist in guter Gesellschaft. Und trotzdem liegt er völlig falsch.

Fortschritte auf diesem Wissenschaftsgebiet können dazu beitragen, einige grundlegende Fragen unseres Daseins zu beantworten: Ist es reiner Zufall, dass wir auf der Erde existieren? Oder gab es historische Wege, die uns zwangsläufig hierher geführt haben?

Die großen Übergänge in der Geschichte des Lebens und unsere Bestrebungen, sie zu verstehen, vollzogen sich auf einem langen, eigenartigen, wundersamen Weg, den Ausprobieren, Zufall und Notwendigkeit, Umwege, Revolutionen und Erfindungen prägen. Von diesem gewundenen Evolutionspfad und von den Wegen, auf denen wir ihn kennengelernt haben, handelt das vorliegende Buch.

1.Fünf Wörter

Manche Menschen finden das Thema, dem sie ihre ganze Karriere widmen, in einem Labor oder im Freiland. Ich fand meines in einem einzigen projizierten Dia.

Kurz nach Beginn meines Studiums nahm ich an einem Seminar teil, das von einem führenden Wissenschaftler geleitet wurde. Es handelte von den größten Volltreffern in der Geschichte des Lebens und war eine Art Crashkurs, ein Schnelldurchgang durch die größten Rätsel der Evolutionsforschung. Das Thema war jede Woche ein anderer entscheidender Übergang in der Evolution. In einer der ersten Sitzungen projizierte der Professor eine einfache Karikatur; sie zeigte, was man damals, 1986, über den Entwicklungsweg von den Fischen zu den landlebenden Tieren wusste. Ganz oben in der Skizze war ein Fisch abgebildet, unten ein frühes fossiles Amphibium. Vom Fisch zum Amphibium zeigte ein Pfeil, und er, nicht der Fisch, fesselte meinen Blick. Ich sah mir die Zeichnung an und kratzte mich am Kopf. Ein Fisch, der auf dem Trockenen ging – wie hatte es jemals dazu kommen können? Es schien mir ein erstklassiges wissenschaftliches Rätsel zu sein, an dem ich mich abarbeiten konnte. Es war Liebe auf den ersten Blick. So begannen vier Jahrzehnte mit Expeditionen zu beiden Polen und auf mehrere Kontinente, immer auf der Suche nach Fossilien, die zeigen konnten, wie das große Ereignis sich abgespielt hat.

Aber wenn ich mich bemühte, Freunden und Verwandten mein Anliegen zu erklären, traf ich häufig auf gequälte Blicke und höfliche Fragen. Damit sich ein Fisch in ein landlebendes Tier verwandeln konnte, musste sich ein neuartiges Skelett entwickeln, zu dem keine Flossen zum Schwimmen mehr gehörten, sondern Gliedmaßen zum Gehen. Notwendig war außerdem eine neue Art der Atmung mit einer Lunge anstelle der Kiemen. Ebenso mussten sich Ernährung und Fortpflanzung verändern – Fressen und Eierablage laufen im Wasser ganz anders ab als an Land. Damit ein solcher Übergang stattfinden konnte, mussten sich praktisch alle Körpersysteme gleichzeitig wandeln. Wozu sollten Gliedmaßen zum Gehen an Land nützlich sein, wenn das Tier an Land nicht atmen, fressen oder sich fortpflanzen konnte? Das Leben auf dem Trockenen setzt keine einzelne Erfindung voraus, sondern das Wechselspiel mehrerer hundert Neuerungen. Die gleiche Schwierigkeit stellt sich auch bei den vielen tausend anderen Übergängen in der Geschichte des Lebens, vom Ursprung der Flugfähigkeit und des aufrechten Ganges bis hin zur Entstehung vielzelliger Organismen und des Lebens selbst. Meine Bestrebungen schienen von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein.

Die Lösung des Dilemmas ist in einer Bemerkung der Dramatikerin Lillian Hellman enthalten, die in den 1950er Jahren vom Komitee für unamerikanische Umtriebe auf die schwarze Liste gesetzt wurde und ein schweres Leben hatte. Als sie ihr Leben schilderte, sagte sie einmal: »Natürlich beginnt nichts zu der Zeit, zu der man es glaubt.« Mit dieser Formulierung umriss sie unwissentlich eines der wichtigsten Konzepte aus der Entwicklungsgeschichte des Lebens, ein Konzept, das den Ursprung nahezu jedes Organs, jedes Gewebes und jedes DNA-Stückchens aller Lebewesen auf der Erde erklärt.

In der Biologie wurde der Samen für diese Idee durch die Arbeiten eines Wissenschaftlers gelegt, der selbstzerstörerisch war wie kaum ein anderer und das Fachgebiet gerade dadurch veränderte, dass er unrecht hatte.

 

Um zu verstehen, welche Entdeckungen man in jüngster Zeit im Genom gemacht hat und was sie bedeuten, müssen wir uns erst einmal mit einem früheren wissenschaftlichen Zeitalter beschäftigen. Das viktorianische England war ein Nährboden für bleibende Ideen und Entdeckungen. Der Gedanke hat etwas Poetisches: Unsere heutigen Kenntnisse darüber, welche Funktion die DNA in der Geschichte des Lebens erfüllt, basieren auf Gedanken aus einer Zeit, als man noch nicht einmal wusste, dass Gene überhaupt existieren.

St. George Jackson Mivart (1827–1900) war der Sohn strenggläubiger, evangelikaler Eltern. Die Familie wohnte in London. Sein Vater war vom Butler zum Eigentümer eines der größten Hotels in der Stadt aufgestiegen. Die Position von Mivart senior verschaffte seinem Sohn die Chance, im gesellschaftlichen Leben aufzusteigen, und gewährte ihm das Vorrecht, eine Berufslaufbahn seiner Wahl einzuschlagen. Wie sein Zeitgenosse Charles Darwin, so hatte auch Mivart von klein auf eine Leidenschaft für die Natur. Als Kind sammelte er Insekten, Pflanzen und Mineralien, wobei er sich häufig im Freiland umfangreiche Notizen machte und Klassifikationsschemata entwickelte. Eine Karriere als Naturforscher schien für Mivart vorgezeichnet zu sein.

Aber dann kam ihm das beherrschende Thema seines persönlichen Lebens dazwischen: der Kampf mit Autoritäten. Schon als Teenager fühlte sich Mivart in dem anglikanischen Glauben seiner Familie zunehmend unwohl. Zur großen Verblüffung seiner Eltern konvertierte er zum Katholizismus. Diese – für einen 16-Jährigen sehr kühne – Entscheidung hatte unvorhergesehene Folgen. Mit seiner neuen Bindung an die katholische Kirche konnte er weder in Oxford noch in Cambridge studieren, denn der Zugang zu englischen Universitäten war Katholiken zu jener Zeit verschlossen. Da er sich in keinen naturhistorischen Studiengang einschreiben konnte, ergriff er die einzige Gelegenheit, die ihm noch blieb: Er studierte Jura am ›Inns of the Court‹, wo die Religionszugehörigkeit kein Hindernis war. So wurde Mivart zum Anwalt.

Ob er jemals juristisch tätig war, ist nicht geklärt, aber in jedem Fall blieb die Naturgeschichte seine Leidenschaft. Mit seiner Stellung als Gentleman fand er Zugang zur wissenschaftlichen Oberschicht und trat in Beziehung zu Schlüsselfiguren seiner Zeit, insbesondere zu Thomas Henry Huxley (1825–1895). Huxley wurde schon bald zum öffentlichen Fürsprecher der Ideen Darwins. Er war aber auch selbst ein angesehener vergleichender Anatom und hatte ein ganzes Gefolge aus eifrigen Schülern um sich gesammelt. Mivart wurde zu einem engen Vertrauten des großen Wissenschaftlers, arbeitete in dessen Labor und nahm sogar an Zusammenkünften der Familie Huxley teil. Unter Huxleys Anleitung schrieb Mivart wichtige, allerdings meist deskriptive Werke über die vergleichende Anatomie der Primaten. Seine detaillierten Untersuchungen am Skelett sind bis heute nützlich. Als Darwin 1859 die erste Auflage seines Werkes Der Ursprung der Arten herausbrachte, betrachtete Mivart sich selbst als Anhänger von Darwins neuer Idee, was vermutlich auch daran lag, dass Huxleys Eifer ihn angesteckt hatte.

Bald aber erging es Mivart wie mit dem anglikanischen Glauben seiner Jugendzeit: Ihm kamen starke Zweifel an Darwins Gedanken, und er entwickelte theoretische Einwände gegen das darwinistische Prinzip des allmählichen Wandels. Irgendwann bekannte er sich – zuerst verschämt, später mit größerem Nachdruck – in der Öffentlichkeit zu seinen Vorstellungen. Er sammelte Belege, die seine abweichenden Ansichten stützen sollten, und stellte sie in einer Antwort auf Darwins Der Ursprung der Arten zusammen. Wenn er unter seinen alten Kollegen in der Welt der Naturgeschichte noch Freunde hatte, verlor er sie mit seiner Abwandlung von Darwins Titel: Über die Genesis der Arten.

Abb. 1:

St. George Jackson Mivart, der es schaffte, in der Evolutionsdebatte alle Seiten gegen sich aufzubringen.

Auch der katholischen Kirche machte Mivart es jetzt schwer. Er schrieb in Kirchenblättern, die Jungfrauengeburt und die Unfehlbarkeit der kirchlichen Lehre seien ebenso wenig plausibel wie Darwins Ideen. Mit der Veröffentlichung von Über die Genesis der Arten war Mivart in der Wissenschaft de facto exkommuniziert, und seine Schriften führten dazu, dass auch die katholische Kirche ihn im Jahr 1900, sechs Wochen vor seinem Tod, exkommunizierte.

Sein Widerspruch zu Darwin bietet einen Einblick in die intellektuellen Grabenkämpfe des viktorianischen Englands. Er formulierte einen Stolperstein, auf den viele Menschen seit Darwins Zeit immer wieder gestoßen sind. Zur Eröffnung seines Angriffs schreibt Mivart über sich selbst in der dritten Person und bedient sich einer Sprache, die ihm eine aufgeschlossene Glaubwürdigkeit verleihen soll: »Ursprünglich war er nicht geneigt, Darwins faszinierende Theorie abzulehnen.«

Zu Beginn seiner Argumentation umreißt Mivart in einem langen Kapitel, was er für Darwins tödlichen Fehler hielt. Er nennt ihn »die Unfähigkeit der natürlichen Selektion, die Anfangsstadien nützlicher Strukturen zu erklären«. Mit dem Titel nimmt er den Mund voll, aber er beschreibt ein wichtiges Thema. Darwin stellte sich vor, dass die Evolution aus unzähligen Zwischenstadien besteht, die von einer Spezies zur anderen führen. Damit das funktioniert, muss jedes dieser Zwischenstadien der Anpassung dienen und die Lebensfähigkeit des Individuums steigern. Mivart erschienen die Zwischenstadien in vielen Fällen nicht völlig plausibel. Ein Beispiel ist die Entstehung der Flugfähigkeit. Welchen Nutzen konnte ein Frühstadium in der Entstehung von Flügeln haben? Der verstorbene Paläontologe Stephen Jay Gould bezeichnete dies als »das zwei Prozent eines Flügels Problem«: Es scheint, als sei ein winziger, im Entstehen begriffener Flügel bei einem Vorfahren der Vögel zu überhaupt nichts nütze. Irgendwann ist er groß genug, um dem Tier beim Gleitflug zu helfen, aber ein winziger Flügel lässt sich für keine Form eines eigenständigen Fluges nutzen.

Mivart führte ein Beispiel nach dem anderen für scheinbar unplausible Zwischenstadien an. Plattfische haben zwei Augen auf einer Körperseite, Giraffen haben einen langen Hals, manche Wale haben Barten, verschiedene Insekten ahmen Baumrinde nach, und so weiter. Welchen Nutzen könnte eine geringe, bruchstückhafte Verschiebung der Augen, eine Verlängerung des Halses oder eine geringfügige Abwandlung der Farbe haben? Kann ein Kiefer mit dem Ansatz von Barten einen ganzen Wal ernähren? Die Evolution schien zwischen den Endpunkten aller großen Übergänge aus unzähligen Sackgassen zu bestehen.

Als einer der ersten Wissenschaftler lenkte Mivart die Aufmerksamkeit auf die Beobachtung, dass wichtige Übergänge in der Evolution nicht mit der Veränderung eines einzelnen Organs einhergehen; vielmehr müssen sich ganze Kombinationen von Eigenschaften quer durch den Körper gemeinsam verändern. Welchen Nutzen hat es, wenn Gliedmaßen sich so entwickeln, dass das Tier an Land gehen kann, wenn es nicht gleichzeitig die Lunge besitzt, um Luft zu atmen? Ein anderes Beispiel ist die Entstehung des Vogelfluges. Der aktive Flug setzt viele verschiedene Erfindungen voraus: Flügel, Federn, Hohlknochen, einen intensiven Stoffwechsel. Wenn die Knochen eines Tieres so klobig sind wie die eines Elefanten, oder wenn sein Stoffwechsel so langsam abläuft wie der eines Salamanders, wäre es nutzlos, wenn sich Flügel entwickelten. Aber wenn sich bei jedem großen Übergang der ganze Körper verändern muss, und wenn viele Merkmale sich gleichzeitig wandeln müssen, stellt sich die Frage: Wie können große Übergänge allmählich stattfinden?

In den eineinhalb Jahrhunderten seit der Veröffentlichung von Mivarts Gedanken waren sie für viele Evolutionskritiker immer ein Maßstab. Damals dienten sie aber auch als Katalysator für eine von Darwins großen Ideen.

Darwin hielt Mivart für einen wichtigen Kritiker. Die erste Auflage seines Ursprungs der Arten erschien 1859, Mivarts Werk folgte 1871. In seine sechste, endgültige Auflage des Werkes, die er 1872 veröffentlichte, nahm Darwin ein ganz neues Kapitel auf, um auf seine Kritiker zu antworten, und einer der bedeutendsten war Mivart.

Wie es den Gebräuchen der viktorianischen Debatten entsprach, schrieb Darwin zu Beginn: »Ein namhafter Zoologe, Mr. St. George Mivart, hat unlängst sämtliche von mir selbst und anderen geäußerten Einwände gegen die von Mr. Wallace und mir vorgetragene Theorie der natürlichen Selektion zusammengestellt und mit bewundernswertem Geschick und Nachdruck erläutert.« Und er fuhr fort: »Derart aufgereiht bilden sie eine eindrucksvolle Phalanx.«

Dann aber brachte er Mivarts Kritik mit einem einzigen Satz zum Schweigen, auf den er eine Fülle eigener Beispiele folgen ließ: »Sämtliche Einwände Mr. Mivarts werden im vorliegenden Band noch aufgegriffen oder wurden es bereits. Der eine neue Aspekt, der offenbar vielen Lesern aufgefallen ist, ist der, ›dass sich natürliche Selektion nicht dazu eignet, die Anfangsstadien nützlicher Strukturen zu erklären.‹ Dieses Thema hängt aufs Engste zusammen mit dem Thema der Abstufung von Merkmalen, die häufig mit einer Änderung der Funktion einhergeht.«

Wie zutiefst wichtig diese letzten fünf Wörter für die Wissenschaft waren, kann man kaum genug betonen. Sie enthalten die Grundlage einer neuen Sichtweise für die großen Übergänge in der Geschichte des Lebens auf der Erde.

Wie ist das möglich? Einen Einblick liefern wie üblich die Fische.

Ein Hauch frische Luft

Als Napoleon Bonaparte 1798 in Ägypten einmarschierte, brachte er nicht nur Schiffe, Soldaten und Waffen mit. Er hielt sich selbst für einen Wissenschaftler und nahm sich vor, das Land umzukrempeln. Dazu wollte er den Nil regulieren, den Lebensstandard verbessern und sowohl die Kultur- als auch die Naturgeschichte Ägyptens kennenlernen. Zu seiner Mannschaft gehörten einige führende französische Ingenieure und Wissenschaftler. Einer von ihnen war Étienne Geoffroy Saint-Hilaire.

Mit seinen 26 Jahren war Saint-Hilaire ein wissenschaftliches Wunderkind. Er hatte bereits den Lehrstuhl für Zoologie am Museum für Naturgeschichte in Paris inne und sollte zu einem der größten Anatomen aller Zeiten werden. Schon im Alter zwischen 20 und 30 Jahren machte er sich mit seinen anatomischen Beschreibungen von Säugetieren und Fischen einen Namen. In Napoleons Gefolge hatte er die spannende Aufgabe, viele Tierarten zu sezieren, zu untersuchen und zu benennen, die Napoleons Leute in den Tälern, Oasen und Flüssen Ägyptens fanden. Eine davon war ein Fisch, von dem der Leiter des Pariser Museums später sagte, dieser allein habe Napoleons gesamte Expedition nach Ägypten gerechtfertigt. Nicht in dieser Beschreibung eingeschlossen war wohl Jean-François Champollion, der mit Hilfe des Steins von Rosetta die ägyptischen Hieroglyphen entzifferte.

Abb. 2:

Das wissenschaftliche Wunderkind Étienne Geoffroy Saint-Hilaire

Von außen sah das Tier mit Schuppen, Flossen und Schwanz wie ein ganz gewöhnlicher Fisch aus. Anatomische Beschreibungen umfassten zu Saint-Hilaires Zeit aber auch die detaillierten Ergebnisse des Sezierens; häufig stand ein Künstlerteam bereit, um jedes wichtige Detail in wunderschönen, oftmals farbig gestalteten Lithographien einzufangen. Der Schädel hatte auf der Oberseite hinten, in der Nähe der Schulter, zwei Löcher. Schon das war seltsam, aber die eigentliche Überraschung steckte in der Speiseröhre. Sie beim Sezieren eines Fisches freizulegen ist normalerweise eine wenig spektakuläre Angelegenheit, denn sie führt als einfaches Rohr vom Mund zum Magen. Hier jedoch war es anders. Die Speiseröhre hatte auf jeder Seite einen Luftsack.

Solche Säcke waren in der Wissenschaft bereits bekannt. Bei einer ganzen Reihe verschiedener Fische waren Schwimmblasen beschrieben worden; selbst Johann Wolfgang von Goethe machte darüber einmal eine Bemerkung. Die Luftsäcke sind sowohl bei Salz- als auch bei Süßwasserfischen vorhanden; sie füllen sich mit Luft oder leeren sich und sorgen damit für einen neutralen Auftrieb, wenn der Fisch sich in unterschiedlichen Wassertiefen aufhält. Wie in einem U-Boot, das bei dem Befehl »Tauchen« Luft nach außen pumpt, so verändert sich auch die Luftmenge in der Schwimmblase, so dass das Tier sich in unterschiedlichen Tiefen und bei unterschiedlichem Wasserdruck bewegen kann.

Hier jedoch förderte gewissenhaftes Sezieren eine Überraschung zutage: Die Luftsäcke waren durch einen kleinen Gang mit der Speiseröhre verbunden. Und dieser kleine Gang, eine winzige Verbindung vom Luftsack zur Speiseröhre, hatte große Auswirkungen auf Saint-Hilaires Denken.

Die Beobachtung der Fische in freier Wildbahn bestätigte, was Saint-Hilaire bereits aufgrund ihrer Anatomie vermutet hatte. Sie schluckten Luft. Sie sogen die Luft durch die Löcher hinten am Kopf ein. Und man konnte bei ihnen sogar eine Art synchronisiertes Luftsaugen beobachten: Ganze Gruppen schnauften im Einklang. Diese heute als Flösselhechte bekannten atmenden Fische machten mit der aufgenommenen Luft oft auch andere Geräusche, beispielsweise ein Rumpeln oder Stöhnen, was vermutlich der Partnersuche diente.

Die Fische taten noch etwas anderes, was vollkommen unerwartet kam. Sie atmeten Luft. Die Säcke waren voller Blutgefäße, ein Zeichen, dass die Fische mit diesem System den Sauerstoff in ihr Blut aufnahmen. Und was noch wichtiger war: Sie atmeten die Luft durch die Löcher oben auf dem Kopf ein, während der Körper im Wasser blieb.

Damit hatte man nun einen Fisch, der nicht nur Kiemen besaß, sondern auch mit einem anderen Organ Luft einatmen konnte. Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass die Spezies zu einer Berühmtheit wurde.

Einige Jahrzehnte nach der Entdeckung in Ägypten schickte man eine österreichische Mannschaft auf eine Expedition: Sie sollte anlässlich der Hochzeit einer österreichischen Prinzessin das Amazonasgebiet erkunden. Das Team sammelte Insekten, Frösche und Pflanzen, neue Arten, die man zu Ehren der königlichen Familie benennen wollte. Unter den Entdeckungen war auch ein neuer Fisch, der, wie alle Fische, sowohl Kiemen als auch Flossen besaß. In seinem Inneren hatte er aber ebenfalls unverkennbare Gefäße: in diesem Fall keinen einfachen Luftsack, sondern ein Organ mit den Bläschen, Blutgefäßen und Geweben, die für eine echte Lunge nach Art der Menschen charakteristisch sind. Dieses Tier überbrückte die Kluft zwischen zwei großen Gruppen von Lebewesen: den Fischen und den Amphibien. Als Symbol für die Verwirrung gaben die Entdecker ihm den Namen Lepidosiren paradoxus – was auf Lateinisch so viel wie »paradoxer Schuppensalamander« bedeutet.

Abb. 3:

Lungenfische haben sowohl eine Lunge als auch Kiemen. Mit der Lunge atmen sie Luft wie wir, wenn der Sauerstoffgehalt des Wassers ihren Bedarf nicht deckt. Bei anderen Fischen tragen Schwimmblasen zum Auftrieb bei.

Man kann sie nennen, wie man will – Fische, Amphibien oder irgendetwas dazwischen: Diese Tiere hatten Flossen und Kiemen für das Leben im Wasser, aber auch eine Lunge, mit der sie Luft atmeten. Und sie waren kein Einzelfall. Im Jahr 1860 entdeckte man im australischen Queensland einen weiteren Fisch mit einer Lunge. Diese Spezies hatte außerdem ein sehr charakteristisches Gebiss. Solche Zähne, die wie flache Ausstechförmchen geformt waren, kannte man von den Fossilien einer längst ausgestorbenen Art – das Tier namens Ceratodus hatte man in mehr als 200 Millionen Jahre altem Gestein gefunden. Die Folgerung war klar: Lungenfische, die Luft atmen, sind weltweit verbreitet und leben seit Hunderten von Jahrmillionen auf der Erde.

Manchmal verändert eine scheinbar seltsame oder kleine Beobachtung unseren Blick auf die ganze Welt. Lungen und Schwimmblasen von Fischen führten dazu, dass eine ganze Wissenschaftlergeneration sich für die vergleichende Anatomie interessierte und zu ihrer Erforschung sowohl Fossilien als auch lebende Tiere untersuchte. Die Fossilien zeigen, wie das Leben in der entfernten Vergangenheit aussah, und die heute lebenden Tiere machen deutlich, wie anatomische Strukturen funktionieren und wie die Organe sich von der Eizelle bis zum ausgewachsenen Organismus entwickeln. Wie wir noch genauer erfahren werden, ist dies ein sehr leistungsfähiger Ansatz.

Die Kombination von Untersuchungen an Fossilien und Embryonen war für die Naturforscher, die auf Darwin folgten, ein sehr fruchtbares Arbeitsgebiet. Bashford Dean (1867–1928) hatte sich in Akademikerkreisen einen ungewöhnlichen Namen gemacht: Er war der Einzige, der jemals sowohl am Metropolitan Museum of Art als auch unmittelbar gegenüber auf der anderen Seite des Central Park am American Museum of Natural History den Rang eines Kurators bekleidete. Er hatte in seinem Leben zwei Leidenschaften: Fischfossilien und Schlachtrüstungen. Am Met begründete er die Sammlung von Rüstungen und ihre Ausstellungen, am American Museum jenseits des Parks baute er die Fischsammlung auf. Wie es zu einem Menschen mit solchen Interessen passt, war er ein skurriler Charakter. Er entwarf seine eigene Rüstung und ging sogar so weit, sie auf den Straßen von Manhattan anzulegen.

Wenn er nicht gerade mittelalterliche Kampfkleidung trug, erforschte Bashford Dean vorzeitliche Fische. Irgendwo in der Verwandlung des Embryos von der Eizelle zum ausgewachsenen Tier, so glaubte er, müssten Lösungen für die Rätsel der Vergangenheit und Abstammung der Fische von Vorläuferarten liegen. Als er Fischembryonen mit Fossilien verglich und sich einen Überblick über die Arbeiten in den anatomischen Instituten seiner Zeit verschaffte, erkannte Dean, dass Lunge und Schwimmblase in der Embryonalentwicklung mehr oder weniger gleich aussehen. Beide Organe schnüren sich vom Darmrohr ab und bilden Luftsäcke. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass die Schwimmblase auf der Oberseite des Rohres in der Nähe der Wirbelsäule entsteht, während die Lunge sich unten auf der Bauchseite abschnürt. Vor dem Hintergrund solcher Erkenntnisse vertrat Dean die Ansicht, Schwimmblase und Lunge seien unterschiedliche Versionen des gleichen Organs, das durch den gleichen Entwicklungsprozess entsteht. Tatsächlich sind Luftsäcke in irgendeiner Form bei praktisch allen Fischen mit Ausnahme der Haie vorhanden. Wie viele wissenschaftliche Ideen, so hat auch Deans Vergleich eine lange Geschichte. Vorläufer findet man schon im 19. Jahrhundert in den Arbeiten deutscher Anatomen.

Aber was haben die Luftsäcke mit Mivarts Kritik und Darwins Antwort zu tun?

Erstaunlich viele Fische können über längere Zeit Luft atmen. Der 15 Zentimeter lange Schlammspringer ist in der Lage, mehr als 24 Stunden im Schlamm zu laufen und zu überleben. Der zutreffend benannte Kletterfisch schlängelt sich nach Bedarf von einem Teich zum anderen und klettert dabei manchmal sogar über Zweige und kleine Äste. Aber dieser Fisch ist nur eine einzige Spezies. Hunderte andere können Luft schlucken, wenn die Sauerstoffkonzentration in dem Wasser, das sie bewohnen, abnimmt. Wie machen diese Fische das?

Abb. 4:

Bashford Dean, Kurator am Metropolitan Museum of Art und am American Museum of Natural History, liebte sowohl Rüstungen als auch Fische.

Manche, darunter der Schlammspringer, nehmen Sauerstoff über die Haut auf. Andere besitzen oberhalb der Kiemen ein besonderes Organ für den Gasaustausch. Manche Welse und andere Arten absorbieren Sauerstoff mit dem Darm: Sie schlucken die Luft wie ihre Nahrung und nutzen sie zum Atmen. Und eine Reihe von Fischen haben auch eine Lunge mit zwei Flügeln, die aussieht wie unsere. Lungenfische leben im Wasser und atmen meist mit den Kiemen, aber wenn der Sauerstoffgehalt in ihrer Umgebung nicht ausreicht, um den Stoffwechsel aufrechtzuerhalten, drängen sie an die Oberfläche und saugen Luft in die Lunge. Die Fähigkeit, Luft zu atmen, ist keine eigenwillige Ausnahme bei einem ganz besonderen Fisch, sondern weit verbreitet.

Kürzlich nahmen Wissenschaftler der Cornell University sich den Vergleich von Schwimmblase und Lunge noch einmal vor, dieses Mal mit neuen Methoden der Genetik. Ihre Frage lautete: Welche Gene tragen dazu bei, dass die Fische während der Embryonalentwicklung eine Schwimmblase bilden? Sie durchforsteten den Katalog der Gene, die in einem Fischembryo aktiv sind, und fanden etwas, worüber sich Dean und Darwin gefreut hätten. Für die Ausbildung der Schwimmblase sorgen bei Fischen die gleichen Gene, die bei Menschen – wie auch bei Fischen – die Lunge entstehen lassen. Den Luftsack gibt es bei praktisch allen Fischen; manche nutzen ihn als Lunge, andere als Hilfsmittel für den Auftrieb.

Hier zeigt sich, wie vorausschauend Darwins Antwort auf Mivart war. Die DNA zeigt eindeutig, dass Lungenfische, Saint-Hilaires Flösselhechte und andere Arten, die eine Lunge haben, unter den Fischen die engsten heute noch lebenden Verwandten landlebender Tiere sind. Die Lunge ist keine Erfindung, die plötzlich entstand, als die Tiere sich so entwickelten, dass sie gehen konnten. Fische besaßen bereits eine Lunge und atmeten damit Luft, bevor die ersten Tiere das feste Land betraten. Die Invasion des Landes durch die Nachkommen der Fische brachte kein neues Organ hervor, sondern veränderte nur die Funktion eines Organs, das bereits vorhanden war.

Wie ein Flattern entsteht

Mivarts Kritik an Darwin entzündete sich nicht in erster Linie an Fischen oder Amphibien, sondern an Vögeln. Die Entstehung des Vogelfluges war zu jener Zeit ein gewaltiges Rätsel. In der ersten, 1859 erschienenen Auflage seines Ursprungs der Arten machte Darwin sehr gezielte Vorhersagen. Wenn seine Theorie von der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen stimmte, musste es unter den Fossilfunden auch Zwischenstufen geben, die den Übergang zwischen verschiedenen Lebensformen repräsentierten. Zu Darwins Zeit kannte man keine Zwischenstufen, ganz zu schweigen von solchen, die eine Verbindung zwischen fliegenden Vögeln und am Boden lebenden Tieren hergestellt hätten.

Aber Darwin musste nicht lange warten. Schon zwei Jahre später, 1861, entdeckten Arbeiter in einem Kalksteinbruch in Deutschland ein bemerkenswertes Fossil. Der feinkörnige Kalkstein des Steinbruchs eignete sich großartig zur Herstellung der Platten, die in der Lithographie, dem üblichen Druckverfahren jener Zeit, verwendet wurden. Kalkstein bildet sich im Boden ruhiger Seen, das heißt, was darin eingeschlossen wird, bleibt relativ ungestört. Solches Gestein ist das ideale Material für die Bildung von Fossilien.

Die Steinplatte zeigte einen seltsamen Abdruck: ein lang gestrecktes, gefiedertes Gebilde. Es sah aus wie eine vollkommen geformte Feder. Aber warum in diesem Gestein eine Feder vorkam, war ein Rätsel.

Der Kalkstein, der den eigenartigen Abdruck enthielt, stammte aus der Jurazeit. Schon Jahrzehnte vor der Entdeckung waren dem deutschen Adligen und Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) im Juragebirge an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz charakteristische Kalksteinformationen aufgefallen. Der Kalkstein bildete dort eine Schicht, die sich über viele Kilometer erstreckte. Humboldt bezeichnete sie wegen ihrer charakteristischen Merkmale und ihrer Ausdehnung als Jura und äußerte die Vermutung, das Gestein könne aus einem besonderen Abschnitt der Erdgeschichte stammen. Wenig später stellten andere Wissenschaftler fest, dass die Schichtungen des Juragesteins häufig voller Fossilien sind, darunter die großen Tiere mit schneckenförmigem Gehäuse, die als Ammoniten bekannt sind. Da man ähnliche Fossilien auf der ganzen Welt fand, gelangten Wissenschaftler zu der Erkenntnis, dass das Jura als eigenes Zeitalter weltweit verbreitet ist und keine Besonderheit Frankreichs und der Schweiz darstellt.

Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte man dann in Juragestein in England große Zähne und Kieferknochen. Nach und nach tauchten an vielen Stellen ähnliche Funde auf. Schon bald war klar, dass die Jurazeit nicht nur das Zeitalter der Tiere mit schneckenförmigem Gehäuse war, sondern auch die Ära der Dinosaurier. Der Abdruck der Feder zeigte noch mehr. Flogen in der Jurazeit bereits Vögel über den Dinosauriern?

Ein einzelnes Fossil einer Feder war faszinierend. Gehörte sie zu einem jurazeitlichen Vogel? Oder hatten unbekannte Tierarten ebenfalls Federn? Diese Hypothese konnte man nicht ausschließen.

Einige Jahre nach der Entdeckung der Feder bezahlte ein Bauer, dessen Name in Vergessenheit geraten ist, medizinische Dienstleistungen mit einem Fossil. Dieses stammte aus dem gleichen Kalkstein wie die einzelne Feder. Der Arzt, der es kaufte, war ausgebildeter Anatom und hatte eine Leidenschaft für Fossilien. Deshalb wusste er auf den ersten Blick, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Kalksteinplatte handelte. Das Fossil in ihrem Inneren zeigte Abdrücke von Federn, die den Körper und den Schwanz bedeckten, und sie hingen an einem nahezu vollständigen Skelett mit hohlen Knochen und Flügeln. Da der Arzt den Wert des Fundes kannte, eröffnete er einen Bieterkrieg zwischen Museen, und schließlich erhielt er vom Britischen Museum 750 Pfund.

Im Laufe der folgenden fünfzehn Jahre tauchten weitere Funde auf. Mitte der 1870er Jahre verkaufte der Landwirt Jakob Niemeyer ein Fossil für den Preis einer Kuh an einen Steinbruchbesitzer. Dieser wiederum kannte den angesehenen Arzt, der mit dem vorherigen Fund in London viel Geld verdient hatte, und verkaufte ihm 1881 das Fossil. Dieses Skelett brachte 1000 Pfund vom Museum für Naturgeschichte in Berlin. Bis heute wurden insgesamt sieben derartige Exemplare entdeckt.

Das gefiederte Tier, das man auf den Namen Archaeopteryx getauft hatte, besaß eine eigenartige Mischung von Merkmalen. Wie ein Vogel hatte es Flügel voller Federn und hohle Knochen. Aber im Gegensatz zu allen Vögeln, die man kannte, hatte es auch Zähne wie ein Fleischfresser, ein flaches Brustbein, und an den Knochen der Flügelspitzen drei scharfe Klauen.

Für Darwins Theorie hätte die Entdeckung zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Als Thomas Henry Huxley die Zähne, Gliedmaßen und Klauen des Archaeopteryx untersuchte, erkannte er eine weitreichende Ähnlichkeit mit den Reptilien. Er verglich den Archaeopteryx mit einem anderen Tier aus dem jurazeitlichen Kalkstein, dem kleinen Dinosaurier Compsognathus. Beide Tiere hatten die gleiche Größe und, von den Federn abgesehen, ähnliche Skelette. Huxley erklärte den Archaeopteryx zu einem Beweis für Darwins Theorie: Er war eine Zwischenform zwischen Reptilien und Vögeln. Darwin erwähnte den Archaeopteryx in der vierten Auflage seiner Entstehung der Arten: »Kaum eine jüngere Entdeckung zeigt so deutlich, wie wenig wir über die Erdbewohner von einst wissen.«

Vergleiche wie der von Huxley gaben den Anlass zu tiefen Meinungsverschiedenheiten. Wenn der Archaeopteryx ein Beleg war, dass die Vögel mit den Reptilien verwandt sind, stellte sich die Frage: Welche Reptilien waren die Vorfahren? Es gab mehrere nahe liegende Kandidaten, und jeder hatte seine Fürsprecher. Nach Ansicht mancher Fachleute zeigten der lange Schwanz des Archaeopteryx und die Form seines Schädels, dass es sich bei den Vorfahren der Vögel um kleine, fleischfressende, echsenähnliche Tiere handeln musste. Andere verglichen die Vögel mit den Pterosauriern, einer weiteren Gruppe fliegender Reptilien aus der Jurazeit. Diese Theorie warf aber eine Schwierigkeit auf: Die Pterosaurier hatten zwar Flügel und konnten fliegen, die Knochen in ihren Flügeln waren aber ganz anders gebaut als die der Vögel. Pterosaurierflügel werden von einem verlängerten vierten Finger gestützt, die der Vögel dagegen sowohl von Federn als auch von einer Kombination aus mehreren Fingerknochen. Wieder andere Forscher ließen sich von Huxleys Vergleich zwischen dem Archaeopteryx und dem kleinen Dinosaurier beeindrucken.

Die Vorstellung, der Vorfahre der Vögel sei eine Art Dinosaurier gewesen, fand im Laufe der Jahre angesehene Kritiker, von denen jeder andere Argumente vorbrachte. Ein Wissenschaftler behauptete, er habe in der Theorie, die Vögel würden von den Dinosauriern abstammen, einen entscheidenden Fehler gefunden: Vögel haben Schlüsselbeine, die bei den Dinosauriern im Gegensatz zu allen anderen Reptilien fehlen. Andere Experten erklärten, Lebensweise und Stoffwechsel von Dinosauriern und Vögeln seien so unterschiedlich, dass man die Dinosaurier niemals für Vorfahren der Vögel halten könne. Die Dinosaurier waren mit wenigen Ausnahmen große Tiere, die sich langsam bewegten, und ähnelten damit kaum den höchst aktiven, kleinen Vögeln. Der Archaeopteryx war in den Augen vieler Wissenschaftler nur ein Vogel und sagte nicht viel über den Übergang aus. Die Diskussion setzte sich vor allem auch deshalb fort, weil Mivarts entscheidender Kritikpunkt nach wie vor Bestand hatte: Wie konnten die Federn und alle anderen spezialisierten Merkmale des Archaeopteryx und der anderen Vögel entstanden sein?

Die Vorstellung, Dinosaurier seien riesige, schwerfällige Tiere gewesen, hat eine lange Geschichte. Und es dauerte auch lange, bis das Bild wieder verschwand. Es begann mit den Arbeiten eines vielseitigen Wissenschaftlers, der wie Bashford Dean gern Militärkleidung trug.

Franz Nopcsa von Felső-Szilvás (1877–1933), auch bekannt als Baron Nopcsa of Săcel, war ein Mann mit heftigen Leidenschaften und einem großartigen Verstand. Mit 18 Jahren entdeckte er auf dem Anwesen seiner Familie in Transsilvanien einige Knochen. Nachdem er autodidaktisch Anatomie gelernt hatte, veröffentlichte er 1897 einen Artikel, in dem er die Funde offiziell als Knochen eines großen Dinosauriers beschrieb. Im weiteren Verlauf schrieb Nopcsa ein 700-seitiges Werk über die Geologie Albaniens und Dutzende von wissenschaftlichen Aufsätzen in mehreren Sprachen. Er war als Spion für Österreich tätig und war im albanischen Widerstand aktiv, mit dem das Land seine Freiheit von den Türken gewinnen wollte. Der eigentliche Traum des Barons war es, den albanischen Thron zu besteigen. Leider endete sein Leben, nachdem er große Schulden angehäuft, seinen Geliebten erschossen und dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet hatte.

Nachdem Nopcsa 1895 auf den Ländereien seiner Familie die ersten Knochen gefunden hatte, häufte er eine große Fossiliensammlung an und machte sich daran, die Dinosaurier Transsilvaniens zu erforschen. Er beschäftigte sich sowohl mit ihren Knochen als auch mit den Fußspuren, die sie überall in Osteuropa im Gestein hinterlassen hatten. Bei der Untersuchung solcher Spuren sah er die lebenden, atmenden Tiere vor sich, die durch den Schlamm wateten. Die Vertiefungen im Stein zeigten, dass die Tiere, die sie hinterlassen hatten, schnell laufen konnten. Diese Tiere traten fest auf dem Boden auf, und an den Abständen zwischen den Fußabdrücken war zu erkennen, dass die Tiere im Laufschritt vorankamen. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Die Dinosaurier waren keineswegs Tiere, die sich langsam bewegten wie Elefanten, sondern schnelle Läufer und aktive Räuber. Nopcsa trieb den Gedanken sogar noch weiter: Da laufende Dinosaurier schnell und leicht sein müssen, gaben sie ideale Vorläufer der Vögel ab. Mit ihrem Bedürfnis nach Geschwindigkeit hatten sie sich nach seiner Vorstellung in die Luft erhoben, und gefiederte Flügel bildeten sich, als die Vogel-Vorläufer mit den Armen flatterten, um die Geschwindigkeit zu steigern und Beute zu fangen.

Abb. 5:

Baron Nopcsa in albanischer Uniform. Wie Dean erforschte er die Geschichte evolutionärer Neuerungen und hatte außerdem Spaß daran, eine Rüstung und militärische Insignien zu tragen.

Als er seine Gedanken 1923 veröffentlichte, widerfuhr Nopcsa ein Schicksal, das der Albtraum der meisten Wissenschaftler ist: Man ignorierte ihn. Nach der seit langem vorherrschenden Theorie, die zu jener Zeit nachdrücklich von dem angesehenen Paläontologen O.C. Marsh von der Yale University vertreten wurde, waren die Dinosaurier groß und bewegten sich langsam, und die Vögel entstanden aus Vorfahren, die sich im Gleitflug bewegten. Der aktive Flug hatte seinen Ursprung demnach in Tieren, die auf den Bäumen wohnten und im Gleitflug von Ast zu Ast flogen. Aus solchen Vorfahren entwickelte sich demzufolge die aktive Flugfähigkeit. Intuitiv reizvoll wird die Theorie, weil man auch heute verschiedene Gleitflieger kennt, von Fröschen und Schlangen bis zu Eichhörnchen-ähnlichen Arten und Lemuren. Da ein Gleitflieger mit weniger komplexen Erfindungen auskommt als ein aktiver Flieger, schien der Gleitflug ein logischer erster Schritt in der Entstehung der aktiven Flugfähigkeit zu sein.

In den 1960er Jahren ging John Ostrom, damals ein junger Wissenschaftler an der Yale University, der Frage nach, wie die Entenschnabeldinosaurier gelebt hatten. Diese vertrauten Bewohner der Dinosauriersäle nahezu aller großen Museen trugen auf dem Schädel häufig große Leisten, die von dem namensgebenden Schnabel weg gerichtet waren. Jahrelang stellten Museumsausstellungen sie als schwerfällige Pflanzenfresser dar, die sich auf vier Beinen fortbewegten, fast als wären sie die Elefanten unter den Reptilien. Aber je genauer sich Ostrom die Knochen ansah, desto weniger plausibel erschien ihm eine solche Interpretation. Zunächst einmal waren die vorderen Gliedmaßen relativ kurz. Mit ihren schmächtigen Vorderextremitäten und den kräftigen Hinterbeinen wären sie als Vierbeiner seltsam gebückt gegangen. Außerdem ließen die Leisten und Vorsprünge auf den Knochen der Hintergliedmaßen darauf schließen, dass dort kräftige Muskeln zu ihrer Bewegung ansetzten. Zusammengenommen legten die Beobachtungen den Verdacht nahe, dass die Entenschnabeldinosaurier meist auf zwei Beinen gingen. Ostrom ging noch einen Schritt weiter: Er hielt die Entenschnabeldinosaurier nicht für schwerfällige Tiere wie die Elefanten, sondern für aktive, aufrechte Läufer. Er bezeichnete sie als zweibeinige Büffel.

Als Ostrom in den 1960er Jahren in die Badlands von Wyoming reiste, bekam die Diskussion zwischen Mivart und Darwin für ihn eine ganz neue Bedeutung. Wie die meisten Paläontologen, so führte auch Ostrom ein Doppelleben: Einerseits war er während der Vorlesungszeit der in Hemd und Kragen gekleidete Gelehrte und Lehrer, und andererseits führte er im Sommer, während seiner Expeditionen, ein staubiges Vagabundenleben. Im August 1964 stand er in der Nähe der Ortschaft Bridger in Montana am Ende einer wenig bemerkenswerten Expedition, auf der er Örtlichkeiten für die Arbeiten des nächsten Jahres erkundet hatte. Als er den Abhang eines Steilufers hinunterschlenderte, blieben er und sein Assistent plötzlich wie angewurzelt stehen, weil etwas aus dem Gestein ragte. Wie sich herausstellte, war es eine ungefähr 15 Zentimeter lange Hand. »Wir wären beide beinahe die Böschung hinuntergerollt, weil wir so schnell zu der Stelle kommen wollten«, berichtete Ostrom später. Der Grund für die Eile: Aus der Hand ragten scharfe, übergroße Klauen, wie die beiden sie noch nie gesehen hatten.

Da es der letzte Tag ihrer Aufklärungsexkursion war, hatten sie kein Werkzeug bei sich. Fachleute für Paläontologie, die diesen Abschnitt lesen, sollten über das hinweggehen, was die beiden als Nächstes taten. In ihrer Aufregung missachteten sie die wichtigste Regel paläontologischer Freilandarbeit und gruben schnell mit bloßen Händen und Taschenmessern im Boden, um weitere Teile des Tieres freizulegen. Als sie am nächsten Tag mit den richtigen Werkzeugen wiederkamen, konnten sie einen Fuß und einige Zähne bergen. Es waren die Zähne eines Raubtiers, mit scharfer Spitze und gezackten Kanten. Nach zweijährigen Grabungsarbeiten hatten sie schließlich den größten Teil des Skeletts in Sicherheit gebracht.

Ostroms Dinosaurier war so groß wie ein großer Hund, aber die Knochen waren seltsam leicht und hohl. Das Tier hatte einen muskulösen Schwanz und sehr kräftige Hintergliedmaßen mit Klauen. Die Klauen setzten an Gelenken an, was darauf schließen ließ, dass sie dazu dienen konnten, Beutetiere aus einem Gehäuse zu lösen. Ostrom taufte das Tier auf den Namen Deinonychus (griechisch für »schreckliche Klaue«). In seinem späteren wissenschaftlichen Werk beschrieb er den Fund in der üblichen, trockenen Prosa seines Faches als »höchst räuberisch, äußerst beweglich und sehr aktiv«.

Deinonychus war nur der Anfang. Ostrom und seine Nachfolger veränderten unsere Vorstellungen von den Dinosauriern und machten damit auch deutlich, wie gut begründet Darwins Antwort auf Mivart war. Sie betrachteten jeden Vorsprung, jedes Loch und jedes Merkmal der Reptilienknochen und verglichen sie mit den Knochen fossiler und heute lebender Vögel. Dabei gelangten sie sehr schnell zu dem Schluss, dass die Dinosaurier – insbesondere, wenn sie aufrecht gingen – viele Eigenschaften mit den Vögeln gemeinsam hatten. Diese Arten, die Theropoden, hat eine ganze Reihe von Vogelmerkmalen: hohle Knochen und ein relativ schnelles Wachstum. Höchstwahrscheinlich waren sie sehr aktive Tiere mit intensivem Stoffwechsel.

Diese Dinosaurier hatten zwar viele Ähnlichkeiten mit Vögeln, ein wichtiges Merkmal fehlte ihnen aber: die Federn. Federn galten als unabdingbare Voraussetzung für ein Dasein als Vogel, denn sie standen im Zusammenhang mit dem Erfolg der Tiergruppe und der Entstehung ihrer Flugfähigkeit.

Im Jahr 1997 hielt die Society of Vertebrate Paleontology im American Museum of Natural History ihre Jahrestagung ab. Die meisten unter uns Anwesenden wussten, dass etwas Besonderes bevorstand. In der Regel ist dieses internationale Wissenschaftlertreffen eine recht biedere Angelegenheit mit Vorträgen und Postern, unterbrochen von Cocktailpartys und gesellschaftlichen Ereignissen. Zu jener Zeit neigten die Mitglieder der Gesellschaft dazu, verschiedene Gruppen zu bilden, die sich vorwiegend durch die Tiere definierten, an denen man arbeitete. Säugetierexperten nahmen an Vorträgen über Säugetiere teil, Fisch-Paläontologen gingen zu Fischvorträgen, und so weiter. Wir pflegten Geselligkeit, gingen aber in den wissenschaftlichen Sitzungen getrennte Wege.

Abb. 6:

Deinonychus, der Dinosaurier mit den »schrecklichen Klauen«

Damals, 1997, war es anders. In allen Hörsälen und sämtlichen Gruppen lag ein Raunen in der Luft. »Haben Sie es schon gesehen?« »Stimmt es wirklich?«

Chinesische Kollegen hatten Bilder eines neuen Tieres gezeigt, das Bauern in der Provinz Liaoning nordöstlich von Peking entdeckt hatten. Mit seinen hohlen Knochen, den mit Klauen versehenen Händen und Füßen sowie einem langen Schwanz hatte es alle Eigenschaften eines Deinonychus-ähnlichen Dinosauriers. Aber das Fossil war hervorragend erhalten. Es war in das charakteristische, feinkörnige Gestein eingebettet, in dem auch Abdrücke von Bruchstücken oder fossilem weichem Gewebe erhalten bleiben. Darum ging es in den Gesprächen: Der Dinosaurier war unverkennbar von Federn umhüllt. Es waren keine vollständigen Federn, sondern sehr einfache, daunenartige Gebilde. Dieser Dinosaurier hatte ein primitives Federkleid.