Der Freud-Komplex - Anthony D. Kauders - E-Book

Der Freud-Komplex E-Book

Anthony D. Kauders

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Beschreibung

Die einen feierten Freud als Befreier von bürgerlichen Moralvorstellungen, die anderen beklagten seine Lehre als rationales Aufklärungsprojekt, das der deutschen Seele zutiefst fremd sei. Anthony D. Kauders legt in seinem Buch die Deutschen auf die Couch: Wie haben sie auf Freud und seine Ideen reagiert? Was verraten die Reaktionen über ihr Verhältnis zur Sexualität, zur Gewalt und die Vorstellungen vom »bürgerlichen Ich«, von Ohnmacht und Selbstbestimmung? Und wie haben sich die Einstellungen zur Psychoanalyse im Verlauf des 20. Jahrhunderts verändert? Der Autor zeigt auf verblüffende Weise, wie wir anhand der Auseinandersetzung mit Freud die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen der deutschen Gesellschaft rekonstruieren können. Ein überraschendes Sittengemälde und ein ebenso faszinierendes wie abgründiges Panorama der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-8270-7702-8

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, 2014

Umschlaggestaltung: ZERO, Werbeagentur München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Vorwort

1913: Sexualität

1930: Seele

1938: Rasse

1956: Wiedergutmachung

1967: Kindheit

1985: Vergangenheit

Anmerkungen

Bibliografie

Dank

Register

Vorwort

Schon wieder Freud? Gerade erst gab es doch aus Anlass seines 150. Geburtstags viel zu feiern, es erschienen Biografien und Bildbände, sein Schaffen wurde gewürdigt, die Psychoanalyse kritisch hinterfragt. Wie schon in den Jahren zuvor musste man auch im Jubiläumsjahr 2006 nicht befürchten, dass es zu großen Kontroversen kommen würde zwischen Befürwortern und Gegnern des Wiener Analytikers. Starke Gefühle sind heutzutage nicht im Spiel, wenn es für oder gegen die Psychoanalyse geht. Und falls es doch zu Debatten kommt, bleiben sie Experten vorbehalten.

Freuds Wirkung auf die Deutschen war nicht immer so harmlos. Er hat die Menschen im 20. Jahrhundert berührt. Da betrat jemand die Bühne, der behauptete, frühkindliche Sexualität bestimme über die psychische Gesundheit erwachsener Männer und Frauen, der Träume für verdrängte Wunschvorstellungen hielt und gar postulierte, es gebe eine geheimnisvolle innerpsychische Macht, die die Menschen daran hindere, »Herr im eigenen Hause« zu sein. Solche Behauptungen schlugen ein wie eine Bombe. Auch in seinem späten Schaffen provozierte Freud mit seinen Thesen: Gab es wirklich einen Todestrieb? Musste man das Unbewusste bändigen, um das eigene Ich zu stärken? Bedeutete der Verzicht auf Lust die Sicherstellung von Kultur? Freuds Zeitgenossen konnten nicht anders, als seine Theorien ernst zu nehmen, denn davon hing einiges ab – etwa das Versprechen, ein selbstbestimmtes und kreatives Leben zu führen, »neurotische« Erkrankungen zu heilen oder den Einfluss des Unbewussten auf Individuum und Gesellschaft offenzulegen. Die Psychoanalyse bot Antworten auf Fragen, die sich viele stellten.

Freuds Platz in der Geschichte haben Forscher bislang vor allem auf zwei Arten verortet. Entweder wollten sie wissen, wie er überhaupt auf solche Gedanken kommen konnte, und suchten nach den wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Einflüssen auf den Wiener Psychologen.1 Oder sie wollten wissen, welche Wirkung er auf berühmte Zeitgenossen hatte, und suchten nach seinem Einfluss in den Künsten, in der Literatur und in den Wissenschaften.2 Zum einen ging es also darum, die Psychoanalyse zu kontextualisieren, um ihre intellektuellen, religiösen und sozialen Wurzeln auszumachen; zum anderen darum, Freuds namhafte Befürworter und Gegner zu Wort kommen zu lassen. In beiden Fällen spielte die Geistesgeschichte eine übergeordnete Rolle: Freud und die Denker hier, die Denker und Freud da. Es ging um die Psychoanalyse als Denksystem.

Auch in diesem Buch kommen Denker vor, sogar viele. Das hat vor allem damit zu tun, dass sich in Deutschland lange Zeit hauptsächlich die Intelligenzija mit der Psychoanalyse beschäftigte, während etwa in den USA schon früh eine breitere Rezeption einsetzte – ob in Frauenzeitschriften oder innerhalb der Ärzteschaft, die die neuesten Nachrichten aus der Wiener Berggasse begierig aufnahm.3 In Deutschland blieb die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse hingegen nicht selten eine Sache von Bildungsbürgern und Intellektuellen: Expressionisten, die gegen restriktive Moralvorstellungen wetterten; Filmemacher, die mit Freud’schen Bildern experimentierten; Theologen, die über die Behandlungsmethode stritten; Studenten, die die Gesellschaft verändern wollten.

Das Buch Der Freud-Komplex wird jedoch nicht nachzeichnen, welche Intellektuelle den Wiener Psychoanalytiker beeinflussten und welche von ihm beeinflusst worden sind. Stattdessen möchte ich die historische Auseinandersetzung mit Freud benutzen, um die folgende Frage zu beantworten: Wie verhielten sich Deutsche zu einer Lehre, die Lust und Realität, Ohnmacht und Selbstbestimmung, Traum und Wirklichkeit zum Schwerpunkt ihrer Arbeit machte? Finden wir eine Antwort auf diese Frage, können wir auch Vermutungen darüber anstellen, wie Deutsche über Sexualität, das Unbewusste, die Autonomie, das Ich nachdachten. Mehr noch: Anhand der Freud-Rezeption können wir die Leit- und Menschenbilder, die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft erforschen.4 Wenn sich zeigt, dass sich die Einstellungen zur Psychoanalyse ähnelten, dass sie bestimmte Epochen versinnbildlichten und dass sie sich nach und nach wandelten, dann hat das Thema das Potential für eine neue Sichtweise auf die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Denn oft hilft es, an den Rändern einer Tradition zu operieren, von der Peripherie her zu erzählen, um eine Gesellschaft besser zu verstehen.5 Oder, um bei der Psychoanalyse zu bleiben: Wenn Freud glaubte, aus dem Studium der »Neurosen« »wertvolle Winke zum Verständnis der Normalen« zu bekommen, dann möchte ich aus dem Studium der Freud-Rezeption wertvolle Hinweise zum Verständnis der deutschen Gesellschaft erhalten.6

Ich werde sechs Längsschnitte in diesem Buch machen. Jedes Kapitel beginnt mit einem Jahr, in dem sich die Beschäftigung mit Freud symbolisch verdichtet. Die Jahre sind: 1913 (Sexualität), 1930 (Seele), 1938 (Rasse), 1956 (Wiedergutmachung), 1967 (Kindheit) und 1985 (Vergangenheit). Jedes Jahr steht stellvertretend für einen Prozess, in dem Aspekte einer alten Vorstellungswelt mit denen einer neuen konfrontiert werden, was zu einer gewissen geistigen Instabilität führt. Wissenschaftler sprechen in diesem Fall gerne von Liminalität, aber das Wort Übergangssituation beschreibt das Phänomen auch recht gut: ein mehrdeutiger Schwellenzustand, in dem die Macht der Vergangenheit zwar noch anhält, aber die Zukunft schon zu erahnen ist. Hierbei geht es um »Deutungszäsuren«, nicht um zeitgenössische »Erfahrungszäsuren«. Als Nachlebende legen wir diese Zeitgrenzen fest, die Zeitgenossen müssen sie so nicht erlebt haben, sie kannten ja die Zukunft noch nicht. Wie die meisten Historiker identifiziere ich also Einschnitte in der Geschichte, um die Vergangenheit besser deuten zu können.7

Nun stellt sich aber sogleich die Frage, ob es immer dieselbe Psychoanalyse war, auf die man sich im 20. Jahrhundert bezog. Für Deutschland kann man sagen: im Großen und Ganzen ja. Denn zum einen spielten hier – wie übrigens anderswo auch – die Feinheiten der psychoanalytischen Entwicklungsgeschichte bei der Beurteilung Freuds oft nur eine geringe Rolle. Die frühkindliche Sexualität, das Unbewusste, der Ödipuskomplex, die Verdrängung, der Widerstand, das freie Assoziieren auf der Couch – all das blieb ja über Jahrzehnte prägend für die Vorstellungen vom Freud’schen Modell. Und zum anderen bedeutete der radikale Einschnitt von1933, dass sich in Deutschland die Psychoanalyse nicht so weiterentwickelte wie in den Vereinigten Staaten, Frankreich oder Großbritannien. Geschweige denn in der DDR, die in diesem Buch keine Rolle spielen wird, weil dort Freuds »bürgerliche« Lehre niemals eine Chance hatte. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollten Nachfolger wie Melanie Klein, Karen Horney, Erich Fromm, John Bowlby, Donald Winnicott, Jacques Lacan oder Heinz Kohut nur Eingeweihten ein Begriff sein – die meisten Menschen reagierten nach wie vor auf Freud und die »klassische« Psychoanalyse.

Und so verdammten oder begrüßten sie seine Lehre, identifizierten sie mit Fehlleistungen oder mit frühkindlicher Sexualität, verstanden sie als Therapieform oder als Philosophie vom Menschen. Je nach Epoche rückten besondere Assoziationen in den Vordergrund. Manchmal kreisten die Diskussionen um das Wissenschaftsverständnis, manchmal um die Sexualität, manchmal um das Unbewusste. Jedes Mal ging es aber um eine konkrete Vorstellung von Subjektivität, die verteidigt werden sollte, und um sozialpolitische Ziele, die damit zusammenhingen:

Im ersten Kapitel, Sexualität, befinden wir uns im Jahr 1913. Die Elite der Psychiater kommt in Breslau zusammen, um über die Psychoanalyse zu befinden. Die Jugend trifft sich auf dem Hohen Meißner bei Kassel, wo sie für ihre Sache kämpft. Und in Münchner Cafés entdecken Anarchisten und Expressionisten die Ideen Freuds. Zu diesem Zeitpunkt ist die Psychoanalyse für die meisten Psychiater eine Bedrohung, da sie den eigenen Denkstil infrage stellt. Manche Jugendliche glauben dagegen, dass Freuds Werk mehr Aufrichtigkeit verspricht. Und prominente Künstler hoffen, mithilfe der Psychoanalyse die Grenzen der Subjektivität auszuloten. Verhandelt werden vor allem bürgerliche Werte, also wie sehr das eigene Ich »Herr im eigenen Hause« sei oder wie sehr die Sexualität die Kultur bestimmen dürfe.

Im Jahr 1930 hat sich die Lage grundlegend geändert. Freud erhält den Goethepreis der Stadt Frankfurt, allerdings nur unter heftigsten Protesten. Schriftsteller, Theologen und Philosophen schreiben gegen die Verleihung an; Alfred Döblin ist einer der wenigen, die sich vehement für die Psychoanalyse einsetzen. Das Kapitel Seele zeigt, wie die Erosion bürgerlicher Werte immer weiter voranschreitet. Das Unbewusste nimmt nun immer breiteren Raum im Denken über Subjektivität ein. Psychologen suchen nach einer Wissenschaft mit mehr Seele, Künstler setzen das Unbewusste experimentell ein, Philosophen versprechen sich von einer Rückkehr zum Unbewussten mehr »Leben«. Die Psychoanalyse scheint zunächst auf der Seite derjenigen zu stehen, die mehr Ganzheit fordern und das gesellschaftliche Ideal vom vernunftgeleiteten Menschen ablehnen. Bald zeigen sie sich jedoch von Freud als Vertreter eines »rationalistischen« Weltbilds enttäuscht. Die Psychoanalyse, glauben immer mehr Deutsche, unterschätze die positive Bedeutung des Unbewussten für das Leben.

Nicht wenige finden eine Alternative zu diesem Weltbild im Nationalsozialismus. Wir schreiben das Jahr 1938. Freud muss nach dem »Anschluss« Wien verlassen. Nichtjüdische Psychoanalytiker, die noch in Berlin praktizieren, lösen die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft auf. Und die sogenannte Reichskristallnacht macht allen klar, dass Hitler es mit seiner antijüdischen Politik ernst meint. Im Kapitel Rasse sehen wir, wie die Veränderungen, die sich schon vor 1933 abzeichnen, eine neue Dimension erreichen. Es vermischen sich nun die Vorstellung von einem »deutschen« Unbewussten mit dem Glauben an biologische Rassen. Die Psychoanalyse ist jetzt nicht nur rationalistisch, sie ist als jüdische Wissenschaft rationalistisch. Und die Juden werden in doppelter Hinsicht als »artfremd« wahrgenommen, nämlich als Träger eines kontaminierten Blutes und als Vertreter einer kalten Ratio.

Im ersten Jahrzehnt der zweiten deutschen Republik sind noch immer viele Menschen davon überzeugt, dass ein spezifisch deutscher Zugang zur Psyche existiere. Ganzheitliches Denken, in der Weimarer Republik oft gegen bürgerliche Werte gerichtet, hat nichts von seiner Beliebtheit eingebüßt. Nur bedeutet es jetzt etwas anderes, nämlich gegen den »Rationalismus« der Amerikaner und gegen den »Materialismus« der Nationalsozialisten zu sein, also den Weg der vermeintlichen Mitte zu gehen. Auch im Jahr 1956 ist das noch der Fall. Zwar feiert man in Frankfurt und anderswo Freuds hundertsten Geburtstag, und Alexander Mitscherlich behauptet, die Psychoanalyse sei nun in der Bundesrepublik angekommen. Doch die Reaktionen auf diese Festivitäten sind eher verhalten. Wie das Kapitel Wiedergutmachung zeigt, ändert sich die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse erst dann, als man die Wiederentdeckung der Psychoanalyse mit der Wiedereingliederung in die westliche Staatengemeinschaft gleichsetzt.

Auch in den späten 1960ern und frühen 1970ern bleibt die deutsche Geschichte Gegenstand der Rezeption der Psychoanalyse. Um das Jahr 1967 entdecken die Mitglieder der Studentenbewegung Freuds internen Widersacher Wilhelm Reich, mit dessen Theorien sie glauben, die frühkindliche Erziehung auf ganz neue Füße stellen zu können. In Kinderläden sollen psychoanalytische Ideen dabei helfen, antiautoritäre, sexuell befreite Menschen zu erschaffen. Dass diese Sehnsucht nicht von allen geteilt wurde, sieht man an den Reaktionen auf den Serienmörder Jürgen Bartsch. In seinem ersten Prozess weigern sich die Richter, psychoanalytische Gutachter zu hören. Im zweiten Prozess kommen diese zu Wort, allerdings ist der Widerstand gegen die Psychoanalyse weiterhin groß. Für eine breite Öffentlichkeit kann Bartschs grausame Kindheit nicht als Erklärung für sein abweichendes Verhalten dienen. Den Widerspruch zwischen einer Minderheit, die die menschliche Subjektivität ganz neu erfinden möchte, und der großen Mehrheit, die davon nichts wissen will, schildert das Kapitel Kindheit.

Als im Jahr 1985 zum ersten Mal nach dem Krieg eine Tagung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) auf deutschem Boden stattfindet, ist das Anlass genug, den Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe innerhalb der Psychoanalyse näher unter die Lupe zu nehmen. Nach der sogenannten geistig-moralischen Wende kommt es nicht nur im Zusammenhang mit Bitburg und dem »Historikerstreit« zu heftigen Kontroversen, auch in der sonst so stillen Welt der Psychoanalytiker rumort es gewaltig. Die Konferenz bildet den Abschluss unserer Erzählung – so heißt das Kapitel auch Vergangenheit –, weil von nun an die Auseinandersetzung mit Freud kaum noch über gesellschaftliche Strömungen oder unterschiedliche Vorstellungen von Subjektivität Auskunft gibt. Die Psychoanalyse ist eine von vielen großen Ideen geworden, über die sich zu streiten nicht mehr richtig lohnt, zumal die zunehmende »postmoderne« Kritik an »Metaerzählungen« solche allumfassenden Ideen zurückweist.

Wollte man die Geschichte noch einmal knapper zusammenfassen: Zwischen 1900 und 1945 kreiste die Rezeption der Psychoanalyse um folgende Themen: Wissenschaft und Sexualität, Rationalität und das Unbewusste, die Juden und die deutsche Seele. Nach 1945 kam es dann, um mit Freud zu sprechen, zur Wiederkehr des Verdrängten, das heißt Gegenstände, die schon vor 1945 die Auseinandersetzung prägten, kehrten in neuer Gestalt wieder. Etwa in Fragen wie diesen: Ist die Psychoanalyse mit deutschen Denktraditionen vereinbar? Kann man das Unbewusste steuern? Und: Wie hat sich der Nationalsozialismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft ausgewirkt? Oder um es noch kürzer zu sagen: Am Anfang und am Ende unserer Geschichte steht die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse; dazwischen handelt sie jedoch von den vielen Kämpfen um das Thema Subjektivität.

Das Buch heißt Der Freud-Komplex, weil man im deutschen Kontext durchaus von einem Komplex sprechen kann – also von einer Ansammlung von Gefühlen, Bildern und Gedanken, die durch eine emotionale Färbung miteinander verbunden sind. Dieses Buch berichtet von einem deutschen Sonderweg. Nicht, weil es in der Geschichte einen normalen Weg gäbe, von dem man abweichen könnte; nicht, weil sich die Deutschen beharrlich weigerten, die Segnungen der Psychoanalyse anzuerkennen. Der Sonderweg, von dem hier die Rede ist, hängt mit der Rolle der Romantik im deutschen Denken über die Psyche zusammen. Die Wendung des Blicks nach innen, die Suche nach dem kreativen Unbewussten, der Glaube an die »Unendlichkeit der Möglichkeiten« spielten hier eine größere Rolle als anderswo. Der Einfluss der Romantik führte dazu, dass die Vorstellung von der Einheit des Subjekts mit der Vorstellung von der Überwindung dieser Einheit immer wieder in Konflikt geriet. Nach bürgerlichem Verständnis sollte der Mensch ein homogenes Ganzes darstellen, geprägt von Bildung, Mäßigung und Zweckmäßigkeit. Das romantische Subjekt sollte auch eine Einheit bilden, gleichzeitig aber durch ästhetische und expressive Mittel die Grenzen des eigenen Ichs überschreiten. Die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse legte exakt diesen Konflikt bloß: Lassen sich die Grenzen des bürgerlichen Ichs überwinden? Und wenn ja, was bedeutet das für die Gesellschaft?

Bevor ich mit der Geschichte beginne, soll noch kurz geklärt werden, was ich unter der Psychoanalyse und ihrer Sprache verstehe.

Auf die Frage, was die Psychoanalyse sei, gibt es ganz unterschiedliche Antworten. Für die einen bezieht sich die Frage auf den (wissenschaftlichen) Inhalt und die (therapeutische) Arbeit der Psychoanalyse, für die anderen auf deren Menschenbild und gesellschaftliche Funktion. Wollen die einen wissen, was die Psychoanalyse (als Psychologie) ausmacht, möchten die anderen erfahren, was sie für die Menschheit (als Philosophie) bedeutet. Beide Fragestellungen sind für uns wichtig, weil beide den Umgang mit Freud bestimmt haben.

Zunächst zum Versuch, die Psychoanalyse als Psychologie zu definieren. Die »klassische Psychoanalyse«, wie sie Freud und seine Schüler bis zum Jahr 1938 praktizierten, basierte auf folgenden Ideen: dass es bestimmte (selbsterhaltende, sexuelle oder aggressive) Triebe gebe; dass diese Triebe im Unbewussten zu finden seien; dass durch Verdrängung Wünsche unerkannt blieben; und dass die berühmteste Verdrängung der unbewusste frühkindliche Wunsch sei, sich mit dem Elternteil des entgegengesetzten Geschlechts sexuell zu verbinden und den als Rivalen wahrgenommenen gleichgeschlechtlichen Elternteil zu zerstören. Die Geheimnisse um die Triebe, das Unbewusste, die Verdrängung und den Ödipuskomplex sollten durch das freie Assoziieren mit einem geübten Therapeuten in einer relativ einheitlichen Umgebung ans Licht gebracht werden.8

Heute gibt es diesen Konsens nicht mehr. Auch wenn ein bekannter amerikanischer Analytiker gemeinsame Merkmale des zeitgenössischen psychoanalytischen Mainstreams identifiziert haben will,9 stehen sich heutzutage Traditionen gegenüber, die von ganz unterschiedlichen Annahmen geleitet werden. Dabei können wir zwischen zwei Schulen unterscheiden: Während die eine (nach klassischem Muster) versucht, die inneren Triebe des Individuums zu ergründen sowie die Auswirkungen dieser Kräfte, vor allem im Zusammenhang mit dem Ödipuskomplex, aufzuspüren, steht für die andere – Kleinianer, Selbstpsychologen, Bindungstheoretiker – sowohl die Beziehung zwischen Therapeut (Analytiker) und Patient (Analysand) als auch das präödipale Stadium der Menschwerdung im Mittelpunkt.10 Das Einzige, was beide Schulen verbindet, ist die Überzeugung, dass in der Psyche unbewusst-dynamische Prozesse herrschen, »die nicht logisch und kausal operieren« müssen, die aber das Subjekt nachhaltig beeinflussen.11

Halten wir zunächst fest: Obwohl es in der Anfangszeit der Psychoanalyse wiederholt zu Veränderungen in Theorie und Praxis kam, herrschte bis in die späten Vierzigerjahre hinein Übereinstimmung darüber, was dazugehörte und was nicht. Die Mehrheit der Psychoanalytiker teilte bestimmte Vorstellungen Freuds, baute auf diesen auf und ließ Nuancen zu, wenn dadurch die Triebtheorie nicht infrage gestellt wurde. Später bildeten sich jedoch Gruppen heraus, die die Triebtheorie ablehnten und die Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung vor der sogenannten ödipalen Phase zum Herzstück ihrer Arbeit machten. Glaubten Psychoanalytiker lange Zeit, die Menschen müssten immer wieder zwischen ihren Trieben und den Anforderungen der Kultur vermitteln, so wollten im weiteren Verlauf des Jahrhunderts immer weniger von ihnen an dieser Idee festhalten. Trotzdem kommen die Anhänger der Triebtheorie im Buch viel häufiger vor als ihre Widersacher. Das hat mit der Vertreibung der bedeutendsten Analytiker aus dem Land zu tun, was nicht nur zum bekannten Aderlass führte, sondern auch bedeutete, dass die Psychoanalytiker in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zunächst an die Triebtheorie anknüpfen mussten, um überhaupt die Verbindung mit Freud und seinen Ideen wiederaufnehmen zu können. Erst in den frühen Siebzigerjahren, als sich die Psychoanalyse etabliert hatte, war es möglich, andere Traditionen als die »klassische« zu entdecken.

Wenden wir uns nun dem Versuch zu, die Psychoanalyse als Philosophie zu begreifen, mit deren Hilfe das Individuum und die Gesellschaft verstanden und gegebenenfalls transformiert werden sollen. In diesem Fall wird sie entweder als Selbsterkenntnis definiert und mit der sokratischen Methode verglichen12, als Sozialwissenschaft betrachtet und mit dem Marxismus gleichgesetzt13 oder aber einfach nur als kritisches Werkzeug gelobt, mit dem man hinter die Oberfläche der angeblichen »Realität« blicken kann14. Jürgen Habermas und Paul Ricœur, um nur die bekanntesten Vertreter dieser Sichtweise zu nehmen, wollen nicht die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse beweisen, um vor Medizinern und Kassenverbänden zu bestehen.15 Selbst dann, wenn sie über die Methodik und Inhalte der Freud’schen Lehre nachdenken, begreifen sie sie als Philosophie für alle, nicht als Therapie für wenige. Und als Philosophie für alle soll sie neben der Selbsterkenntnis auch der gesellschaftlichen Aufklärung dienen.

In diesem Buch ergreife ich weder für die eine noch für die andere Gruppe Partei. Einerseits gibt es mittlerweile Analytiker, die akzeptieren, dass ihre Wissenschaft in unterschiedlichen Sprachwelten existiert: in, wie Herbert Will es nennt, »einer des Erklärungswissens, in einer des Veränderungswissens und in einer der Deutungskunst«.16 Andererseits reagierten Deutsche im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder auf beide Aspekte, also sowohl auf die empirisch-objektive als auch auf die hermeneutisch-subjektive Seite der Psychoanalyse. Diese Janusköpfigkeit – oft als »Sowohl-als-auch-Wissenschaft« beschrieben – war ja gerade das Neuartige an ihr.17 Und es ist gerade diese Janusköpfigkeit, die dafür spricht, die Psychoanalyse als einen neuen Denkstil zu verstehen.

Anfang der 1930er Jahre verfasste Ludwik Fleck, ein polnisch-jüdischer Biologe, seine »Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv«. Darin beschreibt er »Denkkollektive« als mehr oder weniger abgeschlossene wissenschaftliche Gruppierungen, die sich »stilgemäß« bestimmten Problemen, Fragestellungen und Aufgaben widmen, andere dagegen als unwichtig oder sinnlos, kurz als unstilgemäß abweisen.18 Denkstile bezeichnen keine Weltanschauungen oder Institutionen, sondern »Zirkulationen von Ideen und sozialen Praktiken und die aus ihnen resultierende unbewusste stilgemäße Konditionierung von Wahrnehmung, Denken und Handeln der Forscher«.19 Etwas einfacher ausgedrückt: Mitglieder eines wissenschaftlichen Denkkollektivs identifizieren bestimmte Probleme und deren Lösungen, weil sie durch ihre Ausbildung, durch ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe und durch ihren dementsprechenden Habitus darauf vorbereitet sind. Hilfreich am Begriff Denkstil ist, dass wir damit die Psychoanalyse als etwas Eigenständiges begreifen können, ohne laufend danach zu fragen, ob sie nun Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Philosophie oder Kulturwissenschaft sei. Freuds Lehre einte von Anfang an verschiedene Personen, darunter Theologen, Schriftsteller, Psychiater und Mediziner, die allesamt ganz unterschiedliche politische Richtungen verfolgten. Nicht ihre Weltanschauung, religiöse Zugehörigkeit oder wissenschaftliche Fachrichtung waren entscheidend, damit sie Teil des Denkkollektivs wurden, sondern die Fragen (über die »Verdrängung«, den »Widerstand«, die frühkindliche Sexualität, die »Triebe«, das Unbewusste), die sie stellten.

Außerdem vermeiden wir es mit dem Begriff, die Psychoanalyse als etwas Fremdes, Atypisches, außerhalb der Wissenschaft Stehendes darzustellen. Im Unterschied zum Kuhn’schen Terminus »Paradigma« erlaubt Flecks Kategorie nämlich »kleinere Einheiten der Wissenschaftsentwicklung« zu schildern, die unterhalb von Paradigmaeinteilungen anzusiedeln sind.20 Anders gesagt: Indem wir die Psychoanalyse als Denkstil bezeichnen, müssen wir nicht darüber Auskunft geben, ob sie Paradigmenwechsel innerhalb der Psychologie, Psychiatrie und Medizin mitmacht oder nicht, ob sie »veraltet« oder »zeitgemäß«, »offen« oder »renitent« sei. Dass die Psychoanalyse bis zum heutigen Tag existiert, bedeutet ja nicht, dass sie alte »Paradigmen« im Denken über die Psyche ersetzt hat, sondern nur, dass sie etwas Eigenständiges ist.21 Trotzdem können wir die Psychoanalyse mit anderen Denkstilen – innerhalb der Psychologie, der Philosophie oder der Soziologie etwa– vergleichen. Wo gab es Überschneidungen, wo Ähnlichkeiten, wo Differenzen? Und was sagen diese über die jeweilige Kultur aus?

Schließlich Freuds Sprache. Hier geht es nicht darum, die Entwicklung des psychoanalytischen Diskurses zu verfolgen oder »Schlüsselbegriffe« der Psychoanalyse systematisch darzulegen – das haben schon andere getan.22 Und es geht auch nicht darum, psychoanalytische Termini mit der »Realität« abzugleichen. Denn genauso wenig wie andere Sprachwelten gibt das psychoanalytische Vokabular die Realität wieder. Freuds Sprache ist eine von vielen, die unsere »Psyche«, »Seele« oder »Innenwelt« zu beschreiben versucht. Dennoch: Sollten wir nicht wenigstens eine neutrale, »wertfreie« Sprache verwenden, wenn von der Psychoanalyse die Rede ist? Historiker fühlen sich ja verpflichtet, soziologische, psychologische oder ökonomische Begrifflichkeiten zu historisieren, statt sie als Abbildungen der Wirklichkeit unkritisch zu übernehmen. In diesem Fall würde das bedeuten, psychoanalytische Wörter als Erfindungen kenntlich zu machen, die nicht einfach so reproduziert werden können.23

Ich möchte hier einen anderen Weg gehen. Besonders bei der Tiefenpsychologie, wo es um das sogenannte Unbewusste geht, kann es keine »neutrale«, von allen Beteiligten akzeptierte Sprache geben, die den »Sachverhalt« jenseits »subjektiver« Positionen wiedergibt. Hier müssen wir noch mehr als anderswo mit Metaphern arbeiten. Im Buch kommen immer wieder Freud’sche Begriffe vor, weil sie von vielen gebraucht und somit als Teil eines Sprachspiels anerkannt wurden. Wenn vom Über-Ich, von der Verdrängung, vom Lustprinzip oder vom Ödipuskomplex die Rede war, dann wussten die meisten, worum es ging, ohne sich mit den Feinheiten der psychoanalytischen Theorie unbedingt aufzuhalten. Sie mussten auch nicht daran glauben, dass jeder Begriff die »Realität« widerspiegelte. Aber um über die Psyche nachzudenken, half die Freud’sche Terminologie. Und aus diesem Grund wurde das »Über-Ich« zu einer Metapher für verinnerlichte soziale Regeln, die »Verdrängung« eine Metapher für die Abwehr von schmerzhaften Wahrheiten, das Lustprinzip eine Metapher für das Triebleben oder der Ödipuskomplex eine Metapher für ambivalente (sexuelle) Gefühle gegenüber den Eltern. Freuds Metaphern haben unsere Auffassung von Subjektivität stark beeinflusst, ja mitgestaltet, und wenn sie viele Menschen im Verlauf des 20. Jahrhunderts benutzten, dann müssen wir nicht jedes Mal an die Geschichtlichkeit dieser Metaphern erinnern oder sie mit nicht minder historisch ableitbaren Alternativen ersetzen.24 Es genügt zu wissen, dass sie für Dinge standen, an die nicht wenige Menschen glaubten. Und um diesen Glauben geht es in diesem Buch.

1913: Sexualität

Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gärt es im Deutschen Kaiserreich. Seit einigen Monaten sind die Sozialdemokraten stärkste Fraktion im Reichstag, was von konservativer Seite mit Argwohn beobachtet wird. Zwischen Deutschland und Großbritannien nehmen die Spannungen zu, nicht zuletzt wegen der Aufrüstung der deutschen Flotte. Gleichzeitig kommt das Militär durch Willkürakte in Verruf, was zum ersten Missbilligungsvotum gegen einen deutschen Reichskanzler führt. In Berlin gründet Rudolf Steiner die Anthroposophische Gesellschaft. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn verlieben sich, die Künstlergruppe »Die Brücke« löst sich auf. 1913 findet auch ein weniger spektakuläres Ereignis statt, das aber nicht minder »repräsentativ« für die Zeit ist. In Breslau versammeln sich die Mitglieder des Deutschen Vereins für Psychiatrie, um ihre Jahresversammlung abzuhalten. Berühmte Forscherpersönlichkeiten kommen in der schlesischen Stadt zusammen, darunter Alois Alzheimer, Karl Bonhoeffer, Emil Kraepelin und Robert Gaupp. Das Thema des ersten Tages gilt einem Mann, der zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt ist, »eine Legende« zu sein.1 Das Interesse an Sigmund Freuds Psychoanalyse zielt weder auf eine etablierte Wissenschaft noch auf einen anerkannten Wissenschaftler. Freud steht weder isoliert da, wie er selbst behauptete,2 noch ist er einer von vielen, wie spätere Kritiker glauben lassen wollen.3 Trotzdem ist Freud im Jahr 1913 in aller Munde.

Im späten Kaiserreich befassten sich ganz unterschiedliche Gruppen mit der Psychoanalyse, denen es um ganz unterschiedliche Fragen ging. Die Psychiater reagierten als Psychiater, die Jugendbewegten als Jugendbewegte, die Literaten als Literaten. Diejenigen, die sich etwas von der Psychoanalyse erhofften, pickten sich die Teile, die ihnen zusagten, heraus– ob nun »Wahrhaftigkeit«, »Sublimierung« oder »Sexualität«. Freuds Psychoanalyse war vor allem in einer Hinsicht verlockend: Sie versprach Schülern, Studenten, Bohemiens, Anarchisten und Expressionisten die Aussicht, sich von (»unbewussten«) Autoritätsbildern zu lösen, seien diese in der Familie, in Bildungseinrichtungen oder in der Politik zu finden.4 Damit gab sie dem Wunsch Ausdruck, »Individualität« und »Authentizität« wiederherzustellen in einer Welt voller »heuchlerischer«, »ungesunder« und »repressiver« Regeln. Verlockend war sie aber auch aus einem weiteren Grund: Da die Wissenschaft über viel Prestige verfügte, konnte jeder, der die Psychoanalyse für sich entdeckte, auch an dieser Welt teilhaben. Frank Wedekind und August Strindberg hatten schon gegen die Welt der »Väter« aufbegehrt, nun versprach Freud dasselbe im wissenschaftlichen Gewand. Dass sich bei Freud »Subjektivität« und »Objektivität«, Hermeneutik und Naturwissenschaft nicht feindlich gegenüberstanden, machte für viele – übrigens bis heute – seinen Reiz aus.

Diese »mangelnde« Abgrenzung war für andere jedoch Grund genug, die Psychoanalyse zurückzuweisen. Psychiater, Psychologen und Neurologen meinten, dass das eine (Deutung) mit dem anderen (Experiment) nichts zu tun habe. Ihnen war es relativ egal, ob bestimmte gesellschaftliche Konventionen dem Individuum schadeten oder nicht, solange ihr Wissenschaftsverständnis nicht infrage gestellt wurde. Nicht die von vielen mit der Psychoanalyse assoziierte Wahrhaftigkeit (in der Frage der Sexualität) war das Problem, sondern Freuds falsches Verständnis von der Wahrheit. So mussten sie seinen neuen Denkstil ablehnen, wollten sie nicht Teile ihres Denkstils aufgeben.

Freud war Wissenschaftler, also beginnt die Rezeption der Psychoanalyse nicht in den Teestuben Berlins oder den Salons Münchens. Aber auch auf den Fluren manch einer Universität oder manch einer psychiatrischen Klinik ging es verhältnismäßig hoch her, wenn das Thema Freud anstand. So nüchtern die wissenschaftliche Auseinandersetzung oft erscheinen mochte, bei den Reaktionen auf die Psychoanalyse ging es um nichts Geringeres als die Wahrheit. Am Anfang stand also die Frage: Hat Freud als Wissenschaftler recht?

Der Anlass

Schon mit dem ersten Satz seines berühmtesten Buches hat er es darauf angelegt. »Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche«, schreibt Freud, »glaube ich den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben.«5 Das wiederholt er später im Buch noch einmal, als er behauptet, ein »wissenschaftliches Verfahren der Traumdeutung« vorlegen zu wollen.6 Was dann allerdings folgt, nachdem er sich zunächst mit der Literatur zum Thema auseinandergesetzt hat, ist für Neuropathologen doch ungewöhnlich: etwa die Behauptung, jeder Traum habe einen Sinn. Oder, noch gewagter: Jeder Traum sei eine Wunscherfüllung, die durch geheimnisvolle Prozesse, genannt Verdichtung und Verschiebung, daran gehindert werde, an die Oberfläche zu kommen. Und warum? Weil bestimmte Wünsche verdrängt worden seien. Aber nicht von irgendwelchen Wünschen ist die Rede: »Der Wunsch, welcher sich im Traume darstellt, muß ein infantiler sein.« Allen Träumen ist gemeinsam: Sie fußen auf frühesten Fantasien, die bislang unentdeckt, weil vom Widerstand des Ichs zurückgehalten, im Unbewussten agieren. Und wir lernen weiter: Es geht um die Sexualität, um die Rivalität mit dem Vater beim Sohn, um den Wunsch, den Vater um die Ecke zu bringen, damit er selbst ungehinderten Zugang zur Mutter hat oder, falls es sich um eine Tochter handelt, ungehinderten Zugang zum Vater. Jahre später, in einem 1910 erschienen Aufsatz, wird Freud dieses Beziehungsgeflecht als »Ödipuskomplex« bezeichnen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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