Der Fluch der achten Fee - David Henry Wilson - E-Book

Der Fluch der achten Fee E-Book

David Henry Wilson

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Beschreibung

Im Feenwald liegt ein von einer Dornenhecke überwachsenes Schloß. Auf einem Jagdausflug entdeckt es Alonso, der Kronprinz des Landes. Er dringt ein und findet ein altes Gemäuer voller Skelette. Im Turm trifft er auf ein schlafendes Mädchen: die wunderschöne Saphira. Alonso nimmt sie mit nach Hause in den Palast, wo sie bei seinen Eltern, Ratgebern, Dienern und besonders der Geistlichkeit recht gemischte Gefühle hervorruft. Das Mädchen erklärt, eine Prinzessin zu sein, aber in keiner Chronik lassen sich die Namen ihrer Eltern und ihres Reiches finden … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 168

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David Henry Wilson

Der Fluch der achten Fee

Ein Märchen

Aus dem Englischen von Verena C. Harksen

FISCHER Digital

Inhalt

»La Princesse se percera [...]Für Ruth Weibel12345678910111213141516171819

»La Princesse se percera la main d’un fuseau; mais au lieu d’en mourir, elle tombera seulement dans un profond sommeil qui durera cent ans, au bout desquels le fils d’un Roi viendra la réveiller.«

Charles Perrault, 1697

 

Für Ruth Weibel

1

Rings um das Schloß wuchs eine Hecke so hoch, daß selbst die Türmchen dahinter verborgen lagen. Die Hecke bestand aus Wildrosengestrüpp, dessen Dornen das Fleisch zerfetzten; einst waren sie übersät gewesen von den Überresten derer, die hindurchzudringen versucht hatten. Davon hatte es anfangs viele gegeben, aber nach und nach war ihre Zahl geringer geworden, zum einen, weil ihr Unterfangen hoffnungslos gewesen, zum anderen, weil soviel Zeit verstrichen war. Die Generation von damals machte einer neuen Platz, und die Geschichte von damals wurde zum Stoff von Legenden. Hundert Jahre später gab es keinen noch so entfernten Zeugen mehr, und Wind und Wetter, Tiere und Vögel hatten alle Überreste verschwinden lassen. Nichts war geblieben als die Sage, Nachklang vergangener Zeiten, und das Schloß hinter der Hecke, von dem niemand mehr wußte, wo es lag. So wird aus Wahrheit Literatur.

Als die Jagdgesellschaft auf die Hecke stieß, betrachteten alle sie als natürliches Hindernis, das man umreiten mußte – nur einer nicht. Prinz Alonso stieg vom Pferd. Er wußte nicht, warum er das tat und weshalb ihn beim Absteigen irgend etwas dazu trieb, in diese Hecke einzudringen; aber er konnte der Eingebung nicht widerstehen. Er zog sein Schwert und schlug sich mit nur drei Streichen einen Durchgang. Dann wandte er sich zu seinen Jagdgefährten, die sich um ihn versammelt hatten, und befahl ihnen – er wußte nicht, warum –, ihm nicht zu folgen. Die für seine Sicherheit verantwortlichen Männer erhoben Einwände, aber er erklärte, in einer Stunde zurück zu sein; wenn nicht, sollten sie ihn holen kommen.

Die hundert Jahre Wind und Wetter hatten manchen Schaden getan. Säulen waren zerfallen, Dächer eingestürzt; Dornen, Unkraut und Efeu hatten Böden und Wände überwuchert, und trotzdem erschrak Alonso zutiefst, als er das erste Skelett fand. Ein Wächter im Torbogen, noch in Uniform – soweit sie noch vorhanden war –, lag zusammengekauert auf der Erde. Der Prinz stieg über ihn hinweg und trat durch die offene Holztür, die in verrosteten Angeln dahinfaulte. Drinnen gab es noch mehr Skelette. Sie saßen auf Stühlen um einen großen, hölzernen Tisch herum, Spinnen webten in ihren Augenhöhlen. Geschirr stand auf dem Tisch, und verstaubte Bilder hingen an den Wänden, die auch mit verblaßten Gobelins und durchsichtigen Seidenvorhängen geschmückt waren. Hier hatten Säulen und Dach den Elementen getrotzt, und die bemalte Decke – menschliche und tierische Figuren in einer himmlischen Landschaft – zeigte noch Farben. Sekundenlang war dem Prinzen, als stünde er vor lebendigen Menschen, so natürlich saßen die Skelette da, und es schauderte ihn angesichts dieses Abbilds des Lebens, das gefangen war im Tode. Nichts war in dieser Halle, das nicht wirklich und unwirklich zugleich war.

Es fiel ihm schwer, den Saal zu verlassen. Die Skelette erschwerten es; sie schienen zu ihm zu sprechen. Ja, es war sogar ein Platz an der Tafel für ihn frei, und daneben saß eine Frau, deren langes, reichverziertes Kleid noch immer an ihren Gebeinen hing, als wollte es die Schamhaftigkeit längst dahingeschmolzenen Fleisches schützen. »Setzt Euch zu mir«, schien sie zu sagen, »wir haben Euch erwartet.«

Diese lebenden Toten, in einem Rahmen bröckelnden Steins erhalten wie Gemälde, verhießen Zauberisches. Hier ließen sich Dinge glauben, die draußen unmöglich gewesen wären. Warum? Entfernen wir uns mit dem ständig wachsenden Universum immer mehr von seinem Mittelpunkt und seiner Wahrheit? Verschüttet der bauende Mensch den eigenen Ursprung? Warum, dachte Alonso, sollte er sich inmitten dieser Stille Wundern näher fühlen als im geschäftigen Treiben der wirklichen Welt? War die wirkliche Welt so unwirklich?

Er schüttelte den Kopf, um solche Gedanken zu vertreiben. Die wirkliche Welt war wirklich. Es gab keine Wunder. Diese Ruinen enthielten keine Prophezeiung, sie waren nichts weiter als tote Menschen in einem toten Gebäude, und dafür mußte es eine natürliche Erklärung geben. Gas? Gift? Eine Seuche? – Er würde die Wissenschaftler hierher führen. Sie würden das Geheimnis mit Begriffen des wirklichen Lebens aufklären.

Alonso verließ die Halle durch eine niedrige Tür, die in einen Gang hinausführte. Der Gang war hell, weil an seinem Ende die Küche lag, deren Außenwand eingestürzt war, so daß das Tageslicht eindringen konnte. Die Skelette der Köche lagen auf dem Boden, und an den drei noch stehenden Mauern hingen gewaltige Töpfe und Pfannen. Im Winkel zwischen der Innen- und der rechten Außenwand stand ein mächtiger Herd, Aschenhaufen im aufgesperrten Rachen.

Und so war es überall. Die Menschen waren entweder zu Boden gestürzt oder hatten sich dort, wo sie gerade gearbeitet oder ausgeruht hatten, hingelegt und waren an Ort und Stelle gestorben und verwest. Um sie herum verfielen die Gebäude. Zu irgendeinem furchtbaren Zeitpunkt der Vergangenheit hatte ein schreckliches Schicksal, plötzlich und allumfassend wie der Vulkanausbruch, der einst Pompeji begrub, ein ganzes Schloß voll emsiger, ahnungsloser Menschen ereilt, ohne dabei das geringste Zeichen einer greifbaren Anwesenheit zu hinterlassen. Es gab keine geschwärzten Mauern, keine verstreuten Knochen, keine vor Entsetzen aneinandergedrängten oder auf der Flucht hingestreckten Körper. Im Gegenteil: Alle diese Leichname zeigten eine entspannte Haltung, und die Mauern – zerfallen oder aufrecht – waren weiß, oder grün vom Pflanzenbewuchs, und sie zeugten von keiner anderen Kraft als der langsamen, alles in ihre Arme schließenden Natur. Diese Menschen und ihr Schloß waren ohne Furcht gestorben.

Am Fuß eines kleinen runden Turms stieß Alonso auf eine steinerne Wendeltreppe. Sie schien ins Nichts zu führen, denn der Turm war zu schmal, um außer der Treppe noch etwas anderes zu enthalten. Dann aber fiel dem Prinzen auf, daß der Turm nicht frei stand, sondern an eine Mauer grenzte, die etwa bis zur halben Turmhöhe reichte. Als der Prinz um den Turm herum zur anderen Seite ging, fand er dort eine ähnliche Mauer. Was mochte dazwischen liegen? Er setzte seinen Weg bis ans Ende der Mauern fort, mußte dort aber feststellen, daß eine dritte, rechtwinklig zu den anderen stehende Wand den Blick ins Innere verhinderte. Vielleicht konnte er, wenn er die Wendeltreppe hinaufstieg, von oben erkennen, was die Mauern einschlossen.

Tatsächlich hatte Alonso kaum ein halbes Dutzend der Spiralwindungen erklommen, als er an einen Absatz gelangte. Die Treppe führte noch weiter aufwärts, aber an dem schmalen Absatz befand sich eine Holztür, die trotz ihres Alters massiv und frisch in der Maserung aussah. Kein Zeichen von Verfall,-aber auch kein Zeichen eines Griffs – die Tür bestand lediglich aus dunklem Holz, ohne jede Öffnung, ohne jeden Vorsprung. Der Prinz berührte sie mit der rechten Handfläche und vernahm im selben Augenblick den ersten Laut, der an seine Ohren drang, seitdem er das Schloß betreten hatte. Er erschrak heftig, hatte er doch gar nicht bemerkt, wie vollkommen das Schweigen gewesen war. Der Laut selbst war kurz und sanft – ein plötzliches schnelles, leises Flattern wie das Vorbeirauschen von Schwingen. Mit klopfendem Herzen verharrte Alonso auf seinem Platz, bis sich die Stille von neuem ausbreitete und alles umfaßte. Nichts hatte ihn gestreift.

Wieder legte er die Hand an die Tür und drückte vorsichtig. Die Tür gab nach und schwang geräuschlos nach innen, hinein in einen langen, dunklen Raum. Der Prinz trat ein und wartete, bis seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Das Licht, das durch die Türöffnung drang, hätte den Raum eigentlich hell machen müssen; aber der Prinz merkte rasch, daß die Dunkelheit nicht allein daher rührte, daß es an Licht fehlte: Wände und Decke des Raums bestanden ganz und gar aus dem gleichen dunklen Holz wie die Tür, und ein dicker, dunkler Teppich bedeckte den Boden. Aus den Tiefen dieser seltsamen Nacht stieg ein Duft, der Alonsos Sinne erregte wie ein schwerer Wein. Nie hatte er einen Duft wie diesen gespürt. Er bereitete ihm geradezu Schmerzen.

Der Prinz trat weiter in den Raum hinein, und seine Füße versanken im Teppich, der jedes Geräusch seiner Schritte schluckte. Am anderen Ende des Gemachs stand etwas, und als er näher kam, erkannte er den Pfostenrahmen eines Himmelbetts. Ob es der Duft war, der ihm den Kopf verwirrte, oder der Pulsschlag seiner eigenen Phantasie, das wußte er nicht; aber sein Hals war trocken, und das Herz hämmerte ihm in der Brust, als er den Vorhang zur Seite zog.

2

Das Mädchen war von erstaunlicher Schönheit. Das merkte Alonso freilich erst, als er sie aus dem runden Turm hinaus ins Sonnenlicht geführt hatte. Dann aber, als sie die lange Nacht aus den Augen blinzelte, sah er voller Bewunderung die Mähne ihres goldenen Haares, die saphirhellen Augen und den sanften Schwung ihrer Lippen.

»Was ist geschehen?« murmelte das Mädchen.

Er hörte die Worte nicht. Er hörte nur den sanften, flügelzarten Ton ihrer Stimme.

»Fühlt Ihr Euch wohl?« fragte er.

Sie gab keine Antwort, sondern blickte auf die Wildnis des Schlosses.

»Was ist geschehen?« fragte sie von neuem.

Er wußte nicht, was er antworten sollte.

»Ihr habt geschlafen«, sagte er und versuchte, Trost und Beruhigung in seine Stimme zu legen.

»Mein Vater! Meine Mutter!« rief sie jäh aus, und hätte er sie nicht am Arm festgehalten, wäre sie von ihm fortgestürzt.

»Wartet«, erklärte er sanft und fest.

»Ach, was ist nur geschehen?« wiederholte sie und sah ihm jetzt gerade ins Gesicht, die Augen voller Unruhe.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Prinz. »Ich habe Euch hier nur gefunden – schlafend. Mehr weiß ich nicht.«

»Du hast mich mit einem Kuß geweckt«, bemerkte das Mädchen.

»Ja«, erwiderte er.

»Du hättest mich schlafen lassen sollen.«

Sie durfte die Halle nicht sehen. Die Leichname. Er mußte sie fortbringen, zurück in die Welt der Wirklichkeit. Was mochte es für eine Wirkung auf sie haben, wenn sie sah, was er gesehen hatte?

»Mein Vater? Meine Mutter?«

»Ich weiß nicht. Hier ist niemand«, antwortete er. »Ich habe Euch schlafend gefunden …«

Sie hörte gar nicht zu, sondern schaute die Ruinen an, als lauschte sie Geschichten, die ihr die Steine erzählten. Gleich würde sie wieder versuchen, sich von ihm loszureißen. Alonso bückte sich und hob sie auf seine Arme. Sie war so leicht wie ein Vogel. Ihr weißes Gewand fiel über seine Arme wie ein gebrochener Flügel, und obwohl sie sich nicht widersetzte, sondern still, fast ergeben liegenblieb, ließ sie durch nichts erkennen, daß sie verstand, was er getan hatte. Und ihre Augen fuhren fort, die Geschichte der Steine zu suchen.

Er wollte sie hinaustragen.

»Nein!« rief sie.

»Wir können nicht hierbleiben«, sagte der Prinz. »Hier gibt es weiter nichts als Ruinen.«

»Dort!« rief sie und deutete auf die große Halle. »Ich muß zu ihnen!«

»Dort sind nur Trümmer«, erklärte er beruhigend und tröstend, während er weiterging. »Ich war dort. Ihr würdet nichts finden.«

Durch Blöcke eingestürzten Mauerwerks suchte er sich einen Weg und hielt ihren Kopf abgewandt von dem Gerippe, das im Torbogen wachte.

»Hast du sie auch gerettet?« fragte sie.

»Nein.«

»Dann sind sie dort.«

»Es ist niemand sonst hier«, wiederholte er. »Nur Ihr allein. Wie ist Euer Name?«

»Saphira.«

Sie sah ihn nicht an.

»Das ist ein schöner Name. Ich heiße Alonso.«

»Ja.«

Noch immer schaute sie ihn nicht an, und so konnte er auch nicht sehen, daß sie weinte. Aber sie duldete es, daß er sie forttrug.

Der Prinz trat durch das Tor, das er in die Dornenhecke geschlagen hatte. Auf der anderen Seite wartete die Jagdgesellschaft, die vor Staunen nach Luft schnappte, als er heraustrat, die weißgekleidete Gestalt auf den Armen.

»Claudius, mein Pferd«, befahl er.

Sie hatte Angst. Er fühlte ihr Zittern.

»Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, Saphira«, sagte Alonso. »Es sind Freunde. Ich werde Euch zum Palast bringen, und wir werden feststellen, was hier geschehen ist. Habt keine Angst.«

»Ach bitte, laßt mich hierbleiben!« bat sie.

Claudius brachte das Pferd, einen schönen braunen Hengst.

»Hört zu, Saphira. Ich bin ein Prinz.«

»Ja.«

»Ich bringe Euch zum Palast. Man wird Sorge für Euch tragen.«

»Nein, laßt mich in Frieden sterben.«

»Ihr könnt nicht hierbleiben, und Ihr solltet nicht vom Tod reden. Ich verspreche Euch, daß Euch nichts Böses geschehen wird. Vertraut mir, ich bitte Euch.«

Die Jagdgesellschaft sah schweigend zu, wie Saphira sich von ihm in den Sattel heben ließ. Sie schenkte ihnen keinen Blick.

»Bitte, reitet ohne mich weiter«, sagte der Prinz zu seinen Gefährten. »Ich bringe dieses Fräulein zurück in den Palast. Claudius, Ihr begleitet uns. Und niemand geht durch diese Hecke, wenn ihm sein Leben lieb ist.«

Der Prinz stieg hinter dem Mädchen auf sein Pferd; zu ihren beiden Seiten hielt er die Zügel.

»Habt keine Angst«, wiederholte er.

Sie drehte sich um und sah ihn mit ihren blauen Augen vorwurfsvoll an.

»Du hättest mich schlafen lassen sollen«, sagte sie.

 

Eine gute Stunde ritten sie so durch den Wald, und Claudius folgte ihnen auf seinem Braunen. Die ganze Zeit sprachen sie kein Wort. Ihre Nähe und ihr Duft bezauberten Alonso, aber er wagte nicht, die Mauer aus Schweigen, die sie um sich errichtet hatte, zu durchbrechen.

Am Rande des. riesigen Forstes standen die königlichen Stallungen. Hier stieg der Prinz ab, denn er wollte mit dem Mädchen in einer Kutsche zum Palast fahren. Claudius sollte vorausreiten, damit Zimmer für den Gast vorbereitet werden konnten.

Der Prinz half dem Mädchen vom Pferd. Aber als die Kutsche vorfuhr, sah er wieder, daß sie zitterte.

»Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, Saphira«, versuchte er sie zu beruhigen, »ich werde Euch nichts Übles zufügen.«

»Nicht du bist es, den ich fürchte«, entgegnete sie.

»Wen dann?«

»Ich weiß es nicht.«

Ohne ein weiteres Wort stieg sie in die Kutsche und ließ zu, daß Alonso sich neben sie setzte, fast als erkenne sie an, daß dieser Platz ihm gehöre. Noch immer aber war sie in ihre Gedanken versunken, und ihr Blick kehrte erst in die Welt zurück, als sie über die kopfsteingepflasterten Straßen in die Stadt kamen. Da starrte sie auf einmal aus dem Fenster, aber weil ihr Gesicht von ihm abgewandt war, konnte Alonso nicht sagen, ob das, was sie sah, sie erfreute oder erschreckte. Sie machte keine Bewegung und gab keinen Laut von sich.

Als sie in den Palasthof hineinfuhren und die Kutsche endlich hielt, öffnete ein Diener den Schlag, und der Prinz half Saphira hinaus. Nicht das winzigste Licht in ihrem Gesicht ließ aufleuchten, was sie dachte, aber als er ihren Arm nahm, um sie in den Palast zu führen, blieb sie stehen und sah ihm gerade in die Augen. Da lief es ihm kalt über den Rücken, denn im Blau ihres Blickes erkannte er etwas, das unzweifelhaft ein Ausdruck von Hoffnung war; und die Frage, die diesen Ausdruck begleitete, lautete:

»Bin ich tot?«

»Aber nein«, erwiderte er, »aber nein! Ihr seid ganz und gar lebendig.«

König und Königin befanden sich auf einem Staatsbesuch, aber der Oberkämmerer, der alte und grimmige, graubärtige Graf Corambis, war erschienen, um den Neuankömmling zu begrüßen oder vielmehr, ihn scharf zu mustern. Claudius hatte ihn über das Geschehene unterrichten müssen, da das Mädchen Räume im Palast erhalten sollte – und es gab nichts, das dort offiziellen Eingang finden konnte, ohne zuvor Graf Corambis’ Musterung passiert zu haben.

»Willkommen, edle Dame«, sagte er im Ton stärksten Zweifels. »Wir haben die junge Dame im blauen Gemach untergebracht, Königliche Hoheit. Darf ich mich erkundigen, wie lange die junge Dame zu bleiben gedenkt?«

»Wir wissen es noch nicht genau, Corambis, jedoch gewiß einige Zeit.«

Graf Corambis zog beide Mundwinkel zusammen, als bedeute diese Feststellung eine grobe Unziemlichkeit.

»Darf ich fragen, ob Ihre Majestäten von dieser Visite wissen?«

»Nein, Ihre Majestäten wissen nichts von dieser Visite, weil Ihre Majestäten verreist sind und die Visite erst vor wenigen Stunden geplant wurde.«

»Ich sehe schon«, meinte der Oberkämmerer.

»Was siehst du?« fragte Saphira, und der Graf hob vor Erstaunen über die Direktheit der Frage ruckartig den Kopf. Er sah das Mädchen an, dann den Prinzen, dann wieder das Mädchen und wußte sichtlich nicht, was er antworten sollte.

»Siehst du deines Herren Gast oder deines Dieners Dienerin?« fragte sie.

Der Oberkämmerer machte den Mund auf und wieder zu, hob und senkte die Hände, brachte aber kein Wort heraus. Auch der Prinz war erstaunt, nicht allein über ihre Worte, sondern auch darüber, daß Tränen in ihren Augen standen.

»In meines Vaters Haus«, fuhr sie fort, »hießen wir Fremde willkommen.«

Sie sagte dies ohne jeden Zorn, ihre Stimme klang nur bekümmert.

Nicht ohne eine gewisse Erleichterung beeilte sich Graf Corambis, dem Wunsch des Prinzen zu folgen und eine Mahlzeit für das junge Paar anzuordnen. Alonso wollte das Mädchen selbst in das blaue Gemach begleiten. Er hatte auch darauf bestanden, daß Frau Sarah, die Gattin seines eigenen Haushofmeisters Claudius, Saphira aufwarten sollte. Der Oberkämmerer hatte zwar gebrummt, dies sei »nicht der Etikette entsprechend«, aber dann mit einem Seitenblick auf das Mädchen eingewilligt.

Alonso kannte Claudius und Sarah von Kindertagen an, und die beiden kannten ihn. Selbst kinderlos, waren sie, ohne je die Grenzen ihrer Stellung zu überschreiten, seine engsten Freunde im königlichen Haushalt. Empfing er junge Damen in seinen Gemächern – was bereits mehr als einmal vorgekommen war –, so konnte er auf Claudius’ völlige Diskretion rechnen, und wenn er Hilfe brauchte, um zu begreifen, was in weiblichen Köpfen und Herzen vorging, wandte er sich stets an Sarah.

Aber selbst Sarah hätte nur schwer verstanden, was sich in Saphira abspielte. Sie war wieder in völliges Stillschweigen verfallen, und während sie mit dem Prinzen durch die Gänge des Palastes schritt, blieb sie immer wieder stehen, um Gegenstände zu berühren.

»Sie sind ganz wirklich«, meinte Alonso, aber es lag kein Lächeln in ihrem Blick, als sie ihn ansah.

An der Tür zum blauen Gemach stellte sie sich vor ihn, hob die Hand und berührte sein Gesicht, als wäre sie blind und müßte fühlen, was ihre Augen ihr nicht zeigen konnten.

»Was ist?« fragte er. »Was habt Ihr?«

»Wenn ich nicht tot bin«, sagte sie, »und du wirklich bist, so wie alle diese Dinge wirklich sind, was ist das dann für ein Alptraum? Mein Vater, meine Mutter, meine Heimat …«

»Wir werden es herausfinden.«

»Du verstehst nicht. Ich weiß.«

»Was wißt Ihr?«

»Sag mir, welches Jahr es ist.«

Noch während er antwortete, sah er, wie die Farbe aus ihren Wangen wich.

»Was ist?« fragte Alonso erschrocken.

»Wenn du die Wahrheit sprichst«, antwortete sie, »so habe ich hundert Jahre lang geschlafen.«

3

So entsetzlich die Entdeckung auch war, die sie gemacht zu haben schien, verzehrte das Mädchen doch gierig ihre Mahlzeit. Es war das erste Anzeichen dafür, daß sie aus sterblichem Fleisch und Blut war, aber sie wollte dem Prinzen keine weitere Auskunft über diese Sterblichkeit geben. Sie sagte nur, er müsse sie zum Schloß zurückbringen, damit sie ihre Eltern suche, und er versprach ihr, man würde alles tun, die beiden zu finden, sie solle sich darum nicht sorgen. Dann ließ er sie allein und stellte heimlich eine Wache vor ihre Türe, denn er fürchtete, sie könnte fortlaufen. Aber sie unternahm keinen Versuch, sich davonzustehlen; wohin hätte sie auch flüchten sollen?

Alonso selbst schlief schlecht. Das Geheimnis ging ihm so lange kreuz und quer im Kopf herum, bis ihm dieser brummte. Schließlich fiel er in unruhigen Schlaf, aus dem ihn Claudius mit der Nachricht weckte, Graf Corambis begehre ihn dringend zu sprechen.

Wie sich herausstellte, hatte ein Mitglied der Jagdgesellschaft geplaudert, und alle Journale und Gazetten der Stadt hatten ihre Vertreter in den Palast geschickt, um etwas über das Mädchen herauszufinden. Es war klar, daß man ihnen irgend etwas erzählen mußte, und sie hatten bereits durchblicken lassen, daß sie willens waren zu warten, bis sie das Mädchen sehen konnten, ganz gleich, wie lange es dauern würde.

»Wer ist sie überhaupt?« fragte der Oberkämmerer.

»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte der Prinz.

»Dann, Hoheit, bezweifle ich – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf –, daß Ihre Majestäten ihre Anwesenheit hier im Palast billigen werden. Ganz zu schweigen von diesem öffentlichen Aufruhr. Natürlich kann ich die Leute ein oder zwei Tage vertrösten …«

»Das ist nicht nötig, Corambis. Ich bin durchaus bereit, sie zu empfangen und sie mit Saphira bekanntzumachen …«

»Ha! Und damit noch Wasser auf die Mühlen der Klatschmäuler zu gießen!«