Der Funke des Lebens - Jodi Picoult - E-Book
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Der Funke des Lebens E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

Zwei Väter, zwei Töchter und die Frage nach dem Wert des Lebens

An einem warmen Herbsttag wird Polizeiunterhändler Hugh McElroy zu einer Frauenklinik in Jackson, Mississippi, gerufen. Ein verzweifelter Schütze ist in die Klinik eingedrungen, hat um sich geschossen und Geiseln genommen. Als McElroy mit dem Täter verhandeln will, erreicht ihn eine schockierende Nachricht: Seine 15-jährige Tochter Wren befindet sich in der Klinik. McElroy setzt alles daran, Wren und die anderen Geiseln zu befreien – Frauen in Not, engagierte Ärzte und Krankenschwestern ...

»Die aufgeladene Abtreibungsdebatte als Thriller: Bei Erfolgsautorin Picoult, die gern Aktuelles anpackt, funktioniert das.« Hörzu

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Seitenzahl: 552

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Zum Buch:

Zwei Töchter im Teenageralter, zwei alleinerziehende Väter, ein Showdown in einer Frauenklinik im Süden der USA: Ein militanter Abtreibungsgegner ist in die Klinik eingedrungen, hat das Feuer eröffnet und Geiseln genommen. Polizeiunterhändler Hugh McElroy soll ihn davon überzeugen, sich zu ergeben. Während McElroy mit dem Täter verhandelt, meldet sich seine eigene Tochter mit einer schockierenden Nachricht: sie ist unter den Geiseln. Das steigert die Anspannung des nervenaufreibenden Gesprächs, während dessen die beiden Männer erkennen, dass sie einiges gemeinsam haben: Beide sind alleinerziehende Väter. Und beide Töchter haben ein Anliegen, das sie in Lebensgefahr gebracht hat …

Zur Autorin:

Jodi Picoult, geboren 1966 in New York, hat weltweit eine riesige Fangemeinde. Für ihre engagierten Romane wurde sie mit diversen Preisen ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann in Hanover, New Hampshire. Der Funke des Lebens stand wochenlang an der Spitze der amerikanischen Bestsellerlisten und wurde von der Presse begeistert aufgenommen.

JODI PICOULT

Der Funke des Lebens

Roman

Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »A Spark of Light« bei Ballantine Books, a division of Random House, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2018 by Jodi Picoult

© der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München

This translation is published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Random House LLC.

Redaktion: Gerhard Seidl

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21485-2V002

www.cbertelsmann.de

FÜR JENNIFER HERSHEY UND SUSAN CORCORANWenn du Glück hast, bekommst du Kollegen, die du magst.Mit noch mehr Glück sind sie dir wie Schwestern.

XOX

Es geht nicht um die Frage, ob wir Extremisten sein wollen, sondern vielmehr darum, welche Art von Extremisten wir sein wollen. Wollen wir Extremisten des Hasses oder der Liebe sein?

REVEREND DR. MARTIN LUTHER KING JR.

17 Uhr

Wie eine alte Bulldogge, die es gewohnt war, ihr Territorium zu bewachen, hockte das Center an der Ecke Juniper und Montfort Street hinter einem schmiedeeisernen Zaun. Früher einmal hatte es in Mississippi viele solcher Einrichtungen gegeben – unscheinbare Gebäude ohne besondere Merkmale, in denen man Dienste anbot und auf Bedürfnisse einging. Dann kamen die Restriktionen, deren Ziel es war, solche Orte verschwinden zu lassen: Die Flure mussten breit genug sein, damit zwei Transportliegen aneinander vorbeikamen, und jede Klinik, die dieser Vorgabe nicht genügte, musste entweder schließen oder viel Geld für eine Renovierung ausgeben. Von den Ärzten wurde verlangt, dass sie Belegbetten in den örtlichen Krankenhäusern nachweisen konnten – obwohl die meisten von außerhalb kamen und somit keinen Zugang dazu hatten –, sonst riskierten auch diese Kliniken geschlossen zu werden. Eine nach der anderen nagelte Fenster und Türen zu. Jetzt war das Center eine Rarität geworden – ein kleines rechteckiges Gebäude, das in abscheulichem Neonorange für all diejenigen leuchtete, die Hunderte von Kilometern gereist waren, um hierherzukommen. Die Farbe stand für Sicherheit, war aber auch eine Warnfarbe. Sie besagte: Ich bin da, wenn du mich brauchst. Sie sagte: Macht mit mir, was ihr wollt, ich weiche nicht.

Die Einschnitte der Politiker und die Beleidigungen der Protestierenden hatten Narben hinterlassen. Doch es hatte seine Wunden geleckt, und sie waren verheilt. Früher mal lautete sein Name Center for Women and Reproductive Health. Aber nach der Logik derjenigen, die glaubten, wenn etwas keinen Namen hatte, hörte es auf zu existieren, wurde seine Bezeichnung amputiert wie eine Kriegsverletzung. Aber es überlebte dennoch. Zuerst wurde es zum Center für Frauen. Und dann nur noch: das Center.

Eine passende Bezeichnung. Das Center war der ruhende Pol im Auge eines Ideologiesturms. Es war die Sonne in einem Universum von Frauen, die keine Zeit und keine andere Wahl mehr hatten und ein Leuchtfeuer brauchten, das ihnen den Weg wies.

Und wie bei anderen Dingen, die so hell strahlen, war seine Anziehungskraft groß. Wer in Not war, wurde magnetisch angezogen. Wer es verachtete, konnte seine Blicke nicht davon abwenden.

Wren McElroy sagte sich, dass dies heute kein guter Tag zum Sterben war. Ihr war zwar nicht unbekannt, dass andere fünfzehnjährige Mädchen den romantischen Liebestod verklärten, aber nachdem sie im letzten Jahr in der achten Klasse Romeo und Julia im Englischunterricht durchgenommen hatten, konnte sie keinen Zauber darin entdecken, in einer Krypta neben dem Geliebten aufzuwachen und sich dann dessen Dolch zwischen die Rippen zu rammen. Und Twilight – vergiss es. Sie hatte sich angehört, was der Lehrer über die Helden zu sagen hatte, deren tragischer Tod ihr Leben sogar noch überhöhte, anstatt es abzuwerten. Wren war sechs Jahre alt gewesen, als ihre Großmutter nicht mehr aus dem Schlaf aufgewacht war. Von Außenstehenden hatte sie sich immer wieder anhören müssen, welch ein Segen es sei, im Schlaf zu sterben, aber als sie ihre wachsweiß im offenen Sarg liegende Nana betrachtete, konnte sie nicht begreifen, warum das ein Geschenk sein sollte. Denn vielleicht war ihre Großmutter ja mit dem Gedanken zu Bett gegangen: Am Morgen werde ich diese Orchidee gießen. Am Morgen werde ich diesen Roman zu Ende lesen. Ich werde meinen Sohn anrufen. So viel blieb unerledigt. Nein, wie man es auch drehte und wendete, Sterben war nichts Gutes.

Ihre Großmutter war die einzige Tote, die Wren jemals zu Gesicht bekommen hatte. Bis vor einer Stunde. Jetzt konnte sie berichten, worin sterben und einfach tot sein sich unterschieden. Eben noch war Olive bei ihr gewesen und hatte Wren so unerschütterlich angesehen – als könnte sie sich an der Welt festhalten, wenn ihre Augen geöffnet blieben –, und dann, einen Herzschlag später, hörten diese Augen auf, Fenster zu sein, und wurden zu Spiegeln, aus denen Wren nur noch die Reflexion ihrer eigenen Panik anstarrte.

Sie wollte Olive nicht mehr ansehen, tat es aber trotzdem. Die tote Frau lag da, als würde sie mit dem Sofakissen unter dem Kopf ein Nickerchen machen. Olives Bluse war blutdurchtränkt, aber an der Seite über die Taille hochgerutscht, sodass man die Rippen sah. Oben war ihre Haut blass, ging dann in die Farbe von Lavendel über, die sich dort, wo ihr Rücken auf dem Boden auflag, zu einem schmalen Streifen Dunkelviolett vertiefte. Wren erklärte sich das damit, dass Olives Blut im Inneren zur Ruhe kam und sich sammelte, gerade mal zwei Stunden nachdem sie gestorben war. Einen kurzen Moment lang glaubte Wren, sich übergeben zu müssen.

Sie wollte nicht auch sterben wie Olive.

Was Wren unter den gegebenen Umständen zu einem schrecklichen Menschen machte.

Es war zwar höchst unwahrscheinlich, dass sie würde wählen können, aber wenn, dann würde Wren am liebsten in einem schwarzen Loch sterben. Kurz und schmerzlos. Als würde man buchstäblich in seine Atome zerlegt. Und dann zu Sternenstaub.

Das wusste sie von ihrem Vater. Von ihm hatte sie mit fünf ihr erstes Teleskop bekommen. Er war auch der Grund dafür, weshalb sie als kleines Mädchen Astronautin hatte werden wollen und später dann Astrophysikerin, sobald sie herausfand, was das war. Er selbst hatte davon geträumt, als Kommandant eines Spaceshuttles jeden Winkel des Universums zu erforschen, doch dann schwängerte er ein Mädchen. Und anstatt zur Uni zu gehen, hatte er Wrens Mom geheiratet und erst als Polizist und dann als Detective jeden Winkel von Jackson, Mississippi, erforscht. Wren versicherte er allerdings, nicht für die NASA zu arbeiten, sei das Beste, was ihm je passiert war.

Auf der Rückfahrt von Großmutters Beerdigung hatte es geschneit. Wren – ein Kind, dem ein derartiges Wetter aus Mississippi völlig unbekannt war – hatte diese wirbelnde, ins Trudeln geratene Welt Angst gemacht. Ihr Vater hatte versucht, sie aufzumuntern: Missionsspezialist McElroy, aktivieren Sie die Triebwerke. Als sie nicht aufhören wollte zu weinen, ging er dazu über, wahllos irgendwelche Knöpfe zu drücken: für die Klimaanlage, die Warnblinkanlage, den Tempomat. Sie leuchteten rot und blau auf wie im Missionskontrollzentrum. Missionsspezialist McElroy, sagte ihr Vater, machen Sie sich bereit für den Hyperraum. Dann schaltete er sein Fernlicht an, sodass die Schneeflocken zu einem Tunnel rasender Sterne wurden, was Wren so sehr in Staunen versetzte, dass sie ihre Angst vergaß.

Jetzt wünschte sie sich, einen Schalter umlegen und in diese Zeit zurückreisen zu können.

Wünschte sich, sie hätte ihrem Dad erzählt, dass sie hierherwollte.

Wünschte sich, sie hätte es sich von ihm ausreden lassen.

Wünschte sich, sie hätte ihre Tante nicht gebeten, sie zu begleiten.

Gut möglich, dass Tante Bex inzwischen bereits in einer Leichenhalle lag und ihr Körper wie der von Olive zu einem Regenbogen wurde. Und Wren war an allem schuld.

Du, sagte der Mann mit der Waffe, und seine Stimme holte Wren zurück ins Hier und Jetzt. Er hatte einen Namen, aber sie wollte nicht mal daran denken. Dadurch würde er zu einem Menschen, aber er war kein Mensch, er war ein Monster. Während sie ihren Gedanken nachgehangen hatte, war er vor sie hingetreten. Jetzt fuchtelte er mit der Pistole vor ihr herum. Steh auf!

Die anderen hielten mit ihr den Atem an. In den vergangenen Stunden waren sie zu einem einzigen Organismus verwachsen. Wrens Gedanken befanden sich in ständigem Austausch mit denen der anderen Frauen. Ihre Angst dünstete aus deren Haut aus.

Noch immer sickerte Blut aus dem Verband an der Hand des Mannes. Wenigstens ein kleiner Triumph. Und der Grund, weshalb Wren trotz ihrer weichen Knie aufstehen konnte.

Sie hätte nicht hierherkommen sollen.

Sie hätte ein kleines Mädchen bleiben sollen.

Denn womöglich erlebte sie es nicht, etwas anderes zu werden.

Wren hörte das Klicken, als er die Waffe entsicherte, und schloss die Augen. Und alles, was sie sah, war das Gesicht ihres Vaters – die jeansblauen Augen, sein verhaltenes Lächeln –, wenn er hinauf in den Nachthimmel schaute.

Als George Goddard fünf Jahre alt war, hatte seine Mama versucht, seinen Daddy anzuzünden. Der weggetretene Vater hatte auf der Couch gelegen, als seine Mutter Feuerzeugbenzin über seiner Schmutzwäsche auskippte, ein Streichholz anzündete und den brennenden Eimer über ihm auskippte. Der große Mann richtete sich schreiend auf und wehrte mit seinen Riesenhänden die Flammen ab. Georges Mama sah aus einiger Entfernung mit einem Glas Wasser in der Hand zu. Mabel, hatte sein Vater geschrien. Mabel! Aber seine Mama hatte seelenruhig das Glas bis auf den letzten Tropfen geleert und nichts übrig gelassen, um die Flammen zu löschen. Als Georges Vater aus dem Haus rannte, um sich dort wie ein Schwein im Schmutz zu wälzen, meinte seine Mama zu ihm: Lass dir das eine Lehre sein.

Er hatte nicht so werden wollen wie sein Daddy, aber da der Apfel nun mal nicht weit vom Stamm fällt, war auch er nicht gerade der beste aller Ehemänner geworden. Das wusste er jetzt. Deshalb hatte er beschlossen, der beste aller Väter zu werden. Und deshalb hatte er auch heute Morgen den weiten Weg zum Center zurückgelegt, der letzten Abtreibungsklinik im Staat Mississippi.

Was man seiner Tochter dort genommen hatte, würde sie nie mehr zurückbekommen, ob ihr das jetzt bewusst war oder nicht. Aber das hieß nicht, dass er dafür keinen Preis fordern konnte.

Er sah sich im Wartezimmer um. Drei Frauen hockten zusammengekauert auf einer Stuhlreihe, zu ihren Füßen die Krankenschwester, die sich um den Verband des Arztes kümmerte. Schöner Arzt, dachte George verächtlich. Heilen konnte man das nicht nennen, was er tat, beim besten Willen nicht. Er hätte den Kerl umbringen sollen – hätte den Kerl umgebracht –, wäre er nicht gestört worden, als er mit der Schießerei begann.

Er stellte sich seine Tochter auf einem dieser Stühle sitzend vor. Fragte sich, wie sie hierhergekommen war. Ob sie den Bus genommen hatte. Ob eine Freundin sie gefahren hatte oder – daran wollte er nicht mal denken – der Junge, der sie in Schwierigkeiten gebracht hatte. Er versetzte sich gedanklich in ein anderes Universum, wo er mit seiner Waffe durch die Tür gestürmt kam und sie auf dem Stuhl neben den Prospekten zur Aufklärung über Geschlechtskrankheiten sitzen sah. Er hätte sie an der Hand gepackt und von da weggeschleift.

Was würde sie von ihm denken, jetzt, da er ein Mörder war?

Wie konnte er zu ihr zurück?

Wie konnte er überhaupt zurück?

Vor acht Stunden war ihm dies als heiliger Kreuzzug erschienen, Auge um Auge, Leben um Leben.

Seine Wunde pulsierte. George versuchte, mit den Zähnen den Verband festzuziehen, aber er löste sich. Man hätte ihn fester anlegen müssen, aber wer hier würde ihm dabei helfen?

Beim letzten Mal, als er das Gefühl hatte, die Wände würden näher kommen und ihn einschließen, hatte er seine kleine Tochter gepackt – rot und schreiend vor Fieber, das er weder erkannt hatte noch gewusst hätte, wie er es bekämpfen sollte – und Hilfe gesucht. Er war gefahren, bis sein Laster keinen Sprit mehr hatte – es war bereits nach ein Uhr nachts, aber er lief zu Fuß weiter –, so lange, bis er das einzige Gebäude fand, in dem noch Licht brannte und dessen Tür nicht verschlossen war. Ein unscheinbares Haus mit Flachdach – erst als er eintrat und die Bänke und das Holzrelief von Jesus am Kreuz sah, hatte er erkannt, dass es eine Kirche war. Das Licht, das er draußen gesehen hatte, kam von den auf dem Altar flackernden Kerzen. Komm zurück, hatte er laut zu seiner Frau gesagt, die inzwischen womöglich das halbe Land hinter sich gelassen hatte. Gut möglich, dass er müde war, vielleicht auch verzweifelt, aber er vernahm eindeutig eine Antwort: Ich bin bereits bei dir. Das Flüstern kam vom hölzernen Jesus und gleichzeitig aus all der Dunkelheit, die ihn umgab.

So einfach und doch so umfassend war George bekehrt worden. Irgendwie waren er und sein Mädchen auf dem mit Teppich ausgelegten Boden eingeschlafen. Am Morgen schüttelte Pastor Mike ihn wach. Die Frau des Pastors liebkoste sein Baby. Es gab einen Tisch übervoll mit Essen und wunderbarerweise ein Gästezimmer. Damals war George kein religiöser Mensch gewesen. Nicht Jesus hatte an diesem Tag Einzug in sein Herz gehalten. Sondern Hoffnung.

Hugh McElroy, der Unterhändler für die Geiselnahme, mit dem George nun seit Stunden im Gespräch war, meinte, Georges Tochter würde verstehen, dass er nur versucht hatte, sie zu beschützen. Er hatte versprochen, dass dies, sofern George kooperierte, ein gutes Ende finden könne, doch George wusste sehr gut, dass sich vor diesem Gebäude Männer befanden, deren Waffen auf die Tür gerichtet waren und die nur darauf warteten, dass er herauskam.

George wünschte sich das Ende herbei. Wollte das wirklich. Er war mental und physisch erschöpft, und es fiel ihm schwer, sich die Endphase vorzustellen. Er war die Tränen und das Schluchzen leid. Wollte das alles überspringen und dorthin gelangen, wo er wieder bei seiner Tochter saß und sie erstaunt zu ihm aufblickte, wie sie das immer getan hatte.

Aber George wusste auch, dass Hugh jedes Mittel einsetzen würde, um ihn zum Aufgeben zu überreden. Und das nicht nur, weil es sein Job war. Hugh McElroy musste ihn dazu bringen, die Geiseln freizulassen, und zwar aus demselben Grund, der George überhaupt erst dazu gebracht hatte, sie in seine Gewalt zu bringen – um die Lage zu retten.

Und das brachte George auf die Idee, was er tun würde. Er entsicherte seine Waffe. »Steh auf. Du«, sagte er und deutete auf das Mädchen mit dem Vogelnamen, das auf ihn eingestochen hatte. Das er benutzen würde, um Hugh McElroy eine Lektion zu erteilen.

Die wichtigste Regel für die Verhandlung mit Geiselnehmern lautete: Vermassle es nicht.

Als Hugh sich dem regionalen Team angeschlossen hatte, waren genau das die Worte des Ausbilders gewesen. Geh nicht rein in eine schlimme Situation und mach sie noch schlimmer. Lass dich auf keinen Streit mit dem Geiselnehmer ein. Sag ihm nicht, ich verstehe, weil du das wahrscheinlich gar nicht kannst. Sprich mit ihm auf eine Art und Weise, die beruhigt oder die Bedrohung minimiert, und sei offen dafür, dass die beste Kommunikation manchmal darin besteht, überhaupt nicht zu sprechen. Aktives Zuhören vermag sehr viel mehr, als einfach drauflos zu quasseln.

Es gab die unterschiedlichsten Geiselnehmer. Jene, die nichts mehr mitbekamen, weil sie von Drogen oder Alkohol zugedröhnt oder taub vor Kummer waren. Dann diejenigen, die ein politisches Ziel verfolgten. Außerdem jene, die so lange Rachegedanken in sich schürten, bis diese aufflammten und sie bei lebendigem Leib verbrannten. Und schließlich noch die letzte Gruppe, die Soziopathen – die über keinerlei Empathie verfügten, an die man hätte appellieren können. Dennoch waren sie es, die häufig am leichtesten zu handhaben waren, weil sie das Prinzip, wer am Hebel saß, verstanden. Schaffte man es, dem Soziopathen klarzumachen, dass man keinesfalls gewillt war, ihm die Oberhand zu überlassen, war man schon ganz schön weit gekommen. Man könnte argumentieren: Wir treten jetzt seit zwei Stunden – oder sechs oder sechzehn – auf der Stelle, und ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Aber langsam wird es Zeit für was Neues. Denn hier draußen wartet eine Gruppe von Männern, die findet, dass die Zeit abgelaufen ist, und jetzt gewaltsam einschreiten möchte. Mit Gewalt kennen Soziopathen sich aus.

Bei jemandem, der deprimiert genug ist, sich selbst zu töten und andere mitzunehmen, würde diese Vorgehensweise hingegen erbärmlich versagen.

Für den Aufbau einer Beziehung zum Geiselnehmer war es entscheidend, dass man selbst die einzige Informationsquelle war und sich die Zeit für die Beschaffung wichtiger Informationen nahm. Mit welcher Art von Geiselnehmer hat man es zu tun? Was war der ausweglosen Situation, der Schießerei, dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, vorausgegangen? Um das herauszufinden, versuchte man mittels eines unverfänglichen Gesprächs über Sport, das Wetter, Fernsehen, eine Beziehung aufzubauen. Und erfuhr so nach und nach, was der Geiselnehmer mochte oder nicht mochte und was ihm wichtig war. Liebte er seine Kinder? Seine Ehefrau? Seine Mom? Warum?

Wenn es einem gelang, dieses Warum zu ergründen, fand sich auch ein Weg, die Situation zu entschärfen.

Hugh wusste, dass die besten Unterhändler für Geiselnahmen ihren Job ein Ballett nannten, einen Drahtseilakt oder einen komplizierten Tanz.

Aber er wusste auch, dass das Blödsinn war.

Keiner befragte die Unterhändler, deren Fälle im Blutbad geendet hatten. Nur denen, die erfolgreich gewesen waren und sich verpflichtet fühlten, ihre Arbeit als eine Art mystischer Kunst zu verkaufen, hielt man das Mikrofon vors Gesicht. In Wirklichkeit war es reine Glückssache.

Hugh McElroy hatte die Befürchtung, dass ihn sein Glück langsam verließ.

Er ließ seine Blicke über den Schauplatz wandern, den er während der letzten Stunden beherrscht hatte. Seine Kommandozentrale war ein Partyzelt, das sein Dezernat vor ein paar Wochen bei einem Gemeindefest aufgestellt hatte, um darin Werbung für die Erfassung kindlicher Fingerabdrücke zu Sicherheitszwecken zu machen. Streifenpolizisten waren wie eine Kette blauer Perlen um das Gebäude postiert. Die Presse hatte man hinter einer Polizeiabsperrung zusammengepfercht. – Man könnte meinen, sie wären klug genug, sich außer Reichweite eines bewaffneten Verrückten zu postieren, aber nein, die Verlockungen von Quote und Absatzzahlen waren offenbar zu groß. – Wie leere Drohungen lagen auf dem Gehweg riesige Bilder von Babys im Mutterleib oder handgemalte Slogans verstreut: ADOPTION, KEINABORT! ESISTEINKIND, KEINEWAHLMÖGLICHKEIT.

Krankenwagen hielten sich bereit, bemannt mit Rettungskräften und bestückt mit Rettungsfolien, tragbaren Infusionen und Beatmungsgeräten. Das Sondereinsatzkommando war in Position und wartete nur auf ein Signal. Ihr Kommandant Captain Quandt hatte versucht, Hugh vom Fall abzuziehen – wer konnte ihm das verdenken? –, und wollte den Schützen mit Gewalt außer Gefecht zu setzen. Aber Hugh wusste, dass Quandt dies niemals guten Gewissens tun könnte, nicht, solange Hugh kurz davor stand, George Goddard zum Aufgeben zu überreden.

Denn genau darauf hatte Hugh gesetzt, als er vor fünf Stunden mit der zweiten Regel für das Verhandeln mit Geiselnehmern brach und mit quietschenden Reifen in seinem Zivilfahrzeug am Tatort eintraf und den beiden Streifenpolizisten, die als Erste vor Ort gewesen waren, Befehle entgegenschrie.

Die zweite Regel beim Verhandeln mit einem Geiselnehmer lautete: Vergiss nicht, dass das ein Job ist.

Geiselnahmen dürfen nicht als Test deiner Männlichkeit missverstanden werden. Geiselnahmen sind keine Chance, den Ritter in glänzender Rüstung zu spielen oder sich seine fünfzehn Minuten Ruhm zu sichern. Möglicherweise lief es nach deinen Spielregeln, vielleicht aber auch nicht, egal, wie genau du dich daran hieltst. Nimm es nicht persönlich!

Aber Hugh hatte von Anfang an gewusst, dass das unmöglich wäre, nicht heute, nicht dieses Mal, denn diesmal lag eine völlig andere Situation vor. Es gab Gott weiß wie viele Tote in dieser Klinik, dazu fünf Geiseln, die noch am Leben waren. Und eine von ihnen war sein Kind.

Unvermittelt stand der Leiter des Sondereinsatzkommandos vor ihm. »Wir gehen da jetzt rein«, sagte Quandt. »Ich sage Ihnen das aus Höflichkeit.«

»Sie machen einen Fehler«, erwiderte Hugh. »Und das sage ich Ihnen aus Höflichkeit.«

Quandt wandte sich ab und fing an, in das Walkie-Talkie an seiner Schulter zu sprechen. »Wir gehen rein in fünf … vier …« Plötzlich brach seine Stimme ab. »Zurück! Ich wiederhole – Abbruch!«

Genau das Wort, das die Katastrophe in Gang gesetzt hatte. Hughs Kopf schnellte hoch, und er sah, was Quandt bemerkt hatte.

Die Eingangstür der Klinik war plötzlich aufgegangen, und zwei Frauen kamen heraus.

Als Wrens Mutter noch bei ihnen wohnte, hatte sie oben auf dem Bücherregal im Wohnzimmer eine Grünlilie stehen. Nachdem sie gegangen war, dachten weder Wren noch ihr Vater daran, sie zu gießen, aber diese Grünlilie schien dem Tod zu trotzen. Sie quoll aus ihrem Topf hervor und lenkte ihren Wuchs gegen alle Gesetze der Logik oder Schwerkraft in Richtung Fenster.

Genauso fühlte Wren sich jetzt, als sie, jedes Mal, wenn die Tür aufging, dem Licht entgegenschwankte, angezogen von ihrem Vater, der draußen auf dem Parkplatz stand.

Aber es war nicht Wren, die das Gebäude verließ. Sie hatte keine Ahnung, was ihr Vater während des letzten Telefonats zu George gesagt hatte, aber es hatte funktioniert. George hatte ihr mit vorgehaltener Waffe befohlen, die Couch zu verrücken, mit der er die Tür verbarrikadiert hatte. Obwohl die Geiseln sich nicht frei unterhalten konnten, ohne dass George es mitbekam, war ein Ruck durch sie gegangen. Als er Wren anwies, die Tür aufzuschließen, war sie sogar dem Gedanken verfallen, womöglich heil hier rauszukommen.

Joy und Janine gingen als Erste. Dann wies George Izzy an, Dr. Ward im Rollstuhl rauszuschieben. Natürlich war Wren davon ausgegangen, dass er auch sie freilassen würde, aber George hatte sie an den Haaren gepackt und zurückgerissen. Izzy hatte sich an der Schwelle mit düsterer Miene umgedreht, worauf Wren mit einem leichten Kopfschütteln geantwortet hatte. Womöglich war dies Dr. Wards einzige Chance rauszukommen, und er war verletzt. Sie musste ihn mitnehmen. Sie war Krankenschwester, sie kannte sich aus. »Wren …«, setzte Izzy an, aber dann schlug George hinter ihr die Tür zu und schob den Metallriegel vor. Er ließ Wren gerade so lange los, wie sie brauchte, um das Sofa wieder vor die Tür zu schieben.

Panik stieg in Wrens Kehle auf. Vielleicht war dies Georges Revanche für das, was sie ihm angetan hatte. Jetzt war sie allein hier drin mit diesem Tier. Nun, nicht ganz – ihr Blick wanderte über den Boden zu Olives Leiche.

Vielleicht war Tante Bex bei Olive, wo immer man hinkam, wenn man tot war. Vielleicht warteten beide schon auf Wren.

George ließ sich auf das Sofa vor der Tür plumpsen und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Waffe hielt er noch immer in der Hand. Sie blinzelte ihm zu.

»Werden Sie mich erschießen?«, platzte es aus ihr heraus.

George blickte auf, als wäre er überrascht, dass sie diese Frage überhaupt stellte. Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Eins seiner Augen schielte ein klein wenig nach rechts, nicht so, dass es komisch aussah, aber es erschwerte es, sich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Sie fragte sich, ob er sich bewusst für eine bestimmte Blickrichtung entscheiden musste. Er rieb sich mit der bandagierten Hand die Wange.

Als Wren klein war, pflegte sie die Hände an das Gesicht ihres Vaters zu legen, um seine Bartstoppeln zu spüren. Sie machten ein raschelndes Geräusch. Lächelnd ließ er sich gefallen, dass sie sein Kinn bearbeitete, als würde sie auf einem Instrument spielen.

»Ob ich dich erschieße?« George lehnte sich in die Kissen zurück. »Kommt ganz darauf an.«

Es ging alles ganz schnell. Gerade eben war Janine Deguerre noch eine Geisel, gleich darauf wurde sie in einem Sanitätszelt von Rettungssanitätern untersucht. Sie sah sich um auf der Suche nach Joy, konnte aber die andere Geisel, mit der sie nach draußen gegangen war, nirgendwo entdecken.

»Ma’am«, sprach einer der Ersthelfer sie an, »können Sie dem Licht folgen?«

Janine war mit einem Ruck wieder bei dem jungen Mann, der tatsächlich wohl gar nicht so viel jünger war als sie – vierundzwanzig. Sie blinzelte ihn an, als er eine kleine Taschenlampe vor ihrem Gesicht hin und her schwenkte.

Sie bibberte. Nicht, weil ihr kalt war, sondern weil sie unter Schock stand. Von dem Schlag, den sie mit der Pistole gegen die Schläfe bekommen hatte, dröhnte ihr der Kopf noch immer. Der Sanitäter legte ihr eine Rettungsdecke um die Schultern, wie man das auch bei Marathonläufern am Ziel machte. Nun, vielleicht war sie, metaphorisch gesprochen, ja tatsächlich einen Marathon gelaufen. Und eine Linie hatte sie definitiv überschritten.

Die Sonne stand tief und erweckte die Schatten zum Leben, sodass die Unterscheidung, was real war und was die Augen ihr vorgaukelten, schwierig war. Noch vor fünf Minuten hatte Janine sich in der wohl schlimmsten Gefahr ihres Lebens befunden, aber erst hier unter einem Plastikzelt, umgeben von Polizei und medizinischem Fachpersonal, fühlte sie sich isoliert. Der bloße Akt, diese Schwelle zu überschreiten, hatte sie dorthin zurückgeführt, wo sie begonnen hatte: auf der anderen Seite.

Sie reckte den Hals und hielt erneut Ausschau nach Joy. Vielleicht hatte man sie ins Krankenhaus gebracht wie Dr. Ward. Oder vielleicht hatte Joy auch, sobald Janine außer Hörweite war, gesagt: Haltet mir dieses Miststück vom Leib.

»Ich denke, wir sollten Sie zur Beobachtung dabehalten«, meinte der Sanitäter.

»Mir geht es gut«, betonte Janine. »Wirklich. Ich möchte einfach nur nach Hause.«

Stirnrunzelnd erkundigte er sich: »Gibt es jemanden, der über Nacht bei Ihnen bleibt? Nur für alle Fälle?«

»Ja«, log sie.

Ein Polizist ging neben ihr in die Hocke. »Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen«, begann er, »werden wir Sie zuerst auf die Wache bringen. Wir benötigen eine Aussage.«

Janine bekam Panik. Wusste man über sie Bescheid? Musste sie es ihnen sagen? War das wie vor Gericht, wo man auf die Bibel schwören musste? Oder könnte sie einfach noch ein bisschen länger jemand sein, der Mitgefühl verdiente?

Sie nickte und stand auf. Sanft geleitet von der Hand des Polizisten, bewegte sie sich langsam aus dem Zelt. Dabei raffte sie ihre Rettungsdecke an sich wie einen Hermelinumhang. »Moment«, sagte sie. »Was ist mit den anderen?«

»Die kommen nach, sobald sie so weit sind«, versicherte er ihr.

»Das Mädchen«, sagte Janine. »Was ist mit dem Mädchen? Ist es rausgekommen?«

»Seien Sie unbesorgt, Ma’am«, erwiderte er.

Die Rufe der Reporter brandeten ihr entgegen, ein unentwirrbares Fragendurcheinander. Der Polizist schirmte sie mit seinem Körper vor den Medienvertretern ab und führte sie zu einem wartenden Polizeiwagen. Stickige Hitze umfing sie, als die Tür geschlossen wurde. Während der Fahrt starrte sie aus dem Fenster.

Unterwegs kamen sie an einer Anzeigentafel vorbei. Janine erkannte sie, weil sie mitgeholfen hatte, Spenden für ihre Errichtung einzutreiben. Darauf war ein Foto von zwei lächelnden zahnlosen Babys zu sehen – eins schwarz, das andere weiß. Wussten Sie, stand darauf, dass mein Herz achtzehn Tage nach der Empfängnis zu schlagen beginnt?

Fakten wie diese kannte Janine eine Menge. Sie wusste auch, wie die verschiedenen Religionen und Kulturen das Person-Sein definierten. Katholiken glaubten an Leben bei der Empfängnis. Muslime glaubten, dass Allah nach der Empfängnis zweiundvierzig Tage benötigte, um einen Engel zu schicken, der Spermium und Ei in etwas Lebendiges verwandelte. Thomas von Aquin hatte gesagt, ein Schwangerschaftsabbruch sei bei einem männlichen Embryo nach vierzig Tagen und bei einem weiblichen nach achtzig Tagen Mord. Es gab auch Sonderfälle, wie etwa die alten Griechen, die behaupteten, ein Fötus habe eine »vegetabile« Seele, und die Juden, die sagten, dass die Seele bei der Geburt komme. Janine war geschickt darin, in einer Diskussion bewusst von solchen Ansichten abzulenken.

Wirklich Sinn ergab es keinen oder? Wieso wurde der Moment, an dem Leben begann, je nach Blickwinkel so unterschiedlich interpretiert? Wieso konnte das Gesetz in Mississippi festlegen, ein Embryo sei ein menschliches Wesen, das Gesetz in Massachusetts dazu aber eine ganz andere Haltung einnehmen? War das Baby nicht dasselbe Baby, egal, ob es in einem Bett in Jackson oder in Nantucket an einem Strand gezeugt wurde?

Janine bekam Kopfweh davon. Aber das ging ihr im Moment mit allem so.

Bald würde es dunkel werden. Wren hockte im Schneidersitz auf dem Fußboden und behielt George im Auge, der zusammengesackt auf dem Sofa saß, die Ellbogen auf den Knien abstützte und die Waffe locker in der Hand baumeln ließ. Sie riss die letzte Packung Feigenkekse auf – alles, was noch aus dem Korb mit den Snacks aus dem Aufwachraum übrig war. Ihr knurrte der Magen.

Im Dunkeln hatte sie immer Angst gehabt. Ihr Dad musste mit der Waffe im Holster ihr ganzes Zimmer untersuchen – unter dem Bett, unter der Matratze, auf den hohen Regalen über ihrer Kommode. Manchmal wachte sie in der Nacht weinend auf, überzeugt, dass sie etwas Entsetzliches mit Reißzähnen am Fußende ihres Betts hatte sitzen sehen, das sie aus gelben Augen beobachtete.

Jetzt wusste sie: Ungeheuer waren real.

Wren schluckte. »Ihre Tochter«, fragte sie, »wie heißt sie?«

George blickte auf. »Halt deinen Mund«, herrschte er sie an.

Die Heftigkeit, mit der er ihr die Worte entgegenschleuderte, ließ sie ein wenig zurückweichen, aber dabei rührte ihr Bein an etwas Kaltes, Starres. Sie wusste sofort, was es war – wer es war –, und schluckte ihren Aufschrei hinunter. Wren nahm ihre ganze Willenskraft zusammen und rutschte wieder nach vorn, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. »Bestimmt möchte Ihre Tochter Sie sehen.«

Das Profil des Schützen wirkte zerklüftet und wenig einladend.

»Du weißt gar nichts.«

»Ich bin mir sicher, dass sie Sie sehen möchte«, wiederholte Wren. Ich weiß es, sagte sie sich, weil ich mir nichts mehr wünsche als das.

Sie log.

Janine saß auf der Polizeiwache und log den Detective an, der ihr gegenübersaß und ihre Aussage aufnahm. »Was hat Sie heute Morgen zum Center geführt?«, erkundigte er sich freundlich.

»Eine Schmierblutung«, antwortete Janine.

Alles andere, was sie ihm erzählt hatte, stimmte und klang nach einem Horrorfilm: das Knallen von Schüssen, das Gewicht der Klinikangestellten, die plötzlich gegen sie rumste und sie zu Boden warf. Janine hatte sich das saubere T-Shirt angezogen, das sie von den Sanitätern bekommen hatte, spürte aber noch immer das heiße Blut – so viel Blut – der Frau, das ihre Kleidung durchtränkte. Auch jetzt noch rechnete sie damit, es zu sehen, wenn sie auf ihre Hände schaute.

»Was ist dann passiert?«

Wie sie feststellen musste, konnte sie sich nicht mehr an die Abfolge erinnern. Anstatt einer logischen Sequenz blitzten nur Momentaufnahmen auf: ihr unkontrollierbar zitternder Körper, als sie losrannte, ihre gegen die Schusswunde einer verletzten Frau gepresste Hand. Der Schütze, der seine Pistole auf Janine richtete, während Izzy mit einem Haufen Vorräte in den Armen neben ihm stand. Das Läuten des Telefons, das sie alle wie Mannequins erstarren ließ.

Janine hatte das Gefühl, sich gezwungenermaßen einen Film anzusehen, den sie eigentlich nie hatte sehen wollen, und zwar bis zum Ende.

Als sie zu der Stelle kam, wo der Schütze ihr einen Schlag mit der Waffe verpasste, ließ sie den Grund dafür unerwähnt. Lügen durch Verschweigen hatte man das genannt, wenn sie als kleines Mädchen zur Beichte ging. Auch das war eine Sünde, aber weniger schwerwiegend. Doch manchmal log man, um Menschen zu schützen. Manchmal log man, um sich selbst zu schützen.

Was zählte schon eine weitere Lüge neben all den anderen?

Als sie sprach, weinte sie. Sie merkte es erst, als der Polizeibeamte ihr eine Schachtel mit Taschentüchern hinhielt.

»Darf ich Sie was fragen?«, sagte sie.

»Natürlich.«

Sie schluckte. »Glauben Sie, dass jeder Mensch bekommt, was er verdient hat?«

Der Detective sah sie lange an. »Ich denke nicht, dass irgendjemand einen Tag wie den heutigen verdient hat.«

Janine nickte. Sie schnäuzte sich und knüllte das Taschentuch zusammen.

Plötzlich ging die Tür auf, und ein Beamter in Uniform steckte den Kopf herein. »Da draußen ist ein Herr, der sagt, dass er Sie kennt …?«

In dem Mann hinter ihm erkannte Janine Allen – seine geröteten Wangen und den dicken Bauch, Anlass seiner Scherze, sehr wohl zu wissen, wie es war, schwanger zu sein. Allen war der Anführer der örtlichen Recht-auf-Leben Gruppe. »Janine!«, rief er und schob sich an dem Polizisten vorbei, um sie in die Arme zu schließen. »Du lieber Gott«, seufzte er. »Wir haben für dich gebetet, meine Liebe.«

Sie wusste, dass sie für jede Frau beteten, die durch die Türen des Centers ging. Doch dies war etwas anderes. Allen hätte keinen Frieden mit sich schließen können, wenn ihr etwas zugestoßen wäre, denn schließlich war er derjenige gewesen, der sie zum Spionieren hineingeschickt hatte.

Vielleicht hatte Gott ja zugehört, denn sie war freigekommen. Aber das waren auch Joy und Izzy und Dr. Ward. Und was war mit denen, die es nicht geschafft hatten, lebend herauszukommen? Was war das für ein launischer Gott, der so würfelte?

»Lass mich dich nach Hause bringen, damit du zur Ruhe kommst«, sagte Allen. Und zum Detective: »Ich bin mir sicher, dass Miz Deguerre ein wenig Ruhe nötig hat.«

Der Detective sah Janine direkt in die Augen, als wollte er sich vergewissern, dass sie mit Allens Bevormundung einverstanden war. Warum sollte sie das auch nicht sein? Sofort nach ihrem Eintreffen in der Stadt hatte sie getan, was er von ihr verlangte, weil sie seine Mission auf jede erdenkliche Weise unterstützen wollte. Und sie wusste, dass er es gut meinte. »Wir bringen Sie gerne dorthin, wohin auch immer Sie möchten«, schlug der Detective ihr vor.

Er bot ihr eine Wahlmöglichkeit an, sie fühlte sich berauschend an und machtvoll.

»Ich muss auf die Toilette«, platzte es aus ihr heraus, eine weitere Lüge.

»Natürlich.« Der Detective zeigte ihr den Weg über den Flur. »Am Ende links und dann die dritte Tür rechts.«

Janine setzte sich in Bewegung, hielt dabei noch immer die um ihre Schultern gelegte Foliendecke fest. Sie brauchte einfach kurz Zeit zum Nachdenken.

Am Ende des Flurs befand sich ein weiteres Vernehmungszimmer, ähnlich dem, in dem sie befragt worden war. Was von innen ein Spiegel gewesen war, entpuppte sich von diesem Blickwinkel aus als Fenster. Joy saß mit einer weiblichen Beamtin an einem Tisch.

Ehe ihr bewusst wurde, was sie tat, klopfte Janine ans Fenster. Offenbar war das Geräusch zu hören gewesen, denn Joy drehte sich in ihre Richtung, obwohl sie Janines Gesicht nicht sehen konnte. Die Tür des Vernehmungszimmers schwang auf, und gleich darauf stand sie einer Polizeibeamtin gegenüber.

»Gibt es ein Problem?«

Durch die offene Tür nahm sie Blickkontakt zu Joy auf.

»Wir kennen einander«, sagte Janine.

Joy nickte nach kurzem Zögern.

»Ich wollte nur … ich wollte nur sehen …« Janine überlegte. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht Hilfe brauchen.«

Die Beamtin verschränkte die Arme. »Wir sorgen schon dafür, dass sie alles bekommt, was sie braucht.«

»Ich weiß, aber …« Janine sah Joy an. »Sie sollten heute Abend nicht allein sein.«

Sie spürte den huschenden Blick, mit dem Joy die Bandage an ihrer Schläfe streifte. »Sie auch nicht«, erwiderte Joy.

Der Streifen Klebeband, der im Krankenzimmer von einem der in die Decke eingelassenen Schlitze der Klimaanlage hing, flatterte, als gelte es, etwas zu feiern. Unwahrscheinlich, wie die auf dem Rücken liegende Izzy fand, während der Arzt sie abtastete, wobei sie sich ausklinkte.

»Da ist es ja«, murmelte der Geburtshelfer. Er bewegte den Stab nach links, dann nach rechts und zeigte anschließend auf das unscharfe Bild des Ultraschallgeräts, auf dem sich an einem der Ränder von Izzys amöbenhaften Uterus die weiße Erdnuss des zusammengerollten Fötus abzeichnete. »Komm schon … komm schon …« Seine Stimme hatte etwas Drängendes. Dann sahen sie es beide – das Flackern eines Herzschlags. Etwas, das sie unzählige Male beim Ultraschall anderer Frauen gesehen hatte.

Sie stieß die Luft aus, von der sie gar nicht wusste, dass sie diese angehalten hatte.

Der Arzt nahm Messungen vor und dokumentierte diese. Dann wischte er ihr das Gel vom Bauch und deckte sie wieder mit dem Tuch zu. »Sie können sich glücklich schätzen, Miz Walsh«, verkündete er. »Alles ist gut, Sie können gehen.«

Izzy stützte sich auf dem Ellbogen ab und versuchte, sich aufzurichten. »Warten Sie, das … das war’s dann?«

»Sie sollten natürlich darauf achten, ob es in den nächsten Tagen zu Krämpfen oder Blutungen kommt«, ergänzte der Arzt, »aber da der Herzschlag so kräftig ist, würde ich sagen, dass dieser kleine Junge – oder das Mädchen – durchaus vorhat zu bleiben. Kommt eindeutig nach der Mama.«

Er meinte, er werde noch die Entlassungspapiere unterschreiben, und verschwand dann durch den Vorhang, der ihre Untersuchungskabine von den anderen abtrennte. Izzy sank zurück, schob die Hände unter das kratzige Tuch und legte sie flach auf den Bauch.

Gleich nachdem sie aus der Klinik ins Freie gekommen war, hatten die Rettungssanitäter sie neben Dr. Ward auf eine Krankentrage gelegt, obwohl sie ihnen zu versichern versucht hatte, nicht verletzt zu sein. Doch davon wollte Dr. Ward nichts wissen.

»Sie ist schwanger«, hielt er dagegen. »Sie braucht ärztliche Hilfe.«

»Sie brauchen ärztliche Hilfe«, hatte sie gekontert.

»Da haben Sie’s«, sagte Dr. Ward an den jungen Sanitäter gewandt, der die Aderpresse kontrollierte. »Sie lässt mich einfach nicht in Frieden.« Und mit Blick auf sie ergänzte er leise: »Wofür ich unendlich dankbar bin.«

Dann wurden sie getrennt. Sie fragte sich, ob er schon operiert wurde, ob er das Bein behalten konnte. Doch sie hatte ein gutes Gefühl.

Vielleicht waren manche Leute einfach dazu ausersehen, zu überleben.

Da ihr Vater ständig arbeitslos war, hatte ihre Mutter Izzy und ihre Zwillingsbrüder nur unter großen Mühen durchbringen können. Das Haus, in dem sie wohnten, war so klein, dass sich die drei Kinder nicht nur ein Zimmer, sondern ein Bett teilen mussten. Dennoch war Izzy lange Zeit gar nicht bewusst gewesen, dass sie arm war. Ihre Mutter zog mit ihnen auf der Suche nach Münzgeld los. Fürs Abendessen gingen sie angeln. Gelegentlich feierten sie Kolonialwoche – da wurden anstatt der elektrischen Beleuchtung Kerzen angezündet.

Wenn Izzy über ihr Leben nachdachte, gab es eine scharfe Trennlinie zwischen damals und heute. Jetzt bewohnte sie zusammen mit Parker ein Haus dreimal so groß wie das ihrer Kindheit. Er war gewissermaßen der Prinz aus guter Familie, der sich in ein von Schulden geplagtes Aschenputtel verliebt hatte, das die Ausbildung zur Krankenschwester machte. Kennengelernt hatten sie sich, als er mit einem gebrochenen Bein im Streckverband lag. Ihre erste Verabredung, pflegte er zu scherzen, sei eine Waschung gewesen.

Parker hatte wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater vor ihm in Yale studiert. Aufgewachsen war er in Eastover, der snobistischsten Gegend des ganzen Bundesstaates. Seine Kindheit war von Privatschulen, Miniaturblazern und Krawatten geprägt. Er übersommerte. Selbst seinen Job – als Dokumentarfilmer – konnte er sich nur dank seines Treuhandfonds erlauben.

Wenn sie auswärts aßen, bestellte Izzy nach wie vor das billigste Gericht auf der Karte. Ihr Gefrierschrank war immer randvoll, nicht weil sie es sich nicht hätte leisten können, frisches Gemüse zu kaufen, sondern weil sie immer noch für schlechte Zeiten gewappnet sein wollte.

Sie hätten auch von verschiedenen Planeten abstammen können. Wie um alles in der Welt sollten sie ein gemeinsames Kind großziehen?

Izzy fragte sich, ob die Bruchlinie ihres Lebens sich womöglich verschoben hatte und nicht mehr auf den Tag zu datieren war, als sie ihr erstes Gehalt bekam. Sondern nunmehr auf den Tag der heutigen Schießerei fiele und sie ab jetzt alles in davor und danach einteilen würde.

Eine Krankenschwester betrat die Untersuchungskabine. »Wie fühlen Sie sich?«

»Mir geht es gut«, erwiderte Izzy, froh, dass ihre zitternden Hände noch unter der Decke steckten.

»Ich habe Informationen von diesem Notfall, nach dem Sie sich erkundigt hatten …«

»Dr. Ward?« Izzy setzte sich auf.

»Nein. Die Frau. Bex Sowieso? Sie hat die Operation gut überstanden«, berichtete die Krankenschwester. »Sie liegt auf der Intensivstation.«

Izzy schossen Tränen in die Augen. Gott sei Dank. »Und was ist mit Dr. Ward?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nichts gehört, aber ich werde das im Auge behalten.« Sie sah Izzy mitfühlend an. »Sie sind bestimmt alle durch die Hölle gegangen.«

Das waren sie mit Sicherheit. Im Bemühen, Bex das Leben zu retten, hatte Izzy ihren Finger durch deren Brustkorb gesteckt und nach dem Kissen ihrer schwerfällig arbeitenden Lungen getastet. Überall hatte Dr. Wards Blut an ihr geklebt.

»Die Polizei möchte Sie sprechen«, kündigte die Krankenschwester an. »Die Beamten warten schon eine Weile. Aber wenn Sie sich dazu nicht imstande fühlen, gebe ich das gern so weiter.«

»Dürfte ich vorher die Toilette benutzen?«

»Aber sicher«, erwiderte die Krankenschwester. Sie half Izzy beim Aufstehen und führte sie durch den Vorhang zu einer Einzeltoilette. »Brauchen Sie Hilfe?«

Izzy verneinte kopfschüttelnd, schloss die Tür und verriegelte sie, lehnte sich gegen das Holz. Das Zittern war jetzt von ihren Händen auf den Rest des Körpers übergegangen. Selbst ihre Zähne klapperten.

Ein Schock wie aus dem Lehrbuch.

»Reiß dich zusammen«, befahl sie sich, ließ Wasser in das Waschbecken laufen und spritzte es sich ins Gesicht. Sie tupfte sich die Haut mit Papiertaschentüchern trocken und warf einen Blick in den Spiegel. Sofort wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Längst hatte sich der Zopf, zu dem sie die langen Haare gebändigt hatte, aufgelöst, die nun als feuerrotes Gewirr ihr Gesicht rahmten. Die Krankenhauskleider, die man ihr im Tausch gegen die blutigen gegeben hatte, die sie bei der Einlieferung trug, waren zu groß und über eine Schulter gerutscht, sodass sie aussah wie eine armselige Karikatur einer schwülen Krankenschwesternfantasie. Obwohl sie das Blut von Armen und Hals weitgehend entfernt hatte, waren noch vereinzelte Flecken zurückgeblieben.

Sie schrubbte, bis ihre Haut wund war, und kehrte dann in die kleine Kabine zurück. Vor dem Vorhang wartete ein Polizeibeamter. »Miz Walsh? Ich bin Officer Thibodeau. Wäre es Ihnen vielleicht möglich, eine kurze Aussage zu machen?«

Sie zog den Vorhang auf und nahm mit baumelnden Beinen auf der Liege Platz. »Wo soll ich anfangen?«

Thibodeau kratzte sich mit einem Stift über dem Ohr. »Nun, am besten wohl am Anfang«, meinte er. »Sie kamen heute Morgen zur Klinik?«

»Ja.«

»Wie lange arbeiten Sie schon dort?«

Bevor sie antworten konnte, verlangte eine Stimme zu erfahren, wo Izzy war.

Parker.

Izzys Beine glitten von der Liege, und sie trat nach vorn, als er sich gerade an der Krankenschwester und dem Arzt vorbeidrängte, die ihn vom geschützten Patientenbereich fernzuhalten versuchten.

»Parker!«, rief sie, und sein Kopf fuhr mit einem Ruck herum.

»Izzy, mein Gott.« Mit drei großen Schritten war er bei ihr und umarmte sie stürmisch. Er hielt sie so fest, dass sie kaum atmen konnte. Aber das zählte nicht, denn sobald sie ihn berührte, hörte sie endlich zu zittern auf.

Als die Sanitäter Izzy eingeliefert hatten und die Aufnahmeschwester sie gefragt hatte, wen sie als Nächststehenden anrufen konnten, war ihr Parkers Name herausgerutscht. Wenn das nicht aufschlussreich war?

Vielleicht gab es ja ein Mittel gegen das ständige Grübeln darüber, was sie auseinanderbringen könnte, und es gelänge ihr stattdessen, sich auf das zu konzentrieren, was sie miteinander verband.

»Bist du okay?«, fragte er.

Sie nickte stumm.

»Du bist nicht verletzt?« Parker löste sich von ihr und hielt sie auf Armeslänge fest. In seinem Blick waren tausend Fragen zu lesen, und er sah ihr in die Augen, als könnte er dort die Antworten finden. Oder die Wahrheit. Vielleicht waren sie ausnahmsweise einmal deckungsgleich.

Dass dieser Tag unter diesen Umständen und an diesem Ort enden würde, hätte sie nicht gedacht. Aber irgendwie war sie hier genau richtig. »Mir geht es gut«, sagte Izzy. Sie nahm seine Hand, drückte sie sich gegen den Bauch und lächelte. »Uns geht es gut.«

Plötzlich schien Izzys Zukunft in den Bereich des Möglichen gerückt. Und das fühlte sich an wie der Stempel, den man in den Pass bekam, wenn man wieder ins Heimatland zurückkehrte und einem dann klar wurde, dass man nur gereist war, um sich daran zu erinnern, wie Heimkommen sich anfühlte.

Als eine der jungen Kriminalbeamtinnen ihm die Nachricht überbrachte, dass seine ältere Schwester die Operation überstanden hatte, schickte Hugh einen stillen Dank an einen Gott, an den er schon seit Langem nicht mehr glaubte. Jener Teil seines Gehirns, der in Sorge um sie gewesen war, konnte sich jetzt auf Wren konzentrieren, die noch immer mit einem Mörder dort drin war.

Als Erstes waren die beiden Frauen freigelassen worden. Dann die Krankenschwester und der verletzte Arzt, der die Schwangerschaftsabbrüche vornahm.

Hugh hatte gewartet. Und gewartet. Und … nichts.

Er lief im Kommandozentrum hin und her, von dem aus er angerufen hatte, um dem Schützen noch ein paar Minuten zu geben in der Hoffnung, er würde seinem Versprechen nachkommen und alle Geiseln freilassen. Nun fragte er sich, ob er eine schlechte Entscheidung getroffen hatte. Womöglich sogar eine fatale, für Wren?

Captain Quandt kam erneut auf ihn zu und stellte sich Hugh in den Weg. »Okay, ich habe genug gewartet. Die meisten hat er freigelassen. Jetzt scheuchen wir ihn raus.«

»Das können Sie nicht machen.«

»Und ob ich das kann«, entgegnete Quandt. »Ich habe hier das Kommando, Lieutenant.«

»Nur auf dem Papier.« Hugh stellte sich dicht vor ihn. »Dort drin ist noch eine Geisel. Für Goddard sind Sie ein Niemand. Wenn Sie da reingehen, wissen wir beide, wie das enden wird.«

Dabei verschwieg Hugh allerdings, dass es ohnehin so enden könnte. Was wäre, wenn George zwar eingewilligt hätte, die Geiseln freizulassen, dabei jedoch nicht vorhatte, sein Wort auch zu halten? Stattdessen lieber im Kugelhagel sterben und Wren dabei mitnehmen wollte? Würde er Hugh auf diese Weise den ultimativen Stinkefinger zeigen?

Quandt sah ihm in die Augen. »Wir wissen doch beide, dass Sie da viel zu dicht dran sind, um klar denken zu können.«

Hugh verharrte reglos, die Arme vor der Brust verschränkt. »Genau deshalb möchte ich nicht, dass Sie durch diese verdammte Tür stürmen.«

Der Captain kniff die Augen zusammen. »Ich gebe ihm noch weitere zehn Minuten, um Ihre Tochter freizulassen. Dann werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, für ihre Sicherheit zu sorgen … aber wir bringen das zu Ende.«

Sobald Quandt gegangen war, nahm Hugh sein Mobiltelefon und wählte die Nummer der Klinik, dieselbe, die er nun schon seit Stunden benutzte, um mit George zu sprechen. Es klingelte und klingelte. Nimm endlich ab! Hugh hatte keine Schüsse gehört, aber das bedeutete nicht, dass Wren sicher war.

Nachdem er es achtzehnmal hatte läuten lassen, wollte er schon auflegen. Dann: »Daddy?«, meldete sich Wren, und er war machtlos dagegen, dass seine Knie einfach nachgaben.

»Hey, Süße«, sagte er, bemüht, sich die Emotionen, die ihn überwältigten, nicht anmerken zu lassen. Er musste an ihre Stürze als Kleinkind denken. Sobald Hugh sich anmerken ließ, wie besorgt er war, brach sie in Tränen aus. War sein Ausdruck hingegen gefasst, riss sie sich zusammen und rappelte sich auf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»J-ja.«

»Hat er dich verletzt?«

»Nein.« Eine Pause. »Ist Tante Bex …«

»Sie wird wieder«, sagte Hugh, obwohl er das nicht mit Sicherheit wusste. »Ich möchte, dass du weißt, wie sehr ich dich liebe«, ergänzte er und konnte dabei regelrecht hören, wie die Panik in seiner Tochter wuchs.

»Sagst du das, weil ich sterben werde?«

»Nicht, wenn es nach mir geht. Würdest du George bitten …«, begann er, musste dann aber schlucken. »Würdest du ihn bitten, mit mir zu sprechen?«

Er hörte gedämpfte Stimmen, dann war George in der Leitung. »George«, sprach Hugh ihn mit ruhiger Stimme an, »ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung.«

»Hatten wir.«

»Sie sagten, Sie würden die Geiseln freilassen.«

»Habe ich«, antwortete George.

»Nicht alle.«

Das Gespräch stockte. »Sie haben keine genauen Angaben gemacht«, erwiderte George.

Hugh umfasste das Telefon, als würde er mit einer Geliebten flüstern. »Möchten Sie mir sagen, was wirklich los ist, George?« Eine Pause. »Sie können mit mir reden. Das wissen Sie.«

»Es ist alles eine Lüge.«

»Was ist eine Lüge?«

»Was geschieht mit mir, wenn ich Ihr Kind freilasse?«

»Darüber sprechen wir, wenn Sie rauskommen. Sie und ich«, sagte Hugh.

»Blödsinn. Mein Leben ist so oder so vorbei. Entweder gehe ich ins Gefängnis und rotte da vor mich hin, oder ich werde erschossen.«

»Dazu wird es nicht kommen«, versprach Hugh. »Das werde ich nicht zulassen.« Er schielte auf die Notizen, die er sich nach seiner letzten Unterredung mit George gemacht hatte. »Erinnern Sie sich? Sie beenden das und werden damit das Richtige tun. Ihre Tochter – ach, die ganze Welt – wird zusehen, George.«

»Das Richtige zu tun«, entgegnete George ruhig, »bedeutet eigentlich manchmal, etwas Schlimmes zu tun.«

»Das muss nicht so sein«, sagte Hugh.

»Sie kapieren es nicht.« Georges Stimme war angespannt, distanziert. »Aber Sie werden es kapieren.«

Das war eine Drohung. Das hörte sich eindeutig nach einer Drohung an. Hugh schielte auf den Leiter des Sondereinsatzkommandos. Quandt starrte ihn vom Rand des Zelts aus an. Er hob einen Arm, zeigte auf seine Uhr.

»Lassen Sie Wren gehen«, handelte Hugh mit ihm, »dann werde ich sicherstellen, dass Sie da lebend rauskommen.«

»Nein. Solange ich sie in meiner Gewalt habe, wird man nicht schießen.«

Hugh musste ihm eine praktikable Alternative anbieten, eine, die Wren aus dem Spiel ließ, aber George dennoch glauben ließ, dass er geschützt war.

Und da wusste er auch schon, was zu tun war.

Hugh warf einen Blick auf den Captain. Quandt würde sich keinesfalls darauf einlassen. Das war zu riskant. Hugh würde seinen Job verlieren – vielleicht auch sein Leben –, aber seine Tochter wäre in Sicherheit. Es gab keine andere Wahl.

»George«, schlug er vor, »nehmen Sie mich stattdessen.«

Bex war tot. Sie musste tot sein, denn alles war weiß, und da war ein helles Licht, genau das, was nach Meinung aller zu erwarten war, oder?

Sie drehte den Kopf ein wenig nach links und sah den Infusionsgalgen, die Kochsalzlösung, die ihr tröpfelnd verabreicht wurde. Über ihr hing eine Leuchtstofflampe.

Ein Krankenhaus. Sie war das genaue Gegenteil von tot.

Als sie an Wren und Hugh dachte, schnürte es ihr die Kehle zu. Ging es ihrer Nichte gut? Sie stellte sich Wren vor, wie sie mit hochgezogenen Knien an der weißen Zunge ihrer Sneakers zog. Hatte Hugh vor Augen, der sich im Krankenwagen über sie beugte. So sah Bex die Welt: in Bildern. Nach einer Umsetzung in ihrem Atelier würde sie dafür den Titel Abrechnung wählen. Sie würde die angespannten Sehnen von Hughs Hals betonen, das Zittern von Wrens sich bewegender Hand. Der Hintergrund hätte die Farbe eines Blutergusses.

Sammler von Chicago bis Kalifornien hatten die von Bex erschaffenen Installationen erworben. Ihre Arbeiten nahmen die Größe einer ganzen Wand ein. Betrachtete man sie mit Abstand, sah man womöglich eine Frauenhand auf einem Schwangerschaftsbauch. Ein Baby, das seine Finger nach dem über ihm hängenden Mobile ausstreckte. Eine Frau in den Wehen. Trat man aber näher heran, erkannte man, dass das Porträt aus Hunderten gebrauchter, vielfarbiger Post-it-Zettel bestand, die auf einem Raster sorgfältig mit Schellacklösung fixiert waren.

Wenn über ihre Arbeiten geschrieben wurde, stand immer der soziale Aspekt im Fokus, der Bex wichtig war. Sowohl ihr Gegenstand – Elternschaft – wie auch ihr Medium – ausrangierte Aufgabenlisten und Wegwerf-Gedächtnisstützen – waren etwas Flüchtiges. Aber dank ihrer Transformation dieses Herzschlags, dieser ganz speziellen Sekunde, wurden sie zeitlos.

Vor zehn Jahren hatte sie einen kurzen Moment des Ruhms erlebt, als TheNew York Times sie in einem Artikel über neu zu entdeckende aufstrebende Künstler erwähnte – fürs Protokoll: Sie strebte danach nirgendwohin. Der Reporter hatte Bex gefragt, ob sie, die selbst Single war und keine Kinder hatte, dieses Thema aufgegriffen habe, um in der Kunst zu meistern, was ihr persönlich versagt blieb?

Aber Ehe oder Kinder hatte Bex nie gebraucht. Sie hatte Hugh. Sie hatte Wren. Gewiss gehörte Rastlosigkeit zum Künstlersein dazu, aber das hieß noch lange nicht, dass Künstler sich immer auf ein Ziel zubewegten. Manchmal liefen sie auch von dem Ort weg, an dem sie gewesen waren.

Ein Pfleger trat ein. »Hallo«, begrüßte er sie. »Wie geht es Ihnen?«

Sie versuchte, sich aufzusetzen. »Ich muss gehen«, erklärte sie.

»Sie gehen nirgendwohin. Seit Ihrer Operation sind gerade mal zehn Minuten vergangen.« Er sah sie fragend an. »Gibt es jemanden, den ich für Sie holen lassen kann?«

Ja, bitte, sagte sich Bex. Aber die befinden sich im Moment beide mitten in einem ausweglosen Geiseldrama.

Wenn es doch nur so einfach wäre, Wren zu retten. Was Hugh im Moment durchmachte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, aber sie musste an ihn glauben. Bestimmt hatte er einen Plan. Hugh hatte immer einen Plan. Er war es, den sie anrief, wenn alle Toiletten in ihrem Haus auf einmal ihren Dienst einstellten, als hätte der Kosmos sich gegen sie verschworen. Er lockte den Skunk in die Falle, der sich in ihrem alten Mini Cooper eingenistet hatte. Er kam angerannt, wenn die Alarmanlage losging und alle anderen wegrannten. Es gab nichts, was ihn aus dem Konzept brachte, keine Herausforderung vermochte ihn abzuschrecken.

Plötzlich musste sie daran denken, wie er mit fünfzehn oder sechzehn so sehr von einem Comic gefesselt war, dass er sie überhaupt nicht wahrnahm. Erst als Bex ihm das Heft wegnahm, blickte er auf. Mist, hatte Hugh gesagt, eine Silbe, die gleichermaßen Entsetzen, Respekt und Traurigkeit beinhaltete. Sie haben Superman sterben lassen.

Wenn sie ihn nun verlor? Wenn sie beide verlieren sollte?

»Können Sie den Fernseher einschalten?«, bat sie.

Der Pfleger drückte einen Knopf der Fernbedienung und schob ihr diese dann unter die Hand. Jeder lokale Sender berichtete live vom Center. Bex starrte auf den Bildschirm, auf den orangebraunen Putz des Gebäudes, die Absperrbänder der Polizei.

Hugh war nicht zu sehen.

Also schloss sie die Augen und stellte ihn sich vor. Er war ein Schattenriss vor der Sonne und überlebensgroß.

Bex konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, als sie feststellte, dass Hugh größer war als sie. Sie hatte in der Küche gestanden und Essen gekocht und einen Stuhl vor den Schrank geschoben, um das getrocknete Basilikum herunterzuholen, das ganz oben im Regal stand. Und da hatte Hugh einfach von hinter ihr nach oben gegriffen und es heruntergeholt.

In diesem Moment wusste Bex, dass alles anders war. Hugh war erwachsen geworden; damit endete gewissermaßen ihre Fürsorge für ihn, und stattdessen wurde sie zu derjenigen, um die man sich kümmerte.

»Also das ist wirklich praktisch«, hatte sie gesagt.

Da war er vierzehn gewesen. Achselzuckend hatte er erwidert: »Gewöhn dich besser nicht daran. Ich werde nicht immer da sein.«

Bex hatte ihm nachgeschaut, als er über die Treppe hinauf in sein Zimmer stürmte. Und nicht viel später hatte sie ihn aufs College gehen, sich verlieben und in ein eigenes Zuhause umziehen sehen.

Egal, wie oft man jemanden ziehen ließ, leichter wurde es nie.

Hugh legte auf. »Ich gehe rein«, verkündete er. »Allein. Er will eine Geisel? Er kann mich haben.«

»Unter gar keinen Umständen«, widersprach Quandt und wandte sich an einen Mann seines Sondereinsatzkommandos. »Jones, bringen Sie Ihr Team …«

Hugh ignorierte ihn und setzte sich in Bewegung. Quandt packte Hugh am Arm und riss ihn herum.

»Wenn Sie jetzt da reinstürmen, dann wird es Verletzte geben«, widersprach Hugh. »Ich bin der Einzige, dem er vertraut. Wenn ich ihn dazu bringe, dass er mit mir das Gebäude verlässt, haben wir gewonnen.«

»Und wenn es Ihnen nicht gelingt?«, hakte Quandt nach.

»Ich werde keine Aktion billigen, die meine Tochter gefährdet«, blaffte Hugh. »Welche Wahl bleibt uns also?« Seine Wut war ein schillernder Vorhang, aber was er dahinter verbarg, schimmerte durch.

Die beiden Männer blieben stehen und starrten sich an – ein Patt. Schließlich brach Hugh den Blickkontakt ab. »Joe«, sagte er mit brechender Stimme. »Haben Sie Kinder?«

Der Leiter des Sondereinsatzkommandos blickte zu Boden. »Ich bin hier, um meinen Job zu machen, Hugh.«

»Ich weiß.« Hugh schüttelte den Kopf. »Und ich weiß, dass ich den Fall sofort hätte abgeben müssen, als ich erfuhr, dass Wren da drin ist. Es ist weiß Gott schon schwer genug, wenn nichts Persönliches auf dem Spiel steht. Aber bei mir tut es das. Und ich kann nicht am Rand sitzen, nicht, wenn sie da drin ist. Wenn Sie es meinetwegen nicht zulassen wollen, werden Sie es wenigstens für sie tun?«

Quandt atmete tief durch. »Unter einer Bedingung. Ich bringe zuerst einen Scharfschützen in Position.«

Hugh streckte die rechte Hand aus, und der Leiter des Sondereinsatzkommandos schlug ein.

»Danke.«

Quandt sah ihn an. »Ellie und Kate«, sagte er, gerade laut genug, dass Hugh ihn verstehen konnte. »Zwillinge.«

Er machte kehrt, ließ zwei seiner Männer kommen und zeigte auf das Dach eines Gebäudes auf der anderen Straßenseite und auf eine Position auf dem Dach der Klinik. Während sie ihre Strategie besprachen, kehrte Hugh unters Zelt zurück. Er entdeckte die junge Kriminalbeamtin, die ihm von Bex berichtet hatte. »Collins«, rief er. »Kommen Sie.«

Sie eilte ins Kommandozelt. »Ja, Sir?«

»Die Patientin im Krankenhaus – Bex McElroy, meine Schwester. Ich brauche Sie, damit Sie ihr eine Nachricht zukommen lassen.«

Die Kriminalbeamtin nickte und wartete, bis Hugh an seinem provisorischen Schreibtisch Platz genommen hatte. Er nahm einen Stift und riss eine Seite aus seinem Notizblock.

Was sagte man einer Frau, die einen im Grunde genommen aufgezogen hatte? Die heute fast gestorben wäre, weil sie seiner Tochter hatte helfen wollen?

Ihm fielen ein Dutzend Dinge ein, die er Bex sagen könnte.

Dass sie als Einzige über seine schrecklichen Papawitze lachte, die Wren nur peinlich fand. Dass er sich, säße er in der Todeszelle, für die Henkersmahlzeit ihr Parmesanhähnchen wünschen würde. Dass er sich noch immer an die Schattenfiguren erinnern konnte, die sie an die Wand seines Kinderzimmers gezaubert hatte, um ihn damit zum Schlafen zu überreden. Dass er mit seinen acht Jahren nicht gewusst hatte, was das Savannah College of Art war, und auch nicht, dass sie auf ihr Stipendium verzichtet hatte, um sich um ihn zu kümmern, während ihre Mutter in der Entzugsklinik war –, sich aber wünschte, er hätte sich dafür bedankt.

Aber Hugh war nie gut darin gewesen, seine Gefühle in Sätze zu fassen. Genau das war es ja, was ihn an diesen Punkt, diesen Moment gebracht hatte.

Also schrieb er nur zwei Worte auf den Zettel und reichte ihn der Kriminalbeamtin.

Leb wohl.

Louie Ward war ohne Bewusstsein, aber im Ozean seiner Erinnerung war er kein Geburtshelfer und Gynäkologe von vierundfünfzig Jahren, sondern ein kleiner Junge, der unter einem Baldachin aus Louisianamoos aufwuchs und sich darin versuchte, Krebse zu fangen, bis diese nach ihm schnappten. Er war dazu erzogen worden, Jesus und Frauen zu lieben, genau in dieser Reihenfolge. Zwei Frauen – seine Großmama und seine Mama – zogen ihn im südlichen Louisiana auf, und so klein ihr Cottage auch war, wenn der Herr dort mit einem wohnte, war es ein Palast, wie seine Großmutter betonte. Louie war ein kränkliches Kind gewesen, zu dünn und klüger, als gut für ihn war. Seine rasselnden Lungen hielten ihn davon ab, sich mit den anderen Jugendlichen um Mitternacht auf der Suche nach Brauchbarem in die Häuser der Nachbarschaft zu stehlen, in denen es angeblich spukte. Stattdessen begleitete er seine Großmama jeden Tag zur Messe und half seiner Mutter bei ihrer Akkordarbeit, indem er mit der Pinzette winzige Glieder in Goldketten einfügte, die sich reiche weiße Frauen um den Hals wickelten.

Seinen Vater hatte Louie nie kennengelernt, doch er unterließ es, Fragen nach ihm zu stellen, seit seine Großmama von ihm als Sünder gesprochen hatte. Und schließlich war das Loch, das die Abwesenheit seines Vaters zurückgelassen haben mochte, verheilt, als er neun Jahre alt war.

Louie wusste, wie man Damen die Türen aufhielt und Bitte und Danke und Ja, Ma’am sagte. Sein Schlafplatz war eine Koje in der Küche, und er machte sein Bett nach allen Regeln der Kunst und half dabei, das Haus in Ordnung zu halten, weil, wie seine Großmama ihm beigebracht hatte, Jesus jeden Moment erscheinen konnte und sie dann alle bereit sein sollten. Mama hatte Phasen, in denen sie sich nicht überwinden konnte, das Bett zu verlassen, in dem sie sich manchmal wochenlang einnistete und weinte. Aber auch wenn Louie zu Hause auf sich gestellt war, allein war er nie, weil sämtliche Damen der Nachbarschaft sich für ihn zuständig fühlten. Hier fand Kindererziehung im Komitee statt.