Der Garten der kleinen Wunder - Patricia Koelle-Wolken - E-Book

Der Garten der kleinen Wunder E-Book

Patricia Koelle-Wolken

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Beschreibung

Was macht dich wirklich glücklich? Victoria, genannt Toja, illustriert Buchumschläge. Ihre Gedanken kann sie oft besser in Bildern als in Worten ausdrücken. Seit einer Lebenskrise lebt sie in einem Haus am Stadtrand, wo sie zwischen alten Obstbäumen und Blumenbeeten wieder zu sich gefunden hat. Als am Gartenzaun die vierzehnjährige Vica auftaucht, die eigentlich ebenfalls Victoria heißt, erkennt Toja sich in dem introvertierten Mädchen wieder. Sie fühlt sich an ihre eigene Vergangenheit erinnert und an das beklemmende Gefühl, nicht richtig zu sein. Toja möchte für Vica einen friedlichen Ort schaffen, an dem diese auch in dunklen Momenten Hoffnung finden kann. Wie die Blüte, die immer zum Licht strebt. Aber lässt sich das Glück planen? Und wie viel Mut braucht es zur Veränderung? Der Zauber eines Sommers. Unerwartete Begegnungen, die uns inspirieren. Ein Roman, der bewegt und lange nachhallt.

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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Patricia Koelle-Wolken

Der Garten der kleinen Wunder

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Was macht dich wirklich glücklich?

Victoria, genannt Toja, illustriert Buchumschläge. Ihre Gedanken kann sie oft besser in Bildern als in Worten ausdrücken. Seit einer Lebenskrise lebt sie in einem Haus am Stadtrand, wo sie zwischen alten Obstbäumen und Blumenbeeten wieder zu sich gefunden hat. Als am Gartenzaun die vierzehnjährige Vica auftaucht, die eigentlich ebenfalls Victoria heißt, erkennt Toja sich in dem introvertierten Mädchen wieder. Sie fühlt sich an ihre eigene Vergangenheit erinnert und an das beklemmende Gefühl, nicht richtig zu sein. Toja möchte für Vica einen friedlichen Ort schaffen, an dem diese auch in dunklen Momenten Hoffnung finden kann. Wie die Blüte, die immer zum Licht strebt. Aber lässt sich das Glück planen? Und wie viel Mut braucht es zur Veränderung?

Ein Roman über den Zauber eines Sommers, über einen verwunschenen Garten und unerwartete Begegnungen, die uns inspirieren.

Vita

Bestsellerautorin Patricia Koelle-Wolken, geboren 1964, liebt die Natur und das Gärtnern. Sie wohnt am Stadtrand von Berlin und ist viel in bezaubernden Landschaften unterwegs, um Geschichten und Handlungsorte für ihr Schreiben zu finden. Es sind bereits zahlreiche erfolgreiche Bücher und Reihen erschienen. Nun hat sie mit «Der Garten der kleinen Wunder» einen sehr persönlichen Roman geschrieben, in dem sie auch eigene Erfahrungen verarbeitet.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Katrin Fillies

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02342-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Ein Roman für leise Menschen

… und für jene, die einen leisen Menschen lieben.

 

Darum auch für Frank –

weil mit dir das Leben zu einem glücklichen Wunder geworden ist.

1

Während ich die Krabbe auf der Terrasse mit einem weichen Handfeger abstaubte, bemerkte ich das Mädchen zum ersten Mal. Halb verdeckt vom Fliederbusch, an dem die Knospen schwollen, stand sie hinter dem Zaun zum Nachbargrundstück und blickte gebannt zum Wasserbecken hin. Mich hatte sie nicht gesehen.

Für einen unheimlichen Moment schien ein Bruch in die Zeit geraten. Es war, als würde ich mir selbst begegnen. Ein Schwindelgefühl ließ mich nach einer Stuhllehne greifen.

Soweit ich es durch die Büsche und die schmiedeeisernen Stangen hindurch erkennen konnte, war die Unbekannte etwa vierzehn. Genauso unsicher und verloren wie sie hatte auch ich in diesem Alter dagestanden, das erste Mal, bevor ich dieses Grundstück betreten hatte. Nicht nebenan, aber auf der Straße, die Stirn an die Holzlatten gedrückt, um durch den Spalt sehen zu können.

Das fremde Kind erschien mir wie ein verzögertes Spiegelbild. An ihrer Haltung erkannte ich, wie ihr zumute war, und blickte unwillkürlich rasch wieder weg, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Wie leicht fühlt man sich in jenem Alter ertappt, obwohl man gar nichts angestellt hat. Um zu zeigen, dass sie mich nicht störte, fuhr ich mit meiner Arbeit fort.

Ich putzte nur oberflächlich. Die Moose und bunten Flechten auf dem Panzer der Krabbe, der so groß war wie ein Serviertablett, sollten ungestört weiterwachsen dürfen. Auf echten Krabben gedeihen schließlich auch Algen und Seepocken, daher wischte ich nur die Sedimente und den Ruß der Stadt fort. Es waren die Spuren des Winters, die ich an diesem sanften Märztag vertreiben wollte, nicht jene der Vergangenheit. Der knallrote Lack war noch intakt, die Modelliermasse darunter stabil.

Die Anwesenheit der Krabbe bewies, dass ich nicht mehr vierzehn war, denn damals hatte sie noch nicht existiert. Inzwischen aber residierte sie schon lange hier auf ihrem Platz am Verandapfosten, ein aus Holz geschnitztes Buch verwegen in eine ihrer Scheren geklemmt, ein leicht amüsiertes Zwinkern im rechten Stielauge. Ich war froh über ihre Gesellschaft und unendlich erleichtert, dass jetzt der alljährliche Rausch wieder begann, der alles antreibt und das Einzige ist, auf das man sich immer und gänzlich verlassen kann. Das volltönende Gelb und Blau der Krokusse und der überschwängliche Duft der Hyazinthen bildeten die Ouvertüre. In Begleitung von Tulpen, Iris und Hasenglöckchen durchbrachen sie mit Nachdruck die Erde und ebenso mein Unbehagen, dass es diesem Frühling ohne Marc an Farben mangeln könnte. Marc, der auf seiner langersehnten Expedition im kalten Nordmeer unterwegs war und über ein halbes Jahr lang dort sein würde, um das filigrane und trotzige Dasein der Korallen zu erforschen. Mich hatte die stille Befürchtung überfallen, dass durch seine monatelange Abwesenheit etwas von der fernen, dämmrigen Kälte dort auf geheimnisvolle Weise in meine Tage hier sickern könnte.

Da wusste ich noch nicht, dass der Sommer dieses Jahres mich mit einer ganz anderen, bunten Wärme überschwemmen würde.

 

Nach der Krabbe nahm ich mir die Fensterläden vor. Es waren noch die alten hölzernen. Auf das sonnengebleichte Hellgrün waren einst mit entschlossenem Schwung Wasserpflanzen gemalt worden. Runde Seerosenblätter an ihren Stielen, fiedriges Tausendblatt, braune Rohrkolben, Fieberklee mit den zierlichen weißen Blüten, sorgfältig in allen Einzelheiten. Als Wille sie entworfen hatte, hatte sie sich die Pflanzen im Garten zum genauen Vorbild genommen.

 

Das rechteckige Wasserbecken hatten wir damals den Ideensee getauft. Wille hatte behauptet, wenn man nur eine Weile hineinsah – «und eine Weile ist etwas Weiches, Magisches, weil sie nie feste Grenzen hat. Sie kennt keine Uhrzeit. Du kannst alles damit machen. Lass dir niemals einreden, wie eine Weile auszusehen hat!» –, dann würde unweigerlich eine Idee auftauchen wie ein Fisch, der begierig nach einer Fliege späht. Nur nicht aus dem Wasser, sondern im Kopf. «Das Gehirn besteht aus über achtzig Prozent Wasser, deswegen verhält es sich auch so ähnlich», erklärte Wille. «Man weiß nicht, was sich darin verbirgt, aber man kann sicher sein, dass früher oder später eine Überraschung der Tiefe entsteigt.»

Eine lange Weile wäre darum das Beste, was einem passieren konnte, meinte sie. Langeweile dagegen war etwas, was in Willes Umkreis nicht existierte. «Daran siehst du, wie wichtig eine Pause sein kann», war eine andere ihrer Erklärungen, über die ich viel nachdenken musste, bevor ich sie verstand. «Eine lange Weile ist etwas Schönes voller Potenzial. Ein Zeitraum, mit dem du in Ruhe wunderbare Dinge anstellen kannst. Aber nimm nur die Pause weg, diesen winzigen Abstand zwischen den beiden Worten, und schon hast du ‹Langeweile›. Und die ist etwas Trauriges, sofern sie bleibt und sich nicht wandeln lässt.»

Während Willes Stimme durch meine Erinnerung flatterte wie der erste verschlafene Zitronenfalter über die langen Gräser vom Vorjahr, war das Mädchen lautlos verschwunden.

Ich hätte sie hereinbitten sollen. So wie Wille mich damals.

Nächstes Mal unbedingt!, nahm ich mir vor. Das war ich ebenso Wille schuldig wie meinem jungen Selbst. Und diesem ewigen rätselhaften und grandiosen Kreislauf der Geschehnisse, der aus Mädchen Frauen macht, bestimmte Menschen unlöslich in Erinnerungen verankert und Moos auf Skulpturen wachsen lässt.

 

Das Handy vibrierte in meiner Tasche. Eine Nachricht von Marc.

Das Wetter hat sich gebessert, wir fahren morgen wieder raus. Auf der Suche nach Lophelia. Ich schicke dir ein Foto. Vielleicht inspiriert sie dich.

Seit er fort war, stellte ich mir manchmal vor, ich wäre die Frau eines altertümlichen Seefahrers, dessen Rückkehr ungewiss war und von dem man womöglich ein Jahr lang nichts hörte. Doch wir besaßen ja die moderne Kommunikation, ich konnte mich glücklich schätzen, damit tröstete ich mich. Verheiratet wie die fiktive Seefahrerfrau waren wir allerdings nicht. Wir wohnten nicht einmal zusammen, doch wir teilten seit fünf Jahren Glück und Pech und eine innige Freiheit. Meine Mutter nennt Marc mein «Gspusi». Niemand kann so viel Verachtung in ein Wort legen wie sie. Wille hätte schallend gelacht, wenn sie es gehört hätte.

Langeweile hatte ich nie, auch nicht, solange Marc mir mit der Lophelia untreu war. Lophelia pertusa, die Kaltwasserkoralle, besaß zwar ein faszinierendes Wesen, aber ich war nicht eifersüchtig. Marcs Begeisterung für seine Tätigkeit gehörte zu den Eigenschaften, die ich an ihm so liebte. Und diese Koralle ist genauso, wie Wille es war: Sie schafft es auch unter ungünstigen Bedingungen, nicht nur zu existieren, sondern eine ganz eigene Schönheit eines Lebensstils zu entwickeln und auf alle abfärben zu lassen, die damit in Berührung kommen. In tausend Metern Tiefe, in völliger Dunkelheit und bei einstelligen Wassertemperaturen gelingt es diesen Blumentieren, märchenhafte Gärten zu erschaffen. Die Lophelia fängt sich ihre Nahrung, indem sie unermüdlich unzählige Arme nach allem ausstreckt, was vorbeitreibt. Genauso war Wille. Sie konnte sich kaum noch bewegen. Doch das, was im Strom des Lebens an ihr vorbeizog, genügte ihr, um es aufzunehmen, es in Farben und Formen, Stärke und verwegene Gedanken zu verwandeln und in sich und anderen Dinge wachsen zu lassen, von denen man vorher nicht einmal geträumt hatte.

 

Der Blick des Mädchens am Zaun ließ mich nicht los. Da war diese tiefe, einsame Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem in ihrem Ausdruck gewesen, die ich wiedererkannte. Nach etwas, für das man in diesem Alter keinen Namen hat, nur eine Ahnung, dass es das geben müsste.

Das Wasserbecken, dem ihre Aufmerksamkeit gegolten hatte, wirkte vernachlässigt, umgeben vom alten Laub des Vorjahrs, das manchmal morgens auf das Eis an den Rändern geweht war, um beim Tauen im Wasser zu versinken und dort vor sich hin zu modern. Die Pflanzen am Rand ähnelten längst nicht mehr ihren grünen Vorbildern auf den Fensterläden. Nur dürre braune Stängel waren von ihnen geblieben, die kaum etwas von dem Leben verrieten, das in ihren Wurzeln auf die Wiederkehr von Licht und Wärme lauerte. Diese Wiederkehr war nun endlich im Gange und ließ mich mit freudiger Ungeduld Schere und Harke in die Hand nehmen. Dass das Laub im Herbst nicht aufgekehrt worden war und die Stängel stehenbleiben durften, war nicht Trägheit gewesen, sondern Rücksicht auf die vielen kleinen Wesen, die darin überwinterten, sei es als Ei, als Larve oder ausgewachsen. Doch nun war der Zitronenfalter nicht der Einzige, der erwacht war, und unter dem Laub kämpften sich längst neue Triebe hervor, die Luft verdient hatten.

Ich kehrte und schnitt, entdeckte keimende Schätze, befreite halb verdeckte Skulpturen vom Schlamm der letzten Monate und hatte dabei unablässig das Gefühl, von nebenan aus beobachtet zu werden, obwohl niemand mehr zu sehen war.

 

Wochen später war ich mit einer Zeichnung beschäftigt, die mir als Vorlage für einen Buchdeckel dienen sollte. Es war zum ersten Mal warm genug, um entspannt draußen zu sitzen. Ich hatte mir einen Gartenstuhl in einen Sonnenfleck gestellt, nahe an einem Beet voller gelber und weißer Narzissen. Meine Schwäche für diese Blüten sorgt dafür, dass ich immer wieder neue Sorten in die Erde lege, wo gerade Platz ist, getrieben von dem Gefühl, dass jede davon ein wichtiges Puzzleteil ist, das in meinem Leben noch fehlt. Es gibt so unendlich viele verschiedene Narzissen, von fingerlangen, zierlichen bis hin zu kniehohen stattlichen Trompeten, welche die Wiederkehr des Lichts so laut zu verkünden scheinen, dass ich es zu hören glaube. Die Zeitrechnung des Menschen ist ihnen völlig gleich. Frühling ist, wenn sie es beschließen. Ich fühle mich diesen Wesen nahe verwandt, jedes Jahr wieder.

Die aufbrandende Schönheit der Narzissen machte es mir schwer, mich auf mein Handwerk zu konzentrieren, und nur darum nahm ich nach einer Weile die Gegenwart hinter mir wahr. Es war nicht einmal eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel sah. Mich beschlich nur das deutliche Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Ich wandte mich um, halb erschrocken, und ebenso erschrocken blickte das Mädchen, das nicht damit gerechnet hatte, dass ich mich so plötzlich umwenden würde. Sie ließ den Zaun los, um den sie diesmal ihre Hände gelegt hatte, und trat einen hastigen Schritt zurück.

«Warte doch!», sagte ich unwillkürlich leise, wie um ein Reh nicht zu erschrecken.

«Entschuldigung, ich wollte nicht …», begann sie gleichzeitig.

«Was wolltest du nicht?», fragte ich interessiert. Es ist ja oft leichter zu wissen, was man nicht will, als sich darüber im Klaren zu sein, was man will. Ich fand es eine gute Art, eine Bekanntschaft zu beginnen. Aber so hatte sie es nicht gemeint.

«Es ist unhöflich, Nachbarn zu beobachten», sagte sie. «Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.»

«Ich finde es nicht unhöflich, die Welt um sich herum genau zu betrachten. Vor allem im Frühling», erklärte ich.

«Die Narzissen sind so wunderschön!», sagte sie fast verzweifelt, und ich fand es schade, dass es immer noch wie eine Entschuldigung klang.

«Möchtest du nicht rüberkommen? Von hier kannst du sie besser sehen», bot ich an.

Das brachte sie noch mehr aus der Fassung. «Ich … wirklich?»

«Ja, gern, oder musst du erst deine Eltern fragen?» Dafür erschien sie mir zu alt, aber ich konnte sie hinter dem Gebüsch immer noch nicht richtig sehen. Sie beherrschte die Kunst, in der ich aus der Not heraus auch einmal meisterhaft gewesen war und die ich inzwischen fast vergessen hatte: sich praktisch unsichtbar machen zu können.

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. «Nein. Mein Vater ist sowieso nicht da.»

«Möchtest du über den Zaun klettern, oder soll ich dir lieber vorn das Tor öffnen?»

Sie trat wieder einen Schritt vor und dabei versehentlich aus dem Schatten eines Thujabuschs heraus. Verblüffung schrieb sich in Großbuchstaben auf ihr schmales Gesicht. Ich ahnte, dass man ihr nicht oft eine Entscheidung überließ. Und dass sie niemals gewagt hatte, einen Zaun einfach zu überklettern.

Das gehörte sich schließlich nicht.

«Es ist doch mein Zaun», beruhigte ich sie. «Ich finde das völlig in Ordnung! Es würde schneller gehen. Und es macht mehr Spaß.»

Wobei ich natürlich noch wusste, dass man sich in ihrem Alter nicht mehr unbedingt dazu bekennt, Spaß haben zu wollen. Das lernt man häufig erst später wieder. Wäre ich Wille nicht begegnet, wäre ich wahrscheinlich immer noch nicht so weit. Dank ihr hatte ich in dieser Hinsicht sehr wenig Zeit verloren.

«Das Schmiedeeisen ist stabil», erklärte ich weiter. «Wenn du einen Fuß in diesen Kringel setzt und da oben in den anderen greifst und dich hochziehst, kannst du ganz leicht ein Bein herüberschwingen, dann ist es schon fast geschafft.» Der Zaun hatte oben Kugeln, keine gefährlichen Spitzen. Es konnte nichts passieren.

«Haben Sie das auch schon mal gemacht?», fragte sie.

«Erwischt! Ja, als bei euch drüben eine Zeitlang niemand gewohnt hat und ich ungefähr so alt war wie du, da habe ich das ein paarmal getan. Damals wurde das alte Haus dort abgerissen. Ich habe Pflanzen gerettet und einige Steine.»

«Geklaut, meinen Sie?» Sie guckte entsetzt.

«Vielleicht. Aber die wären sonst in der Baggerschaufel zermalmt worden, und stattdessen blühen sie hier immer noch. Wenn du magst, kannst du sie wiederhaben. Übrigens, du kannst ruhig du zu mir sagen. Ich bin Toja. Und wie heißt du?»

«Vica. Das ist eine Abkürzung von Victoria.»

«Oh.» Nun war ich meinerseits aus der Fassung gebracht. «Toja auch.»

Erst erinnerte sie mich nachdrücklich an mein jüngeres Selbst, und nun trugen wir auch noch denselben Namen. Wir starrten uns an, der Altersunterschied aufgehoben durch eine gemeinsame Fassungslosigkeit.

«Ich mag den Namen nicht», sagte Vica schließlich trotzig. «Ich war noch nie Siegerin. Im Sport werde ich oft als Letzte gewählt. Sie lachen mich aus. Und die Lehrerin sagt es auch. ‹So wird nie eine Victoria aus dir›.»

So wie es aus ihr herausplatzte, war eindeutig, wie tief dieser Schmerz ging und wie lange er bereits gärte. Alter Ärger stieg in mir auf. So alt, dass er schon graue Haare hätte haben müssen und zahnlos sein, aber er fühlte sich so frisch an wie damals.

«Da gibt sie Blödsinn von sich, deine Lehrerin. Du bist schon eine Victoria!», sagte ich. «Das ist unwiderlegbar. Magst du nun rüberkommen? Pass nur auf die Rosen auf, dass du dich nicht stichst.»

Sie gab sich einen sichtlichen Ruck, umfasste die Stangen erneut und setzte einen Fuß dahin, wo ich es ihr geraten hatte. Ihre langen Beine machten es ihr leicht. Sie war schneller über das Hindernis als ihr Mut und stand etwas erschrocken da. Überrascht betrachtete sie ihre Schuhe, die zwischen blühendem Löwenzahn verschwanden, und blickte zurück auf das andere Grundstück, wo ein samtiger grüner Rasen gnadenlos kurzgeschoren und makellos die wenigen kahlen, schnurgeraden Beete umfloss. Der Vergleich schien zu meinen Gunsten auszufallen, denn sie lächelte plötzlich, was sie nochmals zwei Jahre jünger erscheinen ließ.

«Es war der bunte Fisch!», sagte sie. «Er sieht so fröhlich aus. Ich muss immerzu hinsehen. Ich glaube, mein Vater würde einen Anfall bekommen, wenn jemand sowas in seinen Garten stellen oder den Rasen nicht mähen würde.»

«So einen Anfall würde ich bekommen, wenn jemand unseren Löwenzahn abmähen würde», stellte ich fest. «Dann gäbe es ja keine Pusteblumen. Und die Wildbienen brauchen die Blüten. Um die Jahreszeit gibt es noch nicht genug anderes.»

«Mein Vater findet, der Gärtner ist deshalb so teuer, weil der Löwenzahn von dir rüberwächst», erklärte sie, schien das aber nicht bedenklich zu finden. «Was ist das für ein Fisch? Den gibt es nicht in echt, oder?» Unwiderstehlich davon angezogen machte sie sich zum Wasserbecken auf, an dessen Rand das verrückte Wesen, das sie so faszinierte, auf seinem geschickt versteckten Sockel thronte und in zeitloser Ruhe sein Spiegelbild betrachtete.

Ich kannte meinen Nachbarn nicht, der praktisch nie zu sehen war. Nicht einmal, wann er eingezogen war, wusste ich genauer, so wenig Leben war da drüben gewesen. Er würde womöglich nicht begeistert sein, wenn ich seine Tochter unabsichtlich indoktrinierte und auf die Seite der gefährlichen Löwenzahnarmeen zog. Mit etwas Glück blieb er noch fort, bis sie in seinen Einflussbereich zurückgekehrt war, und würde nichts davon merken.

 

Es war kein Wunder, dass diese Fischskulptur Vica so unwiderstehlich anzog, dass sie sich selbst überwunden hatte. Es war so früh im Jahr, dass die Sehnsucht nach Farben in uns allen noch ein Hunger war. In ihrem Fall kam die Verrücktheit des Wesens sicher hinzu. Es waren nicht nur die ausgelassen kombinierten leuchtenden Farben, es waren auch die ebenso wilden Muster. Wenn der englische Rasen und die akkuraten Beete Hinweise auf die Atmosphäre ihres Zuhauses waren, kam dieser unkonventionelle Anblick einer Sensation gleich.

«Das ist ein Mandarinfisch», erklärte ich. «Es gibt ihn tatsächlich, auch wenn er natürlich in Wahrheit viel kleiner ist. Er lebt im Meer. Ich habe damals auch kaum glauben können, dass er existiert und so aussieht. Aber ich bin ihm im Aquarium begegnet.»

«Du hast den wirklich gesehen? In lebendig?», fragte sie.

«Ja, Wille hat laut gelacht, als sie mein Gesicht gesehen hat.»

«Und wer ist Wille?»

«Das ist eine lange Geschichte», meinte ich.

«Ja klar», sagte sie schnell, fast schon entschuldigend, «und du musst sicher arbeiten.» Das hörte sie wohl oft so von ihrem Vater.

Der Hunger nach Geschichten ist auch einer, der ewig in uns bleibt, wie eben jener nach Frühling, nach Aufatmen, nach Farben. Es ist der Hunger nach Leben. Weil das eigene nicht genügt, weil man nicht nur vielfältige Blumen auf einer Wiese braucht, sondern auch eine Ahnung von anderen Daseinsformen. Weil Wissensdurst Freiheit ist und die Begegnung mit Wundern, die stille und vielfältige Musik, die uns glücklich erschauern lässt.

«Darf ich ein bisschen hier sitzen? Ich bin auch ganz leise», fragte Vica und ließ sich hoffnungsvoll auf einem der Findlinge nieder, die um das Becken verteilt waren. Dort wirkte sie wie die kleine Meerjungfrau. Zwischen ihren langen blonden Haaren lugten ihre Ohren hervor. Ihre blaugrauen Augen waren so voller Vorsicht, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn sie im nächsten Augenblick einer flüchtigen Einbildung gleich verschwunden gewesen wäre.

«Sehr gerne! Weißt du, bei diesem Wetter bin ich froh über jede Ablenkung. Es ist so schön, wieder ohne Jacke draußen sein zu können», erklärte ich. «Magst du einen Saft? Ich finde, es ist jetzt doch Zeit für eine Geschichte.»

Vica nickte ungläubig. «Heißt das, du erzählst mir von dem Fisch? Und von Wille?»

«Aber nur, wenn du mir ehrlich Bescheid sagst, falls es langweilig wird.»

Vica schüttelte heftig den Kopf und deutet mit dem Daumen nach drüben. «Da war es langweilig.»

Langeweile also. Ein ernster Fall. Ich fragte sie nicht, warum sie nicht mit Freundinnen unterwegs war, shoppen oder im Kino, oder einfach nur abhängen. Ich ahnte es ja. Ich ahnte auch, warum sie nicht mit dem Handy beschäftigt war, das aus ihrer Hosentasche lugte. Die Schwingungen, die sie in sich spürte, fand sie dort nicht wieder. Die Welt darin war zu flach. Dort konnte sie nicht atmen.

Es schien, dass sie mich, den verrückten Mandarinfisch und seine Farben heute brauchte. Wie ich sie vielleicht auch. Ich vermisste die Gespräche mit Marc. Und manchmal überkam mich eine diffuse Furcht, das Mädchen in mir ohne Willes Anwesenheit irgendwann doch noch zu verlieren.

Also holte ich uns Saft. Dann zog ich meinen Stuhl heran und die Zeit von damals aus meinem Gedächtnis, wo auch über zwei Jahrzehnte hinweg kein Zipfel davon auch nur einen Bruchteil seiner Farbe verloren hatte.

2

Ich war vierzehn, und ein Schulausflug hatte uns ins Aquarium geführt. Doch ich hatte mich weggeduckt und die anderen mitsamt der durchdringenden Stimme unserer Biologielehrerin in Richtung der eigentlich scheuen, aber angeblich gefährlichen Piranhas vorausziehen lassen, auf die alle so gespannt waren. Inmitten der lärmenden Menschenhorde, die mich in der Klasse täglich umgab, fühlte ich mich oft, als würde mich eine Glasscheibe von dem Trubel trennen, ähnlich wie die Fische in den Becken, und die künstliche, fremde Welt dahinter hätte nichts mit mir zu tun. Jetzt spielte ich mit dem Gedanken, in den dunklen Gängen einfach verlorenzugehen. Ein ungeheuer verwegenes Unterfangen, so erschien es mir. Meine Mutter, stets getrieben von ihrer Angst davor, von anderen kritisiert zu werden, wäre von solch aufmüpfigem Benehmen verstört gewesen. Doch ich ging davon aus, dass es nicht auffallen würde. Mir trauten die Lehrer so etwas schlichtweg nicht zu. Zu brav war ich, zu perfekt angepasst. Noch nie hatte ich Unerwartetes getan. Ich war pflegeleicht und dennoch ein andauerndes Ärgernis im Schulbetrieb, weil ich zu still war.

Das Aquarium schien mir ein wunderbar verwunschener Ort. Es war ein riesiges altes Gebäude, das den Krieg mehr oder weniger versehrt überstanden hatte und vor dessen Portal ein lebensgroßer Dinosaurier lauerte, der aus unerfindlichen Gründen nur ausgerechnet auf mich nicht einschüchternd wirkte. Im Gegenteil, mir war, als hätte er mir wie einer Verbündeten einen verständnisvollen, wissenden Blick zugeworfen.

Das Innere wurde von langen, dunklen Fluren beherrscht, in denen zwar die Stimmen der anderen Besucher geheimnisvoll widerhallten und sich zu einem seltsam melodischen, an- und abschwellenden Geraune zusammenfügten, man die Menschen selbst aber nicht sehen konnte. Höchstens als Silhouetten, die sich wie Geister näherten und bald wieder von der freundlichen Düsternis verschluckt wurden. Außer den Aquarien leuchteten nur ovale, kirchenfensterähnlich bunte Glasscheiben, welche Fische, exotische Enten, Schildkröten und andere Wesen zeigten, als seien sie etwas Heiliges.

Mir erschien das Ganze wie eine Zuflucht. Für einen Moment stellte ich mir vor, für immer hier herumzuwandern, im Schutze der Dunkelheit, die außer von dem fernen, hallenden Stimmengemurmel von einem modrig tropischen Dschungelgeruch erfüllt war, der vom wirklichen Leben erzählte. Einem Leben voller Farben und Düfte und fremdartiger Gestalten, fern von Kreidestaub und täglichen vorwurfsvollen Blicken ob meiner Schweigsamkeit. Die Fische waren auch still, sie werteten nicht.

Doch dann blieb ich stehen, aus der Fassung gebracht. Selbst mir entfuhr ein Ausruf. «Das gibt’s doch nicht! Der kann unmöglich echt sein!» Ein fingerlanger, gedrungener Fisch war in einem der riesigen Becken, die vom Boden bis zur Decke reichten, hinter einem Felsen hervorgeschwommen und betrachtete mich nachdenklich. Er war vor allem in seiner Färbung so bizarr, dass ich sicher war, man hatte eine Attrappe ins Becken gelassen, um die Besucher zu täuschen. Es musste sich um eine Art Aprilscherz aus Plastik handeln, vielleicht batteriegetrieben. Aber mich würden sie nicht hereinlegen! Ich bückte mich, um die Schrauben zu suchen, und sah dem vermeintlichen Ding in die runden Augen mit flammend rotem Rand, die nach oben unter kleinen Kuppeln hervorstanden. Dazu besaß er einen winzigen, albernen Kussmund. Neongrün wechselte sich in seinem Gesicht mit knallorangenen Punkten auf schillernd blauem Grund ab, über die Flossen wollte ich gar nicht erst nachdenken und sein Körper war mit einem wilden Schlangenmuster aus leuchtend blauen und orangenen Linien bedeckt, zu allem Überfluss stellenweise mit einem Schuss Türkis versehen. Wer auch immer dieses Geschöpf gestaltet hatte, musste von dem Einfall im Drogenrausch überkommen worden sein, anders konnte ich mir das nicht vorstellen. Was die Kunstlehrerin wohl dazu gesagt hätte, wenn so etwas unter meinen Händen entstanden wäre.

Ein Lachen erklang neben mir und brach wieder ab. «Oh doch, der ist so lebendig wie wir beide!», versicherte eine warme Altstimme. «Meiner Meinung nach ist er der Beweis, dass die Evolution Humor hat und eine endlose Freude an der Schöpfung besitzt, ohne nur an Zweckdienlichkeit zu denken. Er ist einer meiner größten Favoriten auf diesem Planeten.»

Ich richtete mich auf und stellte fest, dass die Stimme, die wie dunkle Schokolade mit einer leichten Salznote klang, zu einer Frau in einem Elektrorollstuhl gehörte. Sie füllte ihn ganz aus. Über ihre Schulter hing ein dicker Zopf, in dem sich silberne, weiße und rotbraune Strähnen mischten. Sie betrachtete das verrückte Wesen mit einem Lächeln im Mundwinkel und steuerte ihren Stuhl leicht hin und her, um das Geschöpf besser sehen zu können, als es ein Büschel Algen untersuchte.

«Ich finde immer noch, er sieht aus wie eine Figur aus Peter Pan», mischte sich eine weitere Stimme in das Gespräch. «Im Nimmerland.» Aus dem Dunkel tauchte ein drahtiger Mann auf, kaum größer als ich. Er trug eine dünne, grün umrahmte Brille und ein erstaunlich buntes Hemd. Seine kurzen stahlgrauen Haare schienen keiner bestimmten Richtung zu folgen. Als er sich ebenfalls bückte, um den Fisch genauer zu betrachten, sah ich, dass er drei Wirbel und eine beginnende Glatze hatte. Unter seinem rechten Ohr befand sich ein großes, fast schmetterlingsförmiges Feuermal. Er schien Schwierigkeiten zu haben, stillzustehen, alles an ihm wirkte wie in Bewegung, bis hin zu den Augenbrauen.

«Peter Pan hat einen furchtbaren Irrtum begangen!», sagte die Frau entschieden und sah mich an. «Das ist übrigens Bär, und ich bin Wille.»

Es kam nicht oft vor, dass ich freiwillig mit Fremden sprach. Meist fand ich entweder keine Worte oder keinen Grund. Doch in diesem Augenblick erfasste mich der brennende Wunsch zu erfahren, was das für ein Fisch war und warum dieser zarte Mann ausgerechnet Bär hieß. Und dann war da noch das mit Peter Pan.

«Warum hat sich Peter Pan geirrt?», erkundigte ich mich fasziniert. Als ich in der Grundschule das Buch geschenkt bekommen hatte, war ich neidisch auf das Mädchen gewesen, das mit diesem Jungen einfach aus dem Fenster fliegen und alle Ärgernisse hinter sich lassen konnte. Davon abgesehen hatte auch ich damals einige Schwierigkeiten mit dieser Geschichte gehabt, gegen die meine Vernunft rebellierte. Außerdem erklärte mir unser Nachbar, ein passionierter Physiker, ganz genau die Schwerkraft, nachdem mein Papierflieger in seiner Kaffeetasse gelandet war. Danach hatte ich widerstrebend und dauerhaft den Plan verworfen, auch ohne die Begleitung eines egozentrischen Jungen aus dem Fenster zu fliehen.

«Peter Pan hat sich geweigert, erwachsen zu werden, weil er unbedingt ein Kind bleiben wollte», erklärte die Frau namens Wille. «Dabei kann man problemlos beides haben! Kindlichkeit und Reife. Warum auf eines davon verzichten? Stell dir vor, was man da alles versäumt!»

Zunächst klang das einleuchtend. Und verlockend, denn ich war gerade weder das eine noch das andere und fühlte mich in der Zwischenzone unendlich verloren. Andererseits legten meine Mutter und Großmutter viel Wert auf Bescheidenheit. «Alles» zu wollen, war etwas höchst Verwerfliches.

«Ich weiß, dass es üblich ist», ergänzte sie. «Aber ich finde es fahrlässig. Und vor allem traurig.»

Ich verschob es auf später, darüber nachzudenken. «Wie heißt denn der Fisch?», erkundigte ich mich.

«Mandarinfisch. Er ist ein ganz spezielles Kerlchen. Er hat keine Schuppen. Er schützt sich mit Schleim – wie manche Menschen.»

Ich musste an jenen Kollegen meiner Mutter denken, den sie gern als «schleimigen Aal» bezeichnete.

«Aber er ist ruhig und friedliebend», setzte Wille hinzu.

Wie ich also, dachte ich. Nur mit solchen Farben konnte ich nicht aufwarten. Ob es dann die Lehrer und meine Mutter weniger gestört hätte, dass ich ruhig war? Vielleicht wäre ich dann früher nicht zum «Zielkind» einer pädagogischen Semesterarbeit geworden. Das Ziel war gewesen, mich kontaktfreudiger zu machen, aber nachdem ich den Begriff mitgehört hatte, verfolgte er mich lange. Warum sie auf mich zielen wollten, war mir klar: Es störte überall, dass ich so leise war. Aber womit sie auf mich zielen würden und warum der Lärm, den andere Leute verursachten, weniger störte, das erfuhr ich damals nicht, egal, wie angestrengt ich lauschte.

«Der Fisch lebt in Australien, Japan und Sri Lanka», sagte Bär, und in seiner Stimme erkannte ich etwas, das uns verband, so verschieden wir sein mochten: Sehnsucht. Ich sehnte mich danach, anders zu sein, damit man mich in Ruhe ließ. Er sehnte sich vielleicht danach, woanders zu sein, möglicherweise aus demselben Grund.

«Er ist also wirklich echt, der Mandarinfisch?» Ich konnte es noch immer nicht glauben.

«Da!», sagte Bär und wies auf ein Schild, das ich in der Dunkelheit nicht gesehen hatte. Ich entzifferte den lateinischen Namen und auch sonst einige Fakten über ihn und seine Gefährten im Becken. Es gab keinen Zweifel. Anders als Peter Pan existierte dieses irre Geschöpf tatsächlich.

«Da es an dir kein Schild gibt», meinte Wille, «wie heißt denn du?»

Wie peinlich! Ich hatte mich nicht vorgestellt. Ganz schlechtes Benehmen. «Entschuldigung! Toja», brachte ich heraus.

«Kein Grund, sich zu entschuldigen», fand Wille. «Ist doch ein schöner Name. Warum guckst du so bedröppelt? Ich finde ja, in Gegenwart eines Mandarinfisches ist das praktisch unmöglich.»

Das hatte mich noch niemand gefragt. «Guck doch nicht immer so ernst», das hörte ich öfter, aber nach dem Grund hatte sich nie jemand erkundigt. Einmal hatte ich trotzdem geantwortet, mit der reinen Wahrheit: «Das ist bloß mein Gesicht.» Dies hatte mir entsetzte Blicke eingetragen und einen Tag Stubenarrest wegen Frechheit. Zum Glück wusste meine Großmutter damals nicht, dass es für mich nichts Schöneres gab als einen ruhigen Tag für mich allein, an dem niemand etwas von mir wollte.

Wille aber klang nicht tadelnd, stattdessen ehrlich interessiert. Ob es daran lag oder am Schutz des Halbdunkels, oder weil der Anblick des Fisches meine Vorstellung von der Welt aufgebrochen hatte, mir entfuhr ein «Ach, wegen allem!» und zu meinem Ärger traten mir Tränen in die Augen. Der Mandarinfisch warf mir einen Blick zu und verschwand hastig und entschieden wieder hinter dem Felsen. Wille betrachtete mich nachdenklich. Mit Stille hatte sie anscheinend kein Problem. Und mir war es ausnahmsweise nicht unangenehm, dass mich jemand musterte.

«Ich möchte dir was zeigen, wenn du magst», sagte sie schließlich.

Sie wartete mein Nicken kaum ab, sondern wendete ihren Rollstuhl, der leise aufheulte, und sauste in einem Tempo den Gang entlang, dem ich kaum folgen konnte. Bär schien damit keine Schwierigkeiten zu haben, er war es wohl gewohnt. Kurz darauf bremste Wille abrupt. Ein bläuliches, unwirkliches Licht fiel auf uns.

«Schau dir das an!», sagte sie und wies mit dem Kinn nach oben. Ihre Hände konnte sie offenbar nicht heben. Aus ihrer sitzenden Position heraus musste sie den Kopf etwas in den Nacken legen, um das zu sehen, was sich bequem auf meiner Augenhöhe befand: eine Reihe großer, kreisrunder Becken, die in die Wand eingelassen waren und wie Bullaugen wirkten, Fenster in eine andere Welt.

Dahinter fand ein langsamer, lautloser Tanz von Märchenwesen statt, die nicht einmal Peter Pan sich hätte ausdenken können. Sie waren durchsichtig, elfengleich vor einem blauen Hintergrund, schimmerten in Perlmutt mit zarten Rosa-, Gelb- und Grüntönen, die wie ein Geheimnis in ihrem Inneren zu erahnen waren. Es gab größere und kleinere. Sie stießen weich aneinander und entfernten sich wieder, sie waren einzelne Wesen und doch ein Ganzes, das sich gemächlich hinter dem Glas drehte. Sie pulsierten, rhythmisch, elegant, gelassen, und während ich sie anstarrte, spürte ich, dass sich mein Puls ihnen anglich und mich zunehmend eine tiefe Ruhe erfüllte. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Bär das Treiben ebenso hypnotisiert betrachtete wie ich, und dass er tatsächlich zum ersten Mal während unserer Begegnung still stand.

Es waren Quallen. Ich war einmal am Meer gewesen, doch die einzige Qualle, die ich dort gesehen hatte, hatte tot und sandpaniert neben Zigarettenkippen am Strand gelegen. Auch kannte ich Bilder von ihnen, und Naturfilme im Fernsehen. Doch nichts davon hatte mich auf diesen Anblick vorbereitet, darauf, diese Wesen in ihrer ganzen dreidimensionalen Wundersamkeit zu erleben. Für einen Augenblick war mir, als würde ich selbst jegliches Gewicht verlieren, jede Schwere aus den Gedanken und mit ihr die gesamte Beklommenheit, die mein Dasein durchzog. Ich schwebte unerkannt in ihrer Menge, war eins mit ihnen, durchpulst von derselben transparenten Leichtigkeit, beschenkt von einem farbigen Leuchten im Inneren und dem Funkeln der Wasseroberfläche weit über mir. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Alles um mich herum war aus meiner Wahrnehmung verschwunden, bis mich ein Kind von der Seite an- und damit zurück auf den Boden schubste. «Ich will auch mal gucken!»

«Gehen wir zum nächsten», sagte Wille.

So schritten wir die ganze Reihe ab. In jedem der Bullaugen entdeckte ich eine andere Art dieser Feenwesen, eine so bezaubernd wie die andere. Die Becken waren darum rund, weil diese zarten Geschöpfe eine ständige Strömung benötigten, so erklärte Wille. Kanten hätten sie ausgebremst, so aber wurden sie getragen. Getragen fühlte auch ich mich, während ich ihnen zusah.

Ich hatte damals keine Worte dafür, und doch eine Idee davon, dass Wille in ihrem Rollstuhl, wenn sie die Quallen beobachtete, sich ausnahmsweise ebenso leicht fühlte wie diese. Und ich spürte, dass sie mir dieselbe Möglichkeit hatte schenken wollen, einfach weil sie ahnte, dass ich es gebrauchen konnte.

«Mensch, Toja! Da bist du! Was soll das? Im Aquarium bin ich heute das letzte Mal mit einer Klasse gewesen, unmöglich, hier alle zusammenzuhalten!» Frau Hofmann tauchte aus dem Gewirr schemenhafter Gestalten im Hintergrund auf und zog mich kategorisch am Ärmel. Ich blieb stehen.

«Danke!», sagte ich zu Wille.

«Ich war es nicht», sagte sie, «es sind die.» Sie zeigte wieder mit dem Kinn auf die Quallen. «Auf Wiedersehen, Toja.»

Widerwillig folgte ich Frau Hofmann, doch kurze Zeit später machte es «psst», und als ich mich umwandte, stand Bär hinter mir. Er steckte mir einen Zettel in die Hand.

«Sie sagt, komm uns doch gern mal besuchen, wenn du magst. Jederzeit», flüsterte er, dann war er wieder in der Menge verschwunden.

Wilhelmine Sande stand auf dem zerknitterten Papier, und eine Adresse. Den Straßennamen kannte ich, es gab eine S-Bahn-Station dort, die auf meinem Schulweg lag, auch wenn es ein anderer Stadtteil war.

Ich folgte der von Frau Hofmann nun strikt bewachten Horde durch den Rest des Flurgewirrs, vorbei an Rochen, die auf gewaltigen Schwingen anmutig durch künstliche Riffe segelten, an verschlafenen Leguanen in Terrarien, an dem berühmten Zitteraal, der Elektrizität produzieren konnte. Es gab einen Frosch, der die Zehen spreizen und mit Hilfe der Häute dazwischen von Baum zu Baum hätte gleiten können, wenn er hier nicht gefangen gewesen wäre. Viel lieber wäre ich all diesen Wundern mit Zeit und mit Wille und Bär zusammen begegnet. Riesige Zackenbarsche und gefleckte Kugelfische surften in der Strömung und der Picassofisch sah so psychedelisch aus, dass er bestimmt ebenfalls zu Willes Favoriten gehörte – das musste ich sie unbedingt bei nächster Gelegenheit fragen.

Da war ich mir bereits sicher, dass ich sie besuchen würde. Noch nie hatte ich etwas Vergleichbares getan, doch sie war ja nicht mehr fremd – oder?

Ein Problem dabei war meine Mutter. Wenn ich sie nicht um Erlaubnis bat, würde es Ärger geben, wenn ich sie aber fragte, würde sie ablehnen, weil sie nichts über Wille wusste. Herrn Bär oder wie auch immer er wirklich hieß, hätte sie bei seinem bloßen Anblick mit Sicherheit als «zwielichtige Gestalt» bezeichnet.

 

Nach einer tagelangen Debatte mit mir selbst – ich hatte große Angst, Wille zu stören oder aufdringlich zu erscheinen – fand ich einen Kompromiss. Ich erzählte meiner Mutter beim Gemüseschnippeln beiläufig, dass ich eine alte Dame kennengelernt hatte, die im Rollstuhl saß und etwas Hilfe gebrauchen konnte. Das klang unverfänglich, und meine Mutter drängte ja oft genug, dass ich mehr aus mir herausgehen und Kontakte knüpfen solle. Wille war mir zwar in keiner Weise hilfsbedürftig erschienen, und wie eine alte Dame wirkte sie noch weniger, doch ich fand, die Beschreibung war nahe genug an der Wahrheit, um keine Lüge zu sein.

«Wo wohnt sie denn?», erkundigte sich meine Mutter, und als ich den Stadtteil nannte, war sie freudig überrascht und stimmte zu. «Aber geh ihr nicht auf die Nerven!», mahnte sie. «Leg mir einen Zettel mit der Adresse hin, damit ich weiß, wo du bist, und bleib nicht zu lange. Bestimmt braucht sie viel Ruhe!»

Ich auch, dachte ich, aber das hätte sie nicht verstanden. Ruhe war etwas, das nur alten oder kranken Menschen zustand, bei jungen schien ein solches Bedürfnis höchst unmoralisch zu sein.

 

Meine Mutter arbeitete oft lange und würde nicht überprüfen können, bis wann ich fortblieb. Handys und ihre Ortung gab es noch nicht. Die Frage aber war, ob ich mich überhaupt trauen würde, an der Tür der genannten Adresse zu klingeln. Als ich mich eines Tages nach der Schule doch endlich auf den Weg gemacht hatte, fand ich mich unschlüssig auf der Straße wieder. Lindenduft umwehte mich tröstlich. Bis heute muss ich an Wille denken, wenn die Linden blühen. Das Grundstück war durch einen hohen, überwucherten Holzzaun abgeschirmt, über den dichter Efeu hing. Ich drückte die Stirn daran und lugte durch einen Spalt. Das Haus hinter der gewaltigen Linde war zweistöckig, unauffällig und etwas bejahrt. Es wirkte bescheiden freundlich. An den Wänden wuchs Wein über Spalierobst, Trauben reiften neben Birnen. Auf dem First des moosbedeckten, braun beschindelten Daches thronte etwas Buntes, etwas größer als ein Schwan. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte vergeblich, es gegen die Sonne zu erkennen, bis mir eine Wolke zu Hilfe kam.

Es war ein Chamäleon. Anders als der Mandarinfisch war es diesmal nicht echt, aber dafür ebenso bunt und verrückt. Es saß auf dem First, neben dem Schornstein, den Schwanz um eben diesen geschlungen, und sah spöttisch auf mich herunter.

Da wusste ich, dass ich hier richtig war und dass ich unbedingt in den Garten musste, um herauszufinden, was es noch zu sehen gab.

3

Das Chamäleon ist immer noch da», sagte Vica und blickte zum First auf. «Darüber habe ich mich schon lange gewundert. Es ist nicht gerade wie ein normaler Wetterhahn. Ist das jetzt dein Haus? Lebt Wille nicht mehr hier?»

Ich sah ebenfalls hinauf. Das Chamäleon war über die Jahrzehnte ein wenig ausgeblichen, und einmal hatte ein Sturm es vom Dach geweht. Wir hatten sein rechtes Vorderbein geflickt und es wieder befestigt. Solange es dort oben aufpasste, konnte es keine völlig grauen Tage geben. «Nein. Wille ist schon lange gestorben. Und es ist auch nicht mein Haus. Ich wohne nur hier.»

«Und Bär?»

«Bär wohnt manchmal auch hier.»

Willes Name stand jedoch noch immer neben der Klingel, auf die ich damals schließlich gedrückt hatte. Es schien mir nie richtig, ihn zu entfernen, und außerdem kam gelegentlich noch Post für sie. Mein Name klebte darunter. Bärs auch. Sein richtiger: Friedebald Schulz. Er war nie ganz über die Ironie hinweggekommen, dass man ihn so getauft hatte und gerade er doch keinen Frieden hatte finden können, bis das Leben ihn vor Willes Tür gespült hatte. Wie mich. Ihm hatte das auch gleich in der ersten Minute einen neuen Namen verliehen, der ihn befreite. In meinen hingegen, der in voller Länge Victoria lautete, war ich dank Wille allmählich hineingewachsen.

Vica sah auf die Uhr. «Ich glaube, ich muss wieder rüber», sagte sie widerwillig. «Mein Vater kommt bald nach Hause.»

«Was macht er denn?»

«Er ist Augenchirurg.»

«Kommt er immer so spät?»

Sie nickte. «Meistens.» Ihr Magen knurrte vernehmlich.

«Hast du überhaupt etwas gegessen?»

Sie fasste sich an den Bauch, wie um das Knurren wieder einzufangen. «Doch, schon. Ein Brot. Die Mikrowelle ist kaputt. Papa bringt eine neue mit, wenn er Zeit hat.» Sie warf mir einen Blick zu. «Jetzt willst du wissen, wo meine Mutter ist.»

«Nein. Ja», gab ich zu. «Eigentlich nur, ob du viel allein bist.»

«Das ist okay. Ich bin gern allein. An meine Mutter kann ich mich nicht erinnern. Sie lebt schon ewig in Neuseeland. Mit einem Kollegen. Sie sind Zahnärzte.» Vica sah über den Zaun zu ihrem Haus hinüber, als wäre es ihr fremd. «Ich bin noch nicht lange bei Papa.»

«Ah. Deshalb haben wir uns bis jetzt nicht gesehen.»

«Ja. Ich hab bei Oma gewohnt, bei Papas Mutter, aber sie ist gestorben.»

«Das tut mir sehr leid», sagte ich erschrocken.

Sie nickte nur wieder und sah zu Boden.

«Was machst du dir denn zu essen, wenn die Mikrowelle nicht kaputt ist?», erkundigte ich mich schließlich.

«Nudeln und so eben. Irgendwas aus dem Gefrierfach.»

«Wir könnten mal zusammen kochen, wenn du Lust hast», schlug ich vor.

Sie betrachtete mich verwirrt und ein wenig nachsichtig. «Erzählst du mir dann weiter von dir und Wille?»

«Wenn du möchtest.»

«Ja. Jetzt muss ich aber. Tschüss», sagte sie zögernd und stieg dann hastig über den Zaun, diesmal schon recht sicher. Ich ahnte, wie ihr zumute war. Zurück in ihrer gewohnten Welt erschien ihr der Ausflug von eben schon wieder unwirklich und irgendwie nicht richtig. So wie mir damals nach dem ersten Besuch bei Wille.

 

Ich holte mir eine Rosenschere und kappte ein paar verwilderte Triebe, damit Vica das nächste Mal ohne die Gefahr über den Zaun klettern konnte, sich Dornen einzureißen. Dabei entdeckte ich neue Knospen und halboffene Blüten, deren aprikosenähnlicher Duft mich einhüllte. Davon war ich so verträumt, dass ich vor Schreck die Schere fallen ließ, als hinter mir eine Stimme ertönte.

«Sawubona, Toja. Unjani?»

Hallo, Toja, wie geht es dir?, hieß das. Seit Bär zeitweise für einen Kunsthändler in Südafrika tätig war und dann länger dort lebte, benutzte er aufgeschnappte Bruchstücke von Zulu. Wie korrekt, konnte ich nicht beurteilen, aber ich hörte es gern, denn ich wusste, es machte ihn glücklich. Er liebte den weichen Klang und dass seine einst so beängstigende, enge Welt nun so frei und groß geworden war.

Seit Monaten war er nicht hier gewesen, wie so oft. Er kam und ging wie die Zugvögel, aber diesmal hatte ich ihn bereits vermisst.

«Bär!» Ich umarmte und betrachtete ihn, während er die Schere aufhob und mir reichte. «Was für eine schöne Überraschung. Geht es dir so gut, wie du aussiehst?»

«Mindestens. Danke dir wie immer für das treue Wohnunghüten.»

«Wie immer keine Ursache. Da gibt es nicht viel zu hüten.»

Bär bewohnte die obere Etage, wenn er da war. Zimmerpflanzen besaß er nicht, Haustiere auch nicht, und er hatte sich so schlicht eingerichtet, dass selbst das gelegentliche Abstauben nicht der Rede wert war. Gemütlich wirkte es trotzdem da oben und ich wusste, dass er immer wieder einmal heimkehren musste, um sich nicht zu verlieren.