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Ein fesselnder Roman über zwei unvergessliche Frauen, die vier Jahrhunderte trennen und dennoch um dieselbe Sache kämpfen: dass ihre Stimmen gehört werden.
England im frühen 17. Jahrhundert: Emilia Bassano liebt das Schreiben, doch als Frau hat sie keine eigene Stimme. Nur für einen hohen Preis kann sie ihre Geschichten heimlich auf die Bühne bringen: Sie muss einen Mann finden, der sich als Autor ihrer Werke ausgibt. Und dieser ist niemand anders als Englands berühmtester Dramatiker: William Shakespeare.
New York in der Gegenwart: Melina Green ist fest entschlossen, ihr Theaterstück zu veröffentlichen, inspiriert vom Leben ihrer Vorfahrin Emilia Bassano. Auch vierhundert Jahre später wird die Stimme einer Frau immer noch nicht so gehört wie die eines Mannes. Doch wie weit kann Melina gehen, um ihren Traum zu verwirklichen?
»Jodi Picoult ist einzigartig! Ihre Romane berühren das Herz und erweitern den Verstand.« Emily Henry
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Seitenzahl: 799
Veröffentlichungsjahr: 2025
ZUDIESEMBUCH
Ein fesselnder Roman über zwei unvergessliche Frauen, die vier Jahrhunderte trennen und die dennoch um dasselbe kämpfen: dass ihre Stimmen gehört werden.
England im frühen 17. Jahrhundert: Emilia Bassano liebt das Schreiben, doch als Frau hat sie keine eigene Stimme. Nur für einen hohen Preis kann sie ihre Geschichten heimlich auf die Bühne bringen: Sie muss einen Mann finden, der sich als Autor ihrer Werke ausgibt. Und dieser ist niemand anders als Englands berühmtester Dramatiker: William Shakespeare.
New York in der Gegenwart: Melina Green ist fest entschlossen, ihr Theaterstück zu veröffentlichen, inspiriert vom Leben ihrer Vorfahrin Emilia Bassano. Doch auch vierhundert Jahre später wird die Stimme einer Frau immer noch nicht so gehört wie die eines Mannes. Wie weit kann Melina gehen, um ihren Traum zu verwirklichen?
»Jodi Picoult ist einzigartig! Ihre Romane berühren das Herz und erweitern den Verstand.« Emily Henry
ZURAUTORIN
Jodi Picoult, geboren 1966 in New York, studierte in Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie neunundzwanzig Romane, von denen viele auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste standen. Die Autorin versteht es meisterhaft, über erns-te Themen unterhaltend zu schreiben. Sie wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem renommierten New England Book Award. Jodi Picoult lebt mit ihrem Mann in Hanover, New Hampshire. In ihrem aktuellen Roman Wir schreiben unsere Namen in den Wind beschäftigt sie sich mit weiblichem Schreiben.
Außerdem von Jodi Picoult lieferbar:
Die Spuren meiner Mutter
Der Funke des Lebens
Kleine große Schritte
Umwege des Lebens
Ich wünschte, du wärst hier
Wildhonig
www.cbertelsmann.de
JODI PICOULT
Wir schreiben unsere Namen in den Wind
Aus dem amerikanischen Englisch von Elfriede Peschel
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel By Any Other Name
bei Ballantine Books, a division of Penguin Random House, New York.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright © 2024 der Originalausgabe by Jodi Picoult
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by C.Bertelsmann Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagabbildung: Trevillion Images (Mark Owen), Getty Images (bauhaus1000, mikroman6)
Abbildung siehe hier (links unten): John de Critz (zugeschrieben), Henry Wriothesley, 3rd Earl of Southampton in his youth, c.1592, Cobbe Collection, Hatchlands Park
Abbildung siehe hier (rechts unten): Hilliard, Nicholas (1547–1619), Henry Wriothesley,
3rd Earl of Southampton. Pergament mit der Herz-Drei auf der Rückseite, Höhe 41mm, Breite 32.5mm, 1594
© Fitzwilliam Museum, Cambridge/Art Resource, NY
This translation is published by arrangement
with Ballantine Books,
an imprint of Penguin Random House,
a division of Random House LLC.
Redaktion: Gerhard Seidl
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32837-5V001
www.cbertelsmann.de
Für Elyssa Samsel und Kate Anderson, die wie meine eigenen Töchter sind, geschätzte Mitstreiterinnen, begabte Songwriterinnen und vor allem starke Frauen
Kommt Geister, die ihr lauscht
Auf Mordgedanken, und entweibt mich hier.
– Lady Macbeth, Macbeth
O Gott! Dass ich ein Mann wäre! Ich wollte sein Herz auf offenem Markt verzehren.
– Beatrice, Viel Lärmen um Nichts
Wem sollt ich’s klagen? Wem ich dies erzählte,
Wer glaubte mir’s?
– Isabella, Maß für Maß
Mein Mund soll meines Herzens Bosheit sagen,
Sonst wird mein Herz, verschweig’ ich sie, zerspringen.
– Katharina, Der Widerspenstigen Zähmung
Sie sollen’s wissen,
Wir haben Sinne auch.
– Emilia, Othello
MELINA
Mai 2013
Wenn Melina sich viele Jahre nach ihrem Abschluss am Bard College zurückerinnerte, hatten weder ein Schreibseminar noch ein theaterwissenschaftlicher Intensivkurs den größten Eindruck hinterlassen, sondern ein Anthropologiekurs. Die Professorin hatte das Dia eines Knochens mit neunundzwanzig winzigen Einkerbungen gezeigt. »Der Lebombo-Knochen wurde in den 1970er-Jahren in einer Höhle Swasilands gefunden und ist über vierundvierzigtausend Jahre alt«, erläuterte sie. »Er wurde aus dem Wadenbein eines Pavians angefertigt. Über viele Jahre galt er als der erste einem Mann zugeschriebene Kalender. Und jetzt frage ich Sie: Welcher Mann benutzt einen Kalender mit neunundzwanzig Tagen?« Der Blick der Professorin schien direkt auf Melina gerichtet zu sein. »Geschichte«, ergänzte sie, »wird von den Mächtigen geschrieben.«
Im Frühjahr ihrer Abschlussklasse suchte Melina wie jede Woche ihren betreuenden Professor auf. Professor Bufort hatte in den 1980er-Jahren ein Theaterstück mit dem Titel Wanderlust geschrieben, das den Drama Desk Award gewonnen hatte, am Broadway zur Aufführung kam und für einen Tony Award nominiert wurde. Da es ihn jedoch angeblich schon immer zur Lehre gezogen habe, sei für ihn ein Traum wahr geworden, als das Bard College ihm die Leitung des Theaterprogramms angeboten habe. Melina ging allerdings davon aus, dass die weniger positiven Kritiken seiner weiteren Stücke auch eine Rolle gespielt haben könnten.
Als sie klopfte und eintrat, begrüßte er sie mit den Worten: »Meine Lieblingsstudentin.«
»Ich bin Ihre einzige Abschlussstudentin.« Melina zog einen Haargummi von ihrem Handgelenk, verknotete damit die Haare am Hinterkopf und kramte dann aus ihrem Rucksack zwei kleine Glasflaschen mit Schokomilch von einer lokalen Molkerei. Sie kosteten ein Vermögen, aber sie brachte Professor Bufort jede Woche eine mit. Wegen seiner Blutdruckmedikation hatte er seinen früheren Lastern – Alkohol und Zigaretten – abschwören müssen und meinte scherzend, dass dies nun sein einziges Vergnügen sei. Melina reichte ihm eine Flasche und stieß mit ihm an.
»Meine Retterin«, sagte er und nahm einen großen Schluck.
Wie die meisten Highschool-Kids, die von Hexenjagd und Ein Mittsommernachtstraum geprägt worden waren, war auch Melina mit dem Ziel ans Bard College gekommen, Schauspiel zu studieren. Doch nach einem Schreibkurs realisierte sie, dass sie als Theaterautorin weitaus wirkmächtiger wäre als in jeder noch so genialen Darbietung. Sie begann Einakter zu schreiben, die von Studentengruppen aufgeführt wurden. Vertiefte sich in Molière und Mamet, Marlowe und Miller. Nahm Sprache und Struktur ihrer Stücke auseinander wie ein Schachgroßmeister, dessen Erfolg vom Verständnis des Spiels abhing.
Sie schrieb ein modernes Pygmalion mit einer Schönheitsköniginnen-Mama als Bildhauerin, die ein Abbild der Kinder-Schönheitskönigin JonBenét Ramsey kreiert, aber erst mit ihrer Version von Warten auf Godot, einem Stück, in dem alle Charaktere während eines Parteitags auf den Präsidentschaftskandidaten mit Erlöserzügen warteten, der aber nie kam, sicherte sie sich die Aufmerksamkeit von Professor Bufort. Er ermutigte sie, ihr Stück bei diversen Festivals einzureichen, und obwohl die Wahl nie auf sie fiel, stand für Melina und alle anderen im Fachbereich fest, dass sie eine der wenigen sein würde, die es als Theaterautorin schaffte, auch aufgeführt zu werden.
»Melina«, erkundigte sich Bufort, »was werden Sie nach dem Abschluss machen?«
»Ich bin für Vorschläge offen«, erwiderte sie in der Hoffnung, ihr Mentor würde ihr jetzt ein paar fabelhafte Jobangebote unterbreiten. Schließlich war sie nicht so naiv zu glauben, dass sie ohne einen wie auch immer gearteten Tagesjob in New York überleben konnte, und Bufort war ihr schon früher behilflich gewesen. Einen Sommer lang hatte sie in der Stadt für einen berühmten Regisseur gearbeitet – ein Mann, der eine Kostümbildnerin, die einen Saum nicht gerichtet hatte, mit einem geeisten Latte bombardiert hatte und Melina, obwohl minderjährig, mit in Bars nahm, weil er es vorzog, seinen Lunch in flüssiger Form zu sich zu nehmen. Während anderer Sommer saß sie an der Kasse des Signature-Theatercafés und bediente am Verkaufsstand im Zweiten Rang. Professor Bufort hatte Verbindungen.
Das ganze Geschäft lief über Verbindungen.
»Das ist kein Vorschlag«, sagte Bufort und reichte ihr einen Flyer. »Das ist eher ein Befehl.«
Das Bard College war Ausrichter eines Wettbewerbs unter Collegeabsolventen, mit dem garantierten Hauptpreis eines Zeitfensters beim Samuel French Off Off Broadway Festival.
Gegen den Schreibtisch gelehnt, die Beine knapp vor denen Melinas, stellte er seine Schokomilch ab, verschränkte die Arme und sah sie lächelnd von oben an. »Ich denke, Sie könnten gewinnen«, sagte er.
Sie sah ihm in die Augen. »Aber …?«
»Aber.« Er zog eine Braue hoch. »Muss ich mich wiederholen? Noch mal?«
Melina schüttelte den Kopf. Sie kannte seinen Kritikpunkt an ihren Arbeiten, die er zwar sauber und aussagekräftig, aber emotional steril fand. Als stünde zwischen der Autorin und dem Stück eine Wand.
»Sie sind gut«, bekräftigte Bufort, »aber Sie könnten hervorragend sein. Es reicht nicht, die Gefühle Ihres Publikums zu manipulieren. Sie müssen es davon überzeugen, dass es einen Grund gibt, warum Sie diese Geschichte erzählen. Sie müssen ein wenig Herzblut in Ihr Werk einfließen lassen.«
Aber genau da lag das Problem: Man konnte nicht bluten, ohne den Schmerz des Schnitts zu spüren.
Um seinem Blick auszuweichen, begann Melina den Saum ihres T-Shirts zu kneten. Bufort stieß sich vom Schreibtisch ab und umkreiste sie, bis er hinter ihr stand. »Ich bin nun seit drei Jahren mit Melina Green bekannt«, sagte er dicht hinter ihr. »Aber in Wirklichkeit kenne ich sie überhaupt nicht.«
Sie liebte am Stückeschreiben aber vor allem, dass sie jede andere außer sie selbst sein konnte, ein jüdisches Mädchen aus Connecticut, das während ihres Heranwachsens zu Hause eine unbedeutende Randerscheinung war. Während sie in der Pubertät war, lag ihre Mutter mit einer tödlichen Krankheit darnieder und ihr Vater litt unter vorweggenommener Trauer. Sie lernte, leise zu sein, und sie lernte, selbstgenügsam zu sein.
Keiner wollte Melina Green kennen, am wenigsten Melina selbst.
»Gutes Schreiben geht tief und tut weh – sowohl der Stückeschreiberin als auch dem Publikum. Sie haben Talent, Melina. Ich möchte, dass Sie für diesen Wettbewerb etwas schreiben, das Sie … verletzlich macht.«
»Ich werde es versuchen«, sagte sie.
Buforts Hände legten sich auf ihre Schultern und drückten zu. Wie jedes Mal, wenn das geschah, redete sie sich ein, dass es nichts zu bedeuten hatte, nur seine Art war, sie seiner Unterstützung zu versichern, wie er das auch machte, als er ihr dank seiner Verbindungen die Jobs in der Stadt verschafft hatte. Als Mann im Alter ihres Vaters dachte er nicht an Grenzen wie Jüngere das taten. Sie sollte nichts hineininterpretieren.
Und wie um das zu unterstreichen, ließ er los. Professor Bufort hob wieder seine Schokomilch an. »Zeigen Sie mir, was Ihnen Angst macht«, sagte er.
Melina lebte damals in einer Wohngemeinschaft mit ihrem besten Freund Andre über einem Thai-Restaurant. Sie hatten sich im zweiten Studienjahr in einem Schreibkurs kennengelernt und zueinandergefunden, weil sie Unsere kleine Stadt für überschätzt, das Musical Carrie für unterschätzt empfanden und sich darin einig waren, dass man Das Phantom der Oper lieben und es dennoch unangenehm gewalttätig finden konnte.
Sobald sie durch die Tür kam, löste Andre seinen Blick von den »Real Housewives«. »Mel! Entscheide, was wir essen«, sagte er.
Andre benutzte als Einziger ihren Kosenamen, der im Griechischen süß bedeutete.
»Welche Wahlmöglichkeiten habe ich?«, fragte Melina.
»Mayo, Vanillecremekekse oder was vom Thai.«
»Schon wieder?«
»Du bist doch diejenige, die über dem Golden Orchid wohnen wollte, weil es so gut duftet.«
Sie sahen einander an. »Thai«, sagten beide gleichzeitig.
Andre schaltete den Fernseher aus und folgte Melina in ihr Schlafzimmer. Sie wohnten nun zwar schon seit zwei Jahren in dieser Wohnung, aber es standen noch immer Kisten auf dem Boden und sie hatte weder irgendwelche Kunstwerke aufgehängt oder wie Andre Lichterketten um das Kopfteil des Betts gewunden. »Kein Wunder, dass du was auf die Reihe kriegst«, murmelte er. »Du lebst in einer Zelle.«
Andre war Stückeschreiber wie sie. Nur dass er im Gegensatz zu ihr noch kein einziges Theaterstück zu Ende gebracht hatte. Er schaffte es gerade mal bis zum zweiten Akt, meinte dann aber, den ersten überarbeiten zu müssen, bevor er weitermachen konnte, und verlor sich schließlich in endlosem Umschreiben. Während des vergangenen Semesters hatte er an einer Nacherzählung von König Lear gearbeitet, mit einer schwarzen Matriarchin, die herauszufinden versuchte, welche ihrer drei Töchter ihr Geheimrezept für Gumbo verdient hatte. Für die Hauptfigur hatte seine Großmutter Patin gestanden.
Er übergab ihr die Post, in der sich heute ein Umschlag, adressiert in der krakeligen Schrift ihres Vaters, befand. Die Beziehung zwischen Melina und ihrem Vater war während der Krankheit ihrer Mutter so brüchig geworden, dass sie keiner Belastung mehr standhielt, aber er bemühte sich auf seine nette, distanzierte Art. Seit Kurzem interessierte er sich für Ahnenforschung und hatte entdeckt, dass Melina mit einem General der Union im Sezessionskrieg, Königin Isabella von Spanien und Adam Sandler verwandt war.
Sie riss den großen Umschlag auf. Hab gerade diese Vorfahrin von Mamas Seite der Familie entdeckt. Die erste Dichterin Englands, die veröffentlicht wurde – 1611. Vielleicht hast Du dieses Schreibding ja im Blut!
Die Notiz war an ein paar ausgedruckte Seiten geheftet. Nach einem Blick auf das Bild einer gestrengen elisabethanischen Lady mit steifem Rüschenkragen warf sie das Päckchen auf das Durcheinander ihres Schreibtischs. »Meine Vorfahrin war Dichterin«, sagte sie abwertend.
»Also mein Vorfahr war Thomas Jefferson, und du siehst ja, was ich davon habe.« Andre stützte sich auf einen Ellbogen. »Wie war’s bei Bufort?«
Achselzucken.
»Was reichst du für den Wettbewerb ein?«
Melina rieb sich die Stirn, hinter der sich dumpfer Schmerz meldete. »Wie kommst du darauf, dass ich überhaupt etwas einreichen werde?«
Andre rollte mit den Augen. »Ein Stückewettbewerb der Bard ohne einen Beitrag von dir wäre wie Schottland, das ohne Mel Gibson in den Kampf zieht.«
»Ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst.«
»In puncto Make-up kannst du ihm allerdings nicht das Wasser reichen, was eine Schande ist, denn ich kenne niemanden mit derart bizarr silbrigen Augen wie du sie hast, und wenn du erst mal wüsstest, was Wimperntusche ist, würden sie noch mehr strahlen«, meinte Andre und ließ seinen Blick von ihrem unordentlichen Zopf über die eingerissene Cargo-Hose hinab zu ihren abgetragenen Sneakers wandern. »Hat man dir eigentlich schon mal Almosen angeboten?«
Andre ritt ständig darauf herum, dass sie so wenig Wert auf ihr Äußeres gab. Manchmal vergaß sie tatsächlich, zu duschen oder sich dieZähne zu putzen, weil sie so ins Schreiben vertieft war. Und sie trug nun mal gern Leggings und kuschelige Sweatshirts, wenn sie eine lange Nacht am Laptop vor sich hatte. »Was reichst du denn für den Wettbewerb ein?«, wechselte sie das Thema.
»Ich denke nicht, dass ich irgendwas Fertiges habe«, wich Andre aus.
»Das ließe sich aber ändern«, meinte Melina und sah ihm fest in die Augen.
»Aber du wirst gewinnen«, erwiderte er, ohne jeden Groll. Das war einer der Gründe, warum sie ihn so gernhatte. Sie studierten zwar das Gleiche, konkurrierten aber nicht miteinander, sondern unterstützten sich gegenseitig. Außerdem wusste sie, dass Andre für sie Partei ergriff, wenn andere Studenten lästerten, dass Melinas Erfolg an der Bard unverdient und nur ihrer Affäre mit Bufort zu verdanken war. Die Unterstellung wäre ja lustig gewesen, wenn es nicht so wehgetan hätte – schließlich hatte sie in den vier Jahren auf dem College nicht mal einen Jungen geküsst, geschweige denn sich auf eine heiße Kurzaffäre eingelassen.
Sie seufzte. »Ich weiß nicht, worüber ich schreiben soll.«
»Hm. Du könntest was über die Vegas-Regel machen, du weißt, schon: Was dort geschieht, bleibt nicht dort.«
»Ich denke nicht, dass eine Komödie ernst genommen würde.«
»Sollte sie das denn?«
»Bufort möchte, dass ich über was Persönliches schreibe«, erwiderte sie und betonte das Wort wie einen Fluch. »Etwas Schmerzliches.«
»Okay, dann schreib über etwas, das dir wehtut.«
Sie schrieb ein Stück mit dem Titel Reputation mitnamenlosenCharakteren. Sie hießen Das Mädchen. Der Junge. Der beste Freund. Die Nemesis. Der Vater.
Das Mädchen war vierzehn und unsichtbar. Jahrelang war sie proportional zur Krankheit von Der Mutter immer mehr verblasst. Nach der Beerdigung verschwand sie gänzlich, verdrängt von der Trauer, unter der Der Vater litt. Bis eines Tages Der Junge – achtzehn – Hallo sagte.
Sie war sich sicher, dass dies nur ein Irrtum sein konnte. Aber nein. Er sah sie. Er sprach mit ihr. Und als er sie berührte, konnte sie sich selbst wieder wahrnehmen – verschwommen zwar, aber sie wurde wieder sichtbar.
Der Junge war das genaue Gegenteil von ihr: Er nahm Raum ein, kannte jeden, war nicht zu übersehen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich größer, kompakt und gesehen.
Es fing mit Küssen an. Jedes Mal, wenn sein Mund ihren berührte, hatte sie das Gefühl, an Substanz zu gewinnen. Wann immer er seine Hände auf sie legte, konnte sie den Umriss ihres Körpers erkennen. Aber als er ihren Rock hochschob und anfing, seine Hose aufzuknöpfen, schob sie ihn weg und verweigerte sich.
Am nächsten Tag in der Schule redete der Beste Freund des Jungen mit Leuten über sie, die sie nicht kannte. Der Junge sagte, sie habe ihn bestiegen wie einen Baum, erzählte er. Sie sei wie eine geballte Faust.
Dann kam Ihre Nemesis mit einer Freundin vorbei. Mir war klar, dass sie nur eine Schlampe sein konnte, wenn er sich für sie interessierte.
Das Gesicht des Mädchens brannte so heiß, dass sie sich sicher war, andere könnten ihre Scham spüren. Sie wandte sich an Den Jungen und fragte ihn, warum er gelogen hatte.
Willst du denn nicht mit mir zusammen sein?, fragte er.
Ja schon, aber …
Ich habe einen Ruf zu verteidigen, sagte Der Junge. Kommt es denn wirklich darauf an, was sie denken, solange du und ich wissen, was wahr ist?
Sie wollte weg von ihm, aber er nahm sie an der Hand, und wie von Zauberhand nahm sie Gestalt an.
Jetzt hatte auch Das Mädchen einen Ruf. Wenn sie, ungesehen, in der Cafeteria in der Schlange stand, hörte sie die Zuschreibung: leicht zu haben. Wenn sie sich in der Umkleide für den Sport umzog, hörte sie die Zuschreibung: verzweifelt.
Das Mädchen verbrachte immer mehr Zeit mit Dem Jungen, weil er der Einzige war, der zu wissen schien, wer sie wirklich war. Und wenn sie unter sich waren, war er meist freundlich und liebevoll. Sie überlegte, womöglich eine Version Des Jungen zu sehen, der für alle anderen ebenfalls unsichtbar war.
Eines Abends schob er wieder ihren Rock hoch und begann seine Hose aufzuknöpfen. Alle denken, du tust es, sagte er. Dann kannst du es doch auch tun.
Diesmal verweigerte sich Das Mädchen nicht.
War es ihre Entscheidung? Oder gab sie dem Druck nach?
Kam es darauf an?
Denn in dem Moment, als Der Junge in sie eindrang, manifestierte sie sich voll und ganz und wurde dauerhaft sichtbar – wenngleich als unschöne, schmerzhafte Fußnote in der Geschichte eines anderen.
Professor Bufort gefiel das Stück. Er nannte es rau, wohldurchdacht und provokant. Melina schaffte es mit ihrem Stück unter die drei Finalisten des Wettbewerbs, zusammen mit einem Studenten vom Middlebury und einem vom Wesleyan College. Am Tag der Entscheidung mit einer Lesung der Stücke, aufgeführt von Theaterstudenten des Bard Colleges, war Melina einem Nervenzusammenbruch nahe und musste sich übergeben. Dies war ihr erstes Stück, in das sie sich als Hauptdarstellerin geschrieben hatte, wenngleich unter vielen Sprachschichten vergraben.
Wenn man nun das Stück als mangelhaft abtun würde, wäre sie es auch? Sie konnte sich nicht vom Text losgelöst sehen, konnte die Schauspieler, die Den Jungen und Das Mädchen spielten, nicht ansehen, ohne sich selbst mit vierzehn zu sehen, wie sie sich verloren und ohne Halt nach dem Tod ihrer Mutter an den einzigen Menschen klammerte, der ihre Gesellschaft zu suchen schien. Sie konnte die Worte nicht hören, ohne sich an diesen verlorenen Herbst zu erinnern, als sie keine Stimme hatte und andere das Schweigen mit Lügen über sie füllten, die zu Wahrheiten wurden.
Und als wäre das nicht schon stressig genug, hatte sie das Stück, ohne Professor Bufort darüber zu informieren, noch ein klein wenig verändert und eine Szene für diese Lesung hinzugefügt. Was sie disqualifizieren könnte, wie sie sehr wohl wusste. Aber das Stück war ohne diesen entscheidenden Epilog nicht fertig.
Der Hörsaal war brechend voll. Der Platz, den Andre ihr in einer der vorderen Reihen frei gehalten hatte, war für ihren Geschmack zu exponiert. Entschuldigungen murmelnd stieg sie über die bereits Sitzenden.
»Ich habe den Platz nur verteidigen können, indem ich allen erzählte, ich hätte Pfeiffersches Drüsenfieber«, meinte Andre.
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ich komme spät, weil’s modern ist.«
Er musterte sie von ihrem schlampigen Knoten bis zu ihren Crocs. »Nein, nur spät.«
Professor Bufort betrat die Bühne. »Danke, dass Sie sich alle für die Lesungen zur Endrunde des Ersten Bard College Theaterstücke-Wettbewerbs eingefunden haben. Es war nicht einfach, den Juror dieses Jahres geheim zu halten«, fuhr Bufort fort. »Sie kennen ihn aufgrund seiner prägnanten Kritiken und seiner Berichte über die Theaterwelt. Bitte begrüßen Sie von der New York Times den Theaterkritiker Jasper Tolle.«
Andre und Melina sahen einander an. »Das kann doch nicht wahr sein«, flüsterte Melina. »Jasper Tolle wird mein Stück beurteilen?«
Alle kannten ihn – selbst Außenstehende. Gepriesen als Wunderknabe, der mit sechsundzwanzig von der Times eingestellt wurde und dann – mit seinen scharfsinnigen und bissigen Kommentaren – eine Anhängerschaft anzog, die ihn entweder verachtete oder bewunderte. Binnen drei Jahren hatte er es geschafft, von den Black-Box-Produktionen des nördlichen New Jersey über den Off-off-Broadway zu den ausgesuchten Vorstellungen aufzusteigen, die auf die Generation der Millennials abzielten, wie The Agony and Ecstasy of Steve Jobs und Murder Ballad. Jasper Tolle war nur halb so alt wie der leitende Kritiker der Zeitung. Er hatte Fan-Accounts auf Instagram und Facebook. Durch ihn wurde das Theater – eine Kunstform, die für gewöhnlich ein Publikum mit grauen Haaren anzog – wieder cool.
»Großer Gott«, hauchte Andre. »Was für ein heißer Typ.«
Das war er wohl für jemand Anfang Dreißig, befand Melina: groß, schlaksig, mit weißblondem Haar, das ihm in die Stirn fiel, und lebhaften blauen Augen, die hinter der Schildpattbrille wie Kristall glitzerten. Seine Miene war missmutig, als hätte er sich diesen Event vor Monaten in seinem Kalender eingetragen und bedauerte es jetzt.
»Er verströmt sexy Voldemort-Vibes«, murmelte Andre.
»Sag das nie wieder.«
Bufort überreichte das Handmikro dem Kritiker, der sich errötend räusperte.
Interessant, fand Melina. Ein Kritiker, der sich gern hinter seinen Worten versteckte.
Nicht viel anders als eine Dramatikerin.
Melinas Stück sollte als Letztes drankommen. Tolle würde nach jeder Lesung auf die Bühne kommen und einen Kommentar abgeben, um dann nach der letzten Darbietung einen Gewinner zu küren. Das erste Stück, geschrieben und dargeboten von einem Wesleyan-Studenten, war ein Einpersonenstück über das Multiversum. Das zweite, verfasst von einem Middlebury-Studenten, schickte die Marvel Avengers in Gruppentherapie.
Als die studentischen Schauspieler jeweils mit einem Stuhl und einem Notenständer für das Skript hereinkamen, um Reputation aufzuführen, bekam Melina Herzrasen. Sollte sie in Ohnmacht fallen, würde Andre sie aufwecken müssen, damit sie Jasper Tolles Kommentar zu ihrem Werk nicht verpasste. Als sie ihm das gerade mitteilen wollte, sah sie, wie Professor Bufort dem Kritiker was ins Ohr murmelte.
Sie malte sich aus, dass er Tolle mitteilte, Melina sei seine Studentin, vielleicht sogar sein Schützling.
Nervös verschränkte sie die Finger mit denen Andres.
In den Proben war ihr Stück achtundzwanzig Minuten lang gewesen – zwei Minuten unter der erlaubten Lesezeit. Aber das war, bevor sie den Schauspielern für die gestrige Generalprobe den zweiseitigen Epilog ausgehändigt hatte.
Als Melina jetzt die Lesung verfolgte, fühlte sich das an, als würden ihr die Worte aus der Kehle gezogen: schmerzhaft, vertraut, schartig. Das Publikum lachte an den entsprechenden Stellen. Wurde still, als der Erzähler beschrieb, wie Der Junge an den Kleidern Des Mädchens zerrte. Bei der letzten Zeile der Originalfassung hörte sie einen einzigen dröhnenden Klatscher aus der ersten Reihe und machte sich klar, dass es Professor Bufort war, der den Applaus anheizen wollte.
Er wusste nicht, dass das Stück noch nicht zu Ende war.
Acht Jahre später, sagte der Erzähler.
Alle Schauspieler saßen, bis auf Das Mädchen und der Erzähler.
Der Erzähler stellte sich hinter den Stuhl Des Mädchens. Es unterscheidet sich von Ihren anderen Werken, sagte er in scherzhaftem Ton, ein Darsteller, der nicht länger Beobachter, sondern Mitwirkender war.
Ja, stimmte Das Mädchen ihm zu.
Ich habe jetzt schon seit drei Jahren mit Ihnen zu tun, aber ich kenne Sie überhaupt nicht.
Der Erzähler legte die Hände auf die Schultern des Mädchens und knetete sie.
Die Schauspielerin erstarrte. Professor?, flüsterte sie.
Der Erzähler beugte sich dicht an ihr Ohr. Zeigen Sie mir, was Ihnen Angst macht.
Damit endete das Stück. »Verdammt«, murmelte Andre.
Es wurde vereinzelt geklatscht – wie applaudierte man einer Belästigung? –, aber Melina bekam es kaum mit. Sie starrte auf das versteinerte Profil von Professor Bufort.
Es tut mir leid, wollte sie sagen.
Aber schließlich war Bufort es gewesen, der wollte, dass sie mit Herzblut schrieb. Und als sie diese Highschool-Erinnerung an einen Schuft ausgrub, der sie manipulierte und in den Wahnsinn trieb, nachdem er sie vorher davon überzeugt hatte, ihr Held zu sein, war Melina klar geworden, dass Geschichte sich wiederholte.
Jasper Tolle kam auf die Bühne, wippte auf den Füßen, ohne auch nur den blassesten Schimmer zu haben, dass die letzte Autorin ihre akademische Karriere in den Sand gesetzt hatte. »Okay«, sagte er und warf einen Blick in sein kleines schwarzes Notizbuch. »Melina Green? Wo sind Sie?«
Als sie sich nicht regte, packte Andre sie am Handgelenk und riss ihren Arm in die Luft.
»Ah«, sagte Tolle. »Also. Das war … viel. Ich denke, wir sollten einfach die größte Hürde hier diskutieren …«
Melina wurde schwarz vor Augen.
»… nämlich, dass dies eine Coming-of-Age-Geschichte ist, die direkt ins Jugendtheater führt.«
Melinas Gesicht brannte. In welcher Welt war der Verlust der Jungfräulichkeit unter moralisch bedenklichen Umständen Kost für Kinder?
»Das ist nicht wahr«, platzte es aus Melina heraus.
Jasper Tolle wich einen Schritt zurück, als hätte sie ihm einen Schlag verpasst. »Wie bitte?«
»B-brighton Beach Memoirs«, stammelte sie. »Billy Elliot. Equus. Frühlingserwachen. Das sind alles Coming-of-Age-Geschichten.«
»Ja, aber diese Arbeiten haben einen kritischen Wert«, konterte er, und ihr fiel bei diesem Hieb die Kinnlade runter. »Die lesen sich nicht … klein.«
»Weil es darin um männliche Charaktere geht?«, hakte Melina nach. Jetzt wurde ihr überhaupt erst bewusst, dass sie es als einzige Frau unter die Finalisten geschafft hatte. Ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass sie ein Rennen mit zusätzlichen Hürden lief.
»Weil ihre Hauptcharaktere nicht unsympathisch sind. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist in Teilen wirklich beeindruckend geschrieben, aber ist das wirklich eine Geschichte, die ein Publikum auf universellere Weise anspricht?«
Sie biss die Zähne zusammen. Was sollte das, eins der anderen Stücke drehte sich um Superhelden in einer Irrenanstalt.
»Das Stück soll bewirken, dass man sich unwohl fühlt«, sagte Melina.
»Nun, das hat es, aber nicht aufgrund dessen, was Sie denken. Es war mehr als sentimental. Wenn man das alles als Vorspiel zur letzten Szene betrachtet – die absichtlich wie drangeheftet wirkt –, fragt man sich, ob Das Mädchen überhaupt was daraus gelernt hat.«
Melina bebte vor Wut. Sie spürte, wie Andres Hand sich schützend über ihr Knie legte. »Genau darum geht es«, presste sie hervor.
Tolle hielt inne und musterte sie. »Darf ich fragen, ob dieses Stück von einem selbst erlebten Vorfall inspiriert ist?«
Sie antwortete nicht, nickte aber.
»Zukünftig«, sagte Jasper Tolle, »sollten Sie solche Themen meiden. Wenn Sie zu emotional sind, um mit Kritik umzugehen, weil das Stück so persönlich ist, werden Sie als Dramatikerin keinen Erfolg haben.«
Sie öffnete den Mund, aber er hielt eine Hand hoch.
Hielt tatsächlich eine Hand hoch, als könne er alles blockieren, was aus ihrem Mund kommen wollte.
»Sie sind – was? Einundzwanzig?«, fragte Tolle. »Sie haben noch eine Menge zu lernen. Mit Einwänden kommen Sie nicht provokant rüber, sondern nur … schwierig.«
Melina packte ihre Umhängetasche und sprang über das Dickicht aus Knien, Beinen und Rucksäcken, um den Gang zu erreichen. Als sie durch die Tür des Hörsaals auf den Flur stürmte, verkündete Jasper Tolle gerade, dass der Middlebury-Student den Bard Stückewettbewerb für seinen frischen Blick auf Iron Man mit Bindungsunfähigkeit gewonnen hatte.
Melina war es gleichgültig, wie eine beleidigte Verliererin auszusehen. Mochte Jasper Tolle sie ruhig als Bitch abtun. Sie hatte versucht, sich in eins ihrer Stücke einzubringen, hatte diesen Versuch aber eindeutig nicht ausreichend fiktionalisiert. Lektion gelernt.
Kurz darauf kamen vereinzelte Grüppchen in Gespräche vertieft aus dem Hörsaal. Sie wandte sich ab, als Jasper Tolle und Professor Bufort vorbeiliefen, ohne auf die Studentin zu achten, die gerade die Lunte entzündet hatte, die ihre Zukunft in die Luft sprengen würde.
Ein Arm schlang sich um ihre Schultern. Melina drückte sich an Andre und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf. »Nicht sexy«, sagte er und klopfte ihr auf den Rücken. »Nur Voldemort.«
Melina spürte eine Lachblase in ihrer Kehle.
»Ich fand es ganz erstaunlich, Mel«, sagte Andre und drückte sie von sich weg, damit er ihr in die Augen schauen konnte. »Und es tut mir leid, wenn dir auch nur ein Splitter von dem im wirklichen Leben widerfahren ist.«
Genau das war der Grund, weshalb sie es geschrieben hatte. Vielleicht gab es heute in diesem Hörsaal noch eine weitere junge Frau, die ermutigt wurde, Nein zu sagen, wenn man sie zu einem Ja drängte. Vielleicht gab es jemanden in einer Machtposition, der in Zukunft innehielt, bevor er diese Linie überschritt.
Vielleicht brauchte es mehr Geschichten wie diese, nicht weniger.
»Scheiß auf Jasper Tolle«, sagte Melina.
»Du sagst es«, bestätigte Andre.
In der folgenden Woche schrieb sie an Professor Bufort und bat ihn um ein Treffen. Er reagierte nicht darauf, also ging sie während seiner Bürozeit zu ihm. Seine Tür war geschlossen, doch es war ein Umschlag mit ihrem Namen darauf an die Tür geklebt.
Darin die Note für ihre Abschlussarbeit. Einschließlich Reputation hatte sie fünf Stücke eingereicht. Nie hatte sie in ihrem Hauptfach eine schlechtere Note als ein sehr gut, ein A bekommen.
C+. Lässt zu viele Zweifel offen.
Sie kehrte heim in eine leere Wohnung. Andre war vermutlich am College, und Melina war dankbar dafür. In ihrem spartanischen Schlafzimmer ließ sie sich aufs Bett fallen und vergrub das Gesicht im Kissen.
Sie würde also ohne eine Empfehlung ihres Doktorvaters ihren Abschluss machen. Bei anderen Dozenten im Fachbereich Theater hatte sie nun sicherlich den Ruf einer Querulantin. Kommilitonen und Kommilitoninnen, die sie zu ihren Freunden gezählt hatte, würden ihr aus dem Weg gehen, aus Sorge, Zurückweisung könnte ansteckend sein. Sie war zu einer persona non grata geworden.
Andre hatte sie auf dem Campus als Einziger verteidigt. Und konstatierte, es habe sich nichts geändert: Sie würden nach dem Abschluss nach New York ziehen und sich dort als Dramatiker versuchen. Aber Melina war sich nicht sicher, ob sie jemals wieder den Mut aufbrächte, sich öffentlich häuten zu lassen. Wenn man sich den Anblick einer Guillotine ersparen wollte, sollte man dem Hackblock fernbleiben.
Und dennoch. Bufort hatte einmal zu ihr gesagt: Wahre Schriftsteller können das Schreiben nicht lassen.
Ihr Blick fiel auf den Papierstapel auf ihrem Schreibtisch. Sie griff nach der Titelseite ihres fluchbeladenen Stücks und zerknüllte sie. Ihre Wut machte sie zur Maschine. Ein Blatt nach dem andern riss sie in Stücke und ließ diese wie Konfetti auf den Boden rieseln.
Dann blieb sie am Schwarz-Weiß-Druck einer Frau hängen. Die Augen der Dame schienen sie zu verfolgen. Die Notiz ihres Vaters war noch drangeklammert.
Emilia Bassano. Ihre Vorfahrin. Die Dichterin.
Der Historiker A. L. Rowise nannte Emilia Bassano 1973 die »dunkle Lady« von Shakespeares Sonetten – eine schwarzhaarige Jüdin zweifelhaften Rufs. Obwohl dies widerlegt wurde, verdient sie es, als die erste veröffentlichte Dichterin Englands anerkannt zu werden, zu einer Zeit, als es Frauen verboten war, für ein öffentliches Publikum zu schreiben.
Melina wurde leicht ums Herz, als sie sich klarmachte, dass sie nicht die Einzige ihrer Familie war, die sich ihren Platz als Schriftstellerin hart erkämpfen musste.
Sie blätterte die Abstammungsausdrucke durch, die ihr Vater mitgeschickt hatte, und spürte den Generationen nach, die von Emilia Bassano zu ihr selbst führten.
BYANYOTHERNAME Probenskript
EMILIA sitzt auf einer geschnitzten Bank im Schutz einer üppigen grünen Weide. Zu ihren Füßen ein Feenhaus. DIEFRAU tritt auf.
DIEFRAU
Ein Theater.
EMILIA
Ein Publikum.
DIEFRAU
Eine Komödie.
EMILIA
Eine Tragödie.
DIEFRAU
Es war einmal ein Mädchen, das unsichtbar wurde, damit ihre Worte es nicht waren.
EMILIA
Es war einmal ein Mädchen. Ein Anfang und ein Ende.
EMILIA wird zu ihrem jüngeren Ich.
DIEFRAU
Es gab eine Geschichte, egal ob andere sie hören wollten oder nicht.
EMILIA
(legt einen Schachkönig in das Feenhaus)
Gegrüßt sei Oberon, König der Elfen.
DIEFRAU
Emilia nannte ihn nach dem Elfenkönig eines französischen Gedichts, das sie übersetzt hatte.
EMILIA
(legt eine Schachkönigin in das Feenhaus)
Und du sollst seine Königin sein.
DIEFRAU
Im Gedicht wird keine Königin erwähnt. Sie war nicht wichtig genug, um beschrieben zu werden.
EMILIA
Wie soll man eine legendäre Königin nennen?
EMILIA, DIEFRAU
Titania.
EMILIA
1581
Emilia ist 12
Im Alter von zwölf Jahren wusste Emilia Bassano, dass die meisten Menschen nur das sahen, was sie sehen wollten. Darüber dachte sie nach, als sie, die Röcke hochgeschoben, das Kinn aufgestützt, auf dem Bauch lag. Mit ihrer freien Hand baute sie ein Feenhaus. Die weißesten Kieselsteine, die sie vor dem Haus fand, umrundeten einen Moosteppich. Darauf hatte sie ein winziges Gebäude aus Zweigen errichtet, die von langen Grashalmen zusammengehalten und von einem Dach aus Birkenrinde bedeckt wurden. Hundsrosenblüten dienten als Fenster, den Eingang säumten miteinander verschlungene Akeleien und Dotterblumen. Sie fügte einen rot gefleckten Pilz dazu, den sie im Wald gefunden hatte – ein perfekter Thron.
Von Peregrine Berties Schachspiel hatte sie einen glänzenden König aus Obsidian gemopst. Auch bekannt als Baron Willoughby, war er der Bruder von Emilias Vormund, Susan Bertie, Countess of Kent. Der Streit der beiden hatte Emilia aus dem Haus getrieben. Sie stellte die Schachfigur dicht an den Pilz. Ich werde ihn Oberon nennen, überlegte Emilia, nach dem Elfenkönig des französischen Gedichts »Huon de Bordeaux«, das sie vergangene Woche mit der Countess gelesen hatte. »Eure Majestät«, sagte Emilia, »hier ist Eure Gemahlin.« Sie nahm die zweite Figur, die sie vom Schachspiel genommen hatte, eine Königin aus glattem Elfenbein.
Sollte Oberon im Gedicht eine Frau gehabt haben, war sie nicht wichtig genug, um erwähnt zu werden.
Emilia brauchte einen Namen, der sie unvergesslich machen würde. Eine Feenkönigin, die legendär war, überlegte sie. »Titania«, bestimmte sie.
Schließlich stellte sie die dritte Figur aus dem Schachspiel zwischen König und Königin. Einen kleinen, dunklen Bauern.
Der Streit zwischen dem Baron und der Countess klang ihr noch glasklar in den Ohren.
Ich kann Emilia nicht mitnehmen, hatte die Countess gesagt, wobei Emilia nicht mal gewusst hatte, dass sie irgendwohin ging.
Ich auch nicht, Susan, hatte ihr Bruder argumentiert, ich muss bald nach Dänemark.
Nimm sie mit, erwiderte die Countess. Sie ist ein Mädchen, kein Schießpulver.
Jetzt strich Emilia mit einer Fingerspitze über den Bauern und malte sich die Geschichte aus. Der Bauer war ein Kind. Eine Waise. Sowohlder König als auch dieKönigin wollen dich, überlegte sie. Sie streiten sich ständig darüber, wer dich behält. Sie lieben dich so sehr, dass es die ganze Welt auseinanderreißen wird.
»Da bist du also!« Mit raschelnden Röcken sank die Countess neben ihr zu Boden. Sie schalt Emilia nicht dafür, dass sie verschwunden war und auch nicht wegen der Grasflecken auf ihrem Seidenkleid, und schon allein dafür bewunderte Emilia sie. Die Countess war erst in den Zwanzigern und bereits Witwe. Für die meisten Frauen würde dies Freiheit bedeuten – nicht mehr Besitz ihrer Väter oder Ehemänner zu sein –, aber sie war von Queen Elizabeth zurück an den Hof beordert worden. Manchmal musste Emilia bei der Countess an einen Wolf denken, der sich bereitwillig ein Glied abbiss, um aus einer goldenen Falle freizukommen.
Es war nichts Ungewöhnliches, dass ein Mädchen mit begrenzten Mitteln in einem aristokratischen Haushalt zur Bediensteten ausgebildet wurde. Emilia entstammte einer Familie von Hofmusikern, die auf Bitte von König Heinrich VIII., nachdem er sie Flöte spielen gehört hatte, aus Italien emigriert waren. Emilias Vater hatte Queen Elizabeth als Prinzessin im Lautenspiel und in Italienisch unterrichtet. Inzwischen unterhielt Emilias ganze Familie die Queen mit ihrer Musik, würde selbst aber nie zum Adel gehören.
Nachdem Emilias Vater gestorben war und ihre Mutter London verlassen hatte, um einer anderen Adelsfamilie zu dienen, war die Siebenjährige zur Countess geschickt worden. Ihre Eltern hatten unverheiratet zusammengelebt. Emilias Erinnerungen an ihre Mutter waren dürftig, sie wusste nur, dass sie jung war, viel jünger als ihr Vater, in einer Traumwelt lebte und dass auf sie kein Verlass war. Von ihrem Vater Baptista Bassano, der sie passerotta – kleiner Spatz – nannte, hatte Emilia den dunklen Teint. Die Melodien, ob eindringlich oder übermütig, die er auf seiner Flöte spielte, hatten sich ihr eingeprägt und lebten in ihr fort. Dies und der fast bedauernd geäußerte Satz ihrer Mutter, dass die Musik ihres Vaters die Sterne vom Himmel locken könnte, war alles, was ihr von den Eltern geblieben war. Emilia kramte die Erinnerung regelmäßig hervor wie Tafelsilber, das poliert werden musste, um seine Schönheit zu bewahren.
»Was haben wir denn da?«, fragte die Countess, als wäre es völlig normal, unter dem Gebüsch auf der Erde zu spielen. »Ein Feenhaus?«
»Eine andere Welt«, bestätigte Emilia. Sie überlegte, ob sie die Countess bitten sollte, sie mitzunehmen, wenn sie wegging.
Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel der Countess. »Wie schade, dass wir in dieser Welt leben, wo jetzt Zeit für den Unterricht ist.« Sie befreite sich weitaus anmutiger aus dem Gebüsch als Emilia, aber nicht, ohne die Schachfiguren aufzuheben. »Wenn der Baron feststellt, dass die hier nicht mehr da sind, wird er zu einem Bären.«
Emilia stellte sich ein wildes Tier vor, bekleidet wie der Baron mit Wams, Kniehosen und einem steifen Spitzenkragen unter der borstigen Schnauze.
»Nun freu dich doch, Kind«, sagte die Countess und tätschelte Emilia. »Wenn wir weg sind, werden die echten Feen vielleicht kommen und in dem Haus wohnen, das du ihnen gebaut hast.«
Emilia trottete hinter der Countess her und fragte sich, ob es wirklich so einfach wäre und alles möglich werden könnte, wenn keiner achtgab.
Emilia saß im großen Saal, wo die Familie sich im Haus des Barons versammelte. Auf ihrem Landsitz Grimsthorpe in Lincolnshire gab es einen eigenen Raum für den Unterricht, aber in London wurde die Bibliothek vom Baron genutzt. Emilia lernte Sprachen, Lesen, Schreiben und Tanzen (auf Musik hatte man verzichtet, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Emilia ihrer Lehrerin mehr beibringen als diese sie lehren konnte). Weil die Countess selbst gebildet war – was für eine Frau nicht die Norm war –, kümmerte sie sich um Emilias Lektüre. Die Bibel natürlich, aber auch Anstandsbücher und Christine de Pizans Die Stadt der Frauen. Heute ließ die Countess Emilia Marie de Frances Lai Bisclavret übersetzen. Es ging um einen Baron, dessen Frau sich über sein wiederholtes Verschwinden wunderte. Das Geständnis des Ehemanns, dass er sich manchmal in einen Werwolf verwandelte und nur wieder zu einem Menschen werden konnte, wenn er seine eigenen Kleider anzog, begeisterte Emilia. Die entsetzte Ehefrau versprach einem Ritter, der mit ihr flirtete, ihre Liebe und ihren Körper, sofern er Bisclavrets Kleider stahl – und auf diese Weise für das Verschwinden des Barons sorgte. Aber als der König während einer Jagd auf den Werwolf stößt, der sich unterwürfig zeigt, nimmt er ihn in sein Gefolge auf. Am Hof kommt es zu einer Begegnung mit Bisclavrets Ehefrau, die den Ritter geehelicht hatte, und als der sonst zahme Werwolf ihrer ansichtig wird, beißt er ihr die Nase ab.
»Das kann nicht richtig sein«, meinte Emilia und misstraute ihrer Übersetzung. »Mehr als eine Frau in dieser Familie / Wurde ohne Nase zum Schneuzen geboren, und lebte entnast.«
Die Countess lachte. »Oui, parfait«, sagte sie. »Und was will uns dieses Gedicht sagen?«
»Männer sind Tiere«, sagte Emilia rundheraus. Wieder stellte sie sich den Baron als Bären vor.
»Nein, meine Liebe. Dies ist ein Gedicht über Treue«, sagte die Countess. »Die Frau wendet sich gegen Bisclavret und wird dafür bestraft. Bisclavret ist seinem König treu und wird dafür belohnt.«
»Also sind beide Tiere«, folgerte Emilia.
»Sollte die Frau gezwungen sein, ihre Ehe mit einem Werwolf fortzusetzen? Und welche Möglichkeiten hätte sie, sich aus dieser Bindung zu lösen? Zähne und Klauen sind Waffen … aber ebenso der Körper einer Frau und ihre Liebe.« Achselzuckend ergänzte sie: »Man kann Bisclavret nicht zum Vorwurf machen, dass der Fluch, Werwolf zu sein, auf ihm lastet. Aber einer Frau kann man ebenso wenig vorwerfen, dass sie wegen ihres Geschlechts verflucht ist.«
»Aber sie verliert ihre Nase«, insistierte Emilia.
»Das Leben als Frau ist nicht ohne Risiko«, konterte die Countess und nahm Emilias Hand in ihre. »Und deshalb«, fügte sie leise hinzu, »muss ich auch Sir John heiraten.«
Emilia war dem Mann bei seinen Besuchen begegnet.
Die Countess umfing Emilias Wange. »Danach wird er mich nach Holland bringen. Ich werde schreiben«, versprach sie.
Emilias Augen brannten. Sie dachte an den kleinen dunklen Bauern auf dem Schachbrett, der je nach Laune der Spieler herumgeschoben wurde. Doch sie hatte gelernt, den Menschen nur das zu zeigen, was sie sehen wollten, also lächelte sie, bis sich die Grübchen in ihren Wangen zeigten. »Ich wünsche Euch nichts als Freude.«
In London fiel ihr als Erstes der Gestank auf – Körperdünste, Fäkalien, Erbrochenes mischten sich mit den Gerüchen von Holzrauch und gekochtem Fleisch. Die Straßen verknoteten und verknäulten sich, als wären sie von einem Kind ersonnen. Händler priesen ihre Ware an, von Federn über Milch in Kannen zu Binsenlichtern, und versuchten dabei, das Hufgeklapper und das Rattern der Kutschräder zu übertönen. Emilia musste den Karren und auch mal einem Vogel im Tiefflug ausweichen, der eine schimmlige Brotkruste oder einen Stofffetzen für sein Nest ergattern wollte. Mit ihren Lederstiefeln rutschte sie auf den von Schlamm und Abfall feuchten Kopfsteinen aus. Auf den Türschwellen saßen in Lumpen gehüllte Bettler mit schwärenden Wunden, Hände zogen an Emilias Röcken. Sie kam an einem Hahnenkampf inmitten eines Kreises von Männern vorbei, die ihre Favoriten anfeuerten. Als ein Streit zwischen zwei mageren Jungs sich auf die Straße verlagerte, duckte sie sich in einen Durchgang. Dort suchte ein Freudenmädchen mit bis zur Taille gerafften Röcken das rasche Geld. Mit leerem Blick starrte sie über die Schulter des Mannes, der in sie eindrang.
In London besuchte Emilia jeden Freitag die Familie ihres Cousins Jeronimo zum Abendessen. Sie war bei ihren Eltern vor den Stadttoren in Spitalfields aufgewachsen, doch der Rest der Verwandten wohnte jetzt auf der Mark Lane in der italienischen Gemeinde.
Zweigeschossige Holzhäuser standen dort dicht an dicht und schienen sich gegenseitig Halt zu geben. Emilia war noch nicht um die Ecke gebogen, da begrüßte sie schon aus verschiedensten Häusern Musik. Sie beherrschte jedes Instrument, würde aber nie so fließend spielen wie ihre Cousins. Diese verbanden so mühelos Töne miteinander wie sie Worte verflocht – webten eine so perfekte Melodie, dass man staunte, sie nicht schon gehört zu haben.
Als Emilia das Haus betrat, sank der rote Sonnenball gerade hinters Dach des Hauses ihres Cousins. Seine Söhne Edward und Scipio stürmten zur Begrüßung auf sie zu. Alma, ihre Mutter, lachte. »Piccolini, erdrückt sie nicht.«
In der Ecke des Raums, die dem Herd am nächsten war, blickte ihr Cousin lächelnd von der Laute auf, die er stimmte. »Na, wie ist es in der Adelswelt?«, neckte er sie.
»Genauso wie gestern, als du am Hofe warst«, erwiderte Emilia.
Jeronimo brummte unverbindlich. Wie er wusste auch sie, dass die Regentschaft der Bassanos als Musikanten von Queen Elizabeth nur so lange dauern würde, wie deren Gunst es zuließ – und dass diese jederzeit entzogen werden konnte. Was würde dann aus ihnen werden?
Emilia hob einen ihrer kleinen Großcousins hoch auf die Hüfte und sah sich in dem Heim um. Ihre Verwandten verfügten natürlich nicht über den Reichtum, den sie bei der Countess und dem Baron kennengelernt hatte, aber dank ihrer Rolle am Hof gehörten sie dennoch zum niederen Adel. Die geschnitzten Holztruhen hatten sie aus Italien mitgebracht, und vor den Fenstern hingen Vorhänge. Aber sie besaßen nur ein Hochbett, in dem sie zusammen mit den Kindern schliefen. Selbst wenn sie ihren Cousin bitten würde, sie nach der Hochzeit der Countess bei sich aufzunehmen, gäbe es keinen Platz für sie. Sie war ein Schatten, der zwischen zwei Welten gefangen war, wie die Feen.
»Erzähl uns eine Geschichte, Emilia«, bettelte der Jüngste und griff nach Emilias langem Zopf. Wenn sie in die Mark Lane kam, kleidete sie sich wie eine einfache Bürgerin, trug das Haar nicht hochgesteckt und über ihrem Hemd nur ein schlichtes Kleid.
Emilia setzte sich mit dem Jungen auf dem Schoß an den Kamin, sein Bruder nahm neben ihr Platz. »Wisst ihr, wem ich heute begegnet bin?«, fragte sie. »Einer Feenkönigin.«
»War sie schön?«, wollte einer der Jungs wissen. »Wie du?«
Schönheit war relativ, wie Emilia wusste. Ihr olivfarbener Teint konnte mit der modisch blassen Haut, wie man sie bei Hofe sah, nicht mithalten; ihr Haar war dunkler als die Nacht, die Augen schimmerten geisterhaft silbern. Jedes Detail für sich genommen wirkte befremdlich, in Kombination jedoch zogen sie Aufmerksamkeit auf sich – die interessierten Blicke von Männern, die schrägen ihrer Gemahlinnen.
»Hübscher sogar als Queen Elizabeth«, sagte Emilia, was ihr Cousin mit einem Schnauben kommentierte.
Alma zwinkerte ihr zu, öffnete einen Schrank, um das gefaltete, von Stickerei gesäumte Leinentuch herauszuholen. Das wohl kostbarste Stück des Haushalts.
»Die Feenkönigin hat versprochen, sich um das verwaiste Kindlein einer Freundin zu kümmern, aber ihr Ehemann, der Feenkönig, wollte es ihr wegnehmen.«
»Warum?«, fragte einer der Jungs.
Emilia überlegte. Sie wusste nicht mehr, wie sie selbst im Alter ihrer Großcousins gewesen war, doch stand für sie fest, dass nichts auf Gottes Erden ein Kind von seinen Eltern trennen konnte.
»Weil der Feenkönig Angst davor hatte, die Königin könnte das Kindlein so sehr lieben, dass sie ihn vergaß.«
Die Jungs neigten sich ihr gebannt zu. »Was geschah dann?«
»Der König … wollte der Königin eine Lektion erteilen. Er trug seinem Feendiener auf, eine violette Blume zu finden, deren Wirkung dafür sorgen würde, dass sich jemand in das erste Ding verliebte, das er sah. Und er berührte mit dieser Blume die Stirn der schlafenden Königin.«
Alma strich das bestickte Tuch über dem zerkratzten Holztisch glatt, der mitten im Raum stand. »Emilia, cara«, sagte sie, »die Fensterläden?«
Emilia schob die Kinder von ihrem Schoß, erhob sich und trat an das offene Fenster ohne Bleiglasscheiben, wie es sie bei ihrem Vormund gab. »Und in wen verliebte sie sich dann?«, fragte einer der Jungs.
Vor dem Fenster ratterte ein Eselskarren vorbei. »Tja … in einen Esel!«, antwortete Emilia, und die Kinder prusteten vor Lachen.
»Das reicht jetzt«, schalt Alma. »Jeronimo?«
Die Sonne war untergegangen. Emilias Cousin überprüfte, ob die Außenläden geschlossen waren, und löste einen lockeren Stein aus dem Kamin. Dahinter war eine kleine Öffnung, aus der er ein Päckchen, eingepackt in Musseline, zog, und dann noch ein Stück gefaltetes Leinen. Er löste die Musseline, als würde er einen Apfel schälen, und enthüllte zwei Messingkerzenständer, die er auf den Tisch stellte. Alma steckte Talkkerzen hinein und nahm das Leinentuch, um den Kopf damit zu bedecken. Emilia führte ihre kleinen Cousins zum Tisch und neigte ihren Kopf. »Baruch atah Adonai«, sang Alma und entzündete die Kerzen mit einem Span aus dem Kamin. »Eloheinu melech ha-olam asher kid’shanu b’mithvotav v’tzivanu l’hadlik neir shel Shabbat.«
Amen schlossen die anderen in perfekter Harmonie.
Ein geheimes Gebet einer verbotenen Religion. Wie die anderen konvertierten Juden, die aus Spanien und Italien hergekommen waren, waren auch die Bassanos vor den Augen der Welt Christen, die zur Kirche gingen und zur Jungfrau und ihrem gesegneten Sohn beteten.
Die Menschen sahen, was sie sehen wollten.
Den Hof aufzusuchen, hatte sich für Emilia immer wie eine Aufführung angefühlt. Obwohl sie nicht wie ihre männlichen Verwandten in der Great Hall Flöte oder Laute spielte, war sie schon als ganz kleines Kind immer als eine Art Helferin mitgeschleift worden. Sie kannte das hektische Bestreben, den Eindruck kompetenter Nonchalance zu erwecken, wenn die Queen den Raum betrat, wusste um das Wechselspiel der Musik, die einmal ergötzen, sich dann aber wieder zurücknehmen sollte. Höfling zu sein war nicht viel anders.
Die Queen und ihr Gefolge waren erst vor Kurzem von St. James zum Palast in Whitehall zurückgekehrt, man zog ständig zwischen diesen Anwesen und Hampton Court, Greenwich, Richmond und Windsor Castle hin und her. Es gab so viele Vertraute und Berater Ihrer Majestät, dazu noch die Hofdamen und Besucher anderer Königshäuser, sodass Schmutz, Abfall und Gestank einen Palast nach dem anderen zeitweise unbewohnbar machten. Dann wechselte die ganze Gesellschaft die Örtlichkeiten, bis alles wieder gesäubert und gelüftet war.
Die für ein Erscheinen am Hof erforderliche Kleidung war das genaue Gegenteil dessen, was Emilia anzog, wenn sie die italienische Gemeinde in London aufsuchte. Emilia wurde von einer Zofe mit sauberen Tüchern abgerieben und parfümiert. Über einem langen Leinenkittel trug sie ein zweiteiliges Mieder aus Brokat mit vertikal eingearbeiteten Walknochen und einer Vorderschließe aus einem Fischbeinstab, der zwischen ihren knospenden Brüsten eingeklemmt war und bis zu ihrem Bauch reichte. Am Rücken wurde das Mieder durch Nestellöcher verschnürt, falsche Ärmel, besetzt mit Spitze und Perlen, machten das Oberteil komplett. Mehrlagige Röcke in Schwarz und Weiß – den Farben der Queen – vervollständigten das Gewand, bis Emilia nicht einmal mehr atmen konnte, ohne dass es raschelte. Ihr Haar wurde aufgesteckt und mit einer Hauptzierde am Skalp befestigt, was unweigerlich zu schmerzenden Schläfen führte, bevor der Abend endete. Sie sah aus wie eine Miniaturversion der Countess, wenn auch ohne üppiges Dekolleté.
Auch der Baron war zugegen, allerdings eher widerwillig. »Sollte Oxford hier sein«, murmelte er, während sie in der Menge warteten, um in die Great Hall eingelassen zu werden, »kann ich für nichts garantieren.«
»Wenn Oxford hier ist«, schäkerte die Countess, »verspeise ich meinen Fächer.«
Klatsch war das sprudelnde Lebenselixier am Hof und der Earl of Oxford, Edward de Vere, hatte in diesem Frühjahr jede Menge davon geliefert. Im April hatte eine der Hofdamen der Queen – Anna Vavasour – Oxfords Sohn zur Welt gebracht. Skandalös war daran nicht, dass Oxford verheiratet war, sondern dass diese Liebesaffäre sich ohne die Zustimmung der Queen entwickelt hatte. Sie hatte beide in den Tower werfen lassen, und es ging das Gerücht, dass Oxford diese Woche wieder freigelassen worden war.
Der Baron war nicht gut zu sprechen auf Oxford, den Bruder seiner Gemahlin Mary. Weil es der Queen nicht gefiel, wie Oxford seine eigene Frau behandelte, die er des Ehebruchs bezichtigte und das gemeinsame Kind als Bastard bezeichnete, hätte die Ehe des Barons beinahe nicht ihre Zustimmung gefunden. Der Mann war schlichtweg unberechenbar.
Sie wurden von der glitzernden Menschenwoge aufgesogen. Das Unterhaltungsprogramm reichte von Maskeraden über Bärenkämpfe zu Turnierkämpfen auf dem Turnierplatz bis zu Emilias Lieblingsdarbietung: Aufführungen von Theatertruppen, die unter der Schirmherrschaft eines Adeligen standen. Während ihres Heranwachsens hatte die Musik sämtliche Räume ihrer Kindheit erfüllt, und sie wusste, dass die richtigen Noten in der richtigen Reihenfolge einen zum Weinen oder zum Schweben bringen konnten. Eine vergleichbare Wirkung erzielten auch die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge und vom richtigen Schauspieler gesprochen.
Heute Abend jedoch war Tanz vorgesehen. Emilia hörte die lebhaften Klänge, die ihre Cousins den Instrumenten entlockten, aber die Galerie der Musikanten befand sich am anderen Ende des Saals, und ihre Chance, bei diesem Gedränge dorthin zu gelangen, war so groß wie nach Fernost zu kommen. Durch hohe schmale Fenster fiel Mondlicht auf die Tanzpaare. In einem gewaltigen Kamin wurde ein Feuer unterhalten, obwohl es draußen warm war, sodass es im Raum nach Schweiß und Ruß stank. Heute Abend stand eine Galliarde auf dem Programm – die Pantomime eines Liebeswerbens, bei der die Männer den Frauen nachjagten. Dabei konnte es vorkommen, dass ein Mann die Frau um die Taille fasste und in die Luft hob oder seinen Schenkel hochzog, um seine Partnerin darauf zu balancieren. Wurde schon das Zuschauen als anstößig empfunden, war die Darbietung selbst das erst recht, und genau deshalb pflegte die Queen sie mit ihrem Günstling zu tanzen: mit Robert Dudley, dem Earl of Leicester – bevor er bei ihr in Ungnade fiel. Jetzt befand sie sich mit Sir Christopher Hatton als ihrem Partner mitten auf der Tanzfläche.
Sich davonzustehlen fiel Emilia nicht schwer, obgleich sie wusste, dass man es missbilligen würde, wenn nicht Schlimmeres. Sie duckte sich an den Wachen am Rand des Raums vorbei und versuchte, einen Platz zu finden, wo es weniger Gedränge gab und etwas kühler war, fand sich dann aber von Lord Archley in die Enge getrieben. Sie kannte beileibe nicht alle Adligen am Hof, hatte aber das Pech gehabt, diesem schon einmal begegnet zu sein.
Er war fast so breit wie hoch, hatte eine Nase wie ein Granatapfel und eine so steife Halskrause, dass sein Kopf nach hinten gedrückt wurde. Als er Emilia sah, leuchteten seine Augen. »Ah«, sagte er und hauchte sie sauer an. »Die Löwin hat ihr Junges aus dem Blickfeld verloren.«
Tatsächlich setzte die Countess alles daran, die Höflinge abzuwehren, die Emilia zu nahe kamen. Archley ließ ein Taschentuch fallen und bückte sich, um seine Hand unter ihre Röcke zu schieben und ihren Knöchel zu umfangen. Emilia presste die Lippen zusammen und wich zurück. »Lord Archley«, sagte sie und knickste. Lord Arschly, dachte sie insgeheim.
»Was für gute Manieren«, sagte er. »Und dazu noch so strahlend wie die Sonne.«
Emilia hätte am liebsten die Augen verdreht. Wie alle anderen Frauen am Hof hatte sie ihr Gesicht zu Ehren der Queen weiß gepudert. Auf ihrer olivfarbenen Haut wirkte dies aber wie eine Maske und betonte nur umso mehr, wie sehr sie sich von den anderen unterschied. »Kaum mehr als ein Funke bin ich«, scherzte sie.
Archley beugte sich tief genug herab, sodass sie die Essensreste zwischen seinen Zähnen sehen konnte. »Und doch entfachst du meine Glut.«
Nun, er war nicht der Einzige, der die Erfahrung einer anatomischen Aufwallung machte, sagte sich Emilia, der plötzlich flau im Magen wurde. »Meine Herrin ruft mich«, log sie und versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken, aber Archley schlang einen Arm um ihre Taille. Sie dachte an die Stellen, von denen die Countess ihr erzählt hatte, empfindliches Gewebe, wo ein gezielter Einsatz des Knies einen Mann entmannen konnte. Archley trug eine Schamkapsel, also hob Emilia ihren Fuß und drückte ihren Absatz in seinen Fußrücken. Gleich darauf rannte sie blind drauflos. Sie flog um eine Ecke und prallte dort gegen einen anderen Gentleman.
»Bitte mein Herr, verzeiht mir«, sagte Emilia keuchend.
Der Mann packte sie an den Schultern, um ihr Halt zu geben. »Das kann ich nicht«, sagte er, »da ich derjenige bin, der dir in den Weg trat.«
Er war hager und alt, hatte silbriges Haar und freundliche Augen. Sein Wams war mit Goldfäden durchwirkt, was ihn als Vertreter des Hochadels auszeichnete, einen Kronrat.
»Du bist Countess Berties Mündel«, sagte er. Offenbar wusste er mehr über Emilia als sie selbst.
Sie richtete sich auf und begegnete dem Blick des Fremden. »Wenn Ihr Eurer Majestät erzählt, dass ich den Raum verlassen habe«, sagte Emilia, »werde ich ihr erzählen, dass Ihr bereits draußen wart.«
Der Mann lächelte entzückt. »Weißt du … das glaub ich dir sogar.«
Verwirrt knickste Emilia noch einmal, machte auf dem Absatz kehrt und drängte sich zurück in die Great Hall, wo das Tanzvergnügen auf dem Siedepunkt war. Wie ein riesiges Tier schwoll die Menge an und zog sich zurück. Emilia entdeckte die Countess in einer Gruppe von Frauen und bahnte sich den Weg zu ihr.
Die Countess sah sie mit einem gequälten Lächeln an. »Und wo warst du?«, fragte sie.
»Auf Besuch bei meinen Cousins«, log sie und schaute zur Musikergalerie, fing dabei allerdings den Blick des Gentlemans in dem golddurchwirkten Wams auf. Er unterhielt sich jetzt mit dem Baron und beobachtete Emilia über den Rand seines Kelchglases hinweg.
Nachdem sich die Countess wieder verheiratet hatte und in den Niederlanden lebte, wurde Emilia zusammen mit dem Baron und seiner Gemahlin zwischen London und Grimsthorpe hin- und herkutschiert. Emilia wusste, dass die Baroness ihr ohnehin nicht besonders zugetan war, doch als diese schwanger wurde, zeigte sie noch weniger Interesse, sich um Emilia zu kümmern.
Und so fand sich Emilia auf einer vom Regen gepeitschten Handelsgaleone wieder, die nach Dänemark segelte, und war sich sicher, die Fahrt nicht zu überleben.
Der Baron war auf diplomatische Mission entsandt worden und hatte keine andere Wahl, als Emilia mitzuschleppen. Im Unterschied zu ihm war sie noch nie auf einem Schiff gereist, schon gar nicht während eines Sturms. Die erste Hälfte der Reise kämpfte Emilia gegen die Seekrankheit an. Nach einer Woche hatte sie sich an das Schaukeln unter ihren Füßen gewöhnt, verbrachte aber dennoch die meiste Zeit in ihrer winzigen Kabine. Manchmal schrieb sie an die Countess, die ihr zum Abschied ein Päckchen mit Briefpapier geschenkt hatte (»Bring deine Geschichten zu Papier, Emilia, und schick sie mir.«). Sie las auch Anstandsbücher in der Hoffnung, dank dieser Lektüre am dänischen Hof so unauffällig wie möglich zu sein. Am Sabbat zündete sie die Kerze auf ihrem Nachttisch an und rezitierte still ein hebräisches Gebet, huldigte ihrem Gott im geheimen Tempel ihres Geistes.
Tatsächlich tat sie genau das, als das Schiff so heftig krängte, dass die Kerze herunterfiel und über den Holzboden der Kabine rollte. Emilia stürzte sich darauf, denn sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als ein Feuer auf einer Galeone. Doch als die Flamme in einer sich ausbreitenden Wasserlache zischend verlöschte, war ihr klar, wie falsch sie lag.
Emilia befand, dass der Kapitän über ein Leck informiert werden sollte. Sie zog einen Morgenrock über ihr Nachthemd und öffnete die Kabinentür.
Es war, als würde sie durch die Pforte der Hölle treten.
Salzige Gischt spritzte ihr ins Gesicht und brannte ihr in den Augen. Hier stand das Wasser knöcheltief und durch die Luke, die hinauf zum Oberdeck der Galeone führte, strömte noch mehr herein. Knarrend gab das Holz dem Druck nach. Ein durch Mark und Bein gehendes Knacken, als würde ein Baum splittern, gellte in Emilias Ohren, dann erschütterte ein Krachen das gesamte Schiff.
Emilia schwankte auf ihren durchweichten Pantoffeln, bis die Galeone sich wieder neigte und sie hart gegen die Wand schlug. Sie rieb sich den Kopf, als einer der jungen Seeleute mit Seilballen an ihr vorbeikam. »Geht wieder nach unten, Milady«, brüllte er.
Sie sah sich bereits gefangen in ihrer kleinen Kabine, während das Schiff in einem langsamen Ballett auf den Grund des Ozeans sank. Dann doch lieber nach oben über die Leiter, die der Junge erklommen hatte. Sie stopfte ihre Röcke zwischen die Schenkel und fing zu klettern an.
Alles konzentrierte sich auf das Oberdeck, das den Elementen ausgesetzt war. An ruhigen Tagen war sie schon mal dort gewesen, aber das hier war eine andere Welt. Jeder Blitzschlag illuminierte Chaos: Einer der drei zerbrochenen Masten hatte die seitliche Reling durchschlagen. Riesige Leinwandsegel knatterten frei im Wind und trotzten dem verzweifelten Kampf der Crew, sie einzuholen. Die Befehle der Bootsmannspfeife gingen unter im Gebrüll des Sturms. Ein völlig durchnässter Seemann, der an einen noch stehenden Mast gebunden war, blickte durch sein Fernrohr verzweifelt in die Dunkelheit.
Emilia schrie, als eine anrollende Woge ihr den Boden unter den Füßen wegzog und sie übers Deck schleuderte. Sie tastete mit ihren Fingern und bekam eine Eisenklampe zu fassen. Als sie ihren Namen hörte, blickte sie hoch und sah den Baron, der zusammen mit dem Steuermann den Kolderstock festzuhalten versuchte, der mit dem Ruder verbunden war. Der Baron trug nichts weiter als seine leinene Unterwäsche und Hosen, die ihm am Körper klebten. »Emilia«, schrie er noch mal mit rauer Stimme. »Geh runter!«
Erst als sie einen Arm spürte, der sie hochzog, vermochte sie sich von den Deckplanken zu lösen, auf denen die von unten und von oben kommenden Wassermassen sie festhielten. Der Bootsmann, ein massiger Kerl, der sie einmal auf seiner aus einem Knochen geschnitzten Flöte hatte spielen lassen, riss Emilia an seine Seite. Halb schleifte er sie, halb warf er sie durch die Luke, wo sie am Ende der Leiter in knietief stehendem Wasser landete.
Zitternd und wund kroch Emilia zurück in ihre winzige Kabine. Nach dem Tosen des Sturms schmerzte die Stille in ihren Ohren. Sie hievte sich auf das Segeltuch, das als Bett diente, und zog die Beine an.
Als ihre Augen sich an das Dunkel in der Kabine gewöhnt hatten, sah sie, dass ihre Nägel eingerissen waren und Holzsplitter vom Deck in ihren Handflächen steckten. Was sie aber vor allem in Bann zog, war der sich ausbreitende dunkle Fleck auf ihrem nassen Nachthemd. Emilia wandte sich hin und her und suchte ihren Körper nach der Ursache der Verletzung ab. Manche Stellen waren schmerzempfindlich, dort würde sie blaue Flecken bekommen, aber sie konnte weder einen Schnitt noch einen Kratzer finden. Erst als sie die Hand zwischen ihre Beine schob und dann ihre blutigen Finger ansah, wurde ihr klar, dass etwas in ihr ernsthaft verletzt sein musste.