Die Folcroft-Geister - Darcy Coates - E-Book

Die Folcroft-Geister E-Book

Darcy Coates

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Beschreibung

Nachdem ihre Mutter nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus liegt, müssen Tara und Kyle bei ihren Großeltern wohnen, die sie noch nie zuvor gesehen haben. May und Peter Folcroft scheinen zunächst warmherzig und ihr weitläufiges Haus am Waldrand wirkt idyllisch. Doch die Kinder werden das Gefühl nicht los, dass etwas sie beobachtet ...  Als ein heftiger Sturm ihren Kontakt zur Außenwelt abschneidet und sie in dem verwunschenen Herrenhaus festsitzen, müssen die Geschwister einen Weg finden, sich vor ihren zunehmend unberechenbaren Großeltern zu schützen ... und vor den Geistern der Familie Folcroft, die das Haus heimsuchen. Neben dem Roman enthält dieser Band drei weitere Kurzgeschichten, die das ungewöhnliche Talent der jungen Autorin veranschaulichen. New York Journal of Books: »Die Autorin setzt eher auf Atmosphäre und Suggestion und bietet ein Feuerwerk der Spannung und des Unheimlichen.« Ihr liebt Geistergeschichten? Dann lest die Romane von Darcy Coates. Ihre Fans lieben es, wenn beim Lesen die kalten Finger der Angst die Wirbelsäule hinaufkrabbeln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem australischen Englisch von Claudia Rapp

Impressum

Die australische Originalausgabe The Folcroft Ghosts

erschien 2017 im Verlag Black Owl Books.

Copyright © 2017 by Darcy Coates

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Titelbild: didiwahyudi.trend / 99design

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-186-8

www.Festa-Verlag.de

INHALT

Die Folcroft-Geister

Uhrwerk

Zweites Untergeschoss

Krypta

DIE FOLCROFT-GEISTER

1

Vorübergehend

Ein paar Regentropfen trafen auf die Windschutzscheibe und verflogen innerhalb von Sekunden. Es war ein sonnenklarer, warmer Tag gewesen, als Tara und Kyle vor dem Plymouth Hospital in das Auto von Mrs. Jennings stiegen, aber je weiter sie fuhren, desto schlechter wurde das Wetter. Die Küstenbäume wichen allmählich dichterem Gebirgswuchs, und aus den breiten, asphaltierten Straßen wurden kurvige Feldwege.

»Es wird wahrscheinlich sowieso nur für ein paar Tage sein.« Mrs. Jennings nahm die nächste Kurve etwas zu schnell, und Tara stemmte sich gegen die Tür. »Gerade lang genug für einen spaßigen Kurzbesuch.«

»Ja.« Tara starrte auf die knorrigen Kiefern, die am Fenster vorbeizogen. Ihr Bruder hatte sich aus dem Gespräch zurückgezogen, indem er seine Aufmerksamkeit auf das Buch in seinem Schoß gerichtet hielt. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Tara, sie könnte im Auto lesen, ohne dass ihr schlecht würde.

»Ich bin sicher, sie werden sehr nett zu euch sein. Sie schienen sich sehr auf euch zu freuen, als sie anriefen.« Mrs. Jennings trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und warf einen Blick auf Tara im Rückspiegel. Ihre Stimme hatte einen hellen, energischen Klang, aber ein leichtes Zittern darin strafte die sorglosen Worte Lügen.

Tara versuchte, das Lächeln der älteren Frau zu erwidern. Sie wusste, dass Mrs. Jennings ihr Bestes tat. Sie hatte Tara und Kyle bereits in der vorangegangenen Nacht mit ihren eigenen Kindern in ihrem zu kleinen Haus übernachten lassen und verbrachte nun fast einen ganzen Tag damit, sie zu ihren Großeltern zu fahren.

Mrs. Jennings räusperte sich. »Und wenn eure Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wird, bringe ich jede Menge vorgekochte Mahlzeiten herüber, damit sie sich nicht um das Essen kümmern muss.«

Wenn, nicht falls. Alle waren so optimistisch. Aber Tara konnte nicht an ihre Mutter denken, ohne das geisterhaft graue, schlaffe Gesicht zu sehen, mit dem Inkubatorschlauch im Mund, der ihre Lunge mit künstlichen Atemzügen füllte, und dem Körper, der nicht reagierte, wenn die Ärzte an ihm herumstocherten.

Mrs. Jennings befeuchtete ihre Lippen. »Du weißt, ich wünschte, ihr könntet bei uns bleiben. Aber wir haben diesen Urlaub schon vor Monaten gebucht …« Schnell fügte sie hinzu: »Und das Haus wird sowieso ausgeräuchert, also selbst wenn wir stornieren würden …«

»Ich weiß. Machen Sie sich keine Sorgen.« Tara versuchte erneut zu lächeln, aber die Muskeln in ihrem Gesicht gehorchten ihr nicht. »Sie waren wirklich sehr großzügig.«

Mrs. Jennings wurde ganz offensichtlich von Schuldgefühlen geplagt. Tara konnte nicht verstehen, warum; ihre Familien waren befreundet, aber nicht sehr eng. Sie sahen sich vielleicht zweimal im Monat, wenn es hoch kam. Aber Mrs. Jennings war die einzige Person gewesen, die sie besucht hatte, als ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert worden war, und mehr wegen der Nähe als aus irgendeinem anderen Grund hatte sie die Rolle der Ersatzmutter übernommen.

Und jetzt werden wir an unsere Großeltern weitergereicht.

Es war das erste Mal, dass sie May und Peter Folcroft treffen würden. Ihre Mutter hatte nur ein einziges Mal von ihnen gesprochen, als Tara nachgefragt hatte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie weit weg wohnten und keinen Kontakt hielten. Tara war überrascht, dass sie sich freiwillig bereit erklärt hatten, sie und ihren Bruder aufzunehmen.

Tara warf einen Blick auf Kyle. Er war klein für einen Elfjährigen, und sein Haar war zu lang, ein Schnitt wirklich überfällig. Sein Blick war starr auf das Buch gerichtet, aber er hatte seit einigen Minuten keine Seite mehr umgeblättert.

»Ich glaube …« Mrs. Jennings kniff die Augen zusammen, als sie auf einen hölzernen Briefkasten starrte, der an einer schmalen Einfahrt stand. »Ich glaube, das könnte es sein. Ja, sehr gut, Nummer 48. Ist das nicht schön?«

Riesige, wild aussehende Bäume säumten die Einfahrt. Im Gegensatz zu den gepflegten Gärten und säuberlich aufgereihten Palmen an der Küste durften die Pflanzen auf dem Berggrundstück wachsen, wo und wie sie wollten. Ahorne, Eichen, Kiefern und Amberbäume wuchsen verstreut auf dem Gelände, manchmal so dicht, dass sie sich gegenseitig erdrückten. In den Lücken zwischen den Stämmen rankten sich Schlingpflanzen und wucherten Sträucher, und die Wildblumen der Spätsaison sorgten für bunte Farbtupfer.

Mrs. Jennings’ Wagen mit Vierradantrieb, der bisher nichts als Vorstadtstraßen gesehen hatte, schlingerte über die Unebenheiten und Schlaglöcher der kurvenreichen Auffahrt. Kyle blickte von seinem Buch auf, um die Gegend mit einem kurzen Blick abzutasten, dann hob er den Roman höher, um die Sicht auszusperren.

Tara verstand das. Für ihn war eine Fantasiewelt leichter zu ertragen als ihre neue Realität.

Die Einfahrt schien sich ins Unendliche zu erstrecken. Als sie schließlich in eine Lichtung mündete, stieß Mrs. Jennings ein anerkennendes »Uuh« aus. »Das ist ja so hübsch. Ich bin sicher, ihr Kinder werdet hier viel Spaß haben. Seht nur, es gibt sogar eine Schaukel.«

Tara drehte sich, um das Holzbrett zu entdecken, das an einer großen Eiche an der Vorderseite des Hauses aufgehängt war. Es bewegte sich im Wind und sah alt genug aus, um noch aus der Kindheit ihrer Mutter zu stammen. Auf der anderen Seite erhob sich ein eckiger Betonbau aus dem Boden, teilweise verdeckt von einer Ansammlung von Bäumen. Tara glaubte den Umriss einer Tür zu erkennen.

Das zweistöckige Haus aus Stein und Holz stand ein wenig abseits des umliegenden Waldes. Der Berg, der sich hinter dem Haus erhob, verdeckte einen Großteil der späten Nachmittagssonne, und das spitz zulaufende Dach war mit Blättern übersät. Tara bemühte sich, die beiden Gestalten genauer zu erkennen, die vor dem Haus standen, aber die Schatten verbargen ihre Gesichter.

Mrs. Jennings lenkte den Wagen in die runde Einfahrt und hielt vor dem Haus. Ihre Stimme klang fast schon unnatürlich eifrig, als sie sagte: »Da sind wir, Kinder. Sehen wir zu, dass wir euch abladen und auspacken.«

Kyle tat so, als hätte er nichts gehört, und Tara trat ihm gegen das Bein, als Mrs. Jennings nicht hinsah. »Komm schon«, flüsterte sie. »Sei höflich.« Er runzelte die Stirn, klappte aber sein Buch zu und glitt aus dem Wagen. Mrs. Jennings öffnete den Kofferraum und holte ihre Koffer heraus, sodass Tara und Kyle ihren Großeltern allein gegenüberstanden.

»Hallo.« Die Frau, May, trat zuerst vor.

Tara war überrascht: Als sie hörte, dass ihre Großeltern auf einem ländlichen Anwesen lebten, hatte sie sich wettergegerbte, kräftige Menschen vorgestellt. Aber May sah eher aus wie eine Großmutter in einer Hallmark-Weihnachtskartenwerbung. Ihr langes seidig-graues Haar war zu einem Dutt gebunden, mit einem blauen Band, das zu ihrem karierten Kleid und der weißen Schürze passte. Ihr Gesicht war sehr faltig, aber die Falten schienen alle in die richtige Richtung zu fallen und bündelten sich um ihre strahlenden Augen, wenn sie lächelte.

»Du musst Tara sein«, sagte sie und nickte dem Jungen zu, der sich hinter Tara versteckte. »Und du Kyle. Ich freue mich so sehr, euch endlich kennenzulernen.«

»Hi.« Tara schluckte, unsicher, was sie tun oder sagen sollte, um einen guten Eindruck zu machen. »Danke, dass ihr uns aufnehmt.«

»Oh, du armes Ding.« May zog Tara in eine Umarmung. Sie roch nach Zimt, und die ungefilterte Zuneigung, die sich so sehr von dem distanzierten Mitleid unterschied, das die Krankenschwestern und sogar Mrs. Jennings ihnen entgegengebracht hatten, sorgte dafür, dass Taras Kehle wie zugeschnürt war. May ließ sie gerade so weit los, dass sie Kyle in ihre Umarmung einschließen konnte, dann klopfte sie beiden sacht auf den Rücken. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Aber ihr könnt wirklich gern so lange bei Peter und mir bleiben, wie es nötig ist. Kommt herein. Ich habe einen Kuchen gebacken; ich hoffe, ihr mögt Äpfel.«

Ihr Mann, Peter, reichte erst Tara und dann Kyle die Hand. Er war größer und schmächtiger als seine Frau, aber ordentlich gekleidet in Jeans und ein Hemd mit vielen Knöpfen. Sein Lächeln war zurückhaltender und sein Händedruck kurz, aber es war nichts von der Abneigung oder Irritation zu spüren, die Tara befürchtet hatte. Er begrüßte sie beide mit einem schroffen »Willkommen« und nahm Mrs. Jennings die Koffer ab.

»Kommt herein«, drängte May erneut und führte sie sanft ins Haus. »Ihr seid wahrscheinlich müde von der Fahrt. Ich habe eure Zimmer hergerichtet, aber ich hoffe, dass ihr euch noch mit uns hinsetzen und ein wenig plaudern möchtet. Ich habe mich schon so lange darauf gefreut, euch kennenzulernen.«

Mrs. Jennings folgte ihnen bis zur Tür und hob dann mit Schwung die Schultern, um ihre Strickjacke zurechtzurücken. »Soll ich noch ein bisschen bleiben, Kinder?«

May strahlte sie an. »Sie sind herzlich eingeladen, mit uns Tee zu trinken und etwas zu essen, aber es ist schon spät. Ich würde mir Sorgen machen, wenn Sie im Dunkeln nach Hause fahren müssten.«

»Oh, ja, richtig.« Mrs. Jennings runzelte leicht die Stirn, während sie in den Himmel hinaufblickte. »Ich nehme an … Kommt ihr denn nun allein zurecht, Kinder?«

Kyle starrte bloß auf den Holzboden, also sprach Tara für sie beide. »Ja. Vielen Dank. Für alles.«

»Aber natürlich doch, natürlich. Ich konnte euch Kinder doch nicht alleinlassen.« Mrs. Jennings näherte sich der Tür. »Ihr habt ja meine Nummer. Ruft mich an, wenn ihr irgendetwas braucht. Ich werde auch ein Auge auf euer Haus haben und auf dem Weg zur Schule daran vorbeifahren, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.«

»Danke.«

Mrs. Jennings lächelte noch einmal kurz und mit zusammengepressten Lippen, winkte und eilte dann zurück zum Auto. Tara hatte den Eindruck, dass sie froh war, heimfahren zu können: Ihre Pflicht war getan, und sie konnte nach Hause und sich wieder ohne Schuldgefühle auf ihre eigene Familie konzentrieren.

Als der Motor aufheulte, drehte sich Tara wieder zu ihren Großeltern und dem Gebäude um, das auf absehbare Zeit ihr Zuhause sein würde.

2

Zimmer für zwei

»Was trinkt ihr denn gern?« May legte die Hände ineinander und lächelte Tara und Kyle an. »Ihr seid vielleicht ein bisschen zu jung für Kaffee, aber ich habe heiße Schokolade, Tee, Milchshakes … Ich habe sogar so eine Limonade gekauft, die Teenager anscheinend mögen.«

»Zuerst das Gepäck«, sagte Peter. »Du wirst später noch genug Zeit haben, sie mit Futter zu versorgen, May.«

Tara machte einen Schritt nach vorn, um ihren Koffer zu holen, aber Peter hatte bereits beide hochgehoben. »Ich mach das schon«, brummte er und nickte in Richtung der Treppe am Ende des Flurs.

Ein leichtes Zupfen an ihrer Jacke ließ Tara über ihre Schulter blicken. Kyle hatte den Saum ergriffen und hielt ihn fest, während er ihr folgte. Das hatte er seit Jahren nicht mehr getan.

Die schmale Treppe ächzte, aber Peter stieg sie mit einer Geschwindigkeit hinauf, die sein Alter Lügen strafte. Oben angekommen, bog er in den Flur ein und blieb vor einer Tür stehen. »Das ist dein Zimmer«, sagte er zu Tara. »Es gehörte früher deiner Mutter.«

Die Scharniere knarrten, als sich die Tür öffnete. Das Zimmer war nicht groß, aber es war sauber und einladend. Eine bunte Steppdecke belebte den sonst so schlichten Raum, und vom Fenster aus konnte man den Wald hinter dem Haus sehen. Peter stellte ihren Koffer vor das Fußende ihres Bettes und führte sie dann zurück in den Flur. Sie gingen an der nächsten Tür vorbei und blieben vor dem letzten Zimmer des Flurs stehen.

»Deins«, sagte Peter und schielte über Taras Schulter zu Kyle.

Kyle nickte schweigend, schaute aber nicht hinein, als Peter den Koffer am Fußende des Bettes abstellte. Peters graue Augen verengten sich leicht, als er Kyle musterte. »Was ist los mit dir? Du bist doch nicht etwa stumm, oder?«

Tara stellte innerlich sofort die Stacheln auf. »Nein, er ist nur schüchtern bei Leuten, die er noch nicht kennt.«

»Hmm.« Peter schloss die Tür. Er betrachtete sie beide einen Moment lang, zuckte dann mit den Schultern und wandte sich wieder der Treppe zu. »Ich schätze, es ist besser, nichts zu sagen, als zu riskieren, zu viel zu sagen. Komm, wir sehen zu, dass du etwas von dem Kuchen bekommst.«

Der Ton des Mannes war nicht feindselig gewesen, und Tara entspannte sich ein wenig. Als Peter vor ihnen die Treppe hinunterging, flüsterte sie Kyle zu: »Versuch doch bitte, freundlich zu sein. Sie scheinen nett zu sein.« Er antwortete nicht, sondern hielt sich weiter an ihrer Jacke fest.

Während Tara die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg, fuhr sie mit der Hand an der Holzwand entlang. Das Haus fühlte sich alt an, als ob die Jahre es schwerer und schwerer gemacht hätten. Jede Bodendiele ächzte, und die Glasscheiben in den Fenstern hatten sich verbogen. Aber es war sauber, wenn auch ein wenig unordentlich und vollgestopft.

May entledigte sich gerade ihrer Schürze, als sie die Küche betraten. Ein Kuchen mit Glasur stand in der Mitte des weiß gedeckten Esstisches, umgeben von Tellern und Tassen, einer Blumenvase und zwei in braunes Papier gewickelten Paketen mit einer Schnur darum.

»Ich wusste nicht, welches Getränk ich machen sollte«, sagte May, während sie sich beeilte, zwei Stühle herauszuziehen. »Also habe ich drei Sorten Tee gebrüht. Es gibt auch gewürzten Fruchtsaft und Limonade, oder ich kann euch etwas anderes machen.«

Tara schlüpfte auf einen der Sitze. »Mir ist jede Art von Tee recht, aber Kyle möchte vielleicht die Limonade.«

»Oh, gut. Ich habe den Filialleiter gebeten, mir die beliebteste Sorte zu geben. Wenn ihr sie nicht mögt, könnt ihr ihm die Schuld geben.«

Zum ersten Mal seit die Polizisten an ihre Tür geklopft hatten, lachte Tara. May huschte wie ein Kolibri umher, schenkte Getränke ein und schnitt Kuchen an, während Peter sich am Kopfende des Tisches zurücklehnte und in seine Kaffeetasse pustete.

»Wir sind wirklich froh, dass ihr uns besuchen konntet.« May ließ sich schließlich auf ihrem Platz gegenüber den Geschwistern nieder, ihre langen Finger zeichneten unsichtbare Muster auf dem Tischtuch nach. »Trotz der Umstände.«

»Es ist echt schade, dass wir nicht schon früher kommen konnten«, sagte Tara. Sie probierte den Kuchen und nahm dann gleich einen weiteren Löffel voll. »Ihr habt ein wirklich schönes Haus.«

May strahlte. »Danke schön. Peters Eltern haben es vor fast … na ja, ich schätze, vor 80 Jahren gebaut. Es ist noch gut erhalten.«

»Es gibt einen See hinter dem Grundstück«, sagte Peter. »Ich nehme euch mal zum Angeln mit.«

Kyle blickte von seinem Teller auf. Er hatte ihre Mutter schon seit Jahren angebettelt, ihn zum Angeln mitzunehmen, aber ihre Mutter, Chris, hatte immer gesagt, es sei zu teuer oder zu weit weg.

»Ich kann nicht glauben, wie schnell die Zeit vergeht.« Mays Augen glänzten feucht, als sie zwischen ihnen hin- und hersah. »Du bist vor ein paar Monaten 15 geworden, nicht wahr, Tara? Und du bist fast zwölf, Kyle? Wir hätten euch eigentlich schon längst besuchen sollen – ein größerer Teil eures Lebens sein sollen –, aber eure Mutter … nun ja …«

May rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, ein Hauch von Nervosität trübte ihr Lächeln, als sie die in Papier eingewickelten Pakete nahm.

»Wir können jetzt eine Familie sein. Hier, wir haben euch Geschenke gekauft.«

Tara ließ ihren Löffel fallen, um das Paket entgegenzunehmen, zu gleichen Teilen überrascht und gerührt. Sie löste das Band und wickelte das Papier ab.

»Ich hoffe, sie gefällt dir«, sagte May.

»Oh, ja! Danke schön!« In dem Päckchen befand sich eine kleine Polaroidkamera. Tara grinste, als sie sie umdrehte. »Die ist wirklich cool.«

Sie blickte zu Kyle hinüber und sah, dass er einen Fantasyroman in der Hand hielt. May hatte seine Schwäche entdeckt, und sein Gesicht hellte sich auf, als er den Klappentext las. »Danke.« Es war das erste Mal an diesem Tag, dass er gesprochen hatte.

May biss sich auf die Lippe, um ein Grinsen zu verbergen, als sie Peter anschaute, und er schenkte ihr ein träges Lächeln als Antwort. »May hat sie für euch ausgesucht.«

»Das freut mich so. Es war schwer zu erraten, was ihr mögen würdet«, sagte May und stand auf, um die Teller abzuräumen. »Ich bin sicher, ihr habt richtig Hunger. Ich fange an, das Abendessen vorzubereiten. Kommt erst einmal an und seht euch ruhig um. Ich rufe euch dann wieder herunter, wenn wir essen können.«

Kyle lief hinter Tara her, als sie die Treppe hinaufstieg. Er hielt zwei Bücher dicht gegen seine Brust gedrückt – den Roman, den er für die Autofahrt mitgebracht hatte, und Mays Geschenk. Tara ging zu seinem Zimmer am Ende des Flurs und stellte sich dort ans Fenster, um hinaus über den Rasen zu schauen. »Geht es dir gut, kommst du klar?«

»Ja.« Er legte die Bücher auf seinen Nachttisch, richtete sie parallel zur Kante ordentlich aus und setzte sich dann auf sein Bett. »Du hast recht. Sie scheinen nett zu sein. Aber ich wünschte immer noch, wir hätten zu Hause bleiben können.«

Tara drehte sich vom Fenster weg und wandte sich wieder dem Zimmer zu. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie anders die Dinge wohl verlaufen wären, wenn der einen Krankenschwester nicht aufgefallen wäre, dass sie keinen Vater hatten, und wenn Mrs. Jennings nicht das Krankenhaus aufgesucht hätte. Sie wusste nicht einmal, was normalerweise in Situationen geschah, in denen Minderjährige ohne einen Vormund zurückgelassen wurden. Kyle bestand darauf, dass sie in Pflegefamilien untergebracht werden würden, aber sie war sich nicht sicher, wie viel davon tatsächliches Wissen war und wie viel nur Fiktion aus seinen Büchern.

»Coole Geschenke«, sagte Kyle und wies mit dem Kinn auf den Roman. »Den habe ich noch nicht gelesen. Und du kannst Fotos für deinen furchtbaren Drama-Blog machen.«

Sie verdrehte die Augen. »Es ist kein Drama-Blog. Es ist ein Blog, der Drama enthält. Ein sehr, sehr großer Unterschied.«

»Es ist eine Echokammer.« Er ahmte sowohl die Stimme als auch die Worte ihrer Mutter nach. »Und eine Ausrede für asoziales Verhalten.«

Sie lachte, aber die darauffolgende Stille fühlte sich hoffnungslos leer an.

»Wird Mum wieder gesund?«, fragte Kyle.

Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft im Krankenhaus, dass sie überhaupt die Gelegenheit hatten, unter vier Augen zu sprechen. Unsicher, wie sie antworten sollte, schaute Tara wieder aus dem Fenster. »Die Ärzte sagen, sie wird es schaffen.«

»Aber selbst wenn sie aus dem Koma wieder aufwacht, könnte es Hirnschäden gegeben haben, und sie sprachen auch von Gedächtnisverlust und körperlichen Beeinträchtigungen …«

»Hör auf.« Taras Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Kyle suchte im Grunde nur nach Bestätigung oder Beschwichtigung von der einzigen Person, der er noch vertraute, und Tara wünschte, sie könnte sie ihm geben. Aber sie hatte die Krankenhausberichte nicht verstanden, die sie gelesen hatte, und die Ärzte hatten immer nur allgemeine, schwammige, unverbindliche Aussagen gemacht. Kyle, der Bücherwurm, wusste wahrscheinlich mehr über den Zustand ihrer Mutter als sie selbst.

»Alles wird gut werden«, sagte sie schließlich. Das war das Beste, was sie anbieten konnte, auch wenn sie wusste, dass es für sie beide schrecklich unzureichend war. »Denk daran, was Mrs. Jennings gesagt hat. Sich Sorgen zu machen wird Mum nicht helfen. Wir müssen nur ein paar Tage selbst auf uns aufpassen, während sie sich ausruht.«

Kyle stand auf und öffnete seinen Koffer. Er begann, die vier identischen Hemden mit roboterhafter Präzision aufzuhängen, und Tara wusste, dass sie ihn verschreckt und zurück in sein Schneckenhaus getrieben hatte.

»Ich meine es ernst. Wir kommen schon klar.«

»Du solltest auspacken. Wir wollen es nicht zu spät machen.«

Tara seufzte. »Okay. Du weißt, wo du mich findest.« Sie wuschelte ihm im Vorbeigehen durch die Haare und trat dann zurück in den Flur.

Selbst mit vier Personen darin fühlte sich das Haus seltsam leer an. Sie zählte die Türen im Flur hinauf und hinunter. Das Haus konnte leicht zehn Personen beherbergen; im Vergleich zu ihrer alten Wohnung war das Haus der Folcrofts praktisch ein Herrenhaus. Aber es fühlte sich an, als stünde die Luft hier drinnen, und obwohl Geräusche aus der Küche unten heraufhallten, schien die obere Etage zu still zu sein. Tara ging mit schnellen Schritten zu ihrem Zimmer und stieß den angehaltenen Atem aus, als sie die Schwelle überschritt. Sie schloss die Tür und wandte sich wieder dem Raum zu, der nun vorerst ihr gehören sollte.

Der Koffer lag auf der Seite. Tara runzelte die Stirn, legte ihre neue Kamera auf den Schminktisch und hob den Koffer auf. Sie hatte gesehen, wie Peter ihn hingestellt hatte, da war sie sich sicher.

Sie stellte ihn wieder aufrecht hin, legte den Kopf schief und wartete, ob er wieder umkippen würde. Das tat er nicht. Sie stieß ihn mit dem Fuß an – erst in die eine, dann in die andere Richtung. Er wackelte nicht einmal.

Seltsam. Sie schaute in Richtung der geschlossenen Tür. War jemand hier oben, während ich mit Kyle geredet habe? Ich habe niemanden gehört, aber ich habe auch nicht hingehört …

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie riss den Koffer vom Boden hoch, legte ihn auf das Bett und öffnete ihn, um ihn auszupacken. Ihre Garderobe war ein wenig abwechslungsreicher als die ihres Bruders, aber immer noch sehr einfach und peinlich veraltet. Vor dem Unfall hatte sie ein Taschengeld bekommen und einen Teilzeitjob in einem Fast-Food-Laden gehabt, aber sie sparte ihren Verdienst, um sich irgendwann einen neuen Computer zu kaufen. Kyle hatte gute Gründe, sie wegen ihres Blogs aufzuziehen, aber das war Tara egal. Sie hatte sich dadurch ein riesiges Netzwerk von Freunden aufgebaut. Im Internet interessierte es niemanden, wie sie sprach, ob sie in diese oder jene Clique passte oder ob ihre Jeans fünf Zentimeter über ihren Knöcheln endeten. Sie war stolz darauf, zu den Außenseitern, den Unangepassten zu gehören.

Tara war mit dem Auspacken schnell fertig und schob den Koffer unter ihr Bett. Sie ließ sich auf die gesteppte Bettdecke zurückfallen und starrte an die Holzdecke. Peter hatte gesagt, das Zimmer habe früher ihrer Mutter gehört. Wie oft muss sie auf dieselben Muster in den Latten und Brettern geschaut haben? Dann kam ihr der Gedanke, dass der Anblick dieser Decke für die nächsten drei Jahre ihre Routine werden könnte, bis sie alt genug war auszuziehen. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie rollte sich vom Bett, ging zurück in den Flur und wandte sich dann der Treppe zu. Gesellschaft – selbst unbehagliche Gesellschaft, weil man nicht miteinander umzugehen wusste –, alles war besser, als allein zu sein.

3

Spiele

May und Peter sprachen leise miteinander, während sie das Geschirr spülten, schraken aber zusammen, als Tara hereinkam, was ihr den Eindruck vermittelte, sie hätten über sie gesprochen.

Tara wippte auf den Füßen vor und zurück und rieb sich den Unterarm. »Kann ich bei irgendetwas helfen?«

»Du bist so ein liebes Mädchen.« May trocknete sich die Hände an ihrem Handtuch ab und warf es sich über die Schulter. »Wir sind fast fertig mit dem Kochen des Abendessens. Willst du den Tisch decken? Das Besteck ist in dieser Schublade hier.«

Tara öffnete die angegebene Schublade und fischte vier Messer und Gabeln heraus. »Entschuldigung, das ist eine seltsame Frage, aber ist einer von euch vorhin in mein Zimmer gegangen?«

May neigte den Kopf zur Seite, während sie das Gemüse in einem Sieb abspülte. »Nein, Liebes. Warum fragst du?«

»Oh. Es ist nur – mein Koffer war umgekippt. Ich versuche nur herauszufinden, wie das passiert ist.«

»Tut mir leid, ja, das war mein Fehler.« May kicherte und stellte die leeren Töpfe in die Spüle. »Ich wollte nachsehen, ob das Fenster geschlossen ist. Ich muss ihn umgestoßen haben. Bitte entschuldige.«

Tara runzelte die Stirn. Warum hat sie gesagt, dass sie nicht im Zimmer gewesen ist, als ich das erste Mal gefragt habe?

»Du wirst feststellen, dass dies ein altes Haus ist«, fuhr May fort. »Es knarrt an allen Ecken und Enden. Es zieht durch die Ritzen. Es könnte ein paar Tage dauern, bis du dich an die Macken gewöhnt hast. Aber es ist solide gebaut, und es steckt viel Liebe darin. Ich hoffe, du und Kyle werdet hier glücklich sein.«

»Danke.« Da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, blieb sie am Tisch stehen, während May einen kleinen Braten in die Mitte des Tisches beförderte. Peter verschwand die Treppe hinauf, um Kyle hinzuzurufen, und May nickte in Richtung eines leeren Stuhls.

»Setz dich und nimm dir nur tüchtig. Ihr könnt beide ein paar gute Portionen vertragen. Ihr müsst mir auch eure Lieblingsspeisen verraten. Ich bin nicht so gut mit den modernen, ausländischen Gerichten, aber ich kann alles machen, solange ich ein Rezept habe.«

Tara erhaschte einen Blick auf einen Stapel sehr alter Kochbücher in einem Regal über dem Kühlschrank. May schien die Klassiker den Experimenten vorzuziehen.

Kyle kam in die Küche und nahm an Taras Seite Platz, und einen Moment lang war es still im Raum, bis auf das Klappern von Besteck, als sie sich bedienten.

Dann sagte May: »Es ist gut, ein paar Leute mehr im Haus zu haben. Es waren so lange Zeit nur Peter und ich. Das Haus lässt uns wie Zwerge aussehen.«

»Es ist groß«, stimmte Tara zu. »Wir haben die letzte Nacht bei Mrs. Jennings verbracht und mussten uns ein Zimmer mit ihren Zwillingen teilen. Es ist ungewohnt, getrennte Zimmer zu haben.«

»Als dieses Haus gebaut wurde, war es fast zum Bersten voll. Peters Eltern, seine Tante und sein Onkel, vier Geschwister und dann schließlich auch ich. Die Familie war für uns Folcrofts schon immer sehr wichtig.«

Tara fragte sich, ob May wusste, dass ihre Tochter ihren Nachnamen auf dem Amt geändert hatte. Aus den sehr kurzen Gesprächen, die sie mit Chris über ihre Großeltern geführt hatte, hatte Tara den Eindruck gewonnen, dass May und Peter nicht daran interessiert waren, ihre Enkelkinder zu sehen. Nachdem sie das Paar nun getroffen hatte, sah sie jedoch, dass das ganz und gar nicht stimmte. Das bedeutete, dass es irgendeinen Zwischenfall gegeben haben musste, der eine solche Abkehr und Feindseligkeit hervorgerufen hatte. Sie wollte unbedingt wissen, was passiert war, war sich aber nicht sicher, ob es das beste Gesprächsthema für ihren ersten gemeinsamen Abend hier war.

»Wann habt ihr Mum das letzte Mal gesehen?« Sie versuchte, ihre Stimme locker klingen zu lassen.

May und Peter wechselten einen Blick.

»Vor sehr langer Zeit, meine Liebe. Zu lange.« May zögerte, dann legte sie ihr Besteck zurück auf den Teller. »Sie hat eine etwas rebellische Phase durchgemacht. Sie ist viel gereist. Wir hatten Schwierigkeiten, sie zu erreichen. Das war natürlich vor der Zeit der Handys. Als sie schließlich doch einmal sesshaft geworden war, nahmen wir Kontakt auf, aber sie war oft beschäftigt, die Fahrt war lang, und wir schienen nie die Zeit zu finden, uns zu treffen.«

Tara nickte, aber ein unbehagliches Gefühl hatte sich in ihr breitgemacht. Mays Eifer, die langjährige Distanz zu erklären, hinterließ bei ihr den Eindruck, dass mehr hinter der Geschichte steckte.

»Könnte ich nach dem Essen im Krankenhaus anrufen?« Tara konzentrierte ihren Blick auf den Teller vor sich. »Nur um zu hören, wie es ihr geht.«

»Natürlich, Liebes. Ich werde dir zeigen, wo das Haustelefon ist.«

»Danke, ich kann mein Handy benutzen.«

»Oh.« May biss sich auf die Lippe. »Ich fürchte, Handys haben an diesem Ort und in diesem alten Bau keinen Empfang. Warum gebt ihr sie nicht mir? Ich werde sie sicher aufbewahren, damit sie nicht beschädigt werden.«

Tara zögerte, aber May hielt ihr bereits die Hand hin, also holte sie ihr Handy aus der Tasche und reichte es ihr.

»Hast du auch ein Handy?«, fragte May Kyle. Sein Zögern genügte ihr als Antwort, um erneut die Hand auszustrecken. »Ich gebe gut darauf acht.«

May nahm beide Telefone und legte sie in einen Weidenkorb auf einem der höheren Regale in der Küche. Sie seufzte, als wäre sie nun zufrieden, und setzte sich wieder an den Tisch. »Ja, ich fürchte, die Technik spielt in diesem Haus oft nicht so richtig mit. Deshalb haben wir weder einen Fernseher noch einen Computer.«

»Oh.« Taras Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte sich darauf verlassen, dass ihr Blog sie mit der Außenwelt in Verbindung halten würde. Wieder schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht mehr als nur ein paar Tage in diesem Haus verbringen mussten, und sie biss sich auf die Lippe.

May beugte sich vor, ein nervöses Lächeln umspielte ihre Lippen. »Stimmt etwas nicht?«

»Sie kann ohne das Internet nicht überleben«, sagte Kyle und überraschte Tara damit. Er schenkte ihr ein kurzes, hämisches Lächeln, worauf sie mit einem finsteren Blick antwortete.

Für eine Sekunde verwandelte sich Mays fröhlicher Gesichtsausdruck in tiefe Sorge, dann hellte sich ihre Miene gleich wieder auf. »Oh – es gibt einen Computer im Ort. In der Bücherei. Ich kann dich morgen dorthin bringen.«

»Danke.« Tara schämte sich fast, wie erleichtert sie über dieses kleine Zugeständnis war.

Sie aß ihren Teller leer, und während May und Peter mit dem Abwasch begannen, fischte sie die hastig hingekritzelte Krankenhausnummer aus ihrer Tasche und ging zum Telefon im Wohnzimmer.

Das Telefongespräch war kurz, und die meiste Zeit verbrachte sie damit, dass sie weitergeleitet wurde und in der Warteschleife hing. Chris’ Zustand hatte sich nicht verändert, aber die Krankenschwester versicherte ihr, dass sie sich gut um sie kümmerte.

Tara legte auf und drehte sich um; Kyle wartete im Türrahmen des Wohnzimmers auf sie. Er musste ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn er stellte keine Fragen. Stattdessen nickte er in Richtung Küche. »May und Peter wollen ein Brettspiel spielen.«

»Na klar.« Tara versuchte, fröhlicher zu klingen, als sie sich fühlte, und folgte ihrem Bruder dorthin, wo der kleine Tisch abgeräumt und ein altes Spiel, das Tara nicht kannte, aufgebaut worden war.

»Wie geht es eurer Mutter?«, fragte May.

»Keine Veränderung.«

Sie machte ein murmelndes, beruhigendes Geräusch und lenkte Tara zu einem Stuhl. »Lass uns versuchen, dich für eine Weile abzulenken. Das ist eines meiner Lieblingsspiele – ich bin sicher, es wird dir auch gefallen.«

Das Spiel war einfach, und Tara fiel es leicht, sich auf den Moment einzulassen. Kyle taute auf und wurde gesprächiger, da seine angeborene Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, ihm einen Vorteil verschaffte. Tara hatte den Eindruck, dass beide Großeltern absichtlich verloren, aber sie sahen glücklich aus, und so ließ sie es ihnen durchgehen. Als Kyle das zweite Spiel mit großem Vorsprung gewonnen hatte, war es schon fast neun Uhr abends.

»Es ist Schlafenszeit«, verkündete May, stand auf und strich ihren Rock glatt. »Wir werden morgen einen anstrengenden Tag haben, also schlaft ein bisschen. Wer will eine Wärmflasche?«

Kyle warf einen gequälten Blick auf die Uhr. »Kann ich nicht noch ein bisschen länger aufbleiben?«

»Junge Burschen brauchen viel Schlaf. Na los, hoch mit dir.«

Tara widersprach nicht. Im Gegensatz zu Kyle, der immer munterer zu werden schien, je später es wurde, hatte der Tag sie erschöpft. Ausnahmsweise war sie dankbar für eine frühe Schlafenszeit.

May drückte beiden einen Kuss auf die Stirn und winkte ihnen zu, als sie die Treppe hinaufstiegen. Tara betrat ihr Zimmer, um ihre Zahnbürste zu holen, und traf dann Kyle im Badezimmer wieder.

»Sie sind so nett«, sagte er und drückte zu viel Zahnpasta aus der Tube.

Die Worte klangen fast wie eine Beschwerde.

Tara lachte. »Ist das etwas Schlechtes?«

»Nein, ich meine bloß, dass ich eher erwartet habe, irgendwo auf einem Dachboden untergebracht und ignoriert zu werden. Das hätte mir nichts ausgemacht. Ich habe genug Bücher. Aber sie verbringen so viel Zeit mit uns, wollen uns zum Angeln mitnehmen und mit uns Spiele spielen – es ist, als wollten sie unsere Familie sein.«

»Sie sind unsere Familie.«

»Du weißt, was ich meine.«

Das tat sie. »Es ist nicht so, dass sie Mum ersetzen wollen. Wenn überhaupt, versuchen sie wahrscheinlich, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Vielleicht denken sie, dass dies eine Chance auf eine Versöhnung ist.«

»Das ist es, was mich daran stört. Sie sagen, sie wünschten, Mum hätte sich nicht so sehr von ihnen entfremdet. Warum haben sie sie dann nicht im Krankenhaus besucht?«

Taras Hand erstarrte beim Putzen. Daran hatte sie nicht gedacht.

Kyle spürte, dass er ein starkes Argument vorgebracht hatte, und fuhr fort: »Sie waren so erpicht darauf, dass wir hierherkommen und bleiben, warum sind sie dann nicht runter nach Plymouth gefahren, um uns abzuholen und gleichzeitig Mum zu besuchen? Sie ist doch ihre Tochter.«

Tara schüttelte den Kopf. »Okay, ich verstehe, was du meinst, aber mach nicht gleich eine große Verschwörungstheorie daraus. Sie sind alt. Wahrscheinlich wollten sie nicht quer durchs Land fahren. Viele alte Leute reisen nicht gern.«

»Sie ist ihre Tochter.« Kyle spuckte einen Mundvoll Zahnpasta aus.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Art Streit gab. Vielleicht eine Menge alter Verletzungen, die noch nicht verheilt sind. Aber sie sind froh, dass wir hier sind, sie kümmern sich um uns, und sie haben sich richtig Mühe gegeben, damit wir uns wie zu Hause fühlen. Es könnte viel schlimmer sein.«

»Ich wünschte immer noch, wir hätten zu Hause bleiben können«, brummte Kyle.

Eine Tür weiter hinten auf dem Flur knarrte. Taras Herz setzte einen Schlag aus. Sie hoffte, dass May und Peter nicht zu viel von dem Gespräch mitbekommen hatten; sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie undankbar waren.

Sie spülte sich schnell den Mund aus, stellte ihre Zahnbürste in einen leeren Becher neben dem Waschbecken und ging zurück in den Flur. Sie wollte etwas sagen, um ihre Dankbarkeit auszudrücken, aber alles, was ihr einfiel, war: »Gute Nacht, Grandma May. Gute Nacht, Grandpa Peter.«

Zwei Stimmen antworteten wie eine einzige. »Gute Nacht.« Dann sagte May: »Schlaf gut, meine Liebe!«

Tara zog die Augenbrauen hoch. Die Stimmen waren aus dem Erdgeschoss gekommen, wo sie ihre Großeltern zuletzt gesehen hatte. Vielleicht sind sie ja doch nicht nach oben gekommen? May sagte, es sei ein altes Haus, in dem es überall zieht. Die Türen bewegen sich wahrscheinlich von selbst.

Trotzdem fühlte sie sich etwas unbehaglich, als sie in ihr Schlafzimmer zurückkehrte. Sie schloss die Tür fest und vergewisserte sich, dass der Riegel eingerastet war.

4

Das Haus erwacht zur Nacht

Tara hielt sich an einem zusätzlichen Kissen fest und starrte an die Decke. Die kleine Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte an, dass es schon nach elf war, aber sie konnte nicht schlafen, egal wie müde sie sich fühlte.

Im Wald schrien irgendwelche Tiere. Ihr Kreischen schnitt wie ein Messer durch die kühle Nachtluft. Es waren Wildkatzen, dachte Tara, oder vielleicht auch Vögel, deren Laute sie noch nie gehört hatte. Alle paar Minuten wurde der Lärm durch den klagenden Schrei einer Eule unterbrochen.

Die Nacht war klar, und der Halbmond tauchte ihr Zimmer in ein helles Licht. Ihr Fenster hatte Vorhänge, aber sie wollte sie nicht schließen. Als sie ein Kind gewesen war, hatte ihre Mutter ihr einmal eine Geschichte über einen Mann vorgelesen, der in Winternächten auf Fensterbänken saß und durch die Lücken zwischen den Vorhängen spähte, und seitdem war sie immer darauf bedacht gewesen, den Blick nach draußen frei zu halten.

Sie drehte sich zum Fenster und sah, wie ein Schwarm von Vögeln oder Fledermäusen aus den Baumkronen schoss. Die schwarzen, flatternden Gestalten kreisten einen Moment lang, dann tauchte eine nach der anderen wieder in den dunklen Wald ab.

Eine Tür knarrte beim Öffnen. Tara versuchte zu erraten, woher das Geräusch kam, aber das Haus war zu verwirrend. Sie lauschte, als sich leise, sachte Schritte den Flur entlangbewegten und vor ihrer Tür stehen blieben.

»Tara?« Kyle klopfte leise. »Bist du wach?«

»Ja.« Sie rollte sich aus dem Bett, zitterte in der kalten Luft und öffnete die Tür, um ihn hereinzulassen. Sein Gesicht, verkniffen und blass, war trotz der Kälte verschwitzt. Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Kannst du nicht schlafen?«

»Nein. Ich höre ständig Dinge. Kann ich bei dir bleiben?«

»Klar, komm rein.«

Kyle ging zum Fenster und schlang zitternd die Arme um seinen mit Flanell bekleideten Oberkörper. Er hatte erst vor einem Jahr aufgehört, ein Nachtlicht zu benutzen, und er schien immer noch ungewöhnlich anfällig für Albträume zu sein. Tara dachte einen Moment lang nach und sagte dann: »Wollen wir eine Höhle bauen?«

Seine Augen leuchteten auf. »Können wir?«

»Solange wir schön still bleiben, sicher.«

Tara begutachtete schnell ihre Möbel. Es war nicht viel, aber sie konnte etwas daraus machen. Sie schob die dünne Matratze vom Bettgestell und legte sie flach auf den Boden, mit dem Nachttisch auf der einen Seite und einem Stuhl auf der anderen, dann drapierte sie eine Bettdecke über das Arrangement, um eine Höhle zu schaffen. Kyle kroch hinein, während Tara ihre Nachttischlampe einschaltete, um ihnen Licht zu machen.

Ein Tier kreischte im Wald, und Kyle erschauerte, als er eine Decke um sich zog.

»Es ist nur eine Katze.« Tara setzte sich neben ihren Bruder und zog die Knie bis unter ihr Kinn an. »Wenn sie dir Angst machen, stell dir vor, es wären flauschige Kätzchen, die den Mond anschreien. So ist es nicht ganz so gruselig.«

Sein blasses Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das aber schnell wieder verging. »Es ist nicht nur das. Hast du die Schritte gehört? Jemand ist im Haus herumgelaufen.«

»Könnte Peter gewesen sein. Ich habe nicht gehört, dass er oder May ins Bett gegangen ist. Vielleicht haben sie noch Hofarbeit, die sie heute Abend erledigen müssen.«

Er gab ein unbestimmtes Geräusch von sich. Nicht weit vom Fenster entfernt huschte etwas mit knirschenden Geräuschen durch den Wald. Tara zerzauste Kyles Haare, um ihn abzulenken. »Hast du mit deinem neuen Buch angefangen?«

»Ja.« Endlich schenkte er ihr ein echtes Lächeln. »Es ist wirklich gut. Es geht um drei verschiedene Clans, die sich um die Vorherrschaft in einer Hafenstadt bekriegen …«

Tara hörte ihm zu, als er die Handlung beschrieb. Sie war immer wieder erstaunt, wie schnell er Bücher verschlingen konnte; er schien sie mehr zu inhalieren als zu lesen. Das machte zumindest Geburtstage und Weihnachten leicht – seine Liste der gewünschten Titel war immer mindestens einen Meter lang.

Es dauerte fast 40 Minuten, aber schließlich schlief Kyle ein, zusammengerollt wie ein Baby. Tara vergewisserte sich, dass er genügend Decken hatte, um ihn warm zu halten, dann streckte sie sich aus und versuchte, selbst etwas Ruhe zu finden.

Füße bewegten sich durch die Blätter unter dem Fenster. Tara drehte den Kopf in diese Richtung, aber ihr Zimmer lag im ersten Stock, sodass sie nichts sehen konnte. Die Schritte gingen vorbei und kehrten einen Moment später aus der entgegengesetzten Richtung zurück.

Sie müssen eine Menge Arbeit gehabt haben, die sie aufholen mussten. Ich habe einen Gemüsegarten gesehen. Ich frage mich, ob sie auch Tiere halten. Ich wollte schon immer ein paar Hühner haben.

Die Schritte bewegten sich ein drittes Mal unter dem Fenster vorbei, und Tara wurde zunehmend unruhig. Es hörte sich nicht nach jemandem an, der mit einer Aufgabe beschäftigt war. Es klang wie jemand, der sich verlaufen hatte. Das war jedoch unmöglich: Hier gab es keinen Ort, an dem man sich verlaufen konnte.

Sie glitt aus ihrer Höhle, achtete dabei darauf, Kyle nicht zu wecken, und schlich zum Fenster. Winzige Reifkristalle hatten begonnen, sich auf den Scheiben auszubreiten. Taras Atem machte Wölkchen, als sie sich näher an das kalte Glas lehnte und auf den Rasen darunter blickte.

Eine hochgewachsene Gestalt schritt über den kargen Boden. Es war ein Mann, aber während Peter gerade, aufrecht und sicher stand, hatte die Gestalt dort unten gekrümmte Schultern und bewegte sich mit mühsamen, schlurfenden Schritten. Tara runzelte die Stirn und lehnte sich so nahe an das Fenster, dass ihre Nasenspitze das Glas berührte.

Der Mann drehte sich um, und das Mondlicht beschien seine Augen und ließ sie aufblitzen. Sein Blick traf den von Tara, und die Angst überschwemmte sie wie ein Schwall Wasser. Sie wich hastig vom Fenster zurück und krabbelte rückwärts durch das Zimmer, bis sie wieder in der Höhle war. Kyle regte sich, wachte aber nicht auf. Tara blieb wie erstarrt unter der Bettdecke liegen, ihre Augen auf den kleinen Teil des Fensters gerichtet, den sie sehen konnte, während ihr Atem hektisch und schwer ging.

Das war nicht Peter. Das kann er nicht gewesen sein.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sollte sie nach ihren Großeltern rufen? Sie konnte dem Fremden doch nicht selbst gegenübertreten, oder?

Die Schritte gingen unter dem Fenster vorbei, wurden leiser, bis sie fast unhörbar waren, und kehrten dann erneut zurück.

Tara holte tief Luft, um sich zusammenzureißen, und kroch aus der Höhle. Sie hielt ihren Körper niedrig und huschte gebeugt voran, damit sie durch das Fenster nicht zu sehen war, während sie zur Tür eilte. Der Knauf knirschte, als er sich drehte, und Tara zuckte zusammen. Sie schob sich in den Flur.

»May?« Sie sprach leise – es war kaum mehr als ein Flüstern –, aber May musste es gehört haben. Weiter hinten aus dem Flur kamen scharrende Geräusche, dann öffnete sich die Tür gegenüber von Kyles Zimmer.