Der Herr des Krieges Teil 4 - Peter Urban - E-Book

Der Herr des Krieges Teil 4 E-Book

Peter Urban

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Beschreibung

Napoleon kocht vor Wut: seine Marschälle haben bei Talavera wieder eine grauenhafte Niederlage eingesteckt. Der französische Kaiser schwört, dass er Arthur Wellesley, jetzt Lord Wellington, jeden Knochen im Leib brechen wird. Während Bonaparte noch flucht und eine schlecht geplante britische Expedition in Nordeuropa mit einem gewaltigen Reinfall endet, baut Arthur mit Hilfe der Portugiesen heimlich eine gewaltige Befestigungsanlage, um wenigstens Lissabon vor den Franzosen und ihre Verbündeten zu schützen und seine Rückzugslinie zu sichern. Gleichzeitig kämpft er mit dem Mut der Verzweiflung gegen eine Überzahl von Feinden um seinem Chefspion Pater Jack Robertson und dem " Quartett " die Zeit zu geben, in einer gefährlichen und streng geheimen Nacht-und-Nebel Operation das Terrain für eine grosse Offensive nach Spanien vorzubereiten. Der Weg über die Grenze und nach Frankreich ist weit, gefährlich und blutig, doch Arthur und seine Kampfgefährten fangen langsam an daran zu glauben, dass sie das "Monster" Napoleon am Ende vielleicht doch besiegen können, um so diesen grauenhaften und endlos langen Krieg zu beenden.

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Seitenzahl: 357

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Peter Urban

Der Herr des Krieges Teil 4

Die Grenzen des Ruhms

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 In den Pyrenäen

Kapitel 2 Neun endlos lange Sommertage

Kapitel 3 Hoffnung

Kapitel 4 Der politische Imperativ

Kapitel 5 Über die Grenze

Kapitel 6 Der Anfang vom Ende

Kapitel 7 Tief im Herzen des Feindes

Kapitel 8 Orthez

Kapitel 9 Fleur de Lys und Bordeaux

Kapitel 10 Nacht ohne Ende

Kapitel 11 Un Adieu aux Armes

Historisches Nachwort

Impressum neobooks

Kapitel 1 In den Pyrenäen

Nach seiner Ankunft in Bayonne und der erfolgreichen Vertreibung seines Rivalen Jourdan und König Josephs, vollbrachte Marschall Soult innerhalb von nur zwei kurzen Wochen eine wahre Meisterleistung: Aus dem demoralisierten Nachlaß seiner unglücklichen Vorgänger – vormals die Süd-, Nord-, Zentrums- und Portugalarmee – formte er eine schlagkräftige, neue Streitmacht mit 72.000 Infanteriesoldaten, 7000 Kavalleristen, etwas mehr als 120 Geschützen und einer neuen Identität: Frankreichs Spanienarmee!

Der Herzog von Dalmatien war ein begnadeter Organisator. Er verfügte über eine geradezu legendäres Gespür für kühne und große Strategien. Er vermochte problemlos, auch das imposanteste Feldheer zum exakt gewünschten Zeitpunkt an der exakt befohlenen Position in Stellung zu bringen! Er war ein Meister seines Fachs! Leider hatte dieser Imperativ immer nur bis zu dem Augenblick seine Gültigkeit, an dem er – die Waffe in der Hand und Kampflust in den Augen – das Feld der Ehre betreten mußte: Nicolas Jean-de-Dieu Soult hatte viele Qualitäten und eine Unpäßlichkeit: Sobald er seine feinen Adler organisiert und positioniert hatte, wußte er absolut nichts mehr mit ihnen anzufangen! Er verstand weder das Schlachtfeld noch den Einsatz von Truppen auf dem Schlachtfeld. Ähnlich, wie sein irischer Gegner sich als Fachmann für Belagerungen im untersten Drittel des Mittelmaßes einordnen mußte, hätte Nicolas dies als Marschall auf dem Schlachtfeld auch tun sollen. Doch im Gegensatz zu seinem Opponenten fehlte ihm hierzu die notwendige Bescheidenheit und die Fähigkeit, seine eigenen Unzulänglichkeiten offen einzugestehen.

In den beiden kurzen Wochen, die seiner Ankunft folgten, hatte der Herzog von Dalmatien nicht nur die Adler reorganisiert. Er hatte auch seine große Strategie gegen Lord Wellington niedergelegt. An diesem Morgen des 24. Juli 1813 war er von seinem Plan begeistert. Alles sah so logisch aus und war so gut durchdacht: Die rechte Flanke des finsteren Freimaurerfürsten von den Inseln lag isoliert. Ihm war zugetragen worden, daß sie schwach und verwundbar sei und ohne Reserven mitten in den Bergen stand. Lediglich ein paar Spanier und eine kleine Brigade Briten aus irgendeiner Division, die irgendwo weiter hinten auf der Straße nach Pamplona stehen mußte! Wie hatte man ihm so schön gemeldet: Wellington konnte ihm bei Roncesvalles nur seine kleinen Mädchen im kurzen Rock entgegenstellen – schottische Regimenter.

General Rey, der Kommandeur der belagerten Festung von San Sebastian hatte ihm per amerikanischem Blockadebrecher nach Bayonne zutragen lassen, daß er sich Sir Thomas Graham noch bis zum Jüngsten Tag widersetzen würde, wenn es sein mußte: Er hatte Truppen, Munition und Lebensmittel im Überfluß und die Leoparden bissen sich an seinem Ostwall gerade die Zähne aus. Das dieselben Leoparden ihm das Convento de San Bartolomeo und Santa Catalina weggenommen hatten, verschwieg General Rey natürlich. Er wollte es sich mit seinem neuen Herrn und Meister in Bayonne doch nicht verderben!

Der Herzog von Dalmatien schlußfolgerte, daß es somit am günstigsten war, elegant über die Pässe von Maya und Roncesvalles hinwegzusetzen, in Spanien einzufallen und das verhungernde Pamplona von Lord Wellingtons Joch zu befreien. Außerdem war der Weg von Pamplona nach Vitoria der Kürzere.

Zuerst pflanzte sich der Marschall hoch zu Roß vor seinen Adlern auf und verkündete: „Laßt uns den Geburtstag unseres geliebten Kaisers in Vitoria feiern! Wir treiben die Leoparden und ihre Verbündeten über den Ebro zurück und werden erst wieder stehenbleiben, wenn sie an der portugiesischen Atlantikküste im Meer ertrinken. Eure Anführer – Joseph und Jourdan – haben euch um den Sieg betrogen. Ich werde euch eure Ehre zurückgeben!“

Die Proklamation klang gut! Sie schilderte in leuchtenden Farben eine glorreiche Zukunft. Die Adler sehnten sich seit den Dramen von Salamanca und Vitoria nach einer Gelegenheit, um Rache an den Leoparden zu nehmen. Laut jubelten die Wenigen, die seine Worte deutlich hatten hören können, ihm zu. Weil tausend Männer laut schrien, schlossen die restlichen sich euphorisch an: „Vive l’Empereur! Vive Soult!“ Es hatte eigentlich keine Bedeutung, was der alte Gefährte ihres geliebten Kaisers sagte, denn Napoleon selbst hatte ihn geschickt! Napoleon selbst hatte ihm befohlen, Spanien für Frankreich zurückzuerobern! Und jeder einzelne Adler sehnte sich nach Napoleon, der sie – auf seinem stolzen Schimmel Marengo – zu Ruhm und Ehre führen würde, wie er es 20 lange Jahre getan hatte! Sie liebten ihren Kaiser, denn der Soldat Bonaparte hatte sie – im Gegensatz zu seiner Marschallsbande – noch nie enttäuscht. Doch ihr Kaiser war weit weg von ihnen, in Germanien, mit einer anderen ‚Grande Armée’. Die Adler beschlossen, seinem bewährten Leutnant zu folgen und den Ruhm der guten alten Tage von Austerlitz in einem neuen Licht hell erstrahlen zu lassen.

Man ließ ein Korps am Bidassoa zurück, um ein wachsames Auge auf Sir Thomas Graham und San Sebastian zu werfen. Der Rest der Armee würde den Schlag gegen Pamplona vollziehen und zwar über eine Route durch den historischen Paß von Roncesvalles. Denselben Weg war Frankreichs großer Held Roland gegangen. Das Rolandslied kündete von seinem Ruhm und seinem Tod in den Pyrenäen.

Soults unglücklicher Vorgänger Jean-Batiste Jourdan hatte bereits über eine ähnliche Variante gegen seinen irischen Gegner philosophiert. Doch bevor er sie umsetzten konnte, hatte sein Kaiser ihn – gemeinsam mit König Joseph – in die Verbannung geschickt. Nicolas, der Herzog von Dalmatien, verfeinerte Jourdans Plan, der ihm zusammen mit allen Papieren des Ex-Königs von Spanien übergeben worden war. Er war ein genialer Stratege! Napoleon selbst hatte es ihm bei Austerlitz bestätigt. Wie ein französischer Meisterkoch ließ er stolz ein Löffelchen Crème Fraîche in seiner Soße zergehen. Der ungeschickte Jourdan hatte nicht so weit gedacht! Er hatte ja auch Spanien verloren: Anstatt nur eine Kolonne loszuschicken, teilte Soult seine Spanienarmee auf. Zwei Drittel sollten ihm selbst, gemeinsam mit den Generälen Reille und Clausel, über den Paß von Roncesvalles folgen. General d’Erlon würde die restlichen 20.000 Adler nehmen, den Paß von Maya freikämpfen, über den Col de Velatte den Weg durch das Bastan-Tal einschlagen und entlang der alten Römerstraße dem Feind direkt vor Pamplona erbarmungslos in die rechte Flanke fallen, während er gleichzeitig die Zange von links zu schließen plante. Natürlich hatte Soult in Jourdans Aufzeichnungen herumgestöbert. Sein unglückseliger Vorgänger hatte Bedenken gehabt: Die Straßen über die Pässe waren sehr schlecht. Nur das Teilstück Bayonne–Saint-Jean-Pied-de-Port hatte einen echten, militärischen Nutzen. Es war möglich, auf der anderen Seite des Gebirgszuges, in schwierigstem Gelände, überraschend in das Gros der Alliierten hineinzulaufen, falls Wellington seine Truppen heimlich konzentrierte, um die Belagerung von Pamplona zu sichern. Navarra war ein partisanenverseuchtes, unwirtliches und hungriges Stück spanischer Erde, in dem die Adler sich kaum würden ernähren können, selbst wenn sie jeden einzelnen Einsiedlerhof zwischen Irun und der Ebene vor Pamplona plünderten. Jourdan hatte immer solche Bedenken gehabt! Ihm fehlte eben das strategische Genie, das Napoleon seinem treuen Soult huldvoll zugesprochen hatte, als er seinem Kaiser den Tag von Austerlitz gerettet hatte! Jourdan war immer schon ein engstirniger, kleiner Revolutionsgeneral gewesen! In seiner Jugend war er sogar dem Träumer La Fayette in die amerikanische Wildnis gefolgt, nur um ein paar halbzivilisierte, ehemalige Sträflinge und Verbrecher in die Freiheit zu führen. Wer war schon Jourdan? Der Mann war nicht einmal klug genug gewesen, sich an den reichen iberischen Pfründen zu bedienen und etwas für seine Familie zu tun. Sollte er heute nur in seinem ärmlichen Landsitz bei Graçay sitzen und sich die Haare ausreißen, weil er nicht wußte, wie er die Mäuler seiner 14 hungrigen Revolutionärskinder gestopft bekam!

Natürlich begriff Nicolas Jean-de-Dieu, wie gewagt seine Strategie für den Sommer 1813 war: Jeder, der sein Kriegshandwerk ordentlich gelernt hatte, wußte aus den Erfahrungen der Geschichte, daß es riskant war, zwei Kolonnen von zwei unterschiedlichen Orten, über zwei unterschiedliche Routen loszuschicken und darauf zu spekulieren, daß sie sich pünktlich am vereinbarten Ort wiederfanden, um sich gemeinsam mit einem Gegner zu schlagen. Meist wurde das eine Korps, getrennt vom anderen aufgerieben, weil die Verstärkung durch die Unwägbarkeiten des Krieges Verspätung hatte. Dann konnte der Nachzügler meist nur noch auf einem von Toten und Sterbenden übersäten Feld konstatieren, daß man hoch gespielt – und verloren hatte! Doch Friedrich, der Preußen großer Feldherr, hatte es bei Königgrätz getan, und Napoleon war es 1806 bei Jena und Auerstedt gelungen. Selbst der verdammte Sepoy-General brachte solche Kunststücke fertig. Jourdan und Joseph waren bei Vitoria daran gescheitert! Soult wußte um sein organisatorisches Talent. Immer gelang es ihm, alle Adler pünktlich dort aufmarschieren zu lassen, wo sein Kaiser sie haben wollte. Was waren schon diese Pyrenäen für den besten Strategen des französischen Reiches?

Soults großer Plan hatte überwältigende Vorteile: Mit etwas Glück würde er den Hauptteil seiner gesamten Spanienarmee an seiner äußersten, linken Flanke konzentrieren können, noch bevor Lord Wellington ein entsprechendes Gegenmanöver vollzog. Bei Roncesvalles standen so lächerlich wenig Leoparden in der Landschaft herum, daß er durch die rechte Flanke des Iren schneiden konnte, wie ein heißes Messer durch ein Stück normannischer Butter: Der bewährte Clausel würde den Frontalangriff führen, Reille vier Meilen weiter östlich über einen Maultierpfad bis zum Lindus-Plateau hinauf in die Pyrenäen ziehen und dann dem Sepoy-General die Überraschung seines Lebens besorgen. Der Herzog von Dalmatien hörte Napoleon schon bewundernd ausrufen: „Soult, du bist der beste Stratege in meinem ganzen Reich!“ Wie in den guten alten Tagen, als Frankreichs Stern noch hell über ganz Europa leuchtete! Wie in den guten alten Tagen, als er seinem Kaiser den Tag von Austerlitz gerettet hatte!

Während Marschall Soult dazu ansetzte, die große, französische Sommeroffensive gegen Spanien zu starten, durchlitt sein irischer Gegner Augenblicke schlimmster Ungewissheit, denn sein Nachrichtendienst funktionierte so vorzüglich, daß ihm auf der anderen Seite des Bidassoa, im Feindesland, so gut wie nichts verborgen blieb: Pater Jack Robertson und sein Quartett, Späher der Guerilleros, Späher der britischen Regimenter, Sir James Dullmores Informantenheer im französischen Teil des Baskenlandes, sie alle warfen ihn mit großen und kleinen Nachrichten jeder Art zu. Damit verfügte er einerseits über zuviel Information, doch andererseits hatte er noch zu wenige Details über die wirkliche Stoßrichtung der Adler, um schon handeln zu können. Man hatte ihm minutiös jedes einzelne Detail von Soults Reorganisation der zertrümmerten Armeen König Josephs zugetragen. Selbst die genaue Anzahl und die Kaliber der Ersatz-Artillerie, die die neue Spanienarmee aus Bayonne bekommen hatte, lagen auf seinem Arbeitstisch. Jose Etchegaray war in der letzten Nacht erschöpft und schmutzig in sein Turmzimmer in Lesaca gestürzt, um ihm zu erklären, daß die Adler bei Urrune zwei vollständige Pontonbrücken liegen hatten, die lang genug waren, um den Bidassoa an der breitesten Stelle zu überspannen. Oberst Grant und Jack Robertson waren verkleidet und verwegen nach Frankreich geschlichen, um Adler zu zählen. Seit den Morgenstunden dieses Tages wußte Arthur auch um die Ordre de Bataille und um die größte Truppenkonzentration vor Saint-Jean-Pied-de-Port.

Daneben schrieb ihm General O’Donell täglich aus Pamplona. Es waren weniger Depeschen, als Klagebriefe: Die eingekesselten Franzosen hatten bereits alle Ratten gefangen, gebraten und aufgegessen. Doch sie wollten einfach nicht die weiße Fahne hissen! Sie machten sich nun offensichtlich daran, ihre leeren Mägen mit den Mäusen und Spatzen zu füllen, die Pamplona noch reichlich bevölkerten.

Aus San Sebastian benötigte Arthur keine Depeschen: Er hatte zwei Ohren und die genügten ihm! Ohne große Mühen konnte er jeden einzelnen Kanonenschuß mitzählen, den General Graham im Verlauf eines langen Tages in hilfloser Wut gegen die mächtigen dreifachen Wälle feuerte. Die Truppenkonzentration des Gegners deutete auf einen Schlag gegen San Sebastian hin. Die Pontons bei Urrune schienen dies zu bestätigen und die verdammte belagerte Festung wollte und wollte nicht fallen, genausowenig wie die zweite, verdammte Grenzfestung einfach nicht verhungern wollte. Seit dem Tag, an dem Arthur erfahren hatte, daß Jourdan und Joseph von Soult abgelöst worden waren, bereitete er sich in seinem Inneren auf eine große, feindliche Sommeroffensive in kürzester Zeit vor. Er hatte von Anfang an gespürt, daß ihm für San Sebastian maximal zwei Wochen gegeben waren, denn Soult war ein großartiger Organisator. Er vermochte in vierzehn Tagen, aus jedem demoralisierten, dahinsiechenden Kadaver wieder ein Feldheer zu formen. Er war auch ein glänzender Redner, der den Entmutigten wieder Kraft einflößen konnte und Kampfgeist und revolutionären Eifer ...

Arthur war ein erbärmlicher Redner! Was Ansprachen vor dem Feldheer anging – er verstand sich darauf noch weniger als auf Belagerungen, und für gewöhnlich ersparte er sich und seinen Leoparden alles, was über ein paar kurze Befehle hinausging: Gloire! Victoire! Allons Enfants de la Patrie ...! Wenn man sich vor 60.000 Mann stellte, um ihnen irgendwas von König, Vaterland und Englands Ruhm zu erzählen, dann hörten einen sowieso nur maximal die 200 Leoparden, die einen in ihrer Aufregung und in ihrem Überschwang fast vom Pferd stießen! Wenn er Schach spielte, hielt er den Mund und dachte nach. Arthur spielte leidenschaftlich gerne Schach, wenn er Zeit hatte und einen interessanten Gegner! Soult war ein solcher und er hatte alle Zeit der Welt und ein riesiges Schachbrett. Es war fast eintausend Quadratmeilen groß, an der längsten Seite erstreckte es sich über 40 Meilen, zwischen Irun und der Straße nach Pamplona. Er hatte 60.000 Schachfiguren aufgestellt und alle möglichen Züge durchdacht. Er wußte, daß seine roten Bauern, Springer und Türme ihn gegen jeden möglichen Zug der blauen Figuren wappneten. Er konnte Soult jederzeit einen sauberen Schuß vor den Bug versetzen und ihn höflich, aber bestimmt darum bitten, wieder über die Grenze nach Spanien zu verschwinden. Er hatte ein untrügliches Auge für die Topographie. Er verfügte über gute Karten der Berge und Navarras. Doch mehr noch als alles Papier der Welt half ihm sein Aussichtsturm in der Mitte der Frontlinie und seine langen, einsamen Ritte zwischen der Küste und den verschiedenen, alliierten Stellungen im Landesinneren. Sein Dilemma war in diesem Augenblick nicht das Wie gegen die Adler, sondern das Wo. Er mußte entscheiden, wo er seine Korps konzentrierte oder zumindest einen Schulterschluß über einen großen Frontabschnitt vollziehen. Ansonsten konnte man seine Flanken aufrollen, ihn umgehen und den Leoparden in den Rücken fallen. Doch für diese Entscheidung brauchte er Soult! Der Herzog von Dalmatien spielte Weiß. Er mußte, nach den Regeln des Schachspiels den Eröffnungszug tun.

Sein menschliches Torres Vedras, das sich in einer irregulären und filigranen Linie zwischen Irun und dem Paß von Roncesvalles erstreckte, war in jeder Hinsicht eine ideale Lösung, um den Franzosen Einhalt zu gebieten. Es war Unsinn, irgendwelche bestimmten Abschnitte halten oder befestigen zu wollen. Berge konnte man nicht halten und Schluchten waren nicht zu befestigen! Das ganze Geheimnis seiner Strategie war eine Möglichkeit, leicht und elegant zu manövrieren; entweder auf San Sebastian, oder auf Pamplona. Was wirklich zählte, wie immer, wenn der Ire sich dazu durchrang, ein Schlachtfeld zu betreten, waren die lateralen Kommunikationslinien, die hinter der eigentlichen Front seine einzelnen Truppenteile sicher miteinander verbanden.

Es war Soults Vorrecht, ihn zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort, ohne Vorwarnung anzugreifen. Danach würde der Franzose auf einen ständig wachsenden, alliierten Widerstand stoßen: Irun, Maya und Roncesvalles waren die Haupteinfallstraßen nach Spanien. Es waren die einzigen Wege, die Kolonnen mit schwerem Gerät guten Gewissens nutzen konnten. Nach den Bergen ging es hinunter in die Täler und immer weiter ins Landesinnere von Navarra. Es war ein beschwerlicher und ungewisser Weg!

Arthur hatte sich seine Karten für das große Spiel gut gelegt. Wie ein baskisches Fangeisen für Bären würde die Falle zuschnappen, wenn Soult es am wenigsten erwartete. Es gab nur eine Sorge, ein großes Problem: Die Falle hatte keinen Automatismus! Er mußte im Gebüsch versteckt liegen und im richtigen Augenblick an der Schnur ziehen, um den schrecklichen Mechanismus auszulösen und die französische Tatze zu zermalmen. Darum wollte er unbedingt wissen, an welcher Stelle die Adler sich herumtrieben. Schließlich mußte er sich verstecken, um sie abzupassen!

In den Augen des Iren war der Weg über Irun gegen San Sebastian die militärisch vernünftigere Lösung. Er war Soult einige Male auf dem Schlachtfeld begegnet und hatte die Probleme und Unzulänglichkeiten seines Kontrahenten ganz ordentlich analysiert. Der Mann war ein großartiger Organisator, aber wie man eine Schlacht führte, wußte er doch nicht so recht! Sich einer solchen Unzulänglichkeit bewußt seiend und dann ausgerechnet den schlimmsten Weg nach Spanien zu wählen – die Pässe –, um sich alle 50 Yards mit einem Haufen bösartiger und zähnefletschender Leoparden herumzuprügeln, die sich in den Bergen viel besser zurecht fanden, als all seine Adler zusammen, grenzte an kriminellen Leichtsinn. Als Soult damals am Coa kampflos aufgegeben hatte, hatte er sehr verantwortungsbewußt und vernünftig gehandelt. Mußte man daraus nicht einfach die Schlußfolgerung ziehen, daß der berühmte Soldat es dieses Mal wieder so anging und sich nicht von Emotionen, sondern von seinem rationalen Geist leiten ließ?

Er schrieb eine Depesche an Sir Thomas Graham. Darin empfahl er seinem General den Sturm der Festung zu versuchen. Dies, obwohl er Zweifel an den Breschen hatte! Doch Zeit war ein rares Gut: Die Leoparden hatten das Convento de San Bartolomeo genommen und auch Santa Catalina und eine Vorstadt. Die Trommeln des Krieges schlugen laut von der anderen Seite der Grenze nach Spanien hinein. Er konnte sie fast genausogut hören wie das Grollen der Kanonen vor San Sebastian. Vielleicht geschah ja ein Wunder! Im Krieg gab es keine Gewißheiten, nur Hoffnungen, Wünsche und Träume. Obwohl die Spannung fast unerträglich wurde, beschloß Englands Feldmarschall um seines Glaubens an ein Wunder Willen, Sir Thomas noch 24 Stunden Galgenfrist einzuräumen, bevor er seinem Feldheer endgültige Befehle bezüglich ihrer Dispositionen zukommen lassen wollte. Er schrieb für jede der beiden Varianten – Irun oder die Pässe – entsprechende Marschbefehle nieder, ordnete sie sorgfältig und legte sie mit einem Deckblatt ‚Pamplona’ und einem Deckblatt ‚San Sebastian’ gut sichtbar auf seinen Arbeitstisch. Im Ernstfall wollte er nicht, daß irgend jemand lange herumsuchen mußte. Dann stieg er zu den Zinnen des Wehrturms hinauf, setzte sich auf die Balustrade, starrte in Richtung Atlantik und hörte dem Grollen der Kanonen zu.

„Mylord!“, riß eine vertraute Stimme ihn Stunden später aus seinen Gedanken, „Sie sollten wenigstens versuchen, etwas zu essen!“ Sir James Dullmore hatte den Weg bis hoch zur Spitze des Hauptquartiers gemacht. Sergeant Dunn hatte ihm Kaffee und einen gefüllten Teller auf ein Tablett gestellt.

Dankbar nahm Arthur die Tasse. Das Abendessen verweigerte er, so wie er seit Tagen schon alles ablehnte, was der besorgte, alte John in ihn hineinzustopfen versuchte. Soult lag ihm wie ein Stein im Magen: „Es hat keinen Sinn, mein Junge!“

Der Oberst wollte kehrtmachen und wieder die Treppen hinunter steigen, um Englands Feldmarschall mit seinen Gedanken alleine zu lassen. „Nein, Jamie! Bleiben Sie ruhig! Nur das Essen hat im Moment keinen Sinn!“, holte Wellington ihn zurück.

Dullmore stellte das Tablett auf die Stufen und setzte sich neben ihn auf die Balustrade. Lange schwiegen die beiden Soldaten sich einfach an. Der Kommandeur der 33. Infanterie lauschte den Kanonen genausogebannt wie sein Vorgesetzter, und bei jedem Schlag, der durch die Berge dröhnte, krampfte sein eigener Magen sich genausoschmerzhaft zusammen wie der von Sir Arthur. Der Oberst hatte San Sebastian, als er noch bei den Partisanen gewesen war, gründlich studiert. Er wußte, wie sinnlos Sir Thomas Grahams Unterfangen war. Und er wußte, daß Sir Arthur es auch wußte, obwohl der nichts anderes tun konnte, als seiner Chimäre nachzujagen, in der Hoffnung, vielleicht doch Glück zu haben. Jeder dumpfe Knall bedeutete Blut, Tod und Verwüstung!

„Was geht Ihnen durch den Kopf, Jamie?“, fragte Wellington irgendwann. Seine Stimme hatte einen traurigen Klang. Er fühlte, genau wie sein junger Oberst, daß jeder Schuß gegen die Wälle vergeudetes Pulver und – noch schlimmer – vergeudetes britisches und alliiertes Blut war!

Dullmore wendete sich Sir Arthur zu. Mit der Rechten mußte er sich an einer der Zinnen festhalten, um sein Gleichgewicht auf der uralten, brüchigen Balustrade nicht zu verlieren. Seit er seinen Partisanenbart abrasiert hatte und das Haar wieder militärisch kurz geschoren trug, fiel dem Iren auf, wie jung der Schotte eigentlich war. Als ob sich seine Reitsporen noch in der Schürze der Amme verhedderten, wenn er nicht aufpaßte. Der kalte Schleier hob sich über seinen Augen. Er liebte diesen brillanten, jungen Offizier wie einen eigenen Sohn. Es gab Augenblicke, da wünschte er sich, das Jamie und Fitz und Colin und Antonio seine richtigen Söhne wären und nicht diese beiden unbekannten Kinder in einem fernen Land zu denen er keine Beziehung hatte und für die er nichts empfand, außer einem Gefühl der Pflicht!

„Mylord, ich bin heute früh nach San Sebastian geritten. Die Bresche ... Sie werden es nicht schaffen! Es wäre das Vernünftigste, sich mit San Bartolomeo zufrieden zu geben und wie in Pamplona einfach abzuwarten! Rey wird eines Tages nachgeben müssen.“

Arthur nickte: „Sie haben heute immer noch genauso recht wie vor zwei Wochen, als wir zusammen bei Sir Thomas waren, mein Sohn! Aber vielleicht haben wir ja Glück ...!“ Er zuckte ein wenig hilflos die Schultern. „Der Krieg ist ein großes Spiel ... Manchmal geschehen Wunder, die wir nicht erwarten ... Vauban ist eine Sache, der Mut der Verzweiflung eine andere! In unserem Geschäft haben beide hohen Stellwert! Nur wenn ich weiß, wohin Soult sich bewegt, werde ich entscheiden, ob wir den Belagerungsapparat wieder einschiffen und vorerst die Aktionen gegen San Sebstian einstellen. Kommt er über Irun, schlagen wir uns vor der Stadt. Der Geschützpark ist eine feine Sache gegen die Adler! Es sind wieder einmal mehr als wir Leoparden haben ... Kommt er über die Pässe, schlagen wir uns im Tal des Baztan und in den Bergen. Dann sind die Kanonen hinderlich. Im Landesinneren brauche ich Infanterie, Infanterie und noch mehr Infanterie ... Aber bevor ich den Befehl zum Abbruch gebe, muß der alte Fuchs den ersten Zug tun! Er spielt weiß. Und wenn die Adler sich aus Versehen nicht rühren sollten, werden wir einfach weitermachen und belagern, belagern, beschießen, graben etc. ... Entweder bis diese verdammte Festung fällt, oder bis ich Neuigkeiten aus Germanien erhalte. Im Augenblick hängt nicht alles von meinem Willen ab, Jamie: Werden die Russen und die Preußen sich wegen dieses unglücksseligen Vertrages von Pläswitz mit Bonaparte ernsthaft an den Verhandlungstisch setzen ...? Der politische Imperativ mischt wieder einmal im Krieg mit. Er macht uns allen Probleme und Sorgen, aber wir müssen mit ihm leben. Um der Österreicher in der Sechsten Koalition Willen, ist es ein Blutopfer von Zigtausenden vor San Sebastian wert ...“

Jamie las in Wellingtons Augen eine sonderbare Mischung aus Trauer, Verzweiflung und Angriffslust.

„Ich möchte heute abend nicht an Ihrer Stelle sein, Mylord!“, sagte er leise. Früher hatte er immer geglaubt, der Krieg sei eine Sache, die sich mit dem Mut der Männer auf den Schlachtfeldern entschied. Dann hatte er angefangen die Geschichte zu studieren. Je mehr er las, um so mehr verstand der junge Offizier, daß ihr Geschäft nur eine Fortsetzung der Politik oder der Wirtschaft mit blutigen Mitteln war und die Männer im roten, grauen, weißen, schwarzen oder im blauen Rock nichts als Marionetten in den Händen ihrer Herren in den Regierungspalästen der Hauptstädte waren. Sir Arthur konnte sich nicht an den Ebro zurückziehen. Politisch würde ein Rückzug die Preußen und Russen verunsichern und die Österreicher wieder ins Wanken bringen. Und er durfte noch nicht über die Pyrenäen gehen und den Krieg nach Frankreich tragen, obwohl er es konnte und ohne Probleme in wenigen Wochen am Ardour, am Nivelle und an der Nive stehen würde, denn wenn es zu einem Friedensschluß im Norden kam ...

„Irgendwann einmal, mein Sohn, wenn Sie diesen Krieg überleben sollten, kommt aber der Tag, an dem Sie unweigerlich mit ähnlichen Dilemmata konfrontiert werden wie ich heute abend!“ Ein bißchen Spott schlich sich in die blauen Augen des Iren. „Dann müssen Sie Ihre eigenen Entscheidungen treffen und dürfen keine Fehler machen ... Es wird sicher nicht in Spanien sein, und Ihr Gegner ist dann möglicherweise kein Franzose mehr, sondern ein Preuße oder ein Russe oder ein Inder oder Gott weiß wer! Leider bestimmen Gewalt und Blutvergießen den Lauf der Welt! Dieser Krieg hier ist noch der meine. Der nächste wird Ihrer sein und der von Somerset und Campbell und Colborne und Wallace und Jung-Hill!“ Arthur war von der Balustrade aufgestanden. Er warf Dullmore einen sanften Blick zu. Dann strich er ihm mit einer kurzen Bewegung, fast flüchtig übers Haar: „Passen Sie gut auf sich auf, Junge! Führen Sie unser Regiment ordentlich!“ Er machte kehrt und eilte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren die Treppe hinunter, durch die Küche in den Stall des Hauptquartiers, sattelte Kopenhagen und verschwand durch die Abenddämmerung nach San Sebastian.

Nachdenklich blieb Jamie auf den Zinnen des alten Wehrturmes von Lesaca zurück.

Der Sturm gegen San Sebastian schlug fehl. Mehr als 1000 Männer fielen auf den Schanzen vor der Stadt und der Festung. In dem Augenblick, in dem Wellington den Befehl erteilte, die schwere Belagerungsartillerie vorläufig wieder einzuschiffen, erreichte ein Kurier des Earls of Dalhousie das Hauptquartier von Lesaca. Er überbrachte ein Gerücht über eine französische Truppenkonzentration auf dem Paß von Maya und den Lärm von Gefechten in den Bergen. Der Generalquartiermeister Sir George Murray dachte nur einen kurzen Augenblick lang nach. Englands Feldmarschall war irgendwo in oder um San Sebastian unerreichbar. Damit war er der ranghöchste Offizier vor Ort. Sein Geschäft war zwar das Zählen und Verwalten, doch er vermochte auch sehr logisch und klar zu denken und Entscheidungen zu fällen. Er rannte in das Turmzimmer. Auf Wellingtons Tisch fand er, was er erhofft hatte: Der Oberkommandierende schrieb immer alles auf! Es war ein Glücksfall, daß er sich nie auf eine einzige Variante gegen die Adler versteifte. Fein säuberlich getrennt lagen zwei Haufen Papier auf Wellingtons Arbeitstisch. Einer trug die Aufschrift ‚San Sebastian’, der andere ‚Pamplona’. Murray griff nach ‚Pamplona’ und überflog die Gedanken seines irischen Herrn. So schnell wie er nach oben geeilt war, kam er wieder in die Küche zurück. Er hatte nicht das Recht, an Wellingtons Stelle Befehle zu erteilen. Also zog er ein Stück Papier mit dem Briefkopf des Generalquartiermeisters hervor und schrieb: „Die Siebte Division und die Leichte Division werden in Alarmbereitschaft versetzt. Die Männer bereiten sich auf einen möglichen Abmarsch vor!“ Er warf einen kurzen Blick auf die Ferraris-Karte, die man in der Küche auf ein großes Holzbrett genagelt hatte: „Der Chestnut Troop der Royal Horse Artillery rückt von Santa Barbara nach Sumbilla vor und bezieht unverzüglich Stellung!“ Anstatt den Adjutanten des Earls of Dalhousie loszuschicken, übergab er die Befehle einem jungen Mann aus seinem eigenen Stab. Sollte er einen Fehler gemacht haben, dann war er alleine verantwortlich und Sir Arthur wußte, wenn er zur Rechenschaft ziehen konnte.

Am späten Abend kehrte der Ire aus San Sebastian ins Hauptquartier zurück und Murray hatte gerade noch die Zeit, seine Entscheidungen darzulegen und sich von seinem Vorgesetzten ein zustimmendes Kopfnicken und ein bewunderndes „Sehr guter Reflex, Sir George! Ich hätte genau die gleichen Dispositionen angeordnet!“ abzuholen, als ein atemloser Reiter in die große Küche stürzte. Wellington erkannte ihn sofort. Es war einer der feinen, jungen Männer aus Sir Galbraight Lowry Coles Stab: General Byngs Brigade aus der Vierten Division war gegen zehn Uhr morgens auf dem Paß von Roncesvalles angegriffen worden. Doch die Leoparden hatten ihren Gegner erfolgreich zurückgeschlagen!

Im Reflex durchfuhr es Arthur, daß der alte Fuchs Soult eine Diversionsbewegung gegen seine rechte Flanke startete, um ihn zu verwirren und von einem Hauptstoß gegen San Sebastian abzulenken. Innerlich beglückwünschte er sich zu seiner Entscheidung, Tom Grahams Belagerungsapparat wieder eingeschifft zu haben. Noch nie war eine britische Kanone den Adlern in die Hände gefallen! Doch fast gleichzeitig mit diesem sehr logischen Reflex schlich sich ein ganz unlogischer Zweifel in sein Gehirn und malträtierte ihn hinterhältig: „Vergiß San Sebastian! Dieser Adler ist total verrückt! Der schickt seine Männer wirklich über die gefährlichsten und schwierigsten Pässe der ganzen Pyrenäenkette, weil er felsenfest davon überzeugt ist, das die Vierte Division vom Hauptheer isoliert steht. Da will ein ganz Schlauer eine Flanke aufrollen, ohne genau zu wissen, ob es auch wirklich eine ist!“ Picton und die Dritte Division befanden sich in Olague. Die Gegend war von Guerilleros so verseucht, daß kein französischer Aufklärer lebend weiter kam, als an den Paß von Roncesvalles. Wenn Soult nun wirklich nicht wußte, wie die alliierte Ordre de Bataille aussah und wo seine Divisionen standen?

„Major, setzten Sie sich! Ich muß Sie da ein paar Dinge fragen!“ Wellington hatte es sich bereits bequem gemacht. Der feine junge Mann folgte seiner Aufforderung mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht.

„Sagen Sie, wie kommt es, daß die Adler heute um zehn Uhr morgens angreifen, Byng sie zurückschlägt und Sir Galbraiths Meldung erst um neun Uhr am Abend hier aufschlägt?“ Acht Stunden für 25 Meilen schienen dem Iren ein bißchen viel, insbesondere in Anbetracht der teuren, schnellen Vollblüter, die Coles junge Verwandte ritten.

Der Major wurde rot im Gesicht: „Äh, General Lowry Cole hat es – nachdem Byng die Adler vertreiben konnte – für vernünftiger gehalten, sich mit der gesamten Vierten Division auf General Picton und Olague zurückzuziehen. Ich bin erst nach dem gelungenen Rückzug zu Ihnen geschickt worden, Mylord!“

Sir Galbraith hatte also die Last der Verantwortung nicht ertragen und sich zum ranghöheren Sir Thomas geflüchtet, um alle weiteren Entscheidungen dem alten Offizier aus Wales aufzulasten.

„Ist Byng auf so starkß feindliche Kräfte gestoßen, das ihr euch mit fast 6000 Mann auf dem Paß in die Hosen gemacht habt ...?“ Cole war kein begnadeter Stratege, aber auf dem Schlachtfeld war er ein Löwe! Sein Angriff hatte Beresford den Tag von Albuera gewonnen, bei Salamanca und Vitoria hatten die Vierte Division und ihr Kommandeur gezeigt, welcher Mut und Elan doch in ihnen steckte. Alle war sie kampferprobte Veteranen, von Sir Galbraith bis hinunter zum letzten Mann. Die Spanier von Morillo waren bei Byng. Gemeinsam hielten sie jetzt seit drei Wochen Roncesvalles und das Lindus-Plateau.

Der Major nickte: „Mylord Wellington, es waren verdammt viele! Ehrlich! Nicht oben auf dem Paß ... aber unten, auf der französischen Seite. Wir hatten Späher über der Grenze. Gute Männer! Zuverlässige Männer! Sie hatten knapp 40.000 Adler geschätzt – sie kamen aus zwei Stoßrichtungen auf uns zu. Marschall Soult war bei ihnen und wir konnten General Reille identifizieren!“

„Reiten Sie zu Cole und Picton zurück! Die beiden können machen, was sie wollen, aber im Namen des Allmächtigen, wenn sie auf die Idee kommen, sich aus Angst oder Unsicherheit auch nur einen Yard in Richtung Pamplona zu bewegen, dann reiße ich ihnen den Kopf ab. Picton soll seine Flanke nach links ausdehnen! Ich komme vorbei, sobald ich Neuigkeiten von Hill habe!“ Wenn Sir Galbraith unter Arthurs direktem Befehl stand und keine eigenen Entscheidungen treffen mußte, war er die Selbstsicherheit in Person. Auf dem Schlachtfeld führte er seine Männer mit Geschick. Doch wenn er auf sich alleine gestellt war und in strategischen Kategorien denken mußte, bekam er es regelmäßig mit der Angst zu tun. Konnte man es einem Mann verdenken, Angst zu bekommen, wenn er mit insgesamt 13.000 Soldaten in unbefestigten Positionen unerwartet über 40.000 Gegnern stolperte, die durch den Pyrenäennebel mit lautem Trommelwirbel auf ihn zu marschierten? Arthur zuckte die Schultern. Er konnte sich vorstellen, was Sir Galbraith durchgemacht hatte, als er dieser gigantischen Übermacht gewahr wurde. Solche Situationen hatte er selbst in seinem langen Soldatenleben schon oft durchlebt: Mit einer Handvoll Leoparden einem drei-, vier- oder fünfmal stärkeren Feind entgegenzutreten ... Er hatte sich am Anfang ja auch ins Hemd gemacht und weiche Knie bekommen ...! Irgend wann war die Angst dann aber verschwunden und von einem Fatalismus abgelöst worden, der ihm immer geholfen hatte, ruhig in der Defensive auszuharren und die Fehler des Feindes abzuwarten ... Er hatte sich bereits vor langer Zeit damit abgefunden, daß nur Hill diesen hilfreichen Fatalismus im Angesicht einer Übermacht entwickelte! Picton, Beresford und Graham konnten zwar alleine entscheiden, doch ihr Nervenkostüm war nicht stabil genug, um hoch zu pokern ... Sein Schwager Pakenham besaß zwar ein paar gute Anlagen, ging aber noch bei Sir Thomas in die Lehre, kämpfte mit dem Handikap, eigentlich Kavallerieoffizier zu sein und ließ sich mehr von Gefühlen als von der Raison leiten. Vielleicht war Ned ja einfach noch zu jung, um schon mit dem Unabwendbaren zu leben! Er wollte die Welt und die Gesetze des Krieges ändern. Er mußte sich die Hörner zuerst abstoßen, dann würde man weitersehen ... Alle anderen Divisionskommandeure konnte man getrost vergessen: Dalhousie und Oswald waren militärische nutzlos, Clinton plagte glücklicherweise ständig seine schwache Gesundheit. Er war zu krank, um Katastrophen und Rohrkrepierer auszulösen ... nichtsdestoweniger, Coles sträfliche Verzögerung in der Übermittlung wichtiger Informationen an sein Hauptquartier ließ Arthur innerlich überkochen: Die Pyrenäenregion war kein übersichtliches Schlachtfeld, wie Salamanca oder Vitoria. Er hatte seinen Divisionskommandeuren strengstens befohlen, mindestens einmal am Tag Kuriere zu ihm zu schicken. Er war, entlang einer 40 Meilen langen und fast 1000 Quadratmeilen großen Front von ihren Informationen abhängig, um seine Entscheidungen treffen zu können. Jede Verzögerung, die ihre Unlust, Unfähigkeit oder Gedankenlosigkeit mit sich brachte, bereitete ihm – sowohl auf der strategischen, als auch auf der taktischen Ebene – größte Schwierigkeiten!

Das Bastan-Tal und Pamplona lagen in Hills Verantwortung. Trotzdem war es ein Bäuerchen gewesen, das mit einem Korb voll Gemüse zu Miss Mary gelaufen kam, um ihr zusammen mit den Karotten, Kartoffeln und Zwiebeln das Gerücht zu bringen, daß es am Paß von Maya schon den ganzen Tag über laut zuging und Schüsse durch die Berge krachten. Wellington wußte um dieses Gerücht, denn Mary hatte es Rob erzählt, der war damit zu Jamie Dullmore gelaufen und dieser hatte es Sir George Murray zugetragen, der es ihm selbst schließlich – zwischen Tür und Angel – an den Kopf werfen konnte, noch bevor er Reitumhang und Handschuhe abgelegt hatte. Dieser Informationsweg entsprach nicht so ganz Arthurs Auffassung von lateralen Kommunikationslinien etc. Auch gutgemeinte Gerüchte halfen nicht, wenn es um eine großangelegte Truppenkonzentration ging, die im Falle der Pamplona-Variante auf ein Schlachtfeld direkt vor der belagerten Stadt führen sollte. Der Ire verfluchte innerlich seinen Freund Sir Rowland und die Tatsache, daß keine schriftlichen Mitteilungen der Zweiten Division bis zu diesen späten Stunden des 25. Juli ihren Weg nach Lesaca gefunden hatten. Es war kurz vor Mitternacht! Er konnte nichts tun, außer wie ein Tier, das man in den Käfig gesperrt hatte, in der Küche auf und ab zu laufen, die Wände anzustarren, seine Uhr zu fixieren und ungeduldig abzuwarten.

Erst um zwei Uhr morgens erlöste Sarahs kleiner Bruder, Lord March, Englands Feldmarschall von seinen Leiden. Er stürmte durch die Tür des Hauptquartiers. Sir Rowland hatte keine Zeit gehabt, eine Depesche zu diktieren. Alles war nur mündlich, aber es waren genau die Worte, die sein General ihm aufgetragen hatte! Der Adjutant sah erbarmungswürdig aus. Er hatte nicht nur die Nachricht durch die Nacht getragen. Er hatte den ganzen Tag über im feindlichen Feuer gestanden. Hill hatte 800 Leoparden verloren und kurzfristig den Paß von Maya aufgeben müssen. Aber eine alliierte Flankenoperation hatte die Adler vertrieben. Die Zweite Division stand in starken und sicheren Stellungen und wartete auf das Morgengrauen.

Wellington atmete auf. Er ließ sich von Lord March auf der Ferraris-Karte genau zeigen, wo Sir Rowland stand. Dann schickte er den jungen Offizier ins Bett. Generalquartiermeister Murray hatte die ganzen bangen Stunden über dösend am Feuer vor dem Kamin des Wehrturms verbracht. Er war zwar genausonervös, wie Lord Wellington, doch die Müdigkeit hatte ihn schlimmer geplagt als alle Ungewißheiten des Krieges. Arthur riß ihn aus dem Halbschlaf: „Sir George, holen Sie Papier und Feder! Wir müssen die Marschbefehle für die Pamplona-Variante ergänzen. Der Angriff gegen Hill am Paß von Maya ist der eindeutige Beweis dafür, daß Soult San Sebastian nicht entsetzen will, sondern zuerst gegen die Festung im Süden vorrückt!“ Er schickte John Dunn ins Turmzimmer, um den Papierstoß von seinem Arbeitstisch in die Küche zu holen. Dann wurden seine Adjutanten unsanft aus ihren Betten geschmissen und der Kurierdienst sattelte die Pferde. Es hatte sich gelohnt, sorgfältig vorzuplanen. In weniger als 40 Minuten waren die Befehle ergänzt und um drei Uhr morgens machten Campbell und Antonio sich zu den am weitesten entfernten alliierten Divisionen auf den Weg, die Kuriere stoben los, um verstreute Einheiten ausfindig zu machen und auf ihre Positionen zu leiten: Ned Pakenham und die Sechste Division verstärkten Hill. Die Siebte unter Dalhousie schloß sich an Pakenhams Flanke, bei Sumbilla mit der Sechsten zusammen. Die Leichte Division wurde ganz vorne, entlang des linken Bidassoa-Ufers, zwischen San Esteban, Yauci und Lesaca positioniert. Die Spanier erhielten Befehl, den Schlüssel zum Tal des Bastan zu sichern: Sie sollten San Esteban besetzen und verteidigen! Alle Partisaneneinheiten und die 33. Infanterie würden aus der Gegend um Lesaca einen Nachtmarsch ins Tal des Bastan vornehmen und die Verbindung zwischen Hill und der Leichten Division sicherstellen!

Dann befahl Wellington, man möge seinen Hengst satteln. Nur von Lord Fitzroy Somerset begleitet, verschwand er in der Nacht, um die schwierigste und gefährlichste Schlacht seines Lebens zu schlagen. Der 26. Juli 1813 war kaum vier Stunden alt.

Kapitel 2 Neun endlos lange Sommertage

Neun endlos lange Tage hörte man hoch in den Bergen in Lesaca nur das Donnern der Geschütze und den fernen Lärm blutiger Zusammenstöße zwischen den Leoparden und den Adlern. Doch Lord Wellington stand mit seiner Armee im Felde und keine präzisen Nachrichten fanden ihren Weg zu den Zurückgebliebenen. Von Zeit zu Zeit drang ein Gerücht an die beunruhigten Ohren von Mary Seward oder John Dunn. Manchmal brachten sie schwerverwundete Leoparden in das große Lazarett, das Sir James McGrigor im Dorf installiert hatte: Es waren die, denen draußen auf den blutigen Schlachtfeldern nicht geholfen werden konnte; die verzweifelten und hoffnungslosen Fälle. Meist waren es nicht einmal Soldaten, die ihre Kameraden zu den Ärzten brachten, sondern Bauern aus den Bergen. Sie wußten nichts um den Verlauf des Ringens zwischen Soult und Englands Feldmarschall. Sie kannten auch nur Gerüchte. Die Verwundeten waren in einem schlimmen Zustand; fiebernd, am Rande des Deliriums, kaum noch bei Sinnen. Sie hatten oft tagelang im Regen und in der Kälte in den Bergen ausgeharrt, bis irgendein Bauer sich ihrer erbarmte. Die meisten, die in Lesaca ankamen, starben Hume, Hale, Freeman und Dr. Lennox unter den Händen weg. Sie starben, wie die Fliegen! Je grauenhafter die Verletzungen waren, um so pessimistischer wurde die Stimmung der Zurückgebliebenen. Einen hatten vier Bergbauern in einer Decke vom Paß von Roncesvalles bis nach Lesaca geschleppt. Zu Fuß und im strömenden Regen hatten sie für die 38 Meilen nur zwei Tage gebraucht, aber der arme Mann hatte schon seit den frühen Stunden des 25. Juli halbtot in einer Lichtung gelegen. Er gehörte zu einem der Hochlandregimenter aus Lowry Coles Division. Sein linker Arm fehlte. Er war ihm genau am Gelenk, oben aus der Schulter herausgerissen worden. Die französische Kugel mußte ihn sehr präzise getroffen haben, denn Sarahs erster Eindruck war, der Soldat sei vielleicht ohne dieses Körperteil zur Welt gekommen. Die Wunde war völlig verdreckt. Nachdem sie mit viel Mühe den Schmutz ausgewaschen hatte, hob sich ihr Magen: Seit sechs Jahren schon versorgte sie die Opfer dieses grauenvollen Krieges, den ihr Land mit Frankreich führte. Sie war sicher gewesen, alles gesehen zu haben, was Kugeln, Bajonette, Splitter und Blankwaffen verursachen konnten. Doch beim Anblick dieser Verletzung wurde ihr speiübel. Innen drin war es lebendig! Fette Maden hatten sich im rohen Fleisch eingenistet. Sie versuchten sich vor ihrer Pinzette zu verstecken und verschwanden immer tiefer im Leib des Patienten. Sarah dankte dem Himmel, daß der Leopard in einem Zustand war, in dem er nicht mehr spürte, was ihm geschah. Er glühte vor Fieber: Seine Augen waren geschlossen. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Mund. Der Kiefer war völlig verkrampft. John Dunn, der Soldat, ihr bewährter Helfer in so vielen schweren Stunden, der alte Kämpfer – er fiel einfach um! Sarah hatte kein Recht darauf, in Ohnmacht zu fallen, oder ihrem Ekel und ihrer Hilflosigkeit nachzugeben und aus dem Gebäude ins Freie wegzulaufen und den Mann seinem Schicksal zu überlassen. Sie würgte den Anfall von Übelkeit hinunter und zog mit zittrigen Fingern eine fette Made aus dem Fleisch, die sie angewidert in einen Eimer schmiß. „Tommy“, flüsterte sie leise Trommler Meadows zu, der mit den Baumwolltupfern und Kompressen neben ihr stand, „schütte John bitte einen Eimer Wasser über den Kopf und hilf dem alten Mann nach draußen an die frische Luft! Und hole Miss Mary. Ich brauche jemanden, der mir zur Hand geht!“

Der Fünfzehnjährige war heilfroh, daß die gute Lady Lennox ihn gehen ließ. Er war kreidebleich. Nur seine Jugend und seine robuste Kondition hatten ihn während der letzten Stunden davor bewahrt, es Sergeant Dunn gleichzutun und auch in Ohnmacht zu fallen.

Der Leopard aus Coles Division war kräftig. Er starb ihr nicht unter den Händen weg: Irgendwie gelang es der Ärztin, alles Ungeziefer aus der Wunde zu entfernen. Gegen den Wundstarrkrampf hatte sie kein Mittel. Gegen eine Infektion oder Wundbrand vorzugehen, dafür war es bereits zu spät. Die Verletzung auszubrennen, wäre das sichere Todesurteil für den Mann gewesen. Es war jetzt fast eine Woche her, daß der Ärmste seinen Arm verloren hatte. Sie wusch alles mit Alkohol aus, stopfte alkoholgetränkten Mull in das riesige Loch, verband, flößte ihrem Patienten eine unvernünftig hohe Dosierung Laudanum durch die verkrampften Kiefer ein und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß man sich seiner erbarmen möge. Dann gab sie Zeichen, den Soldaten vom Tisch zu tragen und rief nach dem nächsten Patienten. Jedesmal, wenn ihr diese Worte entfuhren: „Bringt den Nächsten!“, betete sie, daß es nicht Arthur sein würde oder ihr kleiner Bruder oder Jamie oder Marys Mann ... Mary hatte bessere Nerven als John und der junge Meadows. Sie hatte Tommy aufgetragen, auf Paddy aufzupassen. Ruhig stand sie neben Lady Lennox, reichte ihr die Instrumente, verband Verletzungen, flößte Halbtoten oder Sterbenden eine gnädige Portion Whisky oder starke Drogen ein, fand für den einen oder den anderen, der noch bei Bewußtsein war, ein tröstendes Wort oder ein freundliches Lächeln. Während Sarah sich über den nächsten Leoparden beugte, ging ihr durch den Kopf, daß die Frauen in diesem Krieg eigentlich mutiger und tapferer waren als ihre Männer, die sich draußen auf den Schlachtfeldern gegenseitig totschlugen. Es gehörte nicht viel dazu, einem Mann sein Leben zu nehmen: Ein schneller Schuß, ein kurzer Hieb oder Stich! Aber es bedurfte allen Mutes dieser Welt und jedes Quentchens Glauben, um vor einer sich windenden, grauenvoll verstümmelten Kreatur nicht wegzulaufen ... Sarah hatte das unbestimmte Gefühl, daß man ihr schon bald einen Leoparden auf den Tisch legen würde, vor dem sie weglaufen mußte, weil sie nicht ertragen konnte, ihn krepieren zu sehen ... weil sie ihn so in Erinnerung behalten wollte, wie er vor dem Gemetzel gewesen war. Seitdem sie es bei Talavera nicht fertiggebracht hatte, Wellingtons Verletzung zu versorgen, sondern nach John Hume hatte rufen müssen, fragte sie sich, was sie wohl beim nächsten Mal tun würde.