Der Fluch von Ashburn House - Darcy Coates - E-Book

Der Fluch von Ashburn House E-Book

Darcy Coates

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Beschreibung

Die Leute sagen, dass nachts die Geister einer ermordeten Familie durch die Flure von Ashburn House irren. Als Adrienne vor der Haustür des gotischen Hauses ankommt, hat sie nur einen Koffer, 20 Dollar und ihre Katze. Sie weiß nicht, warum Tante Edith ihr Ashburn vermacht hat, aber es ist ein Erbe, das sie unmöglich ablehnen kann. Adrienne glaubt nicht an Geister, aber wie sonst lässt sich erklären, was in den nächsten Tagen passiert? Und dann entdeckt sie im Wald ein verstecktes Grab ... Etwas Böses lebt in Ashburn House. Etwas Unnatürliches, dessen hungrige Augen Adrienne wachsam beobachten. Und es hat ein schreckliches, unverzeihliches Geheimnis. Booklist: »Dieses Spukhaus-Buch ist wirklich unheimlich, voller Atmosphäre, und man sollte es definitiv bei Tageslicht lesen ...«

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Aus dem australischen Englisch von Elena Helfrecht

Impressum

Die australische Originalausgabe The Haunting of Ashburn House

erschien 2016 im Verlag Black Owl Books.

Copyright © 2016 by Darcy Coates

Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Titelbild: AdobeStock/Dark Illusion

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-007-6

www.Festa-Verlag.de

1

Flucht

Dicke Regentropfen fielen Adrienne ins Gesicht und auf die nackten Arme, als ihre Mutter sie aus dem Schutz der Veranda die knarrenden Holzstufen hinabtrug. Die schweren Schritte und der keuchende Atem hallten noch immer in ihren Ohren nach, während ihre Mutter sie so fest in den Armen hielt, dass es wehtat.

Adrienne drehte den Kopf, um ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen. Pats Augen waren schreckgeweitet. Der verschmierte Mascara lief ihr in Streifen über die bleichen Wangen und sie zuckte zusammen, als hinter der Silhouette des Hauses ein gleißender Blitz den Himmel zerteilte.

Drohend und schief ragte Ashburn House über ihnen auf. Unter der abblätternden weißen Farbe kam schmutziges graues Holz zum Vorschein und die schwarzen Fenster wachten wie tote Augen über den Rasen. Die Sonne war gerade erst untergegangen und das verbliebene Licht tauchte den Unterbauch der Gewitterwolken noch immer in grelle Rot- und Pinktöne. In den umliegenden Wäldern kreischten ein paar Tiere und die Insekten hüpften aus dem Weg, als ihre Mutter durch das hohe Gras rannte, um sie zum Auto am Rand der Schotterauffahrt zu tragen.

Sobald Adrienne auf dem Beifahrersitz gelandet war, knallte die Tür hinter ihr zu. Ihre Mutter schnallte sie nicht einmal an, was sie zutiefst beunruhigte. Das hatte sie bisher noch nie vergessen. Adrienne verrenkte sich, um durch die Scheibe einen Blick auf das Haus zu erhaschen, und sah, wie die Eingangstür aufschwang.

Ihre Mutter hechtete auf den Fahrersitz und ließ den Motor aufheulen, dann drehten die abgefahrenen Reifen knirschend im Schotter durch, bevor sie endlich Halt fanden. Während das Haus im Rückspiegel immer kleiner wurde, sah Adrienne, wie jemand im offenen Hauseingang erschien. Die Gestalt war hochgewachsen und trug ein langes schwarzes Kleid. Adrienne und die Frau sahen einander im Spiegel an, bis das Auto viel zu schnell um die nächste Kurve raste und das Haus schließlich hinter einer dichten Baumgruppe verschwand.

Statt zu sprechen, atmete Adriennes Mutter nur panisch und stoßweise, während die Tränen ihren Mascara weiter auf den Wangen verteilten und sich mit den Blutspritzern auf ihrem Hals vermischten.

2

Das Geschenk einer Fremden

Jedes Mal wenn Wolfgang jammerte, grinste und kicherte der Taxifahrer, als wäre es das Lustigste, was er den ganzen Tag über gehört hatte. Adrienne versuchte, sein Lächeln zu erwidern, war aber nicht mit dem Herzen dabei. Normalerweise war Wolfgang ein ruhiger, ausgeglichener Kater; wenn er sich so oft beschwerte, musste ihm die Fahrt wirklich missfallen. Er ignorierte sogar die Leckerlis, die sie durch die Gitter der Katzenbox steckte, was er sonst nie tat.

»Tut mir leid, Kumpel«, flüsterte sie ihm zu, als er zum gefühlt 100. Mal miaute. »Dauert nicht mehr lang.«

Der kräftige Tigerkater sah sie so leidend und elend aus seinen meergrünen Augen an, wie nur Katzen es können.

»Haben Sie hier in der Gegend Familie?« Der Taxifahrer, ein junger, fröhlicher Mann, der ein bisschen zu fest aufs Gaspedal drückte, hatte während der Fahrt schon mehrmals versucht, ein Gespräch mit ihr anzufangen, aber Adrienne war selbst an guten Tagen erbärmlich in Sachen Small Talk, und dieser Morgen war weit von einem guten Tag entfernt.

»Nein … also … Anscheinend hatte ich das mal, glaub ich.« Das war eine furchtbare Antwort auf seine Frage, allerdings war sie nicht darauf vorbereitet zu erklären, dass sie das Haus von einer Verwandten geerbt hatte, die es ihrer Mutter zufolge nie gegeben hatte.

Der Fahrer schien gerade zu einer zweiten Frage ansetzen zu wollen, wurde aber von Wolfgangs neuerlichem Jammern unterbrochen, woraufhin er sich mit einem Kichern begnügte und stattdessen nur den Kopf schüttelte. Dafür war sie dankbar, denn die letzte Woche war so hektisch gewesen, dass sie keine Sekunde für sich selbst gehabt hatte. In ihrem Kopf ertönte eine regelrechte Kakofonie aus Sorgen und Ängsten.

Miss Edith Ashburn hat Ihnen ihr Anwesen vermacht …

Adrienne hatte nie erwartet, je irgendetwas zu erben. Natürlich hatte sie es sich ausgemalt – unbeschwerte Tagträume, in denen sie herausfand, dass ihr Vater eigentlich ein König war, oder in denen sie sich zufällig mit einem einsamen Millionär anfreundete. Seit sie erwachsen war und sich mit Kreditrückzahlungen, Arztrechnungen und Schulden herumschlagen musste, waren diese Träume allerdings immer seltener geworden.

Die hartnäckige Behauptung ihrer Mutter, keine lebenden Verwandten zu haben, hatte die Erbschaft noch überraschender gemacht. Dem genervten Anwalt zufolge war Edith Ashburn die Tochter der Schwester ihrer Uroma mütterlicherseits gewesen. Damit wäre Edith ihre Großtante gewesen, aber um sich dessen ganz sicher zu sein, müsste sie den Stammbaum vor sich sehen.

Als der Fahrer zu schnell um die nächste Kurve fuhr, musste Adrienne die Katzenbox festhalten, damit sie nicht gegen die Tür geschleudert wurde. Auf Wolfgangs Jammern hin murmelte Adrienne eine Entschuldigung, obgleich sie genau wusste, dass er sie nicht annehmen würde, was dem Taxifahrer wieder ein Grinsen entlockte.

»Sieht so aus, als wären wir im Dorf angekommen«, sagte er. Adrienne blickte von der Transportbox auf und sah ein paar vereinzelte Gebäude, die unter dem Fenster über die Landschaft versprenkelt waren.

Ipson war eine kleine Provinzstadt. Dem Internet zufolge lebten hier zwischen 800 und 900 Einwohner. Die Ortschaft kam ihr unerwartet hübsch vor – große grüne Bäume säumten die Straßen und die Grundstücke waren relativ ordentlich und gepflegt. Neben dem Rathaus stand eine kleine Schule. Sie befand sich nur zwei Straßenblocks von der Hauptstraße entfernt, die wiederum voller kleiner Geschäfte war. Selbst aus der Entfernung konnte Adrienne den glänzenden Kirchturm aus Bronze erkennen. Die Wohnhäuser waren fächerförmig um die Stadtmitte herum erbaut. In der Nähe des Zentrums gab es überwiegend typische Vorstadthäuschen, die zum Stadtrand hin mehr und mehr von kleinen Selbstversorger-Bauernhöfen abgelöst wurden.

Sie fuhren ins Tal hinab. Für ein paar Minuten plätscherte ein Fluss neben der Straße her – ein strahlend blauer, in sich verschlungener Strom mit Weiden am Ufer –, bis sie die Innenstadt erreichten. Mit einer Hand auf der Transportbox, um Wolfgang vor den schlimmsten Stößen des ruckelnden Autos zu bewahren, warf Adrienne durch die Scheibe einen Blick auf die Ortschaft, die zukünftig ihr Zuhause sein würde. Vor ihr zog eine typische Dorfidylle vorbei: ein Gemüsehändler, der Avocados aufeinanderstapelte, zwei alte Frauen, die im Außenbereich eines Cafés eine Tasse Tee tranken, und ein Floristikgeschäft, aus dessen Tür die Blumen bis auf den Gehsteig quollen. Vor einem Zebrastreifen blieb das Taxi schließlich mit quietschenden Reifen stehen, woraufhin Wolfgang wieder miaute, während Adrienne seine Box nur mit Mühe auf dem Sitz festhalten konnte.

»Der ist recht gesprächig, hm?« Der Fahrer lachte.

»Wolf mag keine Autos. Zu viele Tierarztbesuche.« Adrienne wurde von vier gut gekleideten Damen abgelenkt, die vor einem Laden standen, der wie eine Mischung aus Buchhandlung und Café aussah. Sie schätzte die angeregt schwatzenden Frauen auf Anfang 20 – also ungefähr ihr Alter. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf schlug vor, sich mit ihnen anzufreunden. In einer so winzigen Stadt wäre die Anzahl der Frauen in ihrem Alter sicher begrenzt, vielleicht sah sie sogar gerade den Großteil davon. Die größte von ihnen drehte sich zum Taxi um und hob die Brauen. Ihre dunkelroten Lippen, die mit dem blonden, schulterlangen Haar kontrastierten, formten sich zu einem schelmischen Grinsen, während sie sich wieder ihren Freundinnen zuwandte, um etwas zu sagen. Sie lachten und hoben ihre lackierten Fingernägel vor die strahlend weißen Zähne. In ihren Augen lag ein geheimniskrämerisches Funkeln.

Noch bevor Adrienne überhaupt Zeit hatte, rot anzulaufen, setzte sich das Taxi mit quietschenden Reifen wieder in Bewegung.

Die haben über mich geredet. Warum? Die können doch unmöglich wissen, wer ich bin?!

Das schien aber durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen. Sie lehnte sich in den Sitz zurück. Vermutlich war die Stadt zu klein für ein eigenes Taxiunternehmen, weswegen das auffällige Auto einen Neuankömmling wie ein Leuchtfeuer ankündigte.

Das brachte Adrienne auf eine ganze Reihe von Fragen, auf die sie noch keine Antwort wusste.

Wie gut haben die Bürger Edith Ashburn gekannt? War sie vielleicht ein Stammgast im örtlichen Café, Mitglied in irgendeinem Komitee oder hatte ihr sogar ein bekanntes Geschäft gehört? Wie viele Menschen hier wissen von ihrem Tod? Haben sich die Leute gefragt, wer in das leere Haus ziehen würde? Hat die Stadt nach dem Taxi Ausschau gehalten, in dem Ediths Nachfolgerin ankommen würde?

Bei dem Gedanken daran, dass die Einwohner sie vielleicht erwartet hatten, verengte sich vor Angst ihre Brust. Sie drückte die Katzenbox ein wenig fester an sich, woraufhin Wolfgang, der sich offensichtlich genauso unwohl wie seine Besitzerin fühlte, fauchte.

Sie brausten an weiteren Läden vorbei. Jetzt, da sich Adrienne eher auf die Einwohner als auf die Gebäude konzentrierte, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie viel Aufmerksamkeit sie auf sich zog. Alle Köpfe drehten sich nach dem näher kommenden Auto um und sie konnte die Erkenntnis über die ihr zugewandten Gesichter huschen sehen. Adrienne stellte sich vor, wie die Leute hinter ihr die Köpfe zusammensteckten und tuschelten: Das ist sie, die Neue in Ediths Haus.

»Wie … äh …« Weil ihr Mund ausgetrocknet war, musste sie sich erst über die Lippen lecken, bevor sie verständlich sprechen konnte. »Wie weit ist es noch?«

Der Taxifahrer tippte das Navigationsgerät auf dem Armaturenbrett an. »Sieht aus, als müssten wir ans andere Ende der Stadt. Hübsches Örtchen, was?«

»Das ist es wirklich.« Die malerischen Läden, die gepflegten Häuser und die großen grünen Bäume waren zweifellos reizvoll, erweckten in ihr aber auch zunehmend das Gefühl, ein Eindringling zu sein, der um Einlass in diese makellose Welt bitten musste. Sie kannte die Gepflogenheiten dieser Stadt nicht, weder verband sie Erinnerungen damit noch war sie mit ihrer Geschichte vertraut. Sie war hier nicht willkommen.

Hör auf damit.

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, das Gefühl abzuschütteln, dass viele Augenpaare dem leuchtend gelben Auto folgten.

Immerhin hast du ein Zuhause. Das ist doch schon eine deutlich bessere Aussicht als noch vor zwei Wochen. Dankbarkeit ist gerade das Einzige, was du fühlen solltest.

Als das Auto scharf um die nächste Kurve gefahren war, hatten sie plötzlich das andere Ende der Stadt erreicht und ließen die Vorstadtidylle hinter sich. Die Büsche und Bäume am Straßenrand waren hier deutlich dichter und auf der rechten Seite tauchte wieder der Fluss neben der Straße auf. Adrienne atmete tief durch. Sobald sie den Blicken der Stadtbewohner entkommen war, ließ die drückende Angst von ihr ab, allerdings nur, um von einem höchst surrealen Gefühl ersetzt zu werden. Die Häuser wurden immer weniger, stattdessen tauchten nun weitläufige Felder auf.

Adrienne beugte sich vor, um einen Blick auf das Navigationsgerät zu werfen. »Entschuldigen Sie die Frage, aber … sind wir am Haus schon vorbeigefahren?«

»Dem Ding hier zufolge nicht.« Der Fahrer zeigte auf den Bildschirm. »Da steht, wir müssen der Straße weiter folgen.«

»Oh.« Adrienne lehnte sich zurück. Sie hatte angenommen, eines der kleinen Vorstadthäuschen geerbt zu haben, aber jetzt ließen sie sogar die Bauernhöfe hinter sich.

Das Taxi wurde langsamer und bog zwischen ein paar Büschen ab. Adrienne, die dachte, das Auto hätte die Straße verlassen, drückte Wolfgang enger an sich und seufzte erleichtert auf, als sie feststellte, dass der Fahrer eine schmale, gut versteckte Schotterauffahrt entdeckt hatte.

»Meine Güte«, murrte der Fahrer. Er lehnte sich über das Lenkrad in Richtung Scheibe und kniff die Augen zusammen, um den Weg auszumachen. Adrienne machte ihm keinen Vorwurf, denn die Einfahrt war komplett verwildert. Zum ersten Mal seit das Taxi sie vor der Wohnung ihrer Freundin abgeholt hatte, bremste es auf unter 20 Kilometer pro Stunde ab.

Auf der linken Seite stand ein Schild. Adrienne drückte das Gesicht gegen die Scheibe, um es zu lesen. Das Holz wirkte, als wäre es mindestens 50 Jahre alt, und der Pfahl, an dem es befestigt war, stand gefährlich schief. Die Farbe hatte sich so weit abgelöst, dass die Botschaft fast nicht mehr lesbar war, aber der Schriftzug war verbreitet genug, um sich die Bedeutung zusammenzureimen: ›PRIVATGRUNDSTÜCK‹.

Dann tauchte rechts davon ein weiteres Schild auf, das mit einem großen rostigen Metallstift an einen Baum genagelt war: ›DRAUßEN BLEIBEN‹. Und auf dem dritten, das fast vom zugehörigen Pfahl fiel, stand: ›BETRETEN VERBOTEN‹.

»Sieht ganz so aus, als wäre das hier der Stadttreffpunkt gewesen«, witzelte der Fahrer und grinste dabei so breit, dass er Adrienne fast vom vierten Schild abgelenkt hätte: ›SOFORT UMKEHREN‹.

Sie brachte ein Lachen zustande, aber es klang nicht aufrichtig. Wolfgang fing wieder an zu jammern, diesmal unterschied sich das Geräusch jedoch von seinem vorherigen Miauen und klang eher wie ein lang gezogenes Heulen. Adrienne beugte sich über die Box, um nach ihm zu sehen. Er hatte die Ohren flach angelegt und sein flauschiges Fell stand nun so weit ab, dass es die ganze Transportbox ausfüllte.

»Halt noch ein paar Minuten durch«, flehte sie, »wir sind ja fast da.«

Die Schotterauffahrt führte sie einen Hügel hinauf und der gewundene Straßenverlauf erzeugte eine schwere, unangenehme Kälte in ihrer Magengrube. Sie brauchte eine Minute, bis sie den Grund dafür ausmachen konnte: In der Stadt hatten die Bäume alle grün und gesund gewirkt, aber das Dickicht, das jetzt die Auffahrt säumte, wurde im Vorbeifahren zunehmend dunkler und wilder. Das vormals sanfte Braun der Rinde hatte sich inzwischen in ein kaltes Grau verwandelt, die Blätter erstrahlten nicht länger in saftigem Grün, sondern hatten einen dunklen Kakiton angenommen, und die buschigen Sträucher wurden jetzt von spindeldürrem, kränklich wirkendem Geäst abgelöst, das zwischen den Unkrautbüscheln ums Überleben kämpfte. Es war, als hätte die Stadt der Auffahrt alles Gute entzogen, um es gegen alles Kranke und Schlechte einzutauschen.

Als sie ganz oben auf dem Hügel angekommen waren, rollte das Auto um eine Kurve. Endlich lichtete sich der Wald und Adrienne schnappte nach Luft, als Ashburn House drohend vor ihnen aufragte.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Blitze über den Himmel zucken, vor denen sich die Silhouette des Anwesens abhob. In ihrem Kopf hallten die hektischen, verzweifelten Atemzüge ihrer Mutter von damals wider und die Kälte der schweren Regentropfen brannte erneut auf ihren Armen.

Dann blinzelte sie kurz und saß schlagartig wieder im Taxi, von wo aus sie zu der schiefen, dreistöckigen Holzvilla hinaufblickte.

»Müsste man wohl ein bisschen renovieren, nicht?« Der Taxifahrer wandte sich zu ihr um und lächelte sie an, aber diesmal gelang es Adrienne nicht, zurücklächeln.

Ich hab es immer für einen Traum gehalten. Es hat sich so surreal, so bizarr angefühlt … und doch ist es das gleiche Haus …

Der Fahrer stoppte den Wagen und stellte den Motor ab. »Ich hol Ihr Gepäck, in Ordnung?«

»Was? Oh, stimmt ja, tut mir leid …«

Vorsichtig hob Adrienne die Transportbox mitsamt ihrem wertvollen Inhalt aus dem Wagen. Sie trug Wolfgang an den Rand der Einfahrt und setzte ihn im Gras unter einem Baum ab. Der große getigerte Kater murrte, hielt sich aber zurück.

Bis Adrienne wieder am Auto ankam, hatte der Fahrer ihre beiden Reisekoffer schon aus dem Kofferraum gehoben und rieb sich den Staub von den Händen. Als er ihr den Fahrpreis nannte, hätte sich Adrienne fast verschluckt. Das war deutlich teurer als erwartet und es schmerzte sie, ihm fast alle Scheine aushändigen zu müssen, die noch in ihrem Geldbeutel übrig waren.

Das ist ein Neuanfang, ermahnte sie sich, als ihr der Fahrer zum Abschied zuwinkte und wieder einstieg. Gute Dinge gibt’s eben selten kostenlos.

Das Auto wendete, beschleunigte die Auffahrt entlang und ließ Adrienne allein in dem verwilderten Hof stehen. Schließlich wurden die quietschenden Reifen und das Brummen des Motors von den sanften Klängen der Natur ersetzt. In den Bäumen zwitscherten die Vögel und im langen Gras zirpten und summten die Insekten. Mit trockenem Mund und rasendem Puls blickte Adrienne zum Haus hinauf, während sich die Erinnerung an jene Nacht in ihren Verstand drängte wie ein Fleck, den sie nicht loszuwerden vermochte, so fest sie auch schrubbte.

3

Erbschaft

Adrienne wusste nicht, wie lange sie wie hypnotisiert dastand und das Haus anstarrte, bis Wolfgangs wütendes Jaulen sie aus ihrer Benommenheit riss.

Der Traum – nein, die Erinnerung, korrigierte sie sich – erschreckte sie. Damals musste sie noch sehr jung gewesen sein, denn mit sechs Jahren war sie bereits zu schwer gewesen, um von ihrer Mutter getragen zu werden.

Was wollte sie hier mit mir?

Sie öffnete ihre Tasche und kramte nach dem Schlüssel, den der Anwalt ihr geschickt hatte. Gleichzeitig hatte sie Schwierigkeiten damit, die Erinnerung mit der Realität in Einklang zu bringen. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, sie hätten keine lebenden Verwandten. Auf den Brief des Anwalts hin hatte Adrienne angenommen, ihre Mutter hätte nichts von ihrer Großtante Edith gewusst. Offensichtlich hatte sie aber nicht nur von ihr gewusst, sondern sie sogar persönlich getroffen.

Warum hat sie damals geweint?

Das war eine der beunruhigendsten Szenen, an die sie sich erinnerte. Ihre Mutter war eine unerschütterliche, ruhige Frau gewesen, die für Gefühlsausbrüche nur wenig Verständnis gehabt hatte. Adrienne konnte sich nicht einmal daran erinnern, sie nach dem Tod ihres Vaters auch nur einmal weinen gesehen zu haben.

Sie ertappte sich dabei, wie sie das Durcheinander von Stiften, Lippenbalsam, Quittungen und Notizblöcken in ihrer Tasche anstarrte, und brauchte eine Minute, bis ihr wieder einfiel, warum sie diese überhaupt geöffnet hatte.

Stimmt ja, der Schlüssel.

Sie fand das schwere Metallstück in einem Umschlag unter einer Packung Taschentücher und zog es heraus.

Waren das wirklich Blutspritzer an ihrem Kinn gewesen?

Als Adrienne sich zum Haus umdrehte, schauderte sie. Es waren nur sechs, vielleicht sieben Tropfen gewesen, aber sie konnte sich die roten Spritzer nicht logisch erklären.

Was genau ist in diesem Haus passiert?

Trotz des weitläufigen ungenutzten Grundstücks war das Haus eher in die Höhe als in die Breite gebaut worden. An die eine Seite schloss ein halb oktogonaler Erker an, der über alle drei Stockwerke hinweg durchfenstert war. Das spitz zulaufende Dach war mit dunklem Schiefer gedeckt. Eine überdachte Veranda erstreckte sich von einer Seite der Erkerfenster bis hin zur Außenwand des Gebäudes, und die Eingangstür lag in dunklen Schatten.

Wolfgangs erneutes Jammern versetzte Adrienne in Bewegung. Schwer atmend hievte sie die Transportbox hoch und schwankte damit die Verandastufen hinauf. Die Holzbretter ächzten und bogen sich unter ihrem Gewicht durch, vom Dachüberstand rieselte ein wenig Staub. Dem niedrigen Sonnenstand nach blieben ihr nur ein paar Stunden bis zum Einbruch der Nacht und sie wollte den Kater so bald wie möglich im Haus eingewöhnen.

So dringend sie auch wissen wollte, was vor all den Jahren zwischen Edith und ihrer Mutter vorgefallen war, sie musste sich damit abfinden, es vermutlich nie zu erfahren. Sie erinnerte sich nur an die letzten Momente ihrer Begegnung, als ihre Mutter mit ihr im Arm aus dem Haus und die Stufen hinab geflohen war. Nun waren beide verstorben. Wenn Edith Ashburn kein Tagebuch geführt hatte, dann würde das Rätsel wohl nach und nach dem nagenden Zahn der Zeit zum Opfer fallen.

Vielleicht haben sie gestritten.

Adrienne setzte Wolfgang auf der Veranda ab und riss den Umschlag auf, der den Schlüssel enthielt.

Mom war sonst nie nachtragend gewesen. Sie muss Edith wirklich gehasst haben, wenn sie mir erzählt, wir hätten keine Verwandten.

Sie steckte den Schlüssel in das Loch unter dem Knauf. Das rostige Metall quietschte, als sie ihn umdrehte, und eine Sekunde später verriet ein Klicken, dass die Tür jetzt offen war.

Vielleicht hat sich Edith nach dem Vorfall schuldig gefühlt, was auch immer da passiert ist. Wenigstens ein bisschen, sonst hätte sie mir das Haus wohl nicht vererbt.

Sie drückte ihre Finger gegen das Holz. Mit knirschenden Scharnieren schwang die Tür nach innen auf, während der aufgewirbelte Staub im Licht der untergehenden Sonne tanzte. Adrienne kniff die Augen zusammen, um die Flurumrisse auszumachen. Obwohl das Haus über eine Menge Fenster verfügte, wurde der Flur von jahrzehntealtem Schmutz und Staub in dunkle, lauernde Schatten gehüllt.

Adrienne räusperte sich, steckte den Schlüssel in die Tasche und hob Wolfgangs Transportbox auf.

Dann schritt sie damit über die Schwelle.

Die Luft in Ashburn House fühlte sich anders an, irgendwie schwerer, trockener und mit einem muffigen Geruch durchsetzt, den Adrienne nicht zuordnen konnte.

Hier hat sie gewohnt, wisperte die Stimme in ihrem Kopf. Dieses Haus hat seit einem halben Jahrhundert kein neues Gesicht mehr gesehen. Sie steckt noch immer in den Wänden; die Dielen wurden von ihren Schritten geformt; selbst die Luft trägt ihre Präsenz über den Tod hinaus noch mit sich.

Adrienne bückte sich, um in Wolfgangs Käfig zu schauen, und grinste ihn an. »Überhaupt nicht morbide, was?«

Ihr Gelächter hallte durch den Flur und setzte sich bis über die steile Treppe an dessen Ende im oberen Stockwerk fort. Je weiter sich das Echo entfernte, desto hohler klang es. Schnell schloss sie wieder den Mund. Für einen kurzen Moment kehrte das Haus in seinen Urzustand der Stille zurück, bevor Wolfgang kehlig und grollend murrte.

Adrienne drückte den kleinen verblichenen Lichtschalter, der in die Wand neben der Tür eingelassen war. Sie hatte nicht erwartet, dass irgendetwas passieren würde, als eine der Deckenlampen im Flur zum Leben erwachte. Das dämmrig-gelbe Leuchten war kaum besser als das schwache Licht, das durch die Fenster hereinfiel, aber es brachte Adrienne zum Lächeln. Immerhin funktionierte die Stromversorgung in Ashburn House; sie hatte sich schon Sorgen gemacht, nachdem sie gesehen hatte, wie abgelegen das Haus war.

Der schmale Flur erstreckte sich über die gesamte Länge des Hauses. In seiner Mitte lag ein ausgetretener Teppich und an den Wänden standen eine seltsame Ansammlung von Beistelltischchen, Lampen und Regenschirmhaltern sowie eine große Standuhr. Eine ausgeblichene Tapete mit kleinen grauen Schnörkeln und roten Rosen bedeckte die Wände.

Adrienne zog die Tür hinter sich zu, die laut und unangenehm quietschte und sie daran erinnerte nachzusehen, ob Edith hier irgendwo noch Öl herumstehen hatte.

Langsam ging sie weiter und sah sich in ihrem neuen Zuhause um. Die Möbel wirkten alt und abgenutzt. Der Teppich war weinrot, aber an manchen Stellen löste er sich langsam auf. Obwohl ihr alle Oberflächen etwas schmutzig erschienen, gab es überraschend wenig Staub. Adrienne vermutete, Edith hatte die Oberflächen regelmäßig abgewischt, allerdings nie mit einem feuchten Lappen.

Vorsichtig stieß sie die erste Tür zu ihrer Rechten auf. Dahinter erwartete sie ein geräumiger, geschmackvoll eingerichteter Salon. Dank der großen Erkerfenster im vorderen Teil war das Zimmer heller als der Flur und vermittelte trotz Kamin, Couchtisch und den sauberen, dick gepolsterten Stühlen den Eindruck, nicht oft benutzt worden zu sein.

Sie ließ die Tür offen stehen und ging weiter. Der nächste Durchgang links führte zu Küche und Esszimmer. An der hinteren Wand befanden sich ein Ofen, ein veralteter Herd, Arbeitsflächen und ein Waschbecken. An der Wand daneben standen zwei Vitrinen mit Porzellantellern und Gläsern, die allesamt mit pink-roten Rosen bemalt waren. Beim Betreten des Raumes fielen ihr die beiden hellen Furchen im Holzboden auf, wo jemand allabendlich am Tischende gesessen und den Stuhl beim Aufstehen und Setzen zurückgeschoben haben musste.

Sie wollte das Haus noch weiter erkunden, aber das Gewicht von Wolfgangs Transportbox tat langsam in den Armen weh. Sie brauchte ein Zimmer mit ein paar Schlupfwinkeln, die einem ängstlichen Kater ausreichend Versteckmöglichkeiten boten, aber ohne irgendwelche Löcher, durch die er entkommen konnte. Also ging sie in den Flur zurück und probierte die nächste Tür zu ihrer Rechten, gegenüber dem Treppenhaus, aus.

Diese führte in ein Wohnzimmer. Anders als der Eckraum war dieses offensichtlich regelmäßig benutzt worden.

Sowohl die Sessel- als auch die Couchpolster waren durchgesessen und im Kamin lag noch immer Asche. An der einen Wand stand ein Regal, das bis zur Decke reichte und vor alten Büchern förmlich überquoll, die anderen Wände wurden von einer Mischung aus Regalen und Schränken eingenommen. Es gab sogar ein Klavier.

Das sollte für Wolf ausreichen.

Sie schloss die Tür hinter sich, setzte ihn auf dem runden weinroten Teppich in der Mitte ab und öffnete das Gitter der Transportbox. Er sah sie mit seinen unheilvoll grünen Augen an, weigerte sich aber, den Schutz des Käfigs zu verlassen.

»Tut mir leid, Kumpel.« Sie seufzte und hielt ihm die Hand vor die Nase, damit er daran schnuppern konnte, bevor sie ihn hinter den Ohren kraulte. Als Reaktion darauf blinzelte er nur träge, neigte den Kopf aber nicht so wie sonst, wenn er gestreichelt wurde.

»Ich weiß, das gefällt dir nicht, aber glaub mir: besser als obdachlos zu sein.«

Er antwortete ihr mit einem kehligen, unzufriedenen Murren.

Adrienne schenkte ihrem Kater ein verkniffenes Lächeln und stand auf, um ihre Koffer zu holen. Auch wenn Wolfgang das sicher kaum verstand, hatte sie das ernst gemeint. Die letzten vier Jahre im Leben von Pat, ihrer Mutter, waren von Terminen mit Spezialisten, Krankenhausaufenthalten und experimentellen Behandlungsmethoden für die Autoimmunerkrankung dominiert worden, gegen die sie den Kampf letztendlich verloren hatte. Als sich der Zustand ihrer Mutter so weit verschlechtert hatte, dass sie tagsüber nicht länger allein bleiben konnte, hatte Adrienne ihre Stelle gekündigt, um sich um sie zu kümmern, und jeden Freelancer-Job angenommen, den sie online finden konnte. Sie war stolz darauf, sagen zu können, dass sie zurechtgekommen war, zumindest bis zum letzten Krankenhausaufenthalt.

Pat hatte sich immer sehr um ein stabiles häusliches Umfeld für Adrienne bemüht. Als die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten war, hatte sie zwei Jobs angenommen, aber die Termine und Behandlungen waren alles andere als billig. Als sie schließlich verstorben war, war das Haus bereits mit zwei Hypotheken belastet und ihre gesamten Ersparnisse hatten sich in Schulden verwandelt.

In den Wochen nach der Beerdigung hatte ein regelrechter Sturm aus Stress und Geldproblemen gewütet, die noch zur Trauer dazugekommen waren. Pats Haus, ihr Auto, ja selbst die Möbel mussten verkauft werden, um ihre verbleibenden Schulden zu tilgen. Adrienne war vorübergehend in die Wohnung einer Freundin gezogen, aber es war klar, dass das keine permanente Lösung war; die Zweizimmerwohnung war viel zu klein für vier Leute, eine reizbare Katze und den aggressiven Hund ihrer Freundin.

Ihre freie Zeit hatte Adrienne dann damit verbracht, nach einem neuen Zuhause zu suchen, was sich als eine demoralisierende Erfahrung herausgestellt hatte. Mit ihrer Arbeit als Freelancerin konnte sie sich gerade so ein günstiges Apartment leisten, und keine der Wohnungen, die sie besichtigt hatte, erlaubte die Haltung von Katzen.

Ihre Freundin hatte vorgeschlagen, Wolfgang wegzugeben, aber genauso gut hätte sie Adrienne bitten können, sich den Arm abzuschneiden; sie liebte das flauschige Biest einfach zu sehr, um es einfach einem Fremden zu überlassen. Der Brief, in dem stand, sie habe Ashburn House geerbt, war für Adrienne ein wahres Wunder gewesen.

Sie hob beide Koffer vom Gras auf und trug sie ins Haus. Die Sonne hatte fast die Wipfel erreicht und ihr roter Schein breitete sich über den Horizont aus. Lange Schatten fielen hinter ihr in den muffigen Flur und das aggressive Gezwitscher wurde lauter, während sich das Federvieh auf die Nestruhe vorbereitete.

Obwohl sie sich beeilt hatte, war Wolfgang bereits verschwunden, als sie in den Salon zurückkehrte und sich zur Transportbox umdrehte. Sie schloss die Tür, damit er nicht entwischen konnte, und beäugte die Schatten in den Zimmerecken, während sie den schwereren der beiden Koffer öffnete.

»Hey, Kumpel!«, rief sie, packte sein Katzenklo aus, füllte es mit einem Beutel Streu und stellte seine beiden Schüsseln neben der Tür ab. »Hast du Hunger? Hm?« Sie klapperte mit der Futterpackung, aber das graue Biest ließ sich nicht blicken. Adrienne seufzte, leerte die Packung in eine der Schüsseln aus und nahm die zweite mit, um sie mit Wasser zu füllen. Als sie das Wohnzimmer verließ, fiel das Licht auf ein paar Kratzer in der gegenüberliegenden Tapete. Adrienne runzelte die Stirn.

Sieht fast wie Wörter aus.

Sie ging ein Stück näher heran und schnappte nach Luft. Irgendjemand hatte eine Botschaft durch die Tapete in das darunterliegende Holz geritzt. Von der Seite waren die Worte schwer zu erkennen, aber von oben betrachtet wurden sie lesbar:

›KEINE SPIEGEL‹

Reflexartig blickte Adrienne sofort in den Flur. Er war zwar mit allerhand Mobiliar vollgestopft, aber dort befand sich kein einziger Spiegel. Vorhin hatte sie das nicht als ungewöhnlich empfunden, aber die Worte wirkten beunruhigend, fast schon bedrohlich. Sie schüttelte den Kopf und ging zur Küche hinüber.

Das Waschbecken war riesig und völlig veraltet, und der Wasserhahn quietschte, als sie ihn aufdrehte. Über ihr rumpelten die Rohre in den Wänden und als Adrienne zur Decke blickte, konnte sie sich die bebenden Holzbretter bildlich vorstellen. Schließlich schoss ein eiskalter Wasserschwall aus dem Hahn, prallte von der Schüssel ab und spritzte sie nass.

Adrienne rief eine ganze Reihe nicht sehr damenhafter Ausdrücke, während sie sich abmühte, den Hahn wieder zuzudrehen. Klatschnass und murrend trug sie die Wasserschüssel in das Wohnzimmer zurück.

»Sei wenigstens dankbar«, sagte sie, als sie die Schüssel neben Wolfgangs Futter abstellte.

Das Zimmer war ruhig, aber sie glaubte eine kleine Bewegung hinter dem Klavier gesehen zu haben. Sie kniete sich hin und beugte sich vor, um nachzusehen. Dort, in der Lücke zwischen Klavier und Bücherregal, kauerte Wolfgang und fixierte sie mit seinen riesigen grünen Augen.

»Geht’s dir gut da unten, Kumpel? Nicht zu staubig für dich?«

Er blinzelte sie vorwurfsvoll an und wandte sich dann wieder der gegenüberliegenden Wand zu.

Die Sonne versank langsam hinter den Bäumen und die kühle Luft ließ sie im nassen Shirt und der durchgeweichten Jeans frösteln, also öffnete sie den zweiten Koffer und durchsuchte die wenigen Besitztümer, die sie mit nach Ashburn House gebracht hatte.

Das Packen war deprimierend gewesen. Den Großteil ihrer Habe hatte sie weggegeben, bevor sie in die Wohnung ihrer Freundin gezogen war, und in dem Taxi quer durch den ganzen Bundesstaat war noch weniger Platz gewesen. Einer der Koffer war allein Wolfgangs Bedürfnissen gewidmet; der zweite beinhaltete Adriennes ganze Welt – drei Outfits, ein Handtuch, Toilettenartikel, das Buch, das sie gerade las, sauberes Bettzeug und ihren Laptop. Als sie in den Koffer blickte, schnürte sich ihre Kehle zusammen. Diese Gegenstände waren das Destillat der gesamten 22 Jahre ihres bisherigen Lebens.

»Das ist ein Neuanfang«, sagte sie zu Wolfgang und versuchte zu lächeln. »Und ich brauch sowieso nicht viel. Nur deine Gesellschaft, ein Dach über dem Kopf und genug Geld, damit wir nicht verhungern. Und guck mal, dank Großtante Edith haben wir das jetzt alles. Wir kommen schon klar.«

Der große graue Kater blinzelte sie an. Plötzlich wünschte sich Adrienne, er würde aus seinem Versteck herauskommen, damit sie ihn umarmen konnte.

»Wir kommen schon klar«, wiederholte sie, aber ihre Stimme hörte sich schwach und verloren an, als sie das Handtuch herauszog und auf ihre nasse Kleidung drückte.

4

Was in der Nacht lauert

Adrienne zog sich frische Klamotten an und legte das durchgeweichte Shirt und die Jeans zum Trocknen über die Sessellehne vor dem Kamin. Wolfgangs Blick folgte ihr, während sie durch das Zimmer ging, aber er weigerte sich selbst dann, seine kleine Höhle zu verlassen, als sie ihm das Futterschälchen direkt vor die Nase stellte.

Trotz der nun trockenen Kleidung zitterte Adrienne noch immer und blickte den schwarzen Kaminrost an. Nie zuvor hatte sie in einem Haus mit Kamin gelebt, aber der Gedanke gefiel ihr. In der Halterung davor klemmte ein Stapel trockenes Holz, daneben stand ein Eimer Anzündhölzer und auf dem Kaminsims lagen eine gefaltete Zeitung und eine Streichholzschachtel.

Warum eigentlich nicht?

Sie hob die Zeitung auf und überprüfte das Datum. Sie war fast drei Monate alt, was hieß, Edith musste sie kurz vor ihrem Tod gekauft haben. Adrienne riss ein paar Seiten heraus, knüllte sie lose zusammen und legte sie auf den rußigen Kaminrost, anschließend legte sie ein paar Anzündhölzer darauf.

Sobald die Zeitung Feuer gefangen hatte, breiteten sich die Flammen schnell bis zu den Zweigen aus, und bald schon legte sie ein paar größere Holzscheite nach. Als das Feuer endlich munter vor sich hin knisterte, hörte sie auf zu zittern und war froh zu sehen, dass die Flammen den Raum besser als die einsame Deckenlampe erhellten.

Sie sah sich im Zimmer um und bewunderte den goldenen Schein, der vom polierten Holz der Lehnstühle und des Regals reflektiert wurde. Das Feuer erzeugte lange Schatten, die über die Wände nach oben wuchsen und an der Decke tanzten, und das Knistern verdrängte das Ächzen der Bäume und das Zwitschern der Vögel draußen vor dem Fenster.

Irgendwo im Haus schlug eine Standuhr. Nachdem sie fünf lange, metallische Schläge gezählt hatte, runzelte sie die Stirn. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie spät es geworden war. Das fehlende Mittagessen machte sich nun körperlich bemerkbar und ihr fiel auf, dass ihr Magen knurrte.

Ursprünglich hatte sie vorgehabt, das verbliebene Geld für Lebensmittel auszugeben, sobald sie in Ashburn House angekommen war, aber die unerwartet abgelegene Lage des Anwesens hatte diese Pläne zunichtegemacht.

Sieht so aus, als würden wir heute Nacht wohl plündern gehen.

Sie war nicht sonderlich davon begeistert, das Haus so kurz vor Sonnenuntergang zu erkunden, aber je länger sie damit wartete, desto dunkler würde es werden, also verließ sie das Wohnzimmer, zog die Tür hinter sich zu und ging in die Küche.

Der Raum sah erschreckend anders aus, sobald keine Sonne mehr durch das Fenster fiel. Trotz der Deckenlampe schienen sich die Schatten in mehreren Schichten um Tisch, Ofen und Arbeitsflächen zu wickeln. Vor dem Tischende blieb sie auf den langen Stuhlspuren im Boden stehen und untersuchte die Oberfläche. Dort im dunklen Holz waren Kratzer zu sehen, genau oberhalb der Stelle, wo vermutlich sonst der Teller gestanden hatte.

Das kann nicht sein …

Adrienne beugte sich vor und sog die Luft ein. Genauso wie im Flur waren auch hier Worte ins glänzende Holz geschnitzt worden – vermutlich mit einem Küchenmesser –, und zwar genau dort am Tischende, wo die Sitzende sie unmöglich hätte übersehen können.

›AM FREITAG‹

›ZÜND DIE KERZE AN‹

Sie biss sich in die Wangeninnenseite und neigte den Kopf zur Seite. Die Schmutzablagerungen in den geschnitzten Buchstaben verrieten ihr, dass sie mindestens ein paar Monate, wenn nicht Jahre alt sein mussten.

Sehr merkwürdig. War Edith in Ordnung? Sie musste schon sehr alt gewesen sein, als sie gestorben war. Vielleicht hatte sie irgendeine Art von Demenz oder Alzheimer, die sie zu seltsamen Handlungen veranlasst hat.

Adrienne wandte sich vom Tisch ab, wurde aber das Bild vor ihrem geistigen Auge nicht los: eine gut 90-jährige, verwirrte Edith, die wie in Trance mit einem Steakmesser in der Hand durch die engen Flure von Ashburn House wandelte und verstörende Botschaften in Tische und Wände ritzte …

Nein, red dir so was nicht ein. Wahrscheinlich war irgendjemand bei ihr. Bestimmt hat wenigstens ein netter Nachbar ein Auge auf sie gehabt.

Als sie die Kühlschranktür öffnete, musste sie würgen. Die Fächer waren noch immer mit Kartons gefüllt, deren Inhalt schon längst verfault war. Sie konnte noch die verschrumpelten Karotten und den seltsam vertrockneten Blumenkohl ausmachen, das restliche Gemüse hatte sich allerdings in einen undefinierbaren braunen Schleim verwandelt. Zwischen einem von Schimmel überwucherten Käsestück und einer Schale dessen, was einst Erdbeeren gewesen sein mussten, stand eine Flasche ranziger Milch. Das einzig Essbare, was sie erkennen konnte, enthielten drei unbeschriftete Marmeladengläser.

Und Marmelade allein ergibt noch lange kein Abendessen.

Mit gerümpfter Nase schlug Adrienne die Kühlschranktür wieder zu, bevor sich der faulige Gestank weiter im Zimmer ausbreiten konnte.

Das Haus steht ja seit fast drei Monaten leer; natürlich ist das Essen schlecht geworden.

Sie suchte nach der Tür zur Vorratskammer, die sie schließlich in der Küchenecke fand. Sie knarrte beim Öffnen, und beim Anblick der dürftigen Auswahl darin wollte sie die Hoffnung schon fast aufgeben. Während der Kühlschrank bis oben hin mit einst frischen Lebensmitteln gefüllt war, war Edith offensichtlich kein Freund von Konserven gewesen.

Auf dem ersten Regalbrett lagerten Mehl, Backpulver, Teebeutel, Zucker und Salz. Auf dem zweiten befand sich eine halb aufgebrauchte Packung Nudeln – ohne Soße – und auf dem dritten standen zwei Ölsardinendosen.

Okay. Könnte schlimmer sein.

Adrienne sog zischend die Luft durch die Zähne ein, nahm eine der Fischdosen und durchsuchte die Schubladen nach Besteck.

Ist zwar kein Festmahl, aber immerhin verhungern wir nicht. Wir müssen morgen nur herausfinden, wie wir in die Stadt kommen.

Sie öffnete die Schublade unter dem Porzellangeschirr und pfiff in Anbetracht des schweren und sichtlich wertvollen Silberbestecks.

Das Besteck muss ein Familienerbstück sein. Sie hat es gut gepflegt; ist nicht mal angelaufen.

Dann fielen ihr die Porzellanteller über dem Besteckkasten ins Auge, aber sie nahm keinen heraus. Es fühlte sich falsch an, etwas so Profanes wie Dosenfisch auf den teuren, mit Rosen bemalten Tellern zu servieren. Also nahm sie eine Gabel aus der Schublade und schloss sie wieder.

Auf der Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank stand ein elektrischer Wasserkocher, dahinter ein altmodischer Pfeifkessel aus Metall. Zuerst griff sie nach dem elektrischen Pendant, aber dann zögerte sie, zuckte mit den Achseln und nahm stattdessen den Metallkessel. Sie vergewisserte sich, dass darin keine Spinnen wohnten – nur Staub, was sie erleichterte –, dann wusch sie ihn aus, füllte ihn zur Hälfte mit Wasser und holte einen der Teebeutel aus der Speisekammer.

Einmal mehr kämpfte Adrienne gegen den inneren Widerstand an, das teure Porzellan aus den Vitrinen zu benutzen, öffnete aber in Ermangelung anderer Trinkgefäße schließlich doch die Glastüren und nahm eine Teetasse heraus. Da sich das Porzellan unglaublich zerbrechlich anfühlte, trug sie es äußerst behutsam mitsamt Kessel, Fisch und Gabel in das Wohnzimmer zurück.

Das Feuer war in ihrer Abwesenheit gewachsen, aber das war nicht die einzige Veränderung: Wolfgangs Futterschüssel war nun leer. Der große getigerte Kater lag auf dem Teppich vor dem Kamin und hatte die Pfoten ordentlich unter sich nebeneinandergelegt. Als Adrienne das Zimmer betrat, wandte er ihr kurz den Kopf zu und blinzelte sie an, bevor er sich wieder den Flammen widmete.

»Ich hätte es wissen sollen«, sagte sie und grinste, dann stellte sie die wertvolle Teetasse auf dem kleinen runden Tisch neben dem Sessel ab. »Hab mir schon Sorgen gemacht, die ganze Reise hierher hätte dich traumatisiert, aber du fühlst dich schon ganz wie zu Hause, hm?«

Bis auf ein Ohrenzucken in ihre Richtung ignorierte er sie komplett.

Über dem Feuer im Kamin verlief eine Metallstange. Neben dem Holzstapel fand Adrienne ein paar dicke, geschwärzte Handschuhe, von denen sie sich einen überstreifte, um den Kessel an die Stange zu hängen, sodass die Flammen an dessen Boden leckten. Anschließend lehnte sie sich in den holzgerahmten Sessel zurück, nahm ihre Dose Ölsardinen und zog den Deckel auf.

Das war einer der surrealsten Momente, die sie bisher erlebt hatte. Hier saß sie also im Sessel einer Fremden – ein Sessel, auf dem besagte Person vermutlich jeden Abend der vergangenen 50 Jahre bis kurz vor Adriennes Ankunft verbracht hatte – und aß billigen Dosenfisch mit einer schweren, verzierten Silbergabel, die ebenso gut hätte aus Buckingham Palace stammen können.

Eine weiche, flauschige Pfote berührte ihr Knie. Als Adrienne aufblickte, begegnete sie Wolfgangs kugelrunden grünen Augen. Seine Gleichgültigkeit war verschwunden und hatte sich nun in eine Mischung aus Vorwurf und Zuneigung verwandelt.

»Ach, komm schon!«, rief sie mit gespielter Entrüstung. »Du hast doch schon gegessen!«

Sein Mäulchen öffnete sich zu einem stummen Maunzen, während sein buschiger Schwanz hin und her zuckte.

»So wirst du doch bloß fett.« Sie nahm ein Stück Fisch aus der Dose. »Nein, tut mir leid, das stimmt nicht. So wirst du bloß noch fetter.«

Er schlang den Happen, den sie ihm zugeworfen hatte, herunter und leckte sich über die Schnauze, während er auf Nachschub wartete. Seufzend lächelte sie ihm zu und teilte auch den restlichen Fisch mit ihm. Sobald sie die Dose geleert hatten und Wolfgang begann, sich das Öl vom Fell zu lecken, pfiff der Kessel.

Sie warf den Teebeutel in die Tasse, zog wieder den Handschuh an und nahm den dampfenden Kessel vom Feuer. Anschließend schenkte sie das Wasser mit übertriebener Vorsicht ein und befürchtete dabei schon fast, die Hitze wäre ausreichend, um die zarte, florale Tasse bersten zu lassen. Nachdem sie es geschafft hatte, den Kessel ohne irgendwelche Unfälle auf dem Kaminsims abzustellen, seufzte sie erleichtert auf.

Eine Minute lang zog sie in Erwägung, die zweite Ölsardinendose auch noch aus der Speisekammer zu holen – schließlich war die Hälfte ihres Abendessens dem riesigen grauen Biest zum Opfer gefallen, das sie nun wieder geflissentlich ignorierte –, aber letztendlich entschied sie sich dagegen. Schließlich wusste sie nicht, wie lange sie in die Stadt brauchen würde oder wie sie überhaupt dorthin gelangte. Es wäre sicher klüger, die Vorräte zu rationieren, bis sie dafür eine Lösung gefunden hatte.

Wie lange hat es vom Stadtzentrum bis hierher gedauert – vielleicht 20 Minuten? Aber nur, wenn man langsam fährt. Also vielleicht ein bis zwei Stunden zu Fuß, und dann noch mal die gleiche Zeit für den Rückweg. Bergauf. Mit Einkaufstüten.

Sie rümpfte die Nase und blies den Dampf vom Tee.

Sieht so aus, als würde ich meinen Neujahrsvorsätzen, sportlicher zu werden, doch noch nachkommen.

Irgendwie musste Edith Ashburn die Läden ja erreicht haben. Vor dem Gebäude waren keine Fahrzeuge geparkt, aber sobald morgen die Sonne aufging, könnte sie das Gebiet hinter dem Haus erkunden.

Falls Edith ein Auto besessen hatte, war es durchaus möglich, dass es nach ihrem Tod an jemand anderen übergeben oder, falls sie nicht die alleinige Eigentümerin war, verkauft worden war. Sollte das der Fall sein, müsste sich Adrienne eine andere Lösung einfallen lassen. Sie könnte sich ein Fahrrad kaufen, aber gute Räder waren teuer und sie hatte keine 20 Dollar mehr im Geldbeutel – und auf dem Konto hatte sie noch weniger. Sobald die ausstehenden Rechnungen ihrer letzten Freelance-Texte beglichen wären, würde sich ihre Lage sicher zum Besseren wenden, aber die Zahlungsfrist der beiden Kunden war nun schon längst abgelaufen und sie antworteten seit über einer Woche nicht auf ihre E-Mails.

Wolfgang hatte die Dose nun ausgeleckt, legte sich auf die Seite und streckte sich, mit dem Bauch zu den Flammen, vor dem Kamin aus. Sie meinte ein leises Schnurren zu hören.

Muss schön sein, eine Katze zu sein. Keine Rechnungen. Keine nervigen Kunden. Kein Grübeln, wie man am nettesten ›Gib mir meine verdammte Kohle‹ sagt, weil man sich nicht leisten kann, den Kunden durch Unhöflichkeit zu verlieren.

Sie lehnte sich in den Sessel zurück und schloss die Augen. Die Wärme des Feuers fühlte sich angenehm auf ihren Beinen an und sie nahm sich einen Moment, um ihre Prioritäten neu zu ordnen. Sie hatte ein Haus. Es war zwar alt, roch etwas seltsam und war weit von der Stadt entfernt, aber sie hatte verdammt noch mal ein eigenes Haus. Solange das WLAN schnell genug war, um ihre Freelance-Texte rechtzeitig abzuschicken, könnte sie hier sehr glücklich werden. Sie nahm an, sie könnte die Stadt ebenfalls lieben lernen, vielleicht sogar ein paar Freundschaften schließen.

»Und falls niemand mit mir befreundet sein will, leg ich mir einfach eine zweite Katze zu«, sagte sie zu Wolfgang, der nun mit den Vorderpfoten tretelte, als würde er irgendetwas Unsichtbares kneten. »Ich hol mir einfach ein ganzes Dutzend Katzen und geb ihnen süße Namen wie Muffin oder Flopsy, und dann mutiere ich zum Klischee der durchgeknallten Katzenoma, die allein auf dem Hügel lebt. Na, wie klingt das?«

Wie erwartet antwortete Wolfgang ihr nicht, aber immerhin wirkte das Biest nun zufrieden. Adrienne lächelte und kaute an ihrem Daumen herum, während sie den letzten Sonnenstrahlen beim Verschwinden zusah. Ohne Miete sollte ihre Arbeit als Freelancerin mehr als ausreichend sein, um sie über Wasser zu halten. Sie musste es nur irgendwie durch die ersten mageren Wochen schaffen, bis die Kundenrechnungen beglichen waren und sie die neuen Aufträge abgearbeitet hatte, dann könnte sie endlich damit anfangen, sich ein Polster anzusparen, um Wolfgang und sich selbst ein bisschen finanzielle Sicherheit zu bieten.

Das plötzliche Murren erschreckte sie. Wolfgang lag nicht mehr auf der Seite, sondern saß nun halb aufrecht; er legte die Ohren an und sträubte seinen ohnehin schon buschigen Schwanz.

»Wolf?« Adrienne stellte die Tasse auf dem Beistelltisch ab und lehnte sich vor. Die Augen des Katers wirkten so rund wie Teller und seine Pupillen waren so stark geweitet, dass fast nichts mehr vom Grün der Iris zu sehen war. Er beobachtete das Fenster, das dem Kamin am nächsten war, und seine Schnurrhaare zuckten, als er leise fauchte.

5

Porträts

Sie verhielt sich ganz still, wagte es nicht einmal zu atmen, während sie angestrengt lauschte. Von links erklang das stetige Knistern des Feuers und die Bodendielen des Obergeschosses ächzten leise im Wind. Draußen herrschte allerdings Totenstille.

Das ließ sie innehalten. Noch vor nicht einmal einer halben Stunde hatten die Vögel draußen ein buchstäbliches Konzert veranstaltet. Selbst wenn sie nun schliefen, hätte sie wenigstens das Zirpen einiger Insekten erwartet.

Wolfgang drehte sich um und verschwand wie ein grauer Blitz im Spalt zwischen Klavier und Bücherregal. Die Haare auf Adriennes Armen stellten sich auf, während sie ihren Kater abtauchen sah. Es sah Wolfgang überhaupt nicht ähnlich, vor einer Bedrohung zu flüchten.

Das ist für ihn eine völlig neue Umgebung. Er wird die ersten paar Tage einfach ein bisschen schreckhafter als sonst sein.

Sie stand auf und machte ein paar Schritte auf das Fenster zu. Draußen herrschte fast völlige Finsternis. Alles, was sie im Glas erkennen konnte, waren ihr eigenes blasses Gesicht und der reflektierende Feuerschein.

Irgendwo tief im Inneren des Hauses klapperten die Rohre und verstummten wieder. Die Holzstreben über ihr ächzten immer lauter im Wind.

Wahrscheinlich ist er vor irgendeinem Schatten erschrocken.

Sie trat nun so nahe an das schmutzige Glas heran, dass sie die Kälte der Scheibe im Gesicht spüren konnte.

Draußen herrschte Totenstille. Sie konnte den Schein des Mondes, der von einem dünnen Wolkenschleier gedämpft wurde, sowie die Silhouetten der Bäume vor dem Himmel ausmachen. Hinter den Wolken leuchteten schwach die Sterne, so als hätte man sie mit Stecknadeln ins Firmament gestochen. Sie ließen ihre Pracht in einer klaren Nacht nur erahnen.

Die lauten Schläge ihres eigenen Herzens wetteiferten mit dem Knistern des Feuers. Sie versuchte, beide Geräusche auszublenden, und horchte stattdessen auf den Ruf eines Vogels, vielleicht einer Eule, oder auf ein paar Grillen – auf irgendeinen Beweis dafür, dass die Welt dort draußen nicht komplett verstummt war. Selbst die Bäume schienen sich nun nicht mehr zu regen, obwohl das Haus im Wind knarrte.

Sie ließ ihre Augen über den Hof wandern und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Der Lichtstrahl, der aus dem Fenster fiel, erleuchtete nichts außer einem länglichen, rechteckigen Grasabschnitt. Sie konnte zwar keine Bewegung ausmachen, aber ihr war überaus bewusst, dass jemand, der genau außerhalb des Lichtscheins stand, für sie völlig unsichtbar wäre. Bei diesem Gedanken wurde ihr unbehaglich.

Hör auf damit. Du steigerst dich nur in sinnlose Angst rein. Wolf ist ein bisschen schreckhaft und draußen ist jetzt alles ruhig – das ist alles. Vielleicht sind die Fenster einfach nur gut isoliert …

Auf einen Schlag, wie auf ein unsichtbares Signal hin, erwachten die Wälder wieder zum Leben. Hunderte von Vögeln fingen an zu kreischen und erhoben sich in einem Sturm aus Flügelflattern von den Ästen in die Lüfte. Die Insekten fingen wieder an, laut zu zirpen. Irgendwo tief im Wald schrie ein Tier – vielleicht ein Fuchs, wie sie annahm. Und hinter ihr jaulte Wolfgang, was eines der schlimmsten Geräusche war, die sie je gehört hatte. Es fing als kehliges Murren an und wurde dann immer lauter, schriller und panischer.

Adrienne hielt sich die Ohren zu und fiel auf die Knie. Irgendetwas Schreckliches geschah hier gerade und obwohl sie die Ursache nicht erkennen konnte, spürte sie, wie es näher kam, wie es sie zu verschlucken und restlos auszulöschen drohte. Ein Erdbeben, ein Tsunami, vielleicht auch das Ende der Welt …

Dann verebbte das Geräusch. Wolfgang ging die Luft aus und sein Jaulen war nur noch ein kehliges Fauchen. Das Gekreisch der Vögel verebbte, als sie außer Hörweite flogen, genauso wie das Zirpen der Insekten. Langsam nahm Adrienne die Hände herunter und öffnete die Augen. Sie zitterte immer noch, aber nichts schien passiert zu sein. Das Haus stand noch; weder Feuer noch Riesenwellen noch Asteroiden hatten ihren Hof verwüstet. Falls gerade der Jüngste Tag angebrochen war, hatte das Haus diesen erstaunlich gut überstanden.

Wolfgang knurrte noch immer in seinem Versteck, aber weniger eindringlich als zuvor, als würde er jetzt nur sein Missfallen kundtun und nicht mehr auf eine unmittelbare Gefahr reagieren. Für eine Weile, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam, kniete Adrienne weiter auf dem Boden und wartete ab, aber das Phänomen wiederholte sich nicht. Schließlich stand sie langsam auf, als würde eine einzige falsche Bewegung alles wieder zunichtemachen, und blickte aus dem Fenster.

Die Welt dort draußen war zwar wieder ruhig, aber nicht mehr völlig regungslos. Nun konnte sie das Knarren der Bäume im Wind und die vereinzelte Grille hören, die ein paar Meter vom Fenster entfernt zirpte.

»Okay.« Adrienne wischte sich die schwitzigen Handflächen an der Jeans ab und versuchte, die ängstliche Beklemmung loszuwerden, indem sie tief durchatmete. »Okay, das war abgefahren.«

Wolfgang schlich sich aus seinem Versteck. Er blickte finster drein, so als wäre Adrienne der Grund seines Unmuts, als wollte er sie für ihr Fehlverhalten bestrafen, aber letztendlich war er eben doch nur ein verwöhnter Kater, der nicht ohne Wärme und Komfort auskam, und wandte sich wieder dem Kaminfeuer zu. Adrienne wartete, bis er sich hingesetzt hatte – zur Strafe wandte er sich von ihr ab –, dann kehrte sie zu ihrem eigenen Sitzplatz vor dem Kamin zurück. Verstört nahm sie Platz und hob ihre Teetasse mit zitternden Händen hoch. Die Flüssigkeit war nur noch lauwarm, aber sie trank sie trotzdem. Sie brauchte jetzt das Koffein.

Was in aller Welt war das? Ich würde ja sagen, ein Erdbeben, aber hier gab es keine Erschütterung. Was könnte sowohl die Vögel dort draußen als auch Wolfgang hier drinnen in Angst und Schrecken versetzen, ohne von mir bemerkt zu werden? Hat uns irgendein Land den Krieg erklärt und eine EMP-Bombe abgeworfen? Kann eine EMP-Bombe so was überhaupt bewirken?

Beim Gedanken daran wurde ihr kalt und plötzlich wünschte sie sich eine freie Sicht auf die Umgebung des Hauses. Falls der kleinen Stadt, Gott bewahre, irgendetwas zugestoßen war, dann würde sie davon nichts mitbekommen, weil die Bäume ihr Grundstück komplett abschotteten. Falls sie aber von einem der oberen Fenster aus den Wald überblicken könnte …

»Warte hier, Kumpel«, sagte sie zu dem Kater, der sie wieder geflissentlich ignorierte. Sie schnappte sich die Jacke aus dem Reisekoffer, legte sie um ihre Schultern und verließ das Wohnzimmer.

Sie hatte das Flurlicht angelassen, aber die Glühbirne war so schmutzig, dass sie wie im Zwielicht auf die Treppe am Ende des Hauses zulief. Am Fuß der Treppe stand ein kleiner runder Beistelltisch mit Spitzendeckchen. Darauf waren eine altertümliche Petroleumlampe, eine Streichholzschachtel und ein kleines Metallbehältnis arrangiert.

Es ist schon ein bisschen merkwürdig, dass hier einfach so eine Laterne herumsteht. Vielleicht fällt in Ashburn House öfter mal der Strom aus.

Adrienne ging an dem Tisch vorbei und stieg die Stufen hinauf. Das Holz war alt und ächzte unter ihrem Gewicht, der Lärm setzte sich über das enge Treppenhaus bis in das obere Stockwerk fort.