Der Fund in der Tiefe - Alexander Lombardi - E-Book

Der Fund in der Tiefe E-Book

Alexander Lombardi

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Beschreibung

Zerbricht die Freundschaft der 4 vom See, weil Emma den Starnberger See verlassen muss? Die Freunde scheinen machtlos angesichts der Umstände, die sie nicht beeinflussen können. Währenddessen breitet sich das Gift im See immer weiter aus und auch die Aufklärung des Umweltskandals wird besonders wichtig für Antonia, Jaron, Franky und Emma. Wie sollen sie mit den Bedrohungen umgehen? Und welche Rolle spielt der unheimliche alte Mann, der sich mit seiner Familie im nahen Schlosshotel einquartiert hat? Viele Fragen warten auf Antwort im spannenden Finale der zweiten Staffel.

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ALEXANDER LOMBARDI · SANDRA BINDER

Die 4 vom See

Der Fund in der Tiefe

SCM ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-27081-5 (E-Book)

ISBN 978-3-417-28979-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2023 SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-verlag.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Patrick Horlacher, Stuttgart

Titelbild und Illustrationen: Clara Vath, vath-art.de

Satz: Burkhard Lieverkus, Wuppertal

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Inhalt

Die 4 vom See – das sind …

Kapitel I: Eine verräterische Liste

Kapitel 1: Antonia

Kapitel 2: Der rote Porsche

Kapitel 3: Ein unverhofftes Wiedersehen

Kapitel 4: Ein interessantes Gespräch

Kapitel 5: Krankenbesuche

Kapitel II: Neue Hoffnung

Kapitel III: Der Verdacht

Kapitel IV: Fortgeschafft

Kapitel 6: Ein geheimnisvolles Paket

Kapitel 7: Endlich wieder zusammen

Kapitel 8: Sam

Kapitel 9: Emma

Kapitel 10: Gott ändert sich nicht

Kapitel V: Das Gift

Kapitel VI: Das Ende des Kinderheims

Kapitel VII: Eine verzweifelte Suche

Kapitel VIII: Wertvolle Schätze

Kapitel IX: Familie Buddenberg

Kapitel 11: Auf der Spur des Gifts

Kapitel 12: Ein Blick in die Vergangenheit

Kapitel 13: Gute Neuigkeiten, schlechte Neuigkeiten

Kapitel 14: Unter Wasser

Kapitel 15: Verfolgungsjagd

Kapitel 16: Gold und Gemälde

Kapitel 17: Frieden und Hoffnung

Kapitel X: Ein neues Leben

Kapitel 18: Ende gut, alles gut?

Die 4 vom See – das sind …

Antonia wohnt, seit sie denken kann, in der großen Burg direkt am Ufer des Starnberger Sees, mitten zwischen den Villen der Reichen und Schönen – ein Zuhause, um das sie viele beneiden. Ihre Eltern Andreas und Gitti Reihmann sind die Herbergseltern der Jugendherberge, die in dem Gebäude untergebracht ist, deshalb wohnt die Familie in dem historischen Gemäuer. Wenn Antonia morgens aufwacht, kann sie ans Fenster treten und auf den See hinausblicken – wenn sie dabei nicht über ihr Kletterzeug stolpert, das meistens irgendwo im Zimmer auf dem Boden liegt. Klettern ist Antonias größtes Hobby, sehr ordentlich ist sie aber nicht. Wenn sie nicht in einer Felswand hängt, liest sie gerne Informationen über Geschichte und Archäologie. Ihr Wissen hat den vier Freunden bei ihren Entdeckungen schon oft geholfen.

Antonia hat zwei jüngere Geschwister, die siebenjährigen Zwillinge Sina und Lukas. Zu ihrer Familie gehört außerdem Opa Hans, ein alter Fischer, der nicht weit entfernt von der Seeburg in einer Fischerhütte direkt am See lebt und über die Jahre zu ihrem Ersatzopa geworden ist. Von seinen Ratschlägen und vor allem seinem festen Glauben hat Antonia schon viel gelernt.

Die Familie Reihmann besucht eine evangelische Freikirche in Starnberg. Für Antonia gehört der Glaube ganz selbstverständlich zum Alltag dazu, und dass sie sich auf Jesus verlassen kann, hat sie schon oft erfahren. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch einige Dinge in ihrem Leben gibt, die sie richtig ärgern oder nerven. Beispielsweise leidet Antonia seit dem Kindergartenalter an Diabetes. Sie muss ständig eine Insulinpumpe tragen, die das lebensnotwendige Insulin in ihren Körper abgibt. Meistens hat Antonia ihre Krankheit gut im Griff, doch manchmal sackt ihr Blutzucker plötzlich ab, und dann wird es gefährlich für sie, wenn sie nicht sofort etwas Zuckerhaltiges isst oder trinkt. Zum Glück wissen ihre Freunde Bescheid, besonders ihre beste Freundin Emma, und können ihr im Notfall helfen.

Antonia hasst es, schwach zu sein. Sie regt sich schnell auf, wenn ihr jemand unterstellt, dass sie etwas nicht kann, und wird richtig wütend. Ihre Kraft und Entschlossenheit machen sie zu derjenigen, die bei den vier vom See oft die Initiative ergreift.

Emma ist da etwas zurückhaltender. Sie denkt eher zweimal nach, bevor sie etwas unternimmt, ist dafür aber gründlich und plant voraus. Ihre Stärke liegt vor allem in der Planung – und in der Recherche. Emma ist eine talentierte Forscherin, Naturwissenschaften sind ihre Leidenschaft. Außerdem reitet sie, ihr Pferd Firestorm ist ihr ein und alles.

Emmas Eltern sind geschieden und so lebt sie einen Teil der Woche im Zuhause ihrer Mutter Katrin und ihres Stiefvaters Peter und den anderen Teil bei ihrem Vater Jörg und seiner Frau Manuela. Jörg ist Chemiker und betreibt ein Analyse- und Forschungslabor in der Villa am See. Manuela ist Innenarchitektin und engagiert sich stark in sozialen Projekten. Zusammen haben sie noch eine Tochter, Emmas jüngere Halbschwester Mia. Peter ist Kommissar bei der Kripo in Starnberg, Emmas Mutter ist Arzthelferin.

Emma leidet unter der Zerrissenheit, darunter, sich immer zwischen ihren Eltern entscheiden zu müssen. Meistens versucht sie, nicht weiter darüber nachzudenken, aber manchmal gelingt ihr das nicht.

Emma hat sich im Versteck der vier vom See, einem alten Zirkuswagen auf dem Gelände der Seeburg, ein kleines Labor eingerichtet. Hier verbringt sie viele Stunden mit Experimenten. Außerdem ist sie häufig auf der Seeburg bei ihrer besten Freundin Antonia. So häufig, dass sie dort eine Zahnbürste im Bad stehen hat und einen festen Sitzplatz in der Küche. Sie fühlt sich bei Antonias Familie sehr wohl und genießt die gemeinsamen Abendessen am großen Familientisch.

Während der Trennungsphase ihrer Eltern musste Emma lernen, die Stimmungen anderer Menschen schnell zu erfassen. Sie ist deshalb sehr sensibel und hoch empathisch, außerdem scheut sie Konflikte. Bei den teilweise abenteuerlichen Unternehmungen der vier Freunde ist sie oft diejenige, die die anderen bremsen möchte.

Frankys Zuhause liegt direkt am Sportplatz von Allmannshausen – nicht das Reihenhaus seiner Familie, das befindet sich ein paar Straßenzüge weiter, sondern das Restaurant seiner Eltern, in dem die Familie die meiste Zeit verbringt. Frankys Vater Germano und seine Mutter Elvira sind aus Italien nach Deutschland gezogen und betreiben die Pizzeria schon seit vielen Jahren. Sie backen die beste Pizza in der gesamten Umgebung und so treffen sich bei »La Ruota« Nachbarn, Freunde und Sportvereine. Franky liebt auf der einen Seite Pizza über alles (wie fast jedes italienische Gericht), auf der anderen Seite hasst er es, im Restaurant mit anpacken zu müssen.

Neben der Zubereitung italienischer Gerichte kennt sich Frankys Vater vor allem mit einem aus: Fußball. Er trainiert die Jugendmannschaft des TV Berg und war selbst in seiner Jugend ein richtig guter Spieler. Sehr zum Leidwesen von Franky hat er seinen Ehrgeiz nie ganz abgelegt und ihn auf seinen Sohn übertragen, bei dem er sofort ein großes Talent für Fußball erkannt hat. Franky spielt gerne und gut Fußball, doch es ist nicht seine erste Leidenschaft und die Pläne, die sein Vater für ihn hat, sind ihm zu viel. Deshalb hat er vor einiger Zeit mit dem Training aufgehört und widmet sich nun dem Hobby, das ihn wirklich begeistert: Programmieren.

Franky ist der Computerexperte der vier Freunde. Er ist in der Lage, sich schnell mit jedem fremden System vertraut zu machen, und hat seine Hackerkünste schon manchmal eingesetzt, um Dinge herauszufinden, die sonst nicht zugänglich gewesen wären. Aber er achtet streng darauf, keinen Schaden anzurichten.

Emma, Antonia und Franky kennen sich schon seit der Grundschule. Gemeinsam haben sie vor ein paar Jahren einen alten Zirkuswagen auf dem Gelände der Seeburg zu einem gemütlichen Versteck gemacht, in dem sie sich treffen, reden und Pläne schmieden. Franky ist gerne dort. Mit dem Glauben hat er nicht so viel am Hut. Seine Familie ist zwar in einer katholischen Kirchengemeinde und Franky hat an der Kommunion teilgenommen, aber sie gehen eigentlich nur an den hohen Feiertagen in den Gottesdienst und der Glaube spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle.

Jaron ist erst vor Kurzem zu den anderen drei gestoßen. Er ist zusammen mit seiner Mutter von Köln an den Starnberger See gezogen, als diese eine Arbeit als Sekretärin auf der Seeburg angenommen hat. Angelika Rahn und Gitti Reihmann sind alte Schulfreundinnen und haben immer Kontakt gehalten. Jarons Vater lebt nicht mehr, er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Jaron vier Jahre alt war. Der Unfall hat Jarons Leben überschattet, lange hat er geglaubt, er wäre schuld am Tod seines Vaters. Erst vor wenigen Monaten hat er erkannt, dass das falsch war und er sich lange grundlos gequält hat. Seitdem weiß er, wie viel Kraft man aus Vergebung ziehen kann.

Jaron interessiert sich für Flugzeuge, trainiert leidenschaftlich Kung-Fu und liebt Sport aller Art – am Starnberger See hat er zum Beispiel das Surfen für sich entdeckt. Jaron liebt den See. Wann immer er Zeit hat, geht er schwimmen oder sitzt am Seeufer und flitscht Steine über die Oberfläche. Der historische Löwensteg der Seeburg ist dafür der perfekte Ort. Die wechselnden Wetterlagen über dem See faszinieren ihn und er bekommt nicht genug davon.

Jaron und seine Mutter Angelika gehen in die gleiche Gemeinde wie Antonia und ihre Eltern. Sie waren in Köln schon in einer freien Gemeinde und haben sich in Starnberg gleich zu Hause gefüllt. Dazu trägt auch bei, dass Jaron nach dem Umzug endlich einen besten Freund gefunden hat – Franky. Nicht nur sind die beiden unzertrennlich, Jaron liebt außerdem die Pizza, die Frankys Vater backt.

Adolf von Brüning Senior blickte auf, als es an der Tür seines Büros klopfte. »Herein!«, rief er genervt.

Seine Sekretärin betrat das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie schritt durch den großen Raum bis vor den massiven Schreibtisch und reichte ihrem Chef einen dünnen Stapel Blätter. »Die Listen der Lieferungen aus Dachau sind da«, sagte sie.

Von Brüning machte keine Anstalten, ihr die Papiere abzunehmen. »Ja, und?«, knurrte er, »warum haben Sie sie nicht zur Prüfung an die Buchhaltung weitergegeben?« Er hatte keine Lust, sich mit Details der Verwaltung herumzuschlagen, zu viel lag auf seinem Schreibtisch, seit sich die Amerikaner seinem Chemiewerk in Mannheim näherten. Es wurde immer klarer, dass Deutschland den Krieg verloren hatte, auch wenn die Propaganda der Regierung etwas anderes behauptete. Viele der verbliebenen Ingenieure waren aus Mannheim geflohen, die Produktion stand fast vollkommen still. Und in München sah es nicht besser aus.

Sie zog die Blätter zu sich und sah ihn verunsichert an. »Das habe ich«, sagte sie, »aber es gibt eine Unstimmigkeit und die von der Buchhaltung haben gesagt, ich soll damit zu Ihnen gehen.«

Der ältere Herr seufzte und streckte den Arm aus. »Geben Sie her«, raunzte er.

Sie gab ihm die Blätter, drehte sich um und ging geräuschlos aus seinem Büro. Von Brüning lehnte sich in seinem lederbezogenen Bürostuhl zurück und betrachtete die Liste, die sie ihm gegeben hatte. Dass die Tür ins Schloss fiel, hörte er schon nicht mehr. Er vertiefte sich in die Zahlen und Daten und blätterte weiter, bis er an eine Stelle kam, an der der Buchhalter drei Zeilen mit Bleistift markiert und ein großes Fragezeichen an den Rand gezeichnet hatte. Von Brüning studierte die Zahlen. Plötzlich runzelte er die Stirn. »Was zum …«, murmelte er vor sich hin. Er lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch und prüfte die Zahlen ein zweites Mal. Dann ein drittes Mal.

Er ließ die Blätter sinken und blickte aus dem Fenster. »Na, den werd’ ich mir vorknöpfen«, murmelte er zornig.

Kapitel 1

Antonia

Starnberger See, Sommer, Gegenwart

Antonia fuhr zusammen. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht befand sich das des alten Mannes. Seine hellen, kalten Augen bohrten sich in ihre und galliger Atem stieg ihr in die Nase. Eine Hand senkte sich auf ihre Schulter. Hinter ihr stand jemand! Sie schrie auf, doch Anton van Bergens Hand krallte sich in ihre Haut. »Wo ist der Jüngling? Was hast du mit ihm gemacht?«, zischte er. Antonia sah ihn erschrocken an. Was für ein Jüngling?

»Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen!«, rief sie panisch und riss sich los.

Plötzlich stand der Alte aus seinem Rollstuhl auf und schrie: »Her mit dem Bild!« Er fasste mit dürren Händen nach ihr, lange Fingernägel näherten sich ihrem Gesicht.

Antonia hüpfte aus dem Bett und knallte dem Alten ihr Kissen mit aller Kraft gegen den Kopf. Mit einem lauten »Puff!« löste sich der alte Mann in eine Wolke von Rauch auf. Entsetzt rannte Antonia zur Tür ihres Zimmers und riss sie auf. Doch hinter der Tür befand sich nicht der Krankenhausflur, sondern ein schummriger kleiner Raum, in dem sie schemenhaft ein Auto erkennen konnte. Sie blickte sich um. Richard van Bergen kam auf sie zu. Sie tat einen Schritt über die Schwelle und schlug die Tür hinter sich zu.

Der Raum kam ihr irgendwie bekannt vor. Es war eine Art Schuppen. Unter ihren nackten Füßen spürte sie gestampfte Erde. Auf einmal quietschten Räder und aus dem Dunkel löste sich ein Schatten. Es war schon wieder der Alte, Anton van Bergen. Schwer atmend schob er seinen Rollstuhl auf sie zu. »Na warte«, keuchte er, »ich krieg dich!« Antonia sah sich um. In dem kleinen Schuppen gab es keine Fluchtmöglichkeit. Der Alte kam immer näher, sie tat einen Schritt rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Schuppenwand. Ihre Hände fühlten raue Bretter, doch plötzlich verschwand die Wand hinter ihr und Antonia stürzte rückwärts in die Tiefe.

Sie landete weich auf ihrem Rücken. Unter ihr türmte sich ein Berg von schimmernden Münzen. War das Gold? Antonia stützte sich ab und setzte sich hin. Sobald sie ihr Gewicht verlagerte, kamen die Münzen ins Rutschen, erst langsam, dann immer schneller. Die Münzen rissen sie mit sich. Krampfhaft suchte sie nach Halt, irgendwo, doch es gab nichts, nur den Strom von Münzen, der immer schneller in die Tiefe rauschte. Antonia fiel mit ihnen.

Als sie durch die Wasseroberfläche krachte, wurde ihr Sturz gebremst. Rund um sie waren keine Münzen mehr, sondern nur noch dumpf grünliches Wasser ohne oben und unten. Aus irgendeinem Grund wusste Antonia, dass sie sich im Starnberger See befand.

Sie schnappte nach Luft, doch es gab keine. Todesangst stieg in ihr auf. Eine Gestalt tauchte vor ihr auf. Es war Jaron, doch er sah fremd aus. Er trug eigenartig lange Haare, die hinter ihm im Wasser schwebten. Diesen Anblick kannte sie, sie hatte ihn schon einmal irgendwo gesehen, doch sie wusste nicht, wo. Jaron streckte eine Hand nach ihr aus. Dann stand auf einmal wieder der Alte vor ihr, der sie mit langen, knorpeligen Fingern an beiden Schultern packte und giftig anfauchte: »Antonia! Antonia!«

Die langen Haare hatten sich in Dreadlocks verwandelt. Antonia schlug um sich und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.

»Antonia! Alles klar?«

»Nein! Nein!«, rief sie panisch.

»Antonia! Wach auf!«

Sie schlug die Augen auf.

»Hey, alles klar?« Sam stand neben ihrem Bett und sah sie besorgt an.

»Sam?«, fragte sie benommen. »Was ist los? Was machst du hier?«

»Ich wollte dich besuchen«, antwortete er sanft. »Du hast geschlafen. Und dann hast du so wild geträumt, dass ich dich geweckt habe. Ich hoffe, das war okay?«

Jetzt erst begriff sie, dass alles nur ein Traum gewesen war und sie immer noch in dem Krankenzimmer lag, in das sie vor zwei Tagen gebracht worden war.

Sam strich sich die Dreadlocks über die Schulter zurück und fragte noch einmal: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ja«, stotterte Antonia, »sorry, ich habe gerade voll den Albtraum gehabt.«

»Habe ich mir gedacht«, sagte er grinsend.

Auf einmal wurde Antonia bewusst, dass sie im Schlafanzug und mit verwuschelten Haaren vor Sam saß. Sie ließ sich in ihr Kissen fallen und zog die Decke bis unters Kinn. »Danke fürs Wecken«, murmelte sie.

»Schon gut.«

»Ich hab dich gar nicht kommen hören.«

Sam setzte sich im Schneidersitz an das Fußende ihres Bettes und grinste sie an. Oh Mann, warum habe ich immer so ein komisches Gefühl, wenn er mich so anschaut? dachte sie und wich verlegen seinem Blick aus. Sie hatte Sam erst vor ein paar Wochen beim Klettern kennengelernt und die jetzige Situation war Antonia sehr peinlich. Sam machte gerade Urlaub im Schlosshotel Unterallmannshausen, wo sein deutscher Urgroßvater die ganze Familie für ein Familientreffen zusammengerufen hatte. Eigentlich wohnte er mit seiner Mutter in San Francisco.

»Ich hab mir voll Sorgen gemacht, als ich gehört habe, dass du im Krankenhaus bist«, erzählte Sam. »Was ist denn genau passiert?«

»Ich bin vor ein paar Tagen in den See gefallen und das Wasser hat mich vergiftet«, erzählte Antonia. »Vorgestern wurde mir schlecht und plötzlich ganz schwarz vor den Augen. Was dann passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich bin erst im Krankenhaus aufgewacht.«

»Krass.« Sam sah sie besorgt an. »Geht’s dir jetzt besser?«

»Na ja, das wird noch eine Weile dauern, bis es wieder gut ist«, antwortete sie und holte ihre Arme unter der Decke hervor, die voller roter Blasen waren. »Das juckt wie verrückt. Und mir ist immer noch schwindlig, wenn ich aufstehe. Dieses Zeugs ist wirklich giftig.« Sam sah sie voller Mitleid an, aber sie wich seinem Blick aus.

»Das mit dem Gift im See ist echt der Knaller. Im Hotel gibt es kein anderes Thema.« Sam schüttelte den Kopf. »Am Ufer ist die Hölle los und keiner darf ins Wasser. Da treiben tote Fische und das Wasser ist an manchen Stellen ganz komisch türkis.«

»Ja, hier im Krankenhaus liegen eine ganze Menge Leute, die sich im See vergiftet haben. Das ist echt verrückt. Wer macht nur so was?«

»Keine Ahnung, irgendwelche Idioten«, antwortete Sam.

In diesem Moment ging die Tür auf und eine rundliche Krankenschwester kam herein. Antonia kannte sie. Sie hieß Marianne. Als sie Sam sah, fragte sie mit einem Lächeln: »Oh, schon wieder Besuch?«

Antonia nickte.

»Du hast ja viele Freunde. Aber ich muss deinen Freund leider jetzt rausschmeißen, die Besuchszeit ist zu Ende.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie an den Infusionsständer, der neben Antonias Bett stand, und überprüfte das Medikament, das durch einen kleinen Schlauch in deren Arm floss. Es war klar, dass sie nicht diskutieren würde.

»Ja, klar, kein Problem«, sagte Sam, »noch fünf Minuten?«

Schwester Marianne warf ihm einen Blick zu und er sah mit Dackelaugen zurück. Antonia musste schmunzeln, so süß sah er in diesem Moment aus. Sie ahnte, dass er es schaffen würde, die resolute Krankenschwester umzustimmen. Und sie lag richtig.

Schwester Marianne seufzte. »Na gut, fünf Minuten. Aber dann gehst du.«

»Versprochen«, antwortete Sam und nickte brav.

»Na dann – ich komme gleich wieder.« Damit verließ Schwester Marianne das Zimmer.

»Oh, oh, mit der ist nicht gut Erdbeeren essen«, sagte Sam lachend.

»Kirschen«, korrigierte ihn Antonia und grinste.

»Kirschen?«, fragte er verdutzt. Antonia musste wieder seinem Blick ausweichen.

»Es heißt: Mit der ist nicht gut Kirschen essen.«

»Ach so«, meinte er und lachte, »das verwechsle ich immer.«

»Und wie geht es dir?«, versuchte Antonia, die Richtung des Gesprächs zu wechseln.

»Geht so«, Sam zuckte mit einer Schulter.

»Was ist denn los?«, wollte Antonia wissen.

»Ach, ich bin voll mit meinem Onkel aneinandergerasselt«, antwortete Sam. Sein Lächeln verschwand.

»Mit diesem Richard? Warum, was ist denn passiert?«

»Er hat Mama blöd angemacht.«

»Echt?«

»Er hat ihr gesagt, dass er froh ist, wenn sie endlich wieder in Amerika ist. Dann müsse er sie nicht mehr sehen.«

»Boah, so ein Blödmann.« Antonia konnte es nicht glauben.

»Das hab ich ihm auch gesagt, also, dass er ein Blödmann ist.« Sam grinste. »Und dass er seinen Mund halten soll.«

»Und dann?«

»Dann hat er mir eine Ohrfeige gegeben.«

»Nicht wahr!« Antonia fuhr erbost auf. »Aber das darf er nicht!«

»Stimmt. Aber egal. Nächste Woche ist die Geburtstagsfeier von meinem Urgroßvater und dann fahren wir sowieso wieder. Dann muss ich ihn hoffentlich nie wieder sehen.«

Antonias Magen krampfte sich zusammen, ein merkwürdiges Gefühl, das sie bisher nicht gekannt hatte.

In diesem Moment ging wieder die Tür auf und Schwester Marianne schaute herein. »So«, sagte sie, »jetzt ist Zeit, dich von deiner Freundin zu verabschieden, junger Mann.« Sie blieb in der Tür stehen und hielt sie erwartungsvoll offen.

»Alles klar«, sagte Sam und stand auf. Vorsichtig beugte er sich über das Bett und umarmte Antonia. Es war ein komisches Gefühl. Auf der einen Seite fand sie es toll und auf der anderen war ihr eine solche Nähe unangenehm.

»Also dann, gute Besserung«, wünschte Sam.

»Danke«, murmelte Antonia verlegen.

»Wir können ja später einen Videocall machen.« Mit diesen Worten drehte sich Sam zur Tür, zwinkerte der Krankenschwester zu und ging hinaus.

Schwester Marianne drehte sich zu Antonia und sagte: »Na, da hast du aber einen netten Freund.«

»Ja schon, aber das ist nicht mein Freund«, antwortete Antonia.

»Nicht?«, die Krankenschwester hob die Augenbrauen. »Sieht aber anders aus.«

»O…kay«, meinte Antonia, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie auf diese Vermutung reagieren sollte.

Kapitel 2

Der rote Porsche

Als Antonia wieder allein war, legte sie sich mit einem Seufzer zurück auf ihr Kissen und schloss für einen Moment die Augen. Aber sie war nicht müde genug, um wieder einzuschlafen, und fing an, sich zu langweilen. Na toll, jetzt hänge ich hier allein rum, dachte sie, wo ist denn mein Handy? Sie stützte sich auf einen Arm und öffnete die Schublade ihres Nachttischs, wobei ihr der Infusionsschlauch in die Quere kam. Sie beugte sich vor und kramte in der Schublade. Dabei fiel ihr Blick auf eine kleine Schachtel neben ihrer leeren Teetasse.

Komisch, was ist denn das?, dachte sie.Sie griff nach dem schwarzen Pappwürfel und betrachtete ihn. Es war ein kleines Etui, wie es für Schmuck verwendet wird. Langsam streifte sie das Geschenkband ab, das darum gewickelt war, und klappte die Schachtel auf. Auf schwarzem Samt lag eine silberne Kette mit einem Anhänger. Er zeigte eine Figur, die einen Felsen hinaufklettert. Verwundert nahm sie die Kette heraus und legte den Anhänger auf ihre Hand.

Wer hat mir das denn da hingelegt?, fragte sie sich und war sehr gerührt. Ob es von einem meiner Freunde ist? An diesem Nachmittag waren Emma, Franky und Jaron da gewesen. Aber keiner von ihnen hatte ihr dieses Geschenk gegeben oder erwähnt. Ihre Eltern hatten sie am Vormittag besucht. Sie hätten bestimmt etwas gesagt, wenn sie ihr die Kette mitgebracht hätten.

Langsam beschlich sie eine Ahnung. Kann das Sam gewesen sein? Ihr Herz begann zu pochen. Aberwarum sollte der mir eine Kette schenken? Schon wieder verknotete sich ihr Bauch so merkwürdig und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Auf der einen Seite fühlte sie sich sehr geschmeichelt, dann wieder machte es ihr Angst. Das ging alles viel zu schnell. Und was mache ich jetzt?, überlegte sie. Sie nahm die Kette, stand von ihrem Bett auf und schob den Infusionsständer bis zum Spiegel. Sie betrachtete sich, dann streifte sie ihre langen Haare zurück und legte sich die Kette um. Kalt lag sie auf ihrer Haut. Sie nahm den Anhänger in die Finger und betrachtete ihn eine Weile. Die Kette war echt schön. Ach Mann, warum wird das jetzt alles so kompliziert? In letzter Zeit hatte sich das Leben verändert.

Mit einem Seufzer wandte sich Antonia ab, schob den Infusionsständer zum Fenster und öffnete es. Frische Luft wehte ihr ins Gesicht und sie atmete tief durch. Die Arme auf das Fensterbrett gestützt stand sie da und genoss den Ausblick über die Dächer und den See. Ihr Fenster befand sich direkt über dem Eingang des Krankenhauses. Unter ihr liefen Menschen vom nahen Parkplatz zum Gebäude, andere standen vor dem Eingang, unterhielten sich oder rauchten. Manche hatten sogar Infusionsständer dabei, wie Antonia einen hatte. Autos fuhren auf den Parkplatz. Auf einmal fiel ihr Blick auf ein Fahrzeug, das ganz vorn in der ersten Reihe stand. Ein roter Porsche.

Richard van Bergen fährt genau so einen Wagen, dachte sie und runzelte die Stirn. Vor wenigen Wochen hatte sie ein solches Auto im Schuppen des Schlosshotels entdeckt. Aber vielleicht gibt es ganz viele rote Porsches hier? Das muss nichts heißen, vielleicht ist das einfach nur ein anderer. Sie versuchte, den Gedanken an den unfreundlichen Onkel von Sam zu vertreiben, aber er ließ ihr keine Ruhe. Ist er hier im Krankenhaus? Plötzlich musste sie an ihren Albtraum denken, und Angst beschlich sie.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. »Ja?«, rief sie ängstlich. Die Tür öffnete sich langsam und eine ältere Dame stand im Türrahmen. »Oh, Entschuldigung«, sagte sie, »da hab ich mich wohl in der Tür geirrt.« Die Tür schloss sich wieder.

Antonias Herz pochte. Mann, was ist denn los mit mir?, dachte sie verärgert.Wieder zuckte sie zusammen, als plötzlich ihr Handy läutete. Aber als sie sah, dass es Jaron war, wischte sie erleichtert über das Display.

»Hey Jaron«, sagte sie bemüht fröhlich und sah in die Kamera.

»Hi, alles klar?«, Jarons Stimme klang besorgt, er merkte wohl, dass sie angespannt war.

»Ja, geht schon. Wie war’s in der Schule?«

»Ganz okay … du, ich rufe an, weil ich was fragen wollte«, sagte er unsicher.

»Ja, klar, was denn?«, antwortete Antonia.

»Ich glaub, ich hab gestern meine Jacke bei dir im Zimmer liegen lassen, ist sie noch da?«

Antonia sah sich um, sah aber keine Jacke.

»Nein, da ist nichts.«

»Mist«, meinte Jaron verärgert, »Mama kriegt die Krise.«

»Sorry, aber schau mal. Hier.« Sie hielt ihr Handy aus dem Fenster in Richtung Porsche. »Das ist doch das Auto von diesem Richard, oder?«

»Zoom mal ran.«

»Ja, Moment.« Antonia wischte über das Display und holte das rote Auto näher ran.

»Ja, das könnte sein«, bestätigte Jaron. »Aber was macht der denn im Krankenhaus?«

»Keine Ahnung«, meinte Antonia und wieder beschlich sie ein unangenehmes Gefühl. Dass er es auf sie abgesehen hatte, war unwahrscheinlich. Das war nur ein Albtraum, versuchte Antonia, sich zu beruhigen.

»Sag mal, liegt nicht dieser Boschmann im selben Krankenhaus wie du?«, fragte Jaron.

»Keine Ahnung«, antwortete Antonia.

Klaus Boschmann war ein Journalist, der vor ein paar Wochen unter merkwürdigen Umständen beim Tauchen im See verunglückt war. Antonia, Jaron und ihre Freunde Emma und Franky hatten den bewusstlosen Mann aus dem Wasser gezogen und ihm damit wahrscheinlich das Leben gerettet. Die vier vom See vermuteten schon eine Weile, dass Richard van Bergen bei dem Unfall seine Finger im Spiel gehabt hatte, denn am Ufer war ihnen ein roter Porsche begegnet, der es sehr eilig gehabt hatte.

»Falls ja, könnte dieser van Bergen es nämlich auf den abgesehen haben«, fuhr Jaron fort.

»Stimmt, das könnte sein.« Ein kalter Schauer durchfuhr Antonia. »Sollen wir das überprüfen?«

»Überprüfen? Wir?«

»Na, ich frage mal nach, ob Boschmann hier liegt, und schaue, ob ich diesen van Bergen irgendwo sehe.«

»Hört sich gut an«, meinte Jaron.

»Und dich nehm ich einfach mit.« Antonia sah ihn an.

»Du nimmst mich mit?«

»Ja, mit dem Handy.«

»Klar, coole Idee«, meinte er überrascht. Antonia erzählte ihm nicht, dass ihr deutlich wohler war, wenn er dabei war. Irgendwie hatte sie immer noch Angst vor van Bergen. Der Albtraum vielleicht? Aber zugleich war sie schlicht neugierig.

»Okay, dann mal los«, sagte sie und drehte die Kamera des Handys so, dass Jaron die Umgebung sehen konnte. Sie nahm den Infusionsständer und öffnete die Tür. Das Handy hielt sie möglichst unauffällig. Zuerst fuhr sie mit dem Aufzug nach unten. »Moment noch, ich bin gleich an der Rezeption«, erklärte sie Jaron. »Während ich frage, stecke ich dich in die Tasche, okay?«

»Okay«, antwortete er und musste lachen.

Antonia steckte ihr Handy in die Tasche ihres Bademantels und ging auf den Schalter zu. Dahinter lächelte ihr eine Frau freundlich entgegen.

»Na, wie kann ich dir helfen?«, fragte sie.

»Äh, ich habe gerade gehört, dass ein Bekannter von mir auch hier im Krankenhaus liegt, und ich wollte mal fragen, ob das stimmt«, sagte Antonia.

»Na, das kann ich für dich nachschauen«, antwortete die Rezeptionistin. »Wie heißt denn dein Bekannter?«

»Klaus Boschmann«, antwortete Antonia.

»Klaus Boschmann …«, die Frau stutzte einen Moment. »Na, der scheint ja beliebt zu sein. Da war gerade schon mal jemand da, der nach ihm gefragt hat. Ein irgendwie unangenehmer Typ.«

»Echt?« Antonia sah ihren Verdacht bestätigt. »War das ein Mann so um die vierzig, ziemlich dünn, saure Miene?«

»Ja.« Erstaunt blickte die Frau Antonia an. »Kennst du ihn?«

»Ja, na ja …«, wich Antonia schnell aus, »ist wohl ein Bekannter von Herrn Boschmann.«

»Aha«, meinte die Dame, »ich hab ihn wieder weggeschickt, die Besuchszeit ist schon zu Ende.«

»In Ordnung. Dann gehe ich morgen zu Herrn Boschmann.«

»Das wäre gut. Du findest ihn in Zimmer 234.«

»Vielen Dank«, sagte Antonia freundlich und verabschiedete sich.

»Hast du das mitgekriegt?«, fragte sie Jaron, als sie wieder vor den Aufzügen stand und das Handy aus der Tasche geholt hatte.

»Ja, voll krass«, sagte er. »Was hast du jetzt vor?«

»Ich werde mal zum Zimmer von Boschmann gehen. Wenn van Bergen es auf ihn abgesehen hat, dann ist er dort.«

»Bestimmt«, kommentierte Jaron, »die Besuchszeit ist dem sicher egal. Ich glaube auch nicht, dass er einfach wieder nach Hause gefahren ist.«

Antonia stieg im zweiten Stock aus dem Aufzug, ging zum Flurfenster und sah hinaus. »Zumal sein Auto immer noch da unten steht«, sagte sie.

»Dann solltest du wirklich hingehen«, sagte Jaron. »Aber sei vorsichtig.«

»Ja, ja.«

Antonia ging den Gang entlang und suchte nach dem Zimmer Nummer 234. Als sie um die Ecke bog, fuhr sie erschrocken zurück.

»Was ist los?«, wollte Jaron wissen, der gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte.

»Da steht ein Arzt auf dem Flur«, flüsterte sie.

»Echt? Ein Arzt? Und das in einem Krankenhaus!«, scherzte Jaron.

»Sehr witzig! Mit dem stimmt was nicht. Hier, schau mal«, sie streckte die Hand mit dem Handy um die Ecke herum und zoomte dann näher an den Mann im weißen Kittel heran.

»Das ist ja Richard van Bergen!«, rief Jaron.

»Psst! Nicht so laut!« Antonia schaute genauer hin. Tatsächlich, dort im Gang stand der Onkel von Sam in einem weißen Kittel. Er sah sich um, öffnete dann vorsichtig eine Zimmertür und verschwand.

»Das könnte das Zimmer von Boschmann sein«, sagte Antonia aufgeregt und ging um die Ecke herum.

»Beeil dich, der will ihm vielleicht was antun!« Antonia sah, wie Jaron besorgt auf den Bildschirm starrte.

»Und was bitte soll ich dagegen tun?«, fragte Antonia, die inzwischen vor der Tür angekommen war.

»Keine Ahnung, hol Hilfe!«

In diesem Moment bog ein Pfleger um die Ecke.

Antonia sprach ihn an: »Entschuldigung, ich bin gerade an diesem Zimmer vorbeigegangen und ich glaube, da drin hat jemand um Hilfe gerufen.« Der Pfleger sah sie erstaunt an. »Da drin?«

»Ja, ich hab mich nicht getraut, reinzugehen.«

»Okay, ich guck mal nach.« Der Pfleger nickte, ging zur Tür und öffnete sie.

Antonia drehte wieder ihr Handy in die Richtung, sodass Jaron alles sehen konnte. Sie hörte den Pfleger im Zimmer erstaunt fragen: »Entschuldigung, was machen Sie hier?«

Neugierig versuchte sie, durch die fast geschlossene Tür ins Zimmer zu schauen.

»Was soll denn das? Sie bleiben hier!« Die Stimme des Pflegers wurde lauter. Dann hörte Antonia einen Rumms und die Tür flog auf. Schnell wich sie zurück und hielt das Handy weiter auf das Geschehen gerichtet. Richard van Bergen im weißen Kittel stürmte aus dem Zimmer, gefolgt von dem Pfleger. Er hechtete den Gang entlang und warf dabei einen kleinen Wagen um, sodass der Pfleger ausweichen musste.

»Was ist da los?«, hörte sie Jarons Stimme.

»Richard flieht gerade vor dem Pfleger!«

»Krass! Was ist mit Boschmann?«, fragte Jaron.

Antonia schob die Tür von Zimmer 234 auf und schaute hinein: Im Bett lag der Taucher, den sie vor Kurzem aus dem See gerettet hatten. Antonia erkannte ihn sofort wieder, auch wenn sein Gesicht eingefallen und blass war. Er war an mehrere Schläuche angeschlossen. Ein Gerät piepte rhythmisch.

»Scheint alles in Ordnung«, meinte Antonia.

Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer begegnete ihr der Pfleger wieder.

»Haben Sie ihn gekriegt?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete dieser schnaufend und schüttelte den Kopf, »der war schneller als ich. Aber danke für deinen Hinweis. Das war kein Arzt.«

»Echt?«, fragte Antonia gespielt überrascht. »Und was werden Sie jetzt tun?«

»Ich werde die Polizei informieren«, antwortete er und ging weiter den Gang hinunter.

»Bist du noch da?«, fragte Antonia Jaron und nahm ihr Handy wieder in die Hand.

»Ja«, sagte Jaron. »Was für ein Hammer! Schau mal nach, ob der Porsche noch da ist.«

»Gute Idee.« Antonia ging zurück in ihr Zimmer und sah aus dem Fenster. Der Wagen war verschwunden.

»Oh Mann«, sagte sie atemlos und setzte sich erleichtert auf ihr Bett.

»Ist alles klar bei dir?«, fragte Jaron.

»Ich glaube, mein Zucker spinnt gerade. Moment«, antwortete Antonia, als sie bemerkte, wie schlapp sie sich fühlte. Über die App an ihrem Handy überprüfte sie ihren Insulinspiegel. Der war eindeutig zu tief. Sie holte sich eine Cola aus ihrem Nachttischschränkchen und nahm einen kräftigen Schluck daraus.

»Bäh, warme Cola!« Sie schüttelte sich.

Da sie sehr erschöpft wirkte, verabschiedete sich Jaron bald darauf von ihr. Antonia legte sich hin. Völlig überwältigt von den Erlebnissen schlief sie ein. Das Klingeln des Telefons schreckte sie auf. Benommen griff sie danach und freute sich, als sie auf dem Display »Papa« las. Sie nahm den Anruf an. »Papa!«, sagte sie fröhlich.

»Hallo, meine Kleine!«

Antonia lächelte. Es tat so gut, seine Stimme zu hören. Auf einmal spürte sie die ganze Anspannung, die seit der Begegnung mit Richard van Bergen im Krankenhaus in ihr zurückgeblieben war. Sie musste schlucken.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte Andreas Reihmann.

»Ja, so weit alles gut«, antwortete sie.

Ihr Vater merkte sofort, dass das nicht stimmte, und fragte: »Was ist los?«

Jetzt gab es kein Halten mehr. Antonia stiegen die Tränen in Augen. Sie schluchzte.

»Ist ja gut, meine Kleine«, sagte ihr Vater beruhigend, »ist es so schlimm?«

Antonia konnte nicht antworten, dafür war sie zu aufgewühlt. Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen ab und sagte: »So, jetzt ist gut.«

»Es ist gerade ein bisschen viel, oder?«

Antonia nickte. »Und du weißt nicht mal alles.« Sie erzählte ihm, was gerade passiert war. Den Besuch von Sam ließ sie jedoch aus, denn die Situation war ihr irgendwie peinlich.

»Und du bist dir sicher, dass dieser falsche Arzt Sams Onkel war?«

»Ja, bin ich«, bekräftigte Antonia.

»Was für eine verrückte Geschichte!« Andreas Reihmann klang verwundert. »Antonia, da ist noch was. Tut mir leid, dass ich dir jetzt keine schönen Nachrichten überbringen kann, aber ich dachte, du solltest das wissen.«

O weh, dachte Antonia. Der Ton ihres Vaters war so bedrückt, dass sie sofort wusste, dass irgendwas überhaupt nicht in Ordnung war. Besorgt runzelte sie die Stirn.

»Ist was passiert?«

»Äh … ja. Mit Opa Hans.«

»Opa Hans!« Sie setzte sich aufrecht hin. »Was denn?«