Der Fluch von Azincourt Buch 3 - Peter Urban - E-Book

Der Fluch von Azincourt Buch 3 E-Book

Peter Urban

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Als der französische König den Großmeister des Templerordens Jacques de Molay verhaften ließ, verschwand die Übersetzung eines uralten Manuskriptes aus dem Orient auf unerklärliche Art und Weise. Einhundert Jahre lang suchte eine geheimer Bund weiser Männer, die keine Religionen und keine Grenzen mehr anerkannten vergeblich nach ihr. Jetzt taucht sie unvermutet in den Händen des ehrwürdigen Notarius der Pariser Universität auf und Gerüchte gehen durch das vom Krieg gegen England erschütterte Land, dass Nicolas Flamel mit Hilfe seines Grimoarium den Stein der Weisen geschaffen und Blei in Gold verwandelt hat. Zwischen dem Orden von Santiago und dem skrupellosen, gefährlichen bretonischen Baron Jean de Craon kommt es zu einem erbitterten Wettlauf um den Besitz der Handschrift, die in sich ein größeres und gefährlicheres Geheimnis birgt, als die Umwandlung von Blei in Gold. Als ein leichtgläubiger, junger Alchimist in den Wirren des Falls von Paris die Übersetzung aus dem Grab von Nicolas Flamel stehlen kann und auf die Festung von Jean de Craon bringt, löst er damit unbedacht eine blutige Fehde zwischen zwei Männern aus, die beide nicht nur in der Lage sind ein Schwert zu führen, sondern auch die höheren Mächte beschwören. Gilles de Laval, Baron de Rais ist der reichste Mann der Bretagne, ein Vasall des Königs von Frankreich, reich, schön, hochgebildet und abgrundtief böse. Sévran de Carnac ist der Sohn des geheimnisvollen Herzogs von Cornouailles, einem winzigen Fürstentum am äußersten Zipfel der französischen Landmasse. Er wurde durch eine uralte Magie unter den Feuern der Mittsommernacht wieder zurück ins Leben geholt, nachdem er im Augenblick seiner Geburt nicht zu atmen vermochte. Er wurde in den uralten, von der Kirche verfemten Lehren der Druiden erzogen und besitzt die seltene Gabe des "Zweiten Gesichts".

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Seitenzahl: 413

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Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Buch 3

Melius Mori

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 Das Geheimnis von Brocéliande

Kapitel 2 A Ma Vie!

Kapitel 3 Das Salz von Guérande

Kapitel 4 Der Steinring

Kapitel 5 Gwenn Ha Du

Impressum neobooks

Kapitel 1 Das Geheimnis von Brocéliande

I

Jean de Craon fühlte, wie ein leichtes Frösteln ihm tückisch den Rücken hinaufkroch, als er vom Fenster des Turmes aus die Reiterschar erblickte.

Die Männer trugen alle Fackeln. Ihre Banner flatterten stolz im Wind und sie ritten kräftige, große Kriegspferde. Er schätzte sie auf etwa zwei Dutzend und sie schienen bis an die Zähne bewaffnet. Langsam wandte er sich von dem nächtlichen Schauspiel ab. Zuerst nahm er einen Mantel, dann verlies er seine Räume. Während er noch die Treppe hinunter stieg hörte er bereits eine laute, gebieterische Stimme, die im Namen von Herzog Yann de Montforzh Einlass forderte. Die Wachen von Champtocé ließen die Zugbrücke hinunter, der schwere Querbalken wurde aus seinen Verankerungen gehoben und das Tor der Festung öffnete sich. Hufgetrampel hallte zuerst auf der harten, gestampften Erde wieder, bevor die Eisen der Pferde über die Steine der flachen Stufen der Grêdeklapperten, die hinauf zum Palas führte.

„Sorg dafür, dass die Thouars und die Gouvernante in ihren Gemächern eingesperrt bleiben“, zischte der alte Mann einem seiner Wachleute zu. Der Kriegsknecht verbeugte sich kurz, bevor er seinen Posten verließ und zu den Frauengemächern hinaufeilte. Einen Augenblick lang glaubte de Craon zwischen seinen Schulterblättern eine eisige Hand zu spüren, als die großen, eisernen Feuerbecken der Eingangshalle das Wappen auf der Brust des Anführers der Reiterschar beleuchteten. Er war ein hochgewachsener Mann Mitte Zwanzig, mit einem schmalen, scharfen Falkengesicht und einer langen Narbe über der rechten Wange. Jean erinnerte sich nicht daran, ihn jemals zuvor gesehen zu haben, doch er schien genau zu wissen, wem er gegenüberstand.

„ Mesire de Craon“, grüßte er den Seigneur von Champtocé zackig, „Yann de Kerpert, Offizier im persönlichen Dienst des Herzogs von Breizh.“ Dann streckte er dem alten Mann eine Pergamentrolle entgegen, die das Wappen von Yann de Montforzh trug. Jean nahm die Botschaft. Unwillkürlich schlug sein Herz rascher. Er konnte sich denken, worum es ging. Die Kriegsknechte von Montforzh, die mit de Kerpert geritten waren sahen aus, wie Männer die ihr Handwerk verstanden. Der Offizier schien kampferprobt und ungewöhnlich selbstbewusst: Herzog Yann musste irgendwie von der überraschenden Eheschließung zwischen seinem Enkel und der Waisen Catherine de Thouars erfahren haben....und dabei waren ihm auch die Details der vorhergehenden brutalen Entführung des Mädchens durch Gilles und Yves de Kerma’dhec zugetragen worden. Es hatte ein Dutzend Tote gegeben; drei Überlebende, ein Onkel und zwei Cousins der Kleinen, verrotteten langsam in den Kerkern von Champtocé... Und nun forderte der bretonische Lehnsherr Rechenschaft für den räuberischen Akt und die erzwungene Heirat zwischen zwei engen Blutsverwandten.

„ Ich habe Order Eure Antwort sofort mitzunehmen, Baron. Die Situation verlangt von uns allen rasches Handeln“, informierte de Kerpert, de Craon hochmütig. Seine Augen fixierten scharf den Herren von Champtocé. Dann drehte er sich um und gab seinen Sarjenten Zeichen ihm zu folgen. Einige Pferde, von harter Hand zurückgerissen, bäumten sich wiehernd auf. Der Offizier rief seinen Männern einen scharfen Befehl zu. Als alles sich wieder beruhigt hatte, wandte er sich noch einmal um und sagte gelassen und sich ganz seiner Stellung im persönlichen Haushalt des Herzogs der Bretagne bewusst. „Zwei Stunden Zeit reichen, damit unsere Tiere wieder zu Atem kommen, Mesire. Ihr könnt Eure Antwort für meinen Herrn also in aller Ruhe verfassen.“

De Craon erbrach das Siegel. Bereits nachdem er die ersten Sätze überflogen hatte, entspannte er sich sichtlich. Anstatt von ihm Rechenschaft einzufordern, verlangte Montforzh lediglich die Bereitstellung von Bewaffneten.

Ein Treffen zwischen Charles de Ponthieu und dem Herzog von Burgund hatte blutig geendet: Ein Mann aus dem Gefolge des Dauphin hatte sich plötzlich und wie ein Besessener auf JeanSans Peurgestürzt und ihn mit seinem Dolch niedergestochen. Unglücklicherweise war der Mörder aber im Anschluss an seine frevlerische Tat sofort von Tanguy de Châtel, dem Favoriten des Dauphins ins Jenseits befördert worden. Damit hatte keiner der neutralen Vermittler dieses Treffens die Möglichkeit bekommen, herauszufinden, wer den Auftrag für den heimtückischen Anschlag erteilt hatte. Die Namen des Herzogs von Cornouailles und Yolandes d’Aragón fielen im Zusammenhang mit dem missglückten Treffen. Offensichtlich waren sie die neutralen Vermittler zwischen Burgund und dem Dauphin Charles gewesen und darüber entsetzt, dass der von ihnen ausgehandelte Gottesfriede so verräterisch gebrochen worden war. Cornouailles und Anjou forderten nicht nur Rechenschaft, sondern auch Genugtuung für ihre verletzte Ehre.

Yann unterstrich in seinem Schreiben allerdings, dass trotz des raschen Todes des Mörders irgendwelche Beweise in seine Hände gelangt waren. Diese belegten, dass Charles de Ponthieu in das Komplott gegen seinen Intimfeind von Anfang an eingeweiht worden war. Er hätte der Zusammenkunft in Monterau nur mit dem Ziel zugestimmt, endlichJean Sans Peurzu beseitigen: Die Situation entlang der bretonischen Grenze zu Frankreich spitzte sich zu. Darum überlegte Yann ernsthaft, ob es nicht sinnvoll war, bis zu einem gewissen Grad seine Neutralität aufzugeben und Partei zu ergreifen. Gegen den jungen Thronanwärter aus dem Hause Valois.

De Craon las weiter und schluckte. Diese Botschaft enthielt indirekt mehrere Beweise dafür, dass der Herzog der Bretagne Verrat gegen das angestammte französische Königshaus im Sinn hatte und eine enge, aber streng geheime Verbindung zu Phillipe de Bourgogne, dem Sohn des ermordetenJean Sans Peurhaben musste. Natürlich erkannte man dies nur, wenn man intelligent genug war, zwischen den Zeilen seiner Botschaft zu lesen... und ein paar Schlussfolgerungen zu ziehen. Montforzh und Cornouailles waren Busenfreunde. Der ketzerische Herzog war ein alter Verbündeter der Herren von Anjou. Man munkelte, dass es gar sein Werk gewesen war, König Louis II von Sizilien und Neapel noch kurz vor dessen Tod davon zu überzeugen, die Hand seiner jüngsten Tochter Yolande an Herzog Yann zu verschachern…für dessen ältesten Sohn Francois, den Thronerben der Bretagne.

Anstatt sich einfach damit zu begnügen, den Tod seines Vaters in ein paar blutigen Gemetzeln mit den Anhängern von Armagnac und Valois zu rächen, war Phillipe, der neue Herzog von Burgund, angewidert durch die Falschheit des Dauphin und seiner Berater, so schnell ein Pferd ihn tragen konnte zu König Henry Lancaster von England geeilt.

Es wurde gemunkelt, dass der Sohn dem Vater seinerzeit, unterstützt durch Nicolas Rolin, dem bewährten Kanzler von Burgund, von jeglicher Annäherung mit dem Dauphin abgeraten hatte. In Phillips Augen barg die englische Karte bessere Friedensaussichten für Frankreich, als ein unbequemes, halbherziges militärisches Bündnis mit dem schwachen und wankelmütigen Erben des wahnsinnigen Valois-Königs Charles VI.

Und nicht nur Bourgogne hatte sich nach der Katastrophe von Monterau im November am Hof des jungen englischen Königs Henry V. in Arras eingefunden: Isabeau de Bavière, die Königin von Frankreich, die ihren schwachen Sohn Charles de Ponthieu genauso leidenschaftlich hasste, wie ihren wahnsinnigen Gemahl Charles VI., war offensichtlich ganz ohne Zwang in den Norden gereist. Das Gerücht über einen Geheimvertrag zerfraß bereits, wie ein bösartiges Geschwür das von Krieg und Bürgerkrieg erschütterte Frankreich. Im Januar war dann Henry Lancaster selbst nach Troyes geritten, wo Isabeau ihren Hof im Exil versammelt hatte. Um ihre eigenen finsteren Pläne voranzutreiben war die Wittelsbacherin ganz offensichtlich dazu bereit gewesen, ihre eigene Tochter Catherine wie ein Rind auf dem Viehmarkt an den Engländer zu verschachern. Während Lancaster scheinbar dem Charme und der Schönheit der jungen Prinzessin sofort erlegen war, unterstützte Phillipe de Bourgogne diese Verbindung zwischen dem französischen und dem regierenden englischen Königshaus mit allen Mitteln, weil sie bedeutete, dass der Dauphin Charles in seiner Position als offizieller Thronfolger von Frankreich entscheidend geschwächt wurde.

Der Hass der Burgunder auf die Valois reichte so weit, dass sie nicht davor zurückschreckten, Lancaster die Doppelkrone auf einem Tablett anzubieten. Diese undurchsichtige Situation verlangte, dass Montforzh sein Land gegenüber Frankreich genauso vollständig abschottete, wie er dies bereits seit dem Desaster von Azincourt mit den Grenzen zwischen der Bretagne und der von den Engländern beherrschten Normandie tat.

Der alte Mann verzog den schmalen Mund zu einem hinterhältigen Grinsen: Die Situation hatte ihren Reiz. Einerseits war Henry Lancaster dem Haus Montforzh ganz und gar nicht gewogen, weil Yann im Krieg stur seine Neutralität aufrechterhielt und hierbei vergaß, dass einst ein englischer König seinem Vater Söldner ausgeliehen hatte, um in der Schlacht von Auray seine Herzogs-Krone zurückzuerobern. Andererseits betrachteten die Valois die unabhängigen und eigensinnigen Bretonen und ihren ebenso eigensinnigen Herrscher voller Misstrauen, denn Montforzh hielt sich aus allem heraus und schien nur davon besessen, für sein eigenes Land Reichtum und Wohlstand zu schaffen, während um ihn herum die Welt in Krieg und Blut versank.

De Craon würde Yann de Montforzh natürlich gehorchen, denn er hatte ihm für die bretonischen Besitzungen der Familie Laval-Craon-de Monmorency den Lehenseid geschworen: Der Herzog wollte Bewaffnete für seinen Grenzen? Er sollte sie bekommen. Dank der schier unerschöpflichen Geldmittel, die insbesondere seit der Verbindung zwischen Gilles und dem Thouars-Mädchen zur Verfügung standen, war es ein Leichtes vierhundert oder fünfhundert Männer auszurüsten, um Yanns Aufmerksamkeit von Champtocé abzulenken.

Noch in der Hochzeitsnacht hatte de Craon einen Eilboten mit einem Schreiben und reichen Geschenken nach Rom geschickt. Während seine großzügige Bereitstellung von Waffenleuten Montforzh gewogen stimmte, würde in der Zwischenzeit der päpstliche Dispens für die Ehe zwischen Gilles und Catherine eintreffen. Mit einer offiziellen Genehmigung des Vatikans hatte selbst der Herzog keine Handhabe mehr und vielleicht war die Kleine ja sowieso schon schwanger. Vor ein paar Tagen, als er sie zufällig auf dem Weg zur Kapelle bemerkte, war sie ihm sehr verändert vorgekommen. Ihr Leib, der im Augenblick der Entführung und anschließenden Vermählung so mager gewirkt hatte, war plump geworden. Obwohl ihr Gesicht gesund ausgesehen hatte, hatte um Augen und Mund des Mädchens jener eigentümlich überschattete Zug gelegen, wie man ihn bei Weibern in anderen Umständen oft gewahrte.

Der alte Mann eilte mit dem herzoglichen Schreiben in der Hand hinauf in seine Gemächer. Zuerst wollte er Montforzh ruhig stellen und in Sicherheit wiegen, dann galt es eine Reise vorzubereiten. Er musste sich nun ganz energisch um die Zukunft und die Karriere von Gilles kümmern. De Craon konnte sich durchaus vorstellen, dass diese Zutraulichkeit, die zwischen Henry Lancaster, Phillipe de Bourgogne und Isabeau de Bavière in Arras entstanden war und ihre Fortsetzung in dem Geplänkel von Troyes fand andere Folgen haben würde, als nur den Verlust der Jungfernschaft einer französischen Königstochter.

Henry Lancaster wollte die französische Krone um jeden Preis. Nur eine einzige Person stand noch zwischen ihm und der Erfüllung seiner Träume......Charles de Ponthieu, der Dauphin selbst. Doch dem jungen Mann fehlte eine ganz entscheidende Karte in seinem Spiel um Macht und Herrschaft; eine Möglichkeit die normannische Bastion von Henry Lancaster so zu bedrohen, dass die Aufmerksamkeit des Engländers endlich von der Hauptstadt Paris und der Krönungsstadt Reims abgelenkt würden.

Als Jean sich an seinen Arbeitstisch setzte und die Feder in sein Tintenfass tauchte, lag ein heimtückischer, berechnender Zug um den schmalen Mund des alten Mannes. Nur wer es wagte jetzt hoch zu spielen, der würde am Ende auf der siegreichen Seite stehen und dabei alles gewinnen...und vielleicht konnte er dem Montforzh ja dabei noch gleichzeitig einen bösen Streich spielen, ohne ertappt zu werden.

II

Claire spürte, wie seine Waden sich schmerzhaft verkrampften. Trotzdem streckte er sich so hoch er konnte. Die Finger seiner Rechten schlossen sich um den eisernen Gitterstab. Er stöhnte leise auf, als auch seine Linke endlich einen zweiten Gitterstab greifen konnte. Das Handgelenk, das der junge Laval ihm vor Wochen gebrochen hatte war schlecht zusammengewachsen und schmerzte. Mühsam zog Saint Germain seinen mageren, ausgemergelten Leib hoch, bis seine Augen endlich durch den schmalen Spalt des Verlieses hinaus in den großen Innenhof der Festung sehen konnten. Alles was er erkannte waren Pferdebeine.

Er hätte viel dafür gegeben, die Aufmerksamkeit eines der Reiter auf sich zu lenken und ihm eine verzweifelte Botschaft zuzuflüstern. De Craon und Laval waren eiskalte Mörder, sie versuchten nicht nur Dämonen zu beschwören und paktierten mit dem Bösen, sie schlachteten auch unschuldige Kinder und brachten der Finsternis Blutopfer dar. Was er in den Monaten, als er noch Gast auf Champtocé gewesen war geahnt hatte, wusste er heute bestimmt. Seit er ihr Gefangener war, war er ihnen schutzlos ausgeliefert. Während sie früher ihr unseliges Treiben sorgfältig vor ihm verborgen gehalten hatten, ergötzten sie sich nun an seinem Grauen.

Claire wollte es hinausschreien. Die ganze Welt musste erfahren, was auf Champtocé geschah. Irgendjemand musste den Mut finden dem Treiben der beiden Teufelsanbeter ein Ende zu setzen. Der Alchimist nahm seine ganze Kraft zusammen, stemmte seine Füße in den unebenen Mauerstein und hievte sich hoch bis zu dem elenden, kleinen Loch. Da waren Männer. Sie trugen Rüstungen und waren für den Krieg ausgestattet. Schwerter, Lanzen, Schilde. Undeutlich erkannte er das Wappen, das auf der Surcotte des Nächststehenden eingestickt war im Fackellicht: Weißer Grund und schwarze Hermeline.....die Reiter waren eindeutig Männer des bretonischen Herzogs selbst. Claire schöpfte Mut. Er holte tief Luft, um laut zu schreien.

,In der Tat, mein Freund. Wir haben hohen Besuch auf Champtocé. ‘ Gilles schmunzelte, als er de Saint Germain, wie eine Spinne in der Mauer hängen sah. Das Schauspiel, das der Ritter aus Anjou bot war pathetisch. Er war lautlos durch eine geheime Tür in den Kerker geschlichen, weil er sich fast hatte denken können, dass ihr wertvoller Gefangener versuchen würde, die Aufmerksamkeit der unerwünschten Gäste auf sich zu ziehen. Der Alchimist seufzte leise und lies sich zurück auf den Boden des Gewölbes fallen, das ihm gleichzeitig als Labor und als Gefängnis diente. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung. Nun, in diesem Augenblick in dem ihm klar wurde, dass seine Hoffnung mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen durch Lavals plötzliches Auftauchen zerstört worden war, fühlte er grenzenlose Erschöpfung und Müdigkeit. Er hatte seit Wochen schon kein wirkliches Tageslicht mehr gesehen und diese kleine vergitterte Spalte direkt unter der Decke war die einzige Öffnung, die frische Luft in den Kerker ließ, sie war seine letzte Verbindung mit der Welt der Lebenden.

Claire wurde schmerzhaft bewusst, wie schwach er geworden war. Er ging langsam, wie ein Greis zu einem einfachen Stuhl. Seitdem de Craon und Laval ihn gewaltsam auf Champtocé festhielten, bekam er den gleichen Fraß, den sie vermutlich auch den Unglücklichen zuwarfen, die in einem anderen, finsteren Gewölbe direkt unter dem Seinen saßen und deren verzweifelte Schreie ihn bis vor Kurzem noch Nachtens von seinem Werk abgehalten hatten. Seit ein paar Tagen waren die Schreie verstummt. Entweder hatten der Teufel und sein Enkel die Unglücklichen endlich umgebracht, oder sie waren zu hoffnungslos, um sich überhaupt noch aufzubäumen und zu kämpfen.

Laval hatte sich bequem auf dem anderen Stuhl vor Claires Arbeitstisch niedergelassen. Seine dunklen Augen betrachteten interessiert einen neuen Versuchsaufbau des Alchimisten.

Claire war davon überzeugt, dass die Materia Primae zum großen Werk sich nur im Mineralreich finden ließ. Seitdem es ihm gelungen war, das Merkurialwasser perfekt zu destillieren, arbeitete er fanatisch an der zweiten Stufe des Flamelschen Prozesses. Ohne diese Forschungen - davon war Saint Germain überzeugt - wäre er in Anbetracht der Schrecken, an denen Laval und de Craon ihn teilzunehmen zwangen, schon lange wahnsinnig geworden. Er verfluchte den Tag, an dem er sich dazu hatte überreden lassen, die Grabschändung von Paris vorzunehmen.

Ohne um Erlaubnis zu fragen, zog Gilles das Buch des Leviterprinzen vom Tisch und begann nachlässig darin zu blättern. Jedes Mal, wenn er die Drohung las, die Abraham sozusagen als Einführung zu seinem Werk verfasst hatte, musste er schmunzeln. Worte. Nichts als Worte. Sie hatten offensichtlich Nicolas Flamel keinen Schaden zugefügt. Der Alchimist war hochbetagt eines natürlichen Tod gestorben.

„Und Ihr seid wirklich davon überzeugt, dass es ausreicht Gold, Silber, Blei, Magnesium, Schwefel und Arsen in eine unnatürliche, flüssige Form zu quälen und schon erreichen wir die Schwärzung und den Abschluss der Nigrendo?“, erkundigte der junge Mann sich amüsiert bei seinem Gefangenen, während sein schlanker Zeigefinger sorgsam jeden einzelnen goldenen Buchstaben des Fluches von Abraham nachzog: „Marantha“, formten seine Lippen leise das Wort der Macht, „Marantha. Fluch jedoch, über jeden, der diese Schrift aufschlägt und der nicht aus dem Stamme Judah ist. Fluch jedem, der nicht Priester oder Gelehrter und der diese Schrift in Händen hält. Er soll vernichtet und ausgelöscht werden. So wie Korah, Dathan und Airam soll er vernichtet werden oder im Feuer verbrennen.“

Claire hob kurz den Kopf und betrachtete durch einen Vorhang aus fettigen, blonden Haaren seinen Peiniger. Er war offensichtlich direkt aus seinen Gemächern im Palas hinunter in die Gewölbe des Turms geeilt, denn Laval trug feine, ungefütterte Gewänder aus dunkelgrünem Samt und eine leichte Cotte aus Seide. Sein rundes Gesicht war frisch rasiert und er verströmte einen angenehmen Geruch nach teuren orientalischen Ölen, mit denen diejenigen die sich diesen Luxus leisten konnten ihr wöchentliches Badewasser parfümierten. Der junge Mann wirkte völlig entspannt und schien in prächtiger Gemütsverfassung. Der Alchimist seufzte leise und ergab sich in sein Schicksal. Er fand sich damit ab, dass der Gedanke an ein heißes Bad Illusion war. Doch vielleicht würde es ihm in dieser Nacht wenigstens gelingen, seine Haftbedingungen etwas zu verbessern, wenn er dem Erben des Montmorency-Laval-Craon Vermögens nach dem Mund redete.

Die Wochen die seiner erzwungenen Eheschließung mit der unglücklichen Catherine de Thouars gefolgt waren, hatten Gilles in einer erbärmlichen Stimmung gesehen. Er war nur selten im Laboratorium aufgetaucht und die wenigen Besuche waren fast genauso schlimm gewesen, wie die Nacht, in der Laval ihn zum Bleiben überredet hatte.

Claire erhob sich mühsam von seiner Sitzgelegenheit und begab sich hinüber zu seinem Versuchsaufbau. Er bemühte sich aufrecht zu gehen, damit Laval nicht den Eindruck bekam, er wäre in dieser Nacht schwach oder verzweifelt. „Wenn Ihr das dritte Kapitel der Schrift aufschlagen wollt, Mesire de Laval.“ Seine Stimme war fest. Er verdrängte für einen Augenblick die Hoffnungslosigkeit, die seit Wochen schon in müßigen Stunden sein ständiger Begleiter war: „ Betrachtet dabei ebenfalls die zweite Allegorie von Abraham. Genau gesehen ist die in der Rohmaterie enthaltene Erde der Schwefel - Sulfur. Und das Wasser ist das Quecksilber - Merkur.“

„Das eine warm und trocken, das andere kalt und feucht.“ Laval nickte zustimmend und nahm seinen Finger von den mysteriösen, goldenen Lettern des Fluches von Abraham Eleazar. Die Allegorie war eindeutig: Sonne und Mond. Zwei Drachen. Der eine mit Flügeln, der andere ohne Flügel. „Dies ist der Drache...“, fuhr Saint Germain schulmeisterlich fort, „...der die goldenen Äpfel im Garten der hesperidischen Jungfrauen bewacht. Es sind folglich die beiden Schlangen, die von Juno dem jungen Herkules in die Wiege gelegt wurden. Der Drache ist im Bereich der Allegorie lediglich eine andere Darstellungsform der Schlange...“

Gilles schlug das Buch endlich zu und zog die Augenbrauen hoch. Dann überlegte er einen Augenblick. Seine Bildung und seine Kenntnisse der Klassiker standen in nichts seinen Fähigkeiten mit Schwert und Lanze nach. Er besaß in seiner eigenen, kostbaren Bibliothek eine wundervoll illustrierte Abschrift der „Zwölf Arbeiten des Herkules“. Vor seinem inneren Auge versuchte der junge Mann den Garten der Hesperiden entstehen zu lassen und sich an die Details zu erinnern: „Herkules erwürgte diese Schlangen, Saint Germain.“

Der Alchimist nickte: „In der Tat. Er überwand sie, wie sie der Adept des Großen Werkes im Anfang seiner Arbeit überwinden muss. Das heißt, er muss sie zerstören, wie Herkules die Schlangen der Juno zerstört hat...damit aus der Zerstörung Rebis, res bina, die zweifache Sache entstehen kann.“

„ Und Ihr seid davon überzeugt, dass der Merkur der Weisen, der in sich den Schwefel enthält diese Materia Secunda ist ?“

Claire stand Laval gegenüber und hatte die Hände auf der Holzplatte seines Arbeitstisches abgestützt. Die Anstrengung an der feuchten Wand hochzuklettern machte sich bemerkbar. Seine Knie zitterten. Sein Herz schlug in einem unregelmäßigen Rhythmus. Seit den Morgenstunden, als ihm der schweigsame Mann, der über die Gewölbe von Champtocé wachte, ein Stück dunkles Brot und einen Becher frischer Milch gebracht hatte, hatte er keine Nahrung mehr zu sich genommen. Die winterliche Kälte setzte ihm trotz des Feuers, das ständig im Athenor brannte heftig zu und die Feuchtigkeit des unterirdischen Gewölbes ließ seine Gelenke schmerzen. Dazu gesellten sich noch die Folgen seiner Misshandlung durch Gilles...nach seiner Rückkehr von Machécoul hatte de Craon lediglich dafür gesorgt, dass er aus dem Verlies, in das Laval ihn blutend und gebrochen geworfen hatte, zurück in sein Laboratorium geschafft wurde. Dann hatte er die Natur ihr Werk tun lassen. Claire spürte, wie die Rippen, die Laval ihm gebrochen hatte über seine Lunge kratzten. Sie waren genauso krumm zusammengewachsen, wie das vermaledeite Handgelenk. Er hustete trocken, bevor er sich dazu aufraffte dem Teufelsbraten in seinen feinen Kleidern eine diplomatische Antwort zu geben: „ Es ist einen Versuch wert, Mesire de Laval.“

Natürlich war Claire von seiner Theorie überzeugt, doch Laval hatte schon mehrfach deutlich ausgesprochen, dass er nicht viel von den Mineralisten unter den Alchemisten hielt. Er vertrat, dass die Allegorien in Abrahams Handschrift keine Hinweise auf irgendwelche toten Substanzen enthielten, sondern klar zeigten, das sämtliche Grundstoffe des großen Werkes lebendige Stoffe waren...Harn, Blut, Samenflüssigkeit und dergleichen. Er rechtfertigte seine grauenvollen Kindsmorde kaltblütig mit der Suche nach eben dieser Substanz, die notwendig wäre, um die zweite Stufe des Flamelschen Prozesses erfolgreich abzuschließen.

Sowohl Gilles, als auch de Craon suchten das in ihren Augen allein Wirksame, das Astral zu erhalten und bearbeiteten daher die organischen Substanzen entweder nach dem Quaternär: Putrefaktion, Separation, Purifikation, Union, oder vereinfacht nach dem Ternär: Putrefaktion, Zirkulation, Destillation.

Allerdings hatte ihre Methode bis zu diesem Tag noch genauso wenig Resultate gebracht, wie die seine. Lediglich das Kinderschlachten und Kindersterben auf Champtocé nahm inzwischen unheimliche Ausmaße an.

Wo früher Mesire de Laval gelegentlich mit einem Tonkrug voller Innereien aufgetaucht war, brachte nun der Kerkermeister beinahe täglich schreckliche Ingredienzien hinunter ins Labor.

, Unternehmt Euren Versuch, Saint Germain. ‘ Erwiderte Gilles freundlich. ‘...aber vergesst dabei nicht an Eurer Übersetzung der Handschrift weiterzuarbeiten...denn auch ich habe einen Versuch auf dem Athenor stehen und ich wage zu behaupten, dass es vielversprechend aussieht. Die Materie daraus unser Stein bereitet wird, ist ein schlichtes unansehnliches Wesen, da bei ihr nicht die geringste Schönheit anzutreffen. Es ist eben die Materie, daraus Gott im Anfang Himmel und Erde schuf, nämlich aus einem Chaos oder Klumpen...‘

Er erhob sich von seinem Stuhl, strich sorgfältig seine teuren Gewänder glatt und verbeugte sich mit leisem Spott vor seinem Gefangenen. ,Diese Erde war wüst und leer und es war finster in der Tiefe; derselbe Abgrund war voller dicker Finsternis, so wie ein schwarzer Nebel....,Ich nehme an, Ihr legt keinen Wert darauf mich in mein Laboratorium zu begleiten und dort meine letzte Arbeit zu betrachten. Sie war ausgesprochen.....unterhaltsam. ‘

Während die schwere Eichentür sich hinter dem Baron von Laval schloss, drangen laute Befehle, das metallische Geräusch von Waffen, die aufeinander schlugen und das aufgeregte Wiehern vieler Pferde durch den schmalen vergitterten Belüftungsspalt des Kerkers zu Claire de Saint Germain hinunter. Er war wieder alleine in der Kälte und in der Hoffnungslosigkeit seines grausamen Gefängnisses. Die Männer mit dem Wappen des bretonischen Herzogs auf ihren Waffenröcken und die für einen kurzen Augenblick der Euphorie seine Hoffnung auf einen Kontakt mit der Außenwelt gewesen waren, verließen Champtocé im gestreckten Galopp.

Der leere Magen des Alchimisten knurrte immer noch genau so erbärmlich, wie vor dem Höflichkeitsbesuch des jungen Teufels Laval und er war keinen Schritt weiter in seinem Leben. Claire seufzte aus tiefstem Herzen. Dann ging er langsam um den Arbeitstisch herum und zu seinem Versuch. Wenn es überhaupt noch eine Chance für ihn gab, dann lag sie in einem sichtbaren Fortschritt mit dem Manuskript des Leviterprinzen Abraham. Solange weder Gilles noch sein bösartiger, machtbesessener und habgieriger Großvater ein neues Ergebnis der Arbeit sahen, würden sich seine Haftbedingungen vermutlich nicht verbessern. Er warf einen Bund Reisig in den Athenor und konzentrierte sich.

III

Der Erbe des Herzogs von Cornouailles konnte bei einer Lanze kaum unterscheiden, wo vorne und hinten war, aber er bewegte sich flink und geschmeidig und er war ein hervorragender Reiter. Zu seinem eigenen Glück war Sévran mutig und für sein Alter bereits ausgesprochen kaltblütig.

Arzhur de Richemont verfolgte vom Rücken seines spanischen Goldfuchses aus interessiert und ein wenig skeptisch die kriegerischen Anstrengungen des sonderbaren Knappen, der sich nun schon seit etwas mehr als drei Monaten in seiner Obhut befand: Schwarzes Haar, schwarze Augen, der Körper eines Tänzers und das Benehmen eines jungen Wolfes, der in der Falle saß. Er gehörte also offensichtlich doch zu dieser Rasse, die selbst in der ausweglosesten Situation bis zuletzt mit dem Mut der Verzweiflung kämpfte, und eher starb, als sich zu ergeben: Melius mori quam feodari - Lieber tot, als beschmutzt! Richemont verzog unmerklich das Gesicht zu einem leisen Lächeln.

Wo es allerdings um reine körperliche Kraft und die Erfahrung im Umgang mit Kriegswaffen ging, konnte der junge Carnac sich auch mit seinem Gegner an diesem Morgen nicht messen. Der Sohn des Seigneurs von Giron war unter den Edelknappen in Rennes der Ungeschickteste und am wenigsten Begabte. Trotzdem hatte Patrice keine Mühe gehabt, Sévran mit ein paar wuchtigen Schlägen des Streitkolbens vom Pferderücken in den Dreck zu befördern. Selbst seine außergewöhnlichen Reitkünste hatten den Sohn des Herzogs von Cornouailles nicht retten können.

Der Unterschied hätte nicht größer sein können zu diesen beiden älteren Brüdern, die Arzhur so gut gekannt hatte. Sie waren die über viele Jahre hin seine Freunde gewesen ...bis zu dem Tag von Azincourt, an dem irgendeine höhere Macht befunden hatte, dass er weiterleben durfte, während ihnen die Stunde schlug. Aorélian und Glaoda hätten ihren jüngeren Bruder gewiss genauso kopfschüttelnd betrachtet, wie er es nun seit einiger Zeit schon tat.

Doch unten auf dem Boden schien Carnac plötzlich wieder mehr in seinem Element. Den Sturz hatte er erstaunlich rasch verdaut. Obwohl Brustpanzer, Beinschienen und Helm ihn behinderten, rollte er wie eine Katze durch den Dreck und sprang hoch. Noch in der Bewegung gelang es ihm das Schwert in der Scheide zu lösen. Der junge Giron bremste sein wuchtiges, normannisches Kriegspferd, um es auf dem rutschigen Untergrund zu wenden und seinen Gegner noch einmal anzugreifen.

Und damit fingen die Schwierigkeiten erst richtig an.

Er konnte Carnac vom Rücken des mächtigen Streitrosses aus einfach nicht folgen. Sévran hielt ihn geschickt auf Abstand und verwirrte ihn, während er sich gleichzeitig zu Richemonts Verwunderung von seinem sperrigen Brustpanzer befreite. Dann warf er auch noch den Helm in den Dreck. Als er schließlich nur noch das leichte Kettenhemd am Leib trug, griff er Giron an...blitzschnell glitt seine Hand zur Hüfte und Sévrans Schwert glänzte in seinen eisenbehandschuhten Händen.

Patrice war seit seinem siebten Geburtstag in der Waffenkunst ausgebildet worden. Genau aus diesem Grund überraschte Carnacs Angriff ihn so vollkommen. Einen kurzen Augenblick zügelte er sein Pferd, ohne zu begreifen welchen Plan sein Gegner verfolgte. Dieses Zögern genügte Sévran. Er stand mit gespreizten Beinen, das Schwert drohend erhoben und in diesem Augenblick –ohne Zweifel - selbst für einen kampferprobten Mann eine Gefahr. Jeder Muskel seines Körpers war gespannt. Über seine schwarzen Augen lag ein kalter, kalkulierender Ausdruck. Er beobachtete jede Bewegung des schweren Kriegspferdes, das im Galopp direkt auf ihn zustürmte. Sein Reiter hielt bereits die Streitkeule zum Schlag.

Arzhur de Richemont überlegte, ob er den Übungskampf nicht unterbrechen sollte, bevor es zu einem fatalen Zusammenstoß zwischen den beiden ungleichen Gegnern kam. Doch ein erneuter Blick auf Carnac ließ ihn diese Idee wieder verwerfen. Der Junge war vollkommen ruhig und gelassen. In seinen Augen war nicht einmal eine Spur von Angst zu erkennen. Offensichtlich wusste er wirklich, was er tun wollte.

Als die riesigen, eisenbeschlagenen Hufe von Girons Hengst beinahe über dem am Boden stehenden Carnac waren, löste der junge Mann sich so blitzschnell aus seiner Erstarrung, das keiner der Zuschauer im ersten Moment richtig begriff was geschah.

Nie wäre einem Ritter von Rang und Ehre in den Sinn gekommen sein Leben zu riskieren, nur um sich wie ein ungehobelter Landsknecht einem wütenden Streitross in die Zügel zu werfen und dabei gleichzeitig dem Tier mit der flachen Seite des Schwertes einen kräftigen Schlag auf die Kruppe zu versetzen.

Der Hengst bremste scharf und erhob sich vor Schreck hoch auf die Hinterbeine. Er schnaufte erregt. Weil Carnac trotz der gefährlichen, eisenbeschlagenen Hufe über seinem ungeschützten Kopf die Zügel der Kandare einfach nicht losließ, verlor das Tier auf dem rutschigen Grund dabei das Gleichgewicht. Mit einem lauten, metallischen Scheppern landeten Giron und sein Pferd im Dreck. Da lag der Knappe nun, wie eine Schildkröte hilflos auf dem Rücken, rang verzweifelt nach Atem und ruderte wild mit Armen und Beinen. Es war klar, dass er sich ohne fremde Hilfe aus diesem Schlamassel nicht befreien konnte.

Anstatt seinen überraschenden und ungewöhnlichen Sieg zu genießen, lies Sévran endlich die Zügel von Girons Hengst los, damit das Pferd aufstehen und sich wieder beruhigte konnte. Mit dem Handrücken wischte er sich Schweiß und Schmutz aus dem Gesicht, bevor er sein Schwert zurück in die Scheide steckte und seinem Gegner auf die Beine half.

Richemont hob kurz die Augen zum Himmel und warf seinem Ecuyer Jeannin Cotuyt einen verzweifelten Blick zu. Cotuyt gab zwei Waffenleuten Zeichen die freilaufenden Rösser einzufangen. Ein dritter Soldat trug rasch Decken für die verschwitzten Tiere herbei. Ausgebildete Kriegspferde waren wertvoll. Ein anständiges Tier kostete mindestens den Gegenwert von zwanzig guten Zugochsen.

Unterdessen lenkte Arzhur seinen spanischen Fuchs hinüber zu den beiden jungen Männern, die sich in der Mitte des Kampfplatzes dreckverschmiert und atemlos gegenüberstanden. Trotz Carnacs Geste spürte der Ritter eine ungesunde Feindseligkeit zwischen Sieger und Besiegtem aufsteigen. Patrice hatte schon die Hand am Knauf seines Schwertes. Er fluchte leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. Als Giron versuchte seine Waffe blank zu ziehen, blitzten Sévrans Rabenaugen kurz gefährlich auf, während er gleichzeitig mit der Linken ausholte, so als ob er einen unsichtbaren Stein nach Giron schleudern wollte. Seine Lippen bewegten sich kaum sichtbar, aber Giron winselte plötzlich, wie ein ängstlicher junger Hund und wich mit angstgeweiteten Augen einen Schritt zurück. Seine Rechte ließ den Knauf seines Schwertes los, so als ob er ihm die Finger verbrannte. Mit der anderen Hand machte der Knappe eine altertümliche Geste gegen den bösen Blick. Doch noch bevor Carnac zu Ende bringen konnte, was er so offensichtlich vorgehabt hatte, rief Arzhur de Richemont ihn energisch zurück. Dann lenkte er sein Tier zwischen die Opponenten, um sie zu trennen. Zuerst wandte er sich an Patrice, der sich nur langsam vom Schreck zu erholen schien.

„Glaubt nur nicht, dass ein wirklicher Gegner Euch im Kampf je auf die Beine helfen wird, wenn er Gelegenheit hat, Euch das Schwert in den Leib zu rammen, Giron“, sagte Richemont ruhig, bevor er mit einem leisen Hauch von Tadel in der Stimme fortfuhr, „und noch etwas: Die ritterliche Ehre gebietet, dass auch Ihr vom Pferd absteigt, wenn Euer Gegner sein Tier verliert.“ Endlich entließ er den durch seine Niederlage bereits tief gedemütigten jungen Adeligen mit einer knappen Handbewegung. Erst nachdem Giron außer Hörweite war, richtete Richemont seine Aufmerksamkeit auf den Sohn des Herzogs von Cornouailles. Der gelassene Ausdruck verschwand aus dem vernarbten Kriegergesicht. Seine klaren, hellblauen Augen funkelten den jungen Mann zornig an, während sein Mund sich zu einem dünnen, geraden Strich verzog. Er wusste genau, was Sévran am Ende vorgehabt hatte und es gefiel ihm überhaupt nicht.

„Wenn Ihr Euch überhaupt schlagt, dann schlagt Ihr Euch nicht wie ein Ritter, Carnac...sondern wie ein tollwütiger Köter!“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen leise und mit kalter Stimme, „Was für eine Überraschung haltet Ihr beim nächsten Mal für uns bereit? Werdet Ihr, wie ein englischer Söldner aus dem Hinterhalt mit Pfeil und Bogen schießen, oder habt Ihr vor, Euch wie ein Vogelfreier mit dem Stock in der Hand zu prügeln, Ollamh?“ Der beißende Spott, der in Richemonts Worten lag, war nicht zu überhören.

Sévran zuckte unwillkürlich zusammen. Blut stieg ihm in den bereits von der Anstrengung des Kampfes geröteten Wangen hoch und seine Augen blitzten einen kurzen Augenblick lang empört auf, doch die Selbstbeherrschung besiegte den Stolz. Langsam hob er den Kopf und blickte seinen ritterlichen Lehrmeister fest an. Er tat, was er konnte, um das Versprechen, dass er seinem Vater nach Aorélians und Glaodas Tod gegeben hatte zu erfüllen.

Seit drei Monate schon, biss er sich auf die Zunge. Er beugte sich brav den Regeln, die der jüngste Bruder des bretonischen Herzogs ihm als Knappen auferlegte. Dabei war bislang nicht viel mehr herausgekommen, als haufenweise blaue Flecken und der beißende Spott der anderen. Die hielten ihn auch noch für einen Feigling, nur weil er mit ihren ritterlichen Waffen nicht vernünftig umzugehen wusste.

Was die anderen Edelknappen in Rennes von ihm hielten, war Sévran egal, doch dass der beste Freund seiner beiden toten Brüder ihn verspottete, tat weh.

Während Richemont ihn noch eine Weile mit scharfen Worten für seine Tollkühnheit zurechtwies mitten in einem Kampf sowohl den schützenden Brustpanzer als auch den Helm abgelegt zu haben, um sich dann ohne Schild und nur mit dem Schwert in der Hand vor einen Berittenen mit einem Streitkolben zu werfen, schwieg er höflich, wenn auch durchaus nicht eingeschüchtert. Er wusste, dass Arzhur eigentlich Recht hatte und Arzhur wusste vermutlich, dass er es irgendwie auch wusste... Trotzdem: Die ganze Situation war für beide Seiten nicht einfach!

„Es ist wohl an der Zeit, dass wir beide ein vernünftiges Gespräch miteinander führen, Carnac… von Mann zu Mann und unter vier Augen“, sagte Richemont schließlich etwas freundlicher, nachdem er mit seiner Strafpredigt zu Ende war und Dampf abgelassen hatte. „Ich erwarte Euch vor dem Nachtmahl im kleinen Saal.“

Marguerite de Montforzh schmunzelte, als sie vom Fenster der Gemächer ihrer Mutter aus die kleine Szene beobachtete. Der junge Giron, Knappe von Colinet de Lignières, einem vertrauten Freund ihres Onkels, trottete mit hängendem Kopf, unglücklich, dreckverschmiert und offensichtlich tief gedemütigt zu den Stallungen. Das große, schwere Kriegspferd, dass er am Zügel hinter sich her zog, war genauso dreckig, wie sein Reiter und schien auf den ersten Blick fast ebenso unglücklich, denn es lies sowohl den Kopf, als auch die Ohren hängen.

Oft lächelte der breitschultrige, kräftige Patrice sie unbeholfen und schüchtern an, wenn ihre Wege sich kreuzten. Gelegentlich versuchte er dabei so höflich er es konnte diesen sonderbaren Kratzfuß zu machen, den Dame Tiffaine de Raguenelle, eine der Gesellschafterinnen ihrer Mutter, allen Edelknappen am herzoglichen Hof erbarmungslos einbläute. Dabei färbte sich sein braungebranntes Gesicht immer genau so feuerrot, wie sein Haarschopf. Marguerite mochte Giron gut leiden, weil er im Gegensatz zu ein paar anderen jungen Männern, die sich in Rennes ihre Sporen verdienten von freundlichem und ausgeglichenem Charakter war und nicht diese schlechte Gewohnheit hatte, wann immer es nur ging aufzutrumpfen und anzugeben. Er rieb auch nicht jedem unter die Nase, welche entscheidende Rolle sein Großvater einst bei der Zurückeroberung des herzoglichen Throns gegen die verräterischen Penthièvres und das französische Haus Blois gespielt hatte...und trotzdem freute sie sich an diesem Frühlingsmorgen tief in ihrem Inneren ein kleines Bisschen über seine schmähliche Niederlage.

Nicht etwa, das Patrice es verdient hätte, vom Pferd zu fallen, sich dabei alle Knochen grün und blau zu schlagen und mit dem schlammigen Grund Bekanntschaft zu machen. Obwohl Giron zu diesem wundersamen Menschenschlag gehörte, in deren Kopf nie Platz für mehr als einen Gedanken zur gleichen Zeit schien, war er ein ganz braver und wohlerzogener Bursche. Doch irgendwie hatte sein Gegner an diesem sonnigen Frühjahrsmorgen den Erfolg einmal als Sieger aus einem Übungskampf hervorzugehen dringender gebraucht, als er. Und jetzt musste der Rabe trotz seiner außergewöhnlichen Leistung wieder eine lange Strafpredigt von Onkel Arzhur über sich ergehen lassen!

Marguerite schmunzelte. Sie wusste natürlich auch, dass es sich für einen künftigen Ritter gar nicht ziemte zuerst seine Rüstung in den Dreck zu schmeißen, nur um anschließend einfach dem Pferd des Gegners in die Zügel zu fallen. Doch jedes Mal, wenn der Rabe versuchte sich an die ritterlichen Regeln zu halten, zog er gegen die anderen jungen Männer den Kürzeren: Seitdem er bei ihnen war, hatte er nicht nur ihre spöttischen Blicke ertragen müssen, sondern sich auch viele kränkende Bemerkungen und Sticheleien gefallen lassen.

Marguerite war davon überzeugt, dass er weder das eine noch das andere verdiente. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ein Feigling war und sich drückte...eher, dass er es einfach nicht besser wusste und eben versuchte in den Übungskämpfen mit schwerer Rüstung und scharfen Waffen, so gut es ging seine Kartoffeln aus dem Feuer zu holen.

Als Kind hatte die jüngste Tochter des bretonischen Herzogs einen anderen Sohn von Ambrosius de Cornouailles am Hofe ihres Vaters kennen gelernt: Er war Graf von Leon gewesen und als Yéhan de Lannion, der Leutnant ihres Vaters ihn als Knappen zu sich genommen hatte, hatte sie noch in ihren Windeln in den Armen einer Amme gelegen. Glaoda war offensichtlich von klein auf von seiner Familie für den Ritterstand erzogen worden. Als sie ein bisschen größer geworden war, hatte sie ihn immer Claudius gerufen, weil ihr die lateinische Form seines Namens leichter von den Kinderlippen kam.

Glaoda: Gutmütig, gelassen und freundlich hatte er immer Zeit für Marguerite und ihre älteren Geschwister gehabt. Es hatte ihn nie gestört, sie vorne auf dem Pferd sitzen zu lassen, wenn er mit Lannion zur Zerstreuung ausritt. Manchmal hatte er ihnen auch kleine Spielsachen aus Holz geschnitzt und ihnen dabei Geschichten erzählt. Sie war traurig gewesen, als er am Weihnachtstag vor dem schrecklichen Jahr 1415 den Ritterschlag erhalten und den herzoglichen Hof wieder verlassen hatte.

Und dann war da noch der Andere gewesen:Aorélian de Douarnenez, der Erbe von Cornouailles.Der, mit dem Arzhur so eng befreundet gewesen war und den sie zusammen mit ihrem Onkel oft auf den Turnieren beobachtet hatte, die ihr Vater in Suscinio in der Nähe von Vannes veranstaltete, wenn der herzogliche Hof sich im Sommer ans Meer verlegte.

Aorélian: Für Marguerite das kleine Mädchen war Aorélian genau so fern und unwirklich gewesen, wie in dieser Zeit ihr Onkel Arzhur. Eigentlich erinnerte sie sich nur noch an den sonderbaren Schild - zwei schwarze Drachen, die zwischen ihren mächtigen Klauen ein Pentagramm hielten - und an den Glanz, der von ihm ausging, gleichgültig ob er sich im ritterlichen Kampf mit einem Gegner maß, oder den Damen bei Tisch und bei gesellschaftlichen Anlässen seine Aufwartung machte.

Als sie zufällig aufschnappte, dass er über seine Mutter, die Herzogin Maeliennyd Glyn Dwyr dem uralten, mystischen Geschlechts des Drachen –Pendragon- entstammte, hatte sie es sofort geglaubt. Genau wie der legendäre König Arthus, hatte Aorélian in jeder seiner Handlungen, in jeder Geste und in jedem Wort dem Bild des edlen Ritters entsprochen, das sie damals in den wundervollen Erzählungen von Robert de Boron oder Chretien de Troyes kennengelernt hatte.

Ganz unscharf konnte sie Aorélian de Douarnenez sogar heute noch vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören, wenn sie sich konzentrierte: Hochgewachsen, breitschultrig, braungebrannt. Er hatte sein Haar fast genauso lang getragen, wie Sévran und es war von der gleichen rabenschwarzen Farbe gewesen…

Als Kind hatte Marguerite sich Mesire Galahad vom Saint Graâl immer so vorgestellt, wie Aorélian und Gauwein, den grünen Ritter mit dem Löwen, wie ihren Onkel Arzhur... Wie so viele andere vor ihm hatte natürlich auch Aorélian de Douarnenez seinen Saint Graâl am Ende der Queste nicht gefunden: Er war auf dem Feld von Azincourt geblieben...zusammen mit seinem Bruder Glaoda, dem jungen Grafen von Leon.

Der Rabe musste folglich der Jüngste der Söhne von Ambrosius Arzhur von Cornouailles sein. Vielleicht hatte der Herzog ihn ja von Kindesbeinen an für den geistlichen Stand bestimmt und ihm deshalb nur eine sehr unzureichende Ausbildung in der Waffenkunst zukommen lassen? Ihr eigener Vater hatte kurz nach dem Dreikönigstag und Carnacs Ankunft in Rennes einmal eine kryptische Bemerkung fallen lassen, die auf so etwas hindeutete. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn vom Fenster aus heimlich beobachtete und es war auch nicht das erste Mal, dass sie ihn im Dreck liegen sah. Aber es war das erste Mal, dass Sévran sich hingestellt hatte, um einen Gegner anzugreifen.

„Der Rabe“, spottete das Mädchen, „ was für ein Strolch!“

Genauso, wie Giron, mochte sie ihn irgendwie gut leiden, weil er so ganz anders war, als die anderen Edelknappen am Hofe ihres Vaters. Sie konnte sich zwar nach drei Monaten immer noch keinen Reim darauf spinnen, was er wirklich hinter dieser steifen Höflichkeit und der Zurückhaltung verbarg, die er der ganzen Welt gegenüber an den Tag legte, aber seit sie zufällig entdeckt hatte, dass er genauso wie sie, die Handschriften in der Bibliothek ihres Vaters liebte und deren ruhige Lektüre an einem stillen Ort dem lauten und wilden Zeitvertreib der anderen jungen Männer vorzog, hatte er sich einen Platz in ihrem Herz erobert. Außerdem konnte er wunderschön auf der Harfe spielen und dabei alte Sagen und Legenden erzählen. Er benahm sich bei Tisch gesittet, schnäuzte sich nicht ins Mundtuch und stank auch nicht dauernd, wie die anderen, nach Rossäpfeln und Schweiß, dass es einer Dame davon übel wurde. Selbst die scharfzüngigen Gesellschafterinnen ihrer Mutter Jeanne kritisierten Sévrans Benehmen nie, obwohl er ihnen mit seinen dunklen, schmucklosen Gewändern, seinem scharf geschnittenen dunklen Gesicht und den schwarzen Rabenaugen, die nie lachten ganz offensichtlich ein bisschen unheimlich war.

„Meine Liebe?“, Tiffaine de Raguenelle hob kurz den Kopf von der Stickerei, an der sie zusammen mit der Herzogin arbeitete.

„Es ist nichts, Dame Tiffaine. Ich hab nur laut nachgedacht“, log Marguerite unverfroren, während sie weiterhin fasziniert die kleine Szene zwischen ihrem Onkel Arzhur und Sévran de Carnac beobachtete. Es war auch nicht die erste Strafpredigt, die sie heimlich mitverfolgte: Ihr Onkel hob, wie immer verzweifelt die Hände gen Himmel. Sie hätte zu gerne gewusst, was der Ritter seinem Knappen dieses Mal zu sagen hatte. Wie immer lies Sévran alles stumm über sich ergehen. Wie immer verzog er keine Miene und senkte auch nicht den Kopf.. Sie hoffte, dass ihr Onkel nicht allzu zu hart mit ihm umsprang oder ihn zu streng bestraften würde.

Marguerite seufzte leise und riss sich endlich von ihrem Platz am Fenster los. Es war nicht notwendig, das irgendeine der Damen ihrer Mutter begriff, was sie die ganze Zeit über getan hatte und sie vor aller Welt wegen ihres unschicklichen Verhaltens tadelte. Für ein junges, unverheiratetes Mädchen ihres Ranges gehörte es sich eben nicht, den Knappen und Waffenleute heimlich bei ihren Übungen zuzusehen. Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz und strich sorgfältig das weite dunkelrote Kleid glatt, die sie an diesem Frühlingsmorgen ausgewählt hatte.

Es war an der Zeit etwas Sinnvolles zu unternehmen. Sie musste sich wirklich um die dumme Geschichte mit den Tischtüchern kümmern, die man bei einem Meister in Dinan bestellt hatte und die während des Transportes beschädigt worden waren. Der Kämmerer ihres Vaters war gewöhnlich nicht Manns genug ein Problem zu lösen, das die herzogliche Geldschatulle betraf und ihr Vater würde nie und nimmer auf eine solch unwichtige Sache seine Zeit verschwenden. Dabei ging es lediglich darum, ein paar energische Worte zu sprechen und von dem Flussschiffer, den der Haus-und Hofmeister für den Transport verpflichtet hatten Schadensersatz für seine Nachlässigkeit einfordern.

Außerdem wollte sie noch zusammen mit dem Mundschenk die Weinfässer im Keller nachzählen und dafür sorgen, das endlich die Bestellung für Rotwein auf den Weg nach Bordeaux gebracht wurde, bevor sie alle dazu verdammt waren, bei Tisch Bier und Apfelmost zu trinken. Und sie erwarteten in wenigen Tagen schon hochgestellten Besuch: Ihr Vater hatte ihr während eines gemeinsamen Ausrittes unter vier Augen anvertraut, dass ein Botschafter aus Cornouailles und ein Bevollmächtigter des englischen Regenten über die Normandie Lord Bedford in Kürze zu einer geheimen Konferenz in Rennes eintreffen würde. Nicht einmal der bretonische Kanzler und die Versammlung der Standesherren waren zu dieser Stunde über die Missionen des Earl of Suffolk und des Professors Anselmus von Vannes informiert.

Marguerite hauchte ihrer Mutter Jeanne einen zärtlichen Kuss auf die Wange und verließ mit züchtig gesenkten Augen und gemessenem Schritt die Frauengemächer. Sie hatte nie verstanden, warum man seine Zeit damit vertrödelte, unnütz Tücher zu besticken oder Spitzen zu klöppeln, oder wie ihre älteren Schwestern von morgens bis abends miteinander zu schwatzen und dabei Schoßhündchen mit Leckerbissen vollzustopfen. An einem so großen Hof, wie dem des Herzogs der Bretagne, gab es Hunderte anderer Aufgaben zu bewältigen, die für das Gemeinwesen und den guten Ruf der Familie wichtiger waren, als ein Wandbehang, ein zierliches Häubchen oder das Wissen um den letzten Klatsch.

Eine ältliche Bedienstete reichte der jüngsten Tochter von Yann de Montforzh ihren blauen gefütterten Mantel und schloss die Tür der Kemenate, bevor sie schweigend hinter der jungen Frau her trottete.

Als Marguerite endlich mit ihrem Tagwerk zufrieden war, fing es draußen bereits an dunkel zu werden. Sie verwarf die Idee, ihren Vater so lange zu plagen, bis er sie auf einen kleinen Ausritt hinunter an die Ufer der Vilaine begleitete, wo zu dieser Jahreszeit die ersten Enten, Gänse, Störche und Graureiher von ihren Winterquartieren im Süden eintrafen. Stattdessen beschloss sie, vor dem gemeinschaftlichen Abendmahl im großen Saal des Palas eine Weile mit einem Buch in der Hand auszuruhen. Marguerite ließ sich geschwind von ihrer Zofe helfen und tauschte das praktische Tageskleid gegen ein hübsches dunkelblaues Gewand mit schmalen Ärmeln und einen weiten, hellblauen Mantel ohne Ärmel. Ein perlenbesticktes silbernes Netz über den langen, dunkelbraunen Haaren schloss ihre Garderobe für den Abend ab. Sie warf kurz einen zufriedenen Blick in ihren Spiegel. Dann ging sie mit einer dicken Handschrift unter dem Arm die Wendeltreppe hinunter in den kleinen Saal und suchte sich eine bequeme Nische voller Kissen und in der Nähe des ganz neuen Kachelofens, den Handwerker aus Flandern erst im letzten Sommer gebaut hatten. Ein ältlicher Diener eilte herbei und stellte einen dreiarmigen Leuchter neben ihre Nische, damit sie bequem lesen konnte. Dann verschwand er genauso geisterhaft aus dem Saal, wie er gekommen war.

Liebevoll strich Marguerite mit der Hand über den ledernen Einband der kostbaren und seltenen Historia Regum Britanniae von Godefroi de Monmouth, die sie auf ihren Knien hielt. Sie war inzwischen fünfzehn Jahre alt und kein Kind mehr. Zum letzten Weihnachtsfest hatte ihr Vater ihr etwas geschenkt, das ihr mehr bedeutete, als das schönste Geschmeide oder ein neues Gewand. Er hatte ihr erlaubt sämtliche Manuskripte der herzoglichen Bibliothek auszuleihen, ohne ihn zuerst um Erlaubnis zu fragen und sie hatte das Recht die Handschrift, die sie gerade las in ihr eigenes Gemach mitzunehmen.

Schon ihr Großvater Yann IV., den man auch den Eroberer nannte, hatte trotz seiner Vorliebe für solch bodenständige Dinge, wie die Jagd oder die Waffenkunst nie Kosten gescheut, um seltene und wertvolle Manuskripte zu erwerben, oder von den Benediktinern in Saint Aubin kopieren zu lassen und auch ihr Vater hielt an dieser Familientradition fest. Der Hof der bretonischen Herzöge hatte den Ruf alle schönen Künste und die Gelehrsamkeit eifrig zu fördern und fast ebenso elegant zu sein, wie der berühmte Hof der Herzogin Yolande von Anjou zu Angers.

Die junge Frau schlug den großen Band auf und begann das Kapitel zu lesen, in dem der Chronist Monmouth detailliert schilderte, wie der legendäre König Arthus bei Mount Badon drei Tage und drei Nächte mit den Sachsen gefochten hatte. Sie war so in ihre Lektüre und die farbenprächtigen Miniaturen der Ritter der Tafelrunde versunken, dass sie dabei die ganze Welt um sich vergaß und nicht sah oder hörte, was um sie geschah.

IV

Dumpf fiel die schwere Eichentür hinter ihm zu. Sévran drehte sorgfältig zweimal den Schlüssel im Schloss, bevor er mit einer knappen Handbewegung die Fackel entzündete, die neben dem alten Laboratorium tief unter dem Donjon der herzoglichen Festung von Rennes in einem rostigen Wandhalter bereit steckte. Yann de Montforzh, der treue Verbündete und Freund seines Vaters, hatte ihm den großen, altertümlichen Schlüssel kurz nach seiner Ankunft bei Hof augenzwinkernd und mit Verschwörermiene in die Hand gedrückt. Als Gegenleistung hatte er lediglich verlangt, dass Sévran ihr Geheimnis für sich behielt, den Hofgeistlichen so weit wie möglich aus dem Weg ging und ihn gelegentlich als Gast in seinem Laboratorium duldete.

Die beiden ersten Versprechen zu halten fiel dem jungen Mann nicht schwer: Einerseits war er sowieso nicht sonderlich gesprächig und andererseits fand er, dass die Kirchenmänner am Hof von Rennes wohl dank der großzügigen Apanagen von Yann zu fett und zu träge waren, um sich auf ordentliche Streitgespräche einzulassen. Der Unterschied zwischen ihnen und den drahtigen, lebhaften Mönchen von Brocéliande unter ihrem schlauen und tiefgründigen Abt Fulques de Loudéac, war wie Tag und Nacht.

Was den dritten Schwur anbetraf, so hatte Yann seine Geduld noch nicht allzu sehr auf die Probe gestellt: Die Bauarbeiten an den Befestigungsanlagen von Rennes schienen den Herzog um vieles mehr in ihren Bann zu ziehen, als seine Experimente und Forschungsarbeiten. Yann hatte mit geübtem Blick schnell erkannt, dass er nicht von der Gelbsucht befallen war.

Montforzhs Vater hatte sich in seinen jungen Jahren dieses unterirdische Gewölbe eingerichtet, als ihn seine Pflichten für sein Land, der elende Krieg gegen die Penthièvres und ihre imaginären Ansprüche auf die bretonische Krone noch nicht vollauf beschäftigten. Wie die meisten gebildeten Männer seiner Zeit, war auch Yann IV. von der königlichen Kunst – der Ars Alchimia- fasziniert gewesen, die die Kreuzzüge und der lange Umweg über das maurische Spanien wieder zurück nach Europa gebracht hatten. Im Gegensatz zu vielen fürstlichen Adepten, hatte er aber selbst experimentiert und sich nicht mit Scharlatanen und Schwindlern abgegeben, die ihm im Austausch für Speis und Trank und eine gesicherte Stellung bei Hofe irgendeine imaginäre Hoffnung auf Homunkulus, Stein der Weisen oder Gold ohne Ende verkauften.

Doch der blutige Bürgerkrieg, der die Bretagne in ihren Grundfesten erschüttern sollte und ein ernüchterndes, siebenjähriges Exil in England hatten aus dem jungen, verträumten Schöngeist Yann IV. einen harten Krieger gemacht.