Der geheimnisvolle Blinde - Helmut Ludwig - E-Book

Der geheimnisvolle Blinde E-Book

Helmut Ludwig

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Beschreibung

Der geheimnisvolle Blinde Als Markus versucht, hinter das Geheimnis eines rätselhaften Mundharmonikaspielers zu kommen, wird er in die dunklen Pläne einer Bande verstrickt, die sich auf den Überfall von Lastwagentransporten spezialisiert hat. Seinen Klassenkameraden gegenüber kommt er sich zunächst ganz großartig und überlegen vor. Taschengeldsorgen kennt er keine mehr und überhaupt: Markus fühlt sich wie ein Erwachsener. Doch als er spitzkriegt, das die Bande auch mit Drogen handelt, bekommt Markus Angst und will wieder raus. Aber so leicht geht das nicht … Die Spur führt in den Steinbruch Aus der Dorfkirche von Waldenburg sind die kostbaren Altar- und Abendmahlsgeräte verschwunden. Als die beiden Freunde Gerd und Frank das Rätsel lösen wollen, kommen sie einem Wilddieb auf die Schliche. Noch ahnen die Jungen keinen Zusammenhang, doch dann entdecken sie eine Spur, die zu einem verlassenen Schuppen im Steinbruch und in ein spannendes Abenteuer führt. Notlandung für Flug 4325 Herr Baumann, der erst kürzlich in eine Flugzeugentführung hineingeriet, fliegt wenige Woche danach mit seiner Familie in den Urlaub – für den technisch interessierten Pit der erste Flug, der jedoch mit einer Notlandung endet. Bei aller Angst und Gefahr weiß Pit sich von Gott gehalten, dem er sein junges Leben auch für die Zukunft anvertraut. Der Bombenalarm Eine Bombendrohung in einer Kleinstadt! … Wenn aber alles nur Bluff war? Wenn sich da einer mit den Leuten der neugebauten Kreissparkasse einen üblen Scherz erlaubte? Was bedeutet das Schriftbild? Mit der Hand geschrieben und gestochen scharf! Welcher Erpresser schreibt einen solchen Brief mit der Hand? Schon die Handschrift würde ihn verraten. Also doch eine Spinner – oder ein Kranker? Aber die Schrift war korrekt. Kein Fehler in dem ganzen Brief. Der Gedanke war jedenfalls schrecklich: Irgendwo in diesem Gebäude eine Bombe, die jeden Augenblick hochgehen konnte! Vielleicht waren Fingerabdrücke auf dem Papier … Der Erpresser droht, das neue Bankhochhaus in die Luft zu sprengen. Das Lebenswerk von Bankdirektor Ehmer stehet auf dem Spiel und er muss erkennen, dass er bisher ein falsches Ziel hatte. 4 spannende Abenteuer in einem Band

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Der geheimnisvolle Blinde

4 spannende AbenteuerAbenteuer-Band 1

Helmut Ludwig

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Helmut Ludwig

Cover: Casper Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-079-7

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Helmut Ludwig (* 6. März 1930 in Marburg/Lahn; † 3. Januar 1999 in Niederaula) war ein deutscher protestantischer Geistlicher und Schriftsteller. Ludwig, der auch in der evangelischen Pressearbeit und im Pfarrerverein aktiv war, unternahm zahlreiche Reisen ins europäische Ausland und nach Afrika. Helmut Ludwig veröffentlichte neben theologischen Schriften zahlreiche Erzählungen für Jugendliche und Erwachsene.1

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Ludwig

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

DER GEHEIMNISVOLLE BLINDE

1. Der Blinde mit der Mundharmonika

2. Wie gewonnen, so zerronnen

3. Die Kripo will dicke Nüsse knacken

4. Ein bezahlter Freundschaftsdienst

5. Das Drogen-Dezernat

6. Auf dem Friedhof

7. Eine tolldreiste Nacht

8. Spedition Transport-Union

9. Die Schlinge

10. In der Disco

11. Die Meute plant

12. Kripo-Kleinarbeit und alte Akten

13. Der Einsatz geht schief

14. Katastrophenstimmung

15. Eine schlaflose Nacht

16. Das Spiel ist aus!

17. Wie geht es weiter?

DIE SPUR FÜHRT IN DEN STEINBRUCH

1. Das fängt ja gut an!

2. Ein besinnlicher Abend

3. Gerd und Frank schmieden einen Plan

4. Der Fremde mit der Taschenlampe

5. Aus zwei werden vier

6. Die Motorradspur im Wald

7. Die Rechnung geht nicht auf

8. Die Spannung wächst

9. Der unterirdische Gang

10. In der Höhle ist was los

11. Drei verfolgen drei

12. Zwei plus eins gibt drei

13. Die Verabredung

14. Alarm!

15. Hochspannung!

16. Förster Seifried

17. Einzug der Gladiatoren

NOTLANDUNG FÜR FLUG 4325

1. Absturz in der Antarktis

2. Der Mann mit dem stechenden Blick

3. Im Cockpit geht es rund

4. … bitte, antworten Sie, Ende!

5. Alarmplan »Entführung«

6. Hinhalte-Taktik?

7. Heilloses Gedränge in München

8. Das sicherste Transportmittel fliegt automatisch?

9. Dem Himmel und Malaga entgegen

10. Die Maschine hebt vom Boden ab

11. Zwischenspiel: Enthüllungen über das Rote Kleeblatt

12. Was ist bei Blitzschlag?

13. Rotes Signal: Gefahr!

14. Das Lächeln der Stewardessen ließ nach

15. Notlandung?

16. Es wird ernst in Frankfurt

17. Die Tragfläche schrammt auf

18. An Bord

19. Menschliches Versagen?

20. Doch noch Malaga entgegen

21. Die Zeit verging im Flug

DER BOMBENALARM

1. Tippt Michael richtig?

2. Es fing an mit einem Brief – wir blenden zurück

3. Polizei einschalten oder nicht?

4. Die Sache wird noch ernster

5. Direktor Ehmer denkt scharf nach

6. Ein Nachtgespräch, das große Folgen hat

7. Dackel-Anzeige erscheint. Und dann?

8. Ein spannender Abend

9. Eine quälend lange Nacht

10. Die nächste Runde

11. Inzwischen tut sich was

12. Eine Familienangelegenheit

13. Trotz mancher Bedenken: Michael geht zur Kripo

14. Das Forsthaus am Steinbruch

15. Am Forsthaus tut sich was

16. Vorbereitungen auf den letzten Akt

17. Geldübergabe – und was noch geschah

18. Die Nacht zerreißt und wird taghell

19. Warum?

20. Die Sache mit Michael und dem Jugendleiter

Unsere Empfehlungen

DER GEHEIMNISVOLLE BLINDE

1. Der Blinde mit der Mundharmonika

Markus war noch ein wenig bummeln gegangen. Einfach so. Er hatte Langeweile. Und das Fernsehprogramm dieses Abends war ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Einfallslos, was die sich da manchmal ausdenken und dann über die vielen Millionen Bildschirme flimmern lassen, dachte Markus. Wirklich, manchmal fällt denen aber auch gar nichts ein. Und selbst daraus machen sie noch Sendungen, dachte Markus weiter und trat gegen eine leere Cola-Büchse im Rinnstein, dass sie hochflog und auf der anderen Straßenseite landete.

Markus dachte an die Meute und daran, was sie in diesem Sommer anstellen könnten. Die Zelte blieben in keinem Sommer ungenutzt. In den letzten Jahren waren sie viel in Europa herumgereist: Nach Jugoslawien, Korsika oder Deutschland. In Holland erlebten sie einen Sommer, der so kalt gewesen war, dass Baden unmöglich war, dafür der Rollkragenpulli und ab und zu sogar die Regenjacken herausgekramt werden mussten.

Die Älteren der Gruppe, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten, hatten ihren eigenen Wagen. Hotti fuhr ein flottes Motorrad. Das ging natürlich ins Geld. Aber Hotti hatte reiche Eltern und bekam ein großzügiges Taschengeld. Hottis Vater war Arzt. »Das wirft was ab«, pflegte Hotti, in dessen Ausweis 'Horst' stand, gelegentlich von oben herunter zu sagen. Als ob es sein Verdienst sei, einen Arzt zum Vater zu haben. Überhaupt, manchmal war Hotti, der sonst ein feiner Kerl war, beleidigend hochnäsig.

Dagegen ist kein Kraut gewachsen, dachte Markus, während er weiter die Straße hinunterbummelte. Hochnäsigkeit ist eben eine Bildungslücke.

Auf dem Parkplatz vor dem großen Fertighauswerk saß ein Bettler und spielte Mundharmonika. Seinem Instrument entlockte er faszinierende Melodien. Markus blieb unwillkürlich stehen. Der Mann kam ihm unheimlich vor. Markus gehörte nicht zu denen, die sich leicht fürchteten. Aber dieser Mundharmonikaspieler weckte in ihm ein merkwürdiges Gefühl aus Angst und Unsicherheit. Woran mochte das bloß liegen? Spielen kann er jedenfalls fantastisch dachte Markus. Das schmeckt nach Abenteuer und Ferne, nach Sehnsucht und Traurigkeit, nach Hafen und Meer.

Markus hörte fasziniert zu und merkte nicht, wie die Zeit darüber verging. Er betrachtete den alten Mann aufmerksam: die schwarze Brille, den ungepflegten Bart, den breitrandigen Schlapphut, der tief ins Gesicht reichte. War er deshalb so unheimlich? Am Arm trug er eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten. Armer Mensch, dachte Markus. Er ist blind. Und unordentlich gekleidet. Vielleicht war es das, was Markus störte. Lässig, das mochte er leiden. Lässig, sportlich. Aber schlampig und schmutzig, das lag Markus gar nicht.

Vor dem Mundharmonikaspieler lag ein Holzkästchen für Geld, das er mit seinem Spiel erbettelte. Aber noch lag nichts im Kasten. Auch war sonst kein Mensch auf dem Parkplatz des großen Fertighauswerkes zu sehen. Nur Markus stand da und um ihn herum die vielen Wagen der Werksarbeiter.

Vielleicht spielt er für mich, dachte Markus, der seine Gedanken an den Sommer und die Fahrt, an die Zelte und die Meute vergessen hatte. Vielleicht spielt er für mich! Aber das kann ja nicht sein. Er hat ja schon gespielt, bevor ich vorbeikam. Immerhin könnte ich mich ja an den Mann einmal heranschleichen und ihn näher beobachten, dachte Markus weiter. Er kramte in den unergründlichen Hosentaschen seiner Jeans und fand schließlich zwei Groschen.

Wenn er dem Mundharmonikaspieler die zwei Groschen in das Holzkästchen legte, hätte er einmal ein gutes Werk für einen Blinden getan und konnte den Mann zum anderen genauer unter die Lupe nehmen. Markus trat näher. Der Blinde mit der Mundharmonika spielte wilde Melodien, die nach Verlockung und Gefahr klangen. Gefahr: das hakte bei Markus ein. Er konnte sich nicht erklären, warum. Im Holzkasten lag ein weißer Zettel. Markus wurde neugierig: Warum lag da ein Zettel drin?

Auf der nach oben gekehrten Seite war nichts geschrieben. Aber wenn da ein Zettel im Kasten lag, dann sicher nicht ohne Absicht. Bestimmt war auch etwas darauf geschrieben. Und die unbeschriftete Oberseite sollte vielleicht verdecken, was auf der Rückseite stand. Seltsam, dachte Markus und wurde immer neugieriger.

Der Mundharmonikaspieler war ja blind. Er würde nicht merken, wenn Markus beim Hineinlegen der beiden Groschen den Zettel umdrehen würde. Dann könnte er schnell lesen, was darauf stand. Markus bückte sich, legte den Groschen in den Kasten und wollte gerade den Zettel umdrehen, da schlug der Mann blitzschnell Markus auf die Finger – ohne ein Wort. Und die andere Hand bewegte die Mundharmonika spielend weiter. Erschrocken zog Markus die brennenden Finger zurück und verdrückte sich, so schnell er konnte.

Wie kam der Blinde bloß dazu, ihm auf die Finger zu klopfen? Sicher: Markus hatte kein Recht, den Zettel aus dem Kasten herumzudrehen und zu lesen. Aber war das ein Grund, ihm, dem hochherzigen Spender, auf die Hand zu schlagen? Schließlich hatte Markus es sich 20 Pfennig kosten lassen! Und überhaupt: Woher wusste der Blinde, dass Markus den Zettel anfassen wollte?

Markus wusste, dass Blinde sehr feinsinnig Dinge spüren und fühlen können, die ein Sehender gar nicht so wahrnimmt. Trotzdem war ihm die Reaktion des Mundharmonikaspielers in die Knochen gefahren.

Mit dem Zettel stimmte was nicht.

Markus beschloss, so lange zu warten, bis nach Schichtende die Arbeiter zum Werkstor herauskommen würden. Er wollte sehen, was dann geschah. Ob sie dem blinden Mann Geld in den Holzkasten legen würden? Ob er öfters hier am Werkstor saß und bettelte? Ob die Arbeiter ihn und seine Melodien schon kannten? Markus war richtig gespannt.

Spiel mir das Lied vom Tod. Markus kannte die Melodie, die jetzt schrill und pfeifend aus der Mundharmonika klang, von einem berühmten Western. Sie klang nach Easy Rider und Fernweh, nach Untergang und Verzweiflung. Da schwang etwas mit von Verbrechen und Verschwörung.

Die Werksirene riss Markus aus seinen Träumen. Kurz danach strömte es durch das Werkstor, hinaus in den Feierabend, in die Freiheit. Die Arbeiter drängten zu ihren Autos, um möglichst schnell Arbeit und Stress hinter sich zu lassen. Einige Augenblicke lang lief alles auf dem großen Parkplatz durcheinander.

Ganze Parkzeilen leerten sich im Nu. Und dann sah Markus, der sich vom Feierabendstrom hatte ablenken lassen, wieder den Mundharmonikaspieler mit der gelben Armbinde und der schwarzen Brille: Er spielte unentwegt neue Melodien. Als der Parkplatz fast leer war, traute sich Markus wieder näher heran. Er sah dem Alten fest in die schwarze, undurchdringliche Brille. Und er dachte: Wenn er sehen kann, wenn die undurchdringliche Brille mit den schwarzen Spiegelgläsern von der anderen Seite her durchsichtig ist, dann muss der Mann merken, dass ich ihn anstarre.

Markus ging noch dichter heran und sah kurz in den Kasten. Es lagen nicht wenige Münzen darin. Aber der Boden war nicht bedeckt. Man konnte deutlich sehen, dass der Zettel weg war. Der geheimnisvolle Zettel war einfach verschwunden!

Merkwürdig. Markus wurde das unheimliche Gefühl, das ihn vorhin schon gepackt hatte, nicht los. Tief in Gedanken versunken lief er nach Hause.

2. Wie gewonnen, so zerronnen

Markus saß auf einer großen Mülltonne und dachte nach. Klar, dass er eine Zeitung untergelegt hatte. Markus war durchaus kein Sauberkeitsfanatiker. Aber auf einer Mülltonne ohne Unterlage zu sitzen, widerstrebte ihm. Die Jeans waren zwar Wind und Wetter gewohnt, aber man musste sie ja nicht mutwillig verschmutzen. Markus, der zur Meute gehörte, besuchte das Gymnasium. Das machte zwar keinen Spaß, vor allem im letzten Jahr nicht, in dem er leistungsmäßig stark abgesackt war, weil ihn andere Dinge mehr als die Schule fesselten, war aber immer noch besser, als früh morgens zur Frühschicht im Werk anzutreten. Vater war reich, sehr reich sogar. Und Markus war stolz auf sein Profi-Rennrad mit 12-Gang-Schaltung, dessen Anschaffung der Vater ermöglicht hatte. Vater war nicht kleinlich. Das Rad hatte über tausend Euro gekostet und war ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Und Markus hatte sich wahnsinnig über ein so großzügiges Geschenk gefreut. Er war ja nicht undankbar.

Aber er ärgerte sich dennoch über seinen Vater. Und das hing damit zusammen, dass Vater Markus' Taschengeld gekürzt hatte, seitdem er in der Schule keine nennenswerten Leistungen mehr erbrachte.

Markus hatte zwar nach der Kürzung immer noch viel mehr als seine Kameraden und Freunde in der Klasse und in der Meute. Aber es ärgerte ihn, dass Vater ihn mit der Taschengeldkürzung erpressen wollte. So jedenfalls sah Markus die Sache.

Und das Ganze war erst ins Rollen gekommen, als er in die Bande hineingeraten war, die sich 'Gruppe X' nannte. So gehörte er seit einiger Zeit zwei Gruppen an: der Meute und der Gruppe X. Die Gruppe X bestand aus harten Männern. Markus war der Jüngste. Und natürlich wusste keiner in der Meute, dass ihn diese Bande angeheuert und aufgenommen hatte. Eine Mutprobe hatte Markus bestehen müssen, um überhaupt vollwertiges Mitglied der Gruppe X werden zu können. Das mit der Mutprobe hatte Markus imponiert. Die nahmen nicht jeden auf. Bei der Meute brauchte man keine Mutprobe ablegen. Die war ja auch rundum eine großartige Gruppe. Und Markus mochte keine Stunde, die er mit der Meute verbracht hatte, missen. Aber das mit der Mutprobe war schon etwas anderes. Da musste man Leistung bringen, um in den Verein aufgenommen zu werden.

Natürlich wusste keiner um Markus1 Doppelmitgliedschaft. Die in der Meute hatten keine Ahnung von der Gruppe X. Und die Mitglieder der Gruppe X wären nie auf die Idee gekommen, dass Markus einer Gruppe wie der Meute angehören könnte.

Seit er in die Gruppe eingetreten war, hatte er in der Schule gewaltig nachgelassen. Markus wusste das natürlich genau. Und jetzt kam Vater mit der Taschengeldkürzung!

Markus ließ die langen Beine baumeln und dachte an die Mutprobe. Vor dem Kaufhaus hatten sie von ihm gefordert, er solle hineingehen und eine Flasche Schnaps in der Lebensmittelabteilung klauen. Es ging dabei nicht um Diebstahl, hatten sie ihm klargemacht, sondern eben um eine Mutprobe. Markus sollte beweisen, dass er das tat, was die Gruppe von ihm forderte. Auch wenn es nicht rechtens war. Die Gruppe X hatte eben ihre eigenen Gesetze.

Markus dachte an die schrecklichen Augenblicke, als er nach der Flasche auf dem Regal gegriffen und sie in der Windbluse hatte verschwinden lassen. Geschwitzt hatte er, als er das erste Mal bewusst gestohlen hatte. Dann war er nach draußen gegangen, hatte den Reißverschluss geöffnet und denen von der Gruppe X gezeigt, dass er ein ganzer Mann sein wollte und die Mutprobe bestanden hatte. Sie hatten geklatscht und ihn gelobt.

Und dann hatte es plötzlich lange Gesichter gegeben, als er die Flasche wieder in der Windbluse verschwinden ließ, den Reißverschluss hochzog und das Kaufhaus zum zweiten Mal betrat, um die geklaute Mutproben-Flasche zurückzugeben. Damit hatten sie nicht gerechnet. Und die Sache hätte sich beinahe auch nicht ausgezahlt. Denn um ein Haar wäre Markus beim Zurückstellen der Flasche geschnappt worden. Ein Kaufhaus-Detektiv hatte ihn beobachtet, wie er die Flasche aus der Jacke zog und wieder ins Regal stellte, in die Lücke, aus der er sie kurz zuvor entwendet hatte. Der Detektiv hatte durch die Zähne gepfiffen, mit dem Finger gedroht und dann die Sache auf sich beruhen lassen, weil Markus die Flasche ja wieder hingestellt hatte. Was aber, wenn der Detektiv ihn vorher beim Stehlen erwischt hätte? Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sein Vater das erfahren hätte.

Als Markus aus dem Kaufhaus wieder heraustrat, umringte ihn die Gruppe X und wollte wissen, wo die Flasche geblieben sei. Da hatte Markus geantwortet: »Sie steht wieder dort, woher ich sie weggenommen hatte. Meine Mutprobe habe ich ja bestanden. Die Aufgabe hieß, ich sollte eine Schnapsflasche klauen und mit herausbringen. Das habe ich getan. Dann habe ich sie eben wieder zurückgebracht.«

Großes Schweigen. Einige schauten betreten weg. Schließlich merkte einer ärgerlich an: »So was Blödes!« Aber Markus gehörte von Stunde an zu Gruppe X. Die Mutprobe hatte er bestanden, genau betrachtet sogar doppelt.

Nun saß Markus auf der Mülltonne, ließ die langen Beine baumeln und die Gedanken kreisen. Es gab keinen Ausweg: Er saß zwischen den Stühlen. Die Meute war fromm und hielt zum Pfarrer. Pfarrer Gärtner war auf seine Weise große Klasse. Obwohl er fromm war. Und die Gruppe X war das große Abenteuer. Markus saß zwischen fromm und Abenteuer.

Markus grübelte halblaut vor sich hin. Mit wem konnte man sich überhaupt noch vernünftig unterhalten? Er spann seine Gedanken auf der Mülltonne weiter: Vater versteht mich nicht mehr. Er bezahlt mein Taschengeld und damit basta. Und wenn ich nicht so spure, wie er will, dann kürzt er mir die Zuwendungen. Er denkt immer nur an Geld und Beruf.

Abends ist er dann vom Betrieb erledigt. Wenn Mutter fernsieht, wird Vater ärgerlich, weil er Sportschau und Fußball gucken will. Dabei könnte sich jeder in sein Zimmer mit seinem Programm zurückziehen. Manchmal gehen die Eltern auch abends groß aus und kommen erst spät wieder. Und ich hänge dann herum, dachte Markus weiter, und lese Krimis oder Comics. Langweilig ist das meist. Diese Krimi-Hefte sind doch alle nach der gleichen Masche gestrickt. Meistens weiß man schon gleich wie sie ausgehen. Ob meine Eltern glücklich sind? dachte Markus auf seiner Mülltonne. Manchmal kommt es mir vor, als ob ich gar nicht mehr so richtig zur Familie gehöre. Als ob ich ein Möbelstück wäre, wie die große Stereoanlage, die Mutter von Onkel Freddy bekommen hat. Oder wie der Farbfernseher, um den sie herumsitzen. Oder wie die Hausbar. Das alles gehört uns, dachte Markus. Aber es ist trotzdem langweilig zu Hause. Vielleicht sind sie abends beide zu müde, um sich nach mir und meinen Problemen zu erkundigen. Mutter ist viel für die große Versicherungsfirma unterwegs. Sie arbeitet nicht, weil es ihr Spaß macht. Sie will bloß mitverdienen und glaubt, dass ich bei Erna, dem Hausmädchen, gut aufgehoben bin. Überhaupt behandeln mich beide, als sei ich noch gar kein Mann, als sei ich noch ein Kind. In der Gruppe X bin ich ein Mann.

Markus sprang mit einem Satz vom Mülleimer herunter, suchte einen Kieselstein und ließ ihn mit Schwung über das Dach des elterlichen Hauses fliegen. Dann ging er in den Keller, holte sich sein Alu-Rennrad, strich vorher verliebt mit der Hand über den Lenker, schwang sich auf den Sattel, kurvte über die Grasanlage unter den geöffneten Fenstern, sah, dass Erna drinnen wieder Groschenromane las und rief in selbstverständlichem Tonfall, der keine Widerrede duldet: »Erna, ich fahre zum Kaufhaus!«

»Mach, was du willst«, klang es zurück.

Markus trat in die Pedale, kratze die Kurve an der Goethestraße und brauste in Richtung Kaufhaus.

Zu Hause war Erna froh, dass sie ihre Ruhe hatte.

Markus überlegte. Die Schulaufgaben habe ich wieder nicht gemacht. Ist nicht weiter schlimm: Ich schreibe sie halt morgen früh von Schmidtchen ab. Schmidtchen hat immer alles richtig. Ein Streber, wie er im Buch steht! Kann mir aber nicht imponieren. Der hat ja auch kaum Taschengeld. Ich gebe ihm wieder ein paar Euro fürs Abschreiben. Und dann hat alles seine Richtigkeit. Geld und Beziehungen muss man eben haben. Vitamin B nennt Vater das.

Markus stellte sein Rad beim großen Kaufhaus ab. Er schloss es sorgsam ab und ließ sich dann vom Sog der Menschenmenge ins Innere des Kaufhauses hineinziehen. Der Betrieb um diese Stunde, das Kommen und Gehen der vielen Menschen, das Stimmengewirr in der Luft, umflutete Markus und riss ihn mit. Hier konnte Markus vergessen, dass er sich zu Hause überflüssig fühlte.

Mit der Rolltreppe fuhr er nach oben. Da war das Gedränge noch größer. Plötzlich stutzte Markus, sah auf den Boden, bückte sich und hob eine alte, abgegriffene Geldtasche auf.

Die hat einer verloren, dachte Markus instinktiv und ließ sie in die Hosentasche gleiten. Dann drängte er sich zum Lift und fuhr nach unten. Als er den Ausgang hinter sich hatte, atmete Markus erleichtert auf. Er sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, holte die Geldtasche hervor und öffnete sie. Vorne lagen nur einige Münzen drin, ein paar Groschen. Markus war enttäuscht. Dann öffnete er das hintere Fach der Geldtasche und machte große Augen: achtzig Euro steckten da. Wie im Märchen, dachte Markus, wie bei Sterntaler. Bei Geld wurde Markus immer schwach. Für Geld konnte man beinahe alles bekommen. Warum hatte sein Vater ihm auch das Taschengeld gekürzt? Das Glück hatte für Ersatz gesorgt. Wieder abgeben, was er gefunden hatte? Nee! Markus verwarf den Gedanken ganz schnell. Er hatte zwar ein ungutes Gefühl dabei, aber gefunden war eben gefunden. Hauptsache, er hatte wieder Moneten.

Als die alte Frau im Kaufhaus merkte, dass sie ihre Geldbörse verloren hatte und damit ein gutes Stück ihrer kärglichen Rente, stand Markus längst am Pac-Man-Automaten in der Spielhalle und ließ sich die Sache etwas kosten.

Als Markus die Spielhalle verließ, war er um zwanzig Euro ärmer. Zwanzig Euro verspielt! Markus ärgerte sich. Was soll's, dachte er. Wie gewonnen, so zerronnen!

Markus fuhr nach Hause und stellte das Rad in den Keller. Dann ging er nach oben, fand Vater und Mutter zu Hause und stellte fest: »Da bin ich wieder.«

Das Abendessen verlief einseitig. Vater fragte kurz: »Gibt's was Neues? Was macht die Schule?«

Aber das war nur so dahingefragt. Freundliche Routine.

Auch Markus* Antworten waren Routine. »Nichts Neues, ein stinklangweiliger Tag heute!«

»Weil du mit dem Tag nichts anfangen kannst«, mischte sich Mutter ein.

Markus wollte es diesmal auf kein Streitgespräch ankommen lassen und steckte den Vorwurf ein.

3. Die Kripo will dicke Nüsse knacken

In einem Polizeipräsidium sieht es manchmal nüchtern, fast lieblos kalt aus. Jedenfalls war das im Polizeipräsidium der großen Stadt so. Da gab es eine Unmenge Türen auf unzähligen Fluren. Man konnte sich mühelos verlaufen, wenn man die Zimmertafel, die es auf jeder Etage gab, nicht sorgfältig studierte.

Die Türen sind alle langweilig grün gestrichen, eine wie die andere. Und dennoch verbergen sich hinter jeder dieser gleichförmigen Türen unzählige Einzelschicksale: sorgfältig registriert, in umfangreichen Akten geordnet und gelagert. Ganze Romane stecken in diesen Akten. Da kann man lesen von Einbrüchen, Raubüberfällen, Kindesmisshandlungen, Erpressungen, Entführungen, Drogenschmuggel, Mord und Totschlag. Lauter traurige Geschichten.

Und überall in den Amtsstuben sitzen Männer und Frauen, die über diese Schicksale zu befinden haben. Zu beneiden sind sie nicht, die Beamten, die dafür Sorge tragen, dass das Recht beachtet wird und die Ordnung erhalten bleibt. An manchen 'harten Nüssen' haben sie schwer zu knacken.

Oberkommissar Müller vom Raubdezernat war gerade dabei, eine solche 'harte Nuss' zu knacken.

Er hatte heute früh seinem Chef, Polizeirat Hiller, Bericht erstattet. Aber er kam nur mühsam voran. Um ehrlich zu sein, er war überhaupt nicht vorangekommen.

Das hatte er beim Polizeirat Hiller heute früh zugeben müssen. Und es ärgerte den Oberkommissar. Oberkommissar Müller war hochgewachsen, schlank, sportlich, hatte seit einiger Zeit die ersten grauen Haare entdeckt und besaß einen nahezu unfehlbaren Instinkt für die Aufklärung von schwierigen Fällen. Im Raubdezernat gab es genug schwierige Fälle. Aber die harte Nuss mit der Autospringerbande war so hart, dass Oberkommissar Müller sich bisher die Zähne an ihr ausgebissen hatte. Inzwischen lag die jüngste Meldung auf seinem Schreibtisch. Letzte Nacht hatte die Autospringerbande wieder zugeschlagen. Zum wer-weiß-wievielten-mal war ein LKW-Transport des großen Fertighauswerkes ausgeraubt worden.

Und da wollten die Fahrer ihn glauben machen, sie hätten unterwegs nichts gemerkt. Erst am Ziel sei der Transportverlust entdeckt worden. Raub auf offener Landstraße aus fahrenden Transporten! Und was da alles während der Fahrt ausgeladen wurde: Kühlschränke, Elektroherde, Waschmaschinen – alles in fester Verpackung. Waschbecken, Toilettenschüsseln, Türen komplett mit Rahmen, rostfreie Spülen für Einbauküchen … Die tollsten Sachen.

Wie war es überhaupt möglich, ganze Waschmaschinen, die das Fertighauswerk lieferte und einbaute, vom Lastwagen zu entwenden und ohne Bruch umzuladen? Das ging doch gar nicht. Das war undenkbar! Und trotzdem war es immer wieder dieselbe Masche: An Bergstrecken, wo die schweren Transporter langsam fahren mussten, kletterte die Bande auf den LKW oder den Hänger, schnitt die Planen auf und lud ab, was nicht niet- und nagelfest war. Alles wertvolle Gebrauchsgüter.

Die schreckten vor nichts zurück, konnten offenbar alles gebrauchen. Sogar eine Dunstabzugshaube für Küchenherde war unter der neuesten Verlustmeldung. Werkseigene Transporte waren ebenso überfallen worden wie die einer großen Spedition aus der Stadt. Und immer wieder sollten die Versicherungen für den Schaden geradestehen.

Die Fahrer der Transporte waren offenbar ahnungslos. Mit einigen hatte Oberkommissar Müller selber gesprochen. Sie waren am Ziel aus allen Wolken gefallen, als sie die zerschnittenen Planen und den Verlust fast der ganzen Sendung entdeckt hatten.

Da stimmt was nicht. Irgendwo musste doch der Faden zu finden sein, den der Oberkommissar verzweifelt in die Finger zu bekommen suchte. Wenn man, das wusste er aus langjähriger Erfahrung, erst einen Anfang hatte, dann konnte man manches Ding aufziehen, wie den Faden einer Laufmasche. Was ihn so ärgerte, war: Er bekam den Anfang des Fadens nicht zu fassen.

Sportliche, durchtrainierte, junge Kerle mussten das sein, die zu dieser Autospringerbande gehörten. Anders ließ sich die Sache überhaupt nicht denken. Die Tatorte lagen oft weit auseinander. Aber die Kerle mussten die Routen der Transporte des Fertighauswerkes genau kennen. Ob vielleicht die Fahrer doch mit im Spiel steckten?

Oberkommissar Müller rauchte der Schädel, je mehr er über den Fall nachdachte. Das Sonderbarste an all den Merkwürdigkeiten des Falls war, dass offenbar nichts von den geraubten Ladungen in der großen Stadt wieder auftauchte. Oder hatte er da nur noch keine Fährte? Ob die wertvollen Gegenstände in andere Teile Deutschlands oder gar ins Ausland geschafft und dort verkauft wurden?

Vor einem halben Jahr, da hatte man beinahe einen ersten Faden in der Hand gehabt. Aber der hatte sich ganz schnell wieder verloren. Damals hatten die Kollegen einen jungen Arbeitslosen wegen eines Apothekeneinbruchs festgenommen und verhört. Der hatte zugegeben, dass er süchtig war und Stoff beim Einbruch gesucht hatte. Und Einwegspritzen, wie man sie in jeder Apotheke kaufen konnte, sollte er mitbringen. »Für die anderen«, hatte der junge Arbeitslose damals ausgesagt. Kommissar Herbert vom Einbruch-Dezernat hatte den Fall damals bearbeitet. Die beiden Männer hatten sich in der Kantine des Präsidiums darüber unterhalten.

Gegen 'mildernde Umstände' war der Junge bereit gewesen, zu singen, auszupacken. Kommissar Herbert hatte ihm versprochen, sein Möglichstes zu tun. Der Junge sollte seine Auftraggeber belasten. Man hatte ihm versprochen, ihn zum Entzug in eine Kur zu geben. Er wollte von der Nadel wegkommen, hatte er versichert, wollte Schluss machen. Und dann hatte er Schluss gemacht. Aber ganz anders als erwartet: Man fand den jungen Mann tot in seiner Dachstube. Er hatte sich erhängt. Fremdeinwirkung war nicht festzustellen. Alles sprach für einen Selbstmord. Und so war der Fall auch abgeschlossen worden. Der Vorgang kam in eine Akte und wurde hinter einer der grünen Türen ordnungsgemäß abgelegt.

Kommissar Herbert hatte lange nachgedacht über den Zettel, den sie unter der Armbanduhr des Erhängten versteckt gefunden hatten. Auf dem Zettel stand nur ein einziges, schnell hingekritzeltes Wort: Mundharmonika.

4. Ein bezahlter Freundschaftsdienst

»Klar, mache ich doch«, stimmte Markus am nächsten Abend zu.

»Ist nur ein Freundschaftsdienst«, entgegnete einer von Markus' neuen Freunden aus der Gruppe X.

Und als Markus gutmütig nickte, setzte der andere hinzu: »Die Sache bringt auch etwas. Du sollst das nicht umsonst abgeben. Der kleine Kurierdienst bringt dir Piepen ein, 25 Euro.«

25 Euro für einen harmlosen Freundschaftsdienst, das war leicht verdientes Geld, besonders wo Markus jetzt so scharf darauf war, die Lücke zu schließen, die die Taschengeldkürzung seines Vaters gerissen hatte.

»Aber die Übergabe muss unauffällig und ohne Zeugen geschehen«, verlangte der junge Mann. »Und wenn du je gefragt wirst, dann weißt du nicht, was da gelaufen ist.«

»Was ist denn in dem Päckchen drin, was ich weitergeben soll?« wollte Markus neugierig wissen.

Aber es wurde ihm klar gemacht, dass diese Frage unerlaubt war. Entweder ja oder nein. Fragen gab es da nicht. Alles andere ging ihn nichts an. Alles klar?

»Alles klar!« stimmte Markus zu und erhielt das Päckchen und die 25 Euro. Das Päckchen hatte er einem Klassenkameraden abzugeben. Auf der Schultoilette. Markus führte den Auftrag aus, stellte keine Fragen und hatte auch keine Möglichkeit, etwas über den Inhalt des Päckchens zu erfahren. Reinschauen kam nicht in Frage. Das wäre aufgefallen.

Sein Klassenkamerad bedankte sich beinahe gleichgültig. Auf Fragen blieb er verschlossen. Markus hatte keine Ahnung, was der Klassenkamerad mit der Gruppe X zu tun hatte. Ihm fiel nur auf, dass dieser in der nächsten Pause auf der Schultoilette verschwand und nach seiner Rückkehr nicht mehr ganz so stur und verschlossen zu sein schien. Er boxte Markus sogar freundschaftlich in die Rippen. Nur auf Fragen hin blieb der andere undurchdringlich und verschlossen und wich geschickt aus.

So begann für Markus ein regelmäßiger Kurierdienst. Er war der neue Verbindungsmann der Gruppe X zu seinem Klassenkameraden. Alle vier oder fünf Tage hatte Markus ein neues Päckchen zu überbringen und kassierte für jeden Freundschaftsdienst 25 Euro. Das summierte sich ganz schön und besserte Markus’ Kasse auf. Markus war mit dem Kurierdienst zufrieden. Der andere ließ ihn seine Dankbarkeit spüren. Markus durfte jederzeit die Schulaufgaben bei ihm abschreiben. Der war in Chemie ein As. Und gerade in Chemie konnte Markus dringend Notenverbesserung gebrauchen, um seinen Vater taschengeldfreundlicher zu stimmen.

So profitierte Markus doppelt von seinem Kurierdienst.

Im Laufe der Zeit begann Markus zwar zu ahnen, was es mit den Päckchen auf sich hatte. Aber nun sagte er sich, dass es von Anfang an wohl richtig war, dass er von nichts wusste und nur 'Freundschaftsdienste' ausführte.

Mit der Meute kam Markus immer seltener zusammen. Die bereitete sich jetzt auf die große Zeltfahrt vor. Markus hatte wissen lassen, dass in diesem Jahr mit ihm bei der Fahrt nicht zu rechnen sei. Pfarrer Gärtner wollte Markus einmal zu Hause besuchen. Gut, dass er den Pfarrer schon vom Fenster aus hinter dem Vorhang erkannt hatte. Erna sollte sagen, außer ihr sei niemand im Haus.

Die Gruppe X traf sich abends öfter in Willis Kneipe. Willi, der Wirt, roch nach Seefahrt und Abenteuer und war überall an den Armen tätowiert. Man konnte es ganz deutlich sehen, wenn er am Ausschank die Ärmel seines karierten Hemdes (Willi trug immer nur karierte Hemden) hochgekrempelt hatte.

Einen richtigen Boss gab es in der Gruppe X scheinbar nicht. Jeder war gleichberechtigt. Keiner hatte das große Sagen. Wenn es um bestimmte Dinge ging, wurde nur im inneren Kreis, den sie den harten Kern nannten, diskutiert. Dazu verschwanden dann fünf, manchmal sechs Leute im Nebenzimmer von Willis Kneipe. Markus und zwei andere, Pedro und Erwin, blieben dann am Gruppenstammtisch so lange allein zurück, bis der harte Kern wieder aus dem Hinterzimmer auftauchte.

»Das ist nichts für Greenhorns, wenn harte Männer sich unterhalten«, erhielten sie als Antwort auf ihre neugierigen Fragen.

5. Das Drogen-Dezernat

Für das Drogen-Dezernat im Polizeipräsidium war Kommissar Räuber verantwortlich. Obwohl er doch eigentlich vom Namen er viel besser ins Dezernat Raubkriminalität gepasst hätte, wie Polizeirat Hiller einmal scherzhaft bemerkt hatte.

Im Dezernat 'D' hatte man Sorgen. Schon vier Drogentote in diesem Jahr. Das war furchtbar. Und nun hatte sich auch noch ein Schüler, Klassenbester in Chemie, den sogenannten Goldenen Schuss gesetzt. Es hatte einen schrecklichen Skandal gegeben, als Markus' Klassenkamerad tot in einer Zelle der Schultoilette aufgefunden worden war.

Eine polizeiliche Untersuchung wurde angeordnet. Aber da Markus immer sehr vorsichtig vorgegangen war und seinen 'Freundschaftsdienst' nie unter Zeugen ausgeführt hatte, fiel nicht der mindeste Verdacht auf Markus.

Markus aber hatte jetzt wieder viel weniger Taschengeld. Im Monat hatte er mindestens acht Päckchen überbracht, zwei in jeder Woche. Die waren 200 Euro Taschengeld wert gewesen. Was hatte er damit zu tun, dass sein Klassenkamerad abhängig geworden und nun am Goldenen Schuss gestorben war?

Und überhaupt wusste Markus wirklich nicht, wie’ man sich einen Goldenen Schuss setzte. Markus war in diesen Dingen regelrecht ahnungslos. Er hatte gelernt, dass es Dinge gibt, die einen nichts angehen, in die man sich nicht reinzuhängen hat.

In der Schule sackten Markus' Leistungen weiter deutlich ab. Das hatte mit der Gruppe X und mit Willis Kneipe zu tun. Eines Tages fragten sie ihn, ob er zum harten Kern der Gruppe gehören wolle. Das galt als eine besondere Auszeichnung nach dem Ehrenkodex der Gruppe. Dazu musste man schwören, weil sie sich eine verschworene Mannschaft nannten. Und man musste sich ein großes X mit dem Messer in den Arm einritzen lassen. Dann wurde Pfeffer in die Wunde gestreut. Einer vom harten Kern hatte behauptet, das sei so in Afrika unter einigen Stämmen als Mutprobe Brauch.

Der Pfeffer brannte wie offenes Feuer in der Wunde. Dann gaben sie ihm Schnaps zu trinken, bis der Schmerz nachließ: Das geschah im Hinterzimmer von Willis Kneipe. Und Markus hatte die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass kein Schmerzlaut herausgekommen war. Schon wieder eine Mutprobe. Mut musste man aufbringen, um die Angst vor der Zeremonie und den Schmerz zu verdrängen und nicht zu schreien. Der Pfeffer war dazu da, eine Narbe zu bilden. Niemand hatte Markus vorher gewarnt, dass das auch schiefgehen und man sich dabei eine Blutvergiftung einhandeln konnte.

Er musste dem harten Kern die Treue schwören, absolute Verschwiegenheit zu bewahren und schwören, alle Befehle der Gruppe auszuführen. Markus hatte ein ungutes Gefühl. Von dem Gewissen hatte Pfarrer Gärtner früher manchmal gesprochen. Und Markus wusste, dass es so etwas wirklich gab. Man musste halt 'Mann' genug sein, um sein Gewissen zum Schweigen zu bringen.

Als Markus schwor, überkam ihn ein Frösteln, das er am liebsten abgeschüttelt hätte.

Willi, der Kneipenwirt, gab einen aus. Markus kippte den Schnaps runter, spürte wohlige Wärme und sah, als er dem Kneipenwirt unmittelbar gegenüberstand, dass auch Willi neben den vielen bunten Tätowierungen aus seiner Seemannszeit ein wulstiges, vernarbtes X auf seinem Arm trug. Das war keine Tätowierung, sondern ein tief eingeschnittenes, vernarbtes X.

Willi war also nicht nur der Wirt der Stammkneipe. Er gehörte auch zur Gruppe X, zum harten Kern!

Markus war ganz furchtbar übel geworden. Willi flößte ihm noch einen Schnaps ein, der Markus ganz heiß die Kehle hinunterlief. Markus hatte in seinem Dämmerzustand das Gefühl, innerlich zu verbrennen.

Dann holte Willi ein breites Pflaster aus der Wandapotheke. Das klebte er ihm über die pfefferbestreute Einschnittwunde. Danach brachten sie Markus nach Hause, legten ihn vor die elterliche Haustür, klingelten und liefen davon.

Das war gewiss kein Freundschaftsdienst.

Nachdem ihn seine Eltern ins Bett gebracht hatten, kam es zwischen Markus' Vater und Mutter zu einer heftigen Auseinandersetzung.

»Das ist das Ergebnis deiner Erziehung!« schimpfte der Vater mit lauter Stimme. »Du musstest ja unbedingt mitarbeiten, während der Junge sich selbst überlassen blieb. Es ist alles deine Schuld! Ich arbeite von früh bis spät und verdiene gut. Und zu Hause kommt der Junge auf den Hund.«

Kommissar Räuber grübelte über die zunehmende Drogenkriminalität und die erschreckende Ausweitung der Szene in der Stadt. Aber er kam in der Sache einfach nicht weiter. Und nun wieder ein Todesopfer! Wie konnte es nur so weit kommen? Er würde den Hintermännern schon auf die Spur kommen!

Es war schon spät, als Kommissar Räuber das Licht in seinem Büro löschte und nach Hause ging.

6. Auf dem Friedhof

Die Friedhofskapelle war bis auf den letzten Platz besetzt. Viele mussten stehen. In der ersten Reihe saßen die Eltern. Die Klassenkameraden waren alle gekommen. Auch die Lehrer. In der dritten Reihe saß der Direktor.

Markus hatte weiter hinten Platz genommen und starrte unentwegt auf den Sarg, der von einem Meer von Kränzen und Blumen umgeben war. Der Empfänger seiner Päckchen, deren Überbringen als Freundschaftsdienst bezeichnet worden war, war nun tot. Er hatte sich den letzten Schuss gegeben, der unauffällige, eigentlich bei aller Verschlossenheit immer freundliche Klassenkamerad, von dem Markus so oft die Chemie-Aufgaben abgeschrieben hatte.

Markus wusste in seinem Innern ganz genau, dass er an diesem Tod mitschuldig war. Mitschuldig! Das Wort brannte in seinem Gewissen, brannte wie das eingeschnittene X an seinem Arm. Markus gehörte nun zum harten Kern der Gruppe. Und im Sarg, inmitten der vielen Blumen und Kränze, lag eines ihrer Opfer. Das einzige, fragte sich Markus. Sein Magen zog sich zu einem harten, eisigen Knäuel zusammen.

Er sah die Reihe der Klassenkameraden entlang. Einen richtigen Freund hatte er nicht darunter.

Freunde waren ihm einmal die Jungen und Mädchen der Meute gewesen. Aber das war vorbei. Er gehörte nun zum harten Kern, war ein ganzer Mann geworden. Markus sprach sich selber Mut zu. Dennoch ging ihm diese Friedhofsstimmung aus Sarg und Blumen und vor allem mit dem großen Holzkreuz unter die Haut. Er blickte zum Holzkreuz empor, an dem der Gekreuzigte hing. Christus, von dem Pfarrer Gärtner so oft erzählt hatte.

Markus wollte an all das nicht zurückdenken. Nicht an Pfarrer Gärtner und nicht an die Meute. Er wollte in dieser Stunde aber auch nicht erinnert werden an die Gruppe X, an den harten Kern, zu dem er nun gehörte. Am liebsten wäre er ausgestiegen.

Noch einer war unter den Gästen der Trauerfeier, unauffällig und dunkel gekleidet. Seine Augen ließ er unentwegt wandern: Kommissar Räuber vom Drogendezernat. Er war dienstlich anwesend. Darüber hinaus aber ergriff ihn das alles weit mehr, alles es dienstlich üblich war.

In die Stille hinein hörte man das Schluchzen der Mutter des Toten. Zärtlich beugte sich der Vater tröstend zu ihr. Kommissar Räuber wusste, dass es sich um einen Teilhaber des Fertighauswerkes handelte. Reiche Leute. Geld war mit Sicherheit genug vorhanden. Aber an Zeit für den Jungen, der nun im Sarg lag, dürfte es gefehlt haben. Die Mutter? Sie arbeitete als Chefsekretärin im Fertighauswerk mit. Das Ehepaar fuhr eine große Luxuslimousine, dunkelblau, neuestes Modell. Kommissar Räuber hatte sich genau erkundigt. Hatte auch Kleinigkeiten recherchiert.

Er war im Haus der Eltern gewesen. Kein Verhör. Nein, nur ein Gespräch in der Hoffnung, irgendeinen Fadenanfang in die Hand zu bekommen. Die Eltern wussten nicht viel über den Umgang ihres Sohnes zu berichten. Sie waren ja den ganzen Tag über voll beschäftigt, im Werk. Konnten sich zu Hause einfach nicht um alles kümmern. Aufgefallen war ihnen nie etwas. Gewiss, der Junge war ein wenig verschlossen, ernst, in sich gekehrt. Und seit einiger Zeit war er launenhaft, gelegentlich auch himmelhochjauchzend, wie der Vater sich ausgedruckt hatte. Aber das sind die Entwicklungsjahre. »Wir waren ja früher auch nicht anders!« hatte er hinzugefügt.

Der Kommissar hatte nachgehakt: »Und der Umgang, die Freunde, ich meine …«

Aber der Vater hatte abgewinkt. »Wir kannten seine Freunde nicht. Er war immer ein verschlossener Junge gewesen, der sich schwer an andere anschloss. Möglicherweise gab es da überhaupt keine Freunde.«

»Aber den Stoff, ich meine das Heroin, das er sich gespritzt hat, er muss das doch irgendwoher gehabt haben?«

»Verbrecher«, antwortete der Vater bitter. »Verbrecher, die das Leben junger Menschen kaltblütig riskieren, um daran zu verdienen. Das gab es bei uns früher nicht. Aber heutzutage! Hören Sie mir doch auf, Herr Kommissar. Sie müssen ja am besten wissen, was da alles läuft, ohne dass die Polizei es je in den Griff bekommt.«

Kommissar Räuber spürte die Verbitterung und den Vorwurf aus den Worten des Vaters. Und er war wütend. Nicht auf diese Leute. Die lebten nur für sich und versuchten aus dem Leben herauszuholen, was irgend möglich war. Sie waren das so gewöhnt. Die Arbeit war ihnen so heilig geworden, dass ihnen keine Zeit mehr blieb für Kindererziehung und fürs Zuhause. Die Wohnung war mit kostbaren Möbelstücken eingerichtet …

Der Kommissar merkte, wie seine Gedanken abschweiften. Hier wollte er aufmerksam beobachten, hier unter den Anwesenden in der Friedhofskapelle. Denn hier waren möglicherweise jene versammelt, die am Tod dieses süchtig gewordenen Jungen schuld waren. Und wieder spürte der Kommissar eine innere Wut, die aus der Ohnmacht kam, den Verbrechern das eiskalte Handwerk nicht legen zu können, das Handwerk, das Tote riskierte. Kommissar Räuber war sauer darüber, dass er noch immer nichts in der Hand hatte. Keinen Anhaltspunkt!

Es würde weitere Opfer, Tote und Abhängige geben. In den zurückliegenden Jahren war es in der Szene immer schlimmer geworden.

Der Kommissar wanderte mit seinen Augen durch die Reihen der Trauergemeinde. Da war kein verdächtiger Typ dabei. Alles gute Gesellschaft, könnte man meinen. Den Klassenkameraden, die vorne in zwei Reihen saßen, spürte man ihre Ergriffenheit an. Einige hatten Tränen in den Augen, die sie immer wieder verstohlen mit dem Handrücken wegwischten.

Dann setzte das Orgelvorspiel ein. Die Mutter schluchzte laut. Der Vater versuchte, seine Frau zu trösten. Dann sangen sie den angeschlagenen Beerdigungschoral. Nur wenige sangen mit. Kommissar Räuber kannte die Melodie.

Dann trat der Pfarrer im Talar in die Kapelle, ging zum Sarg und betete still.

Markus erkannte Pfarrer Gärtner sofort und erinnerte sich, dass er hier in der Gemeinde zuständig war.

Es ging Markus wie ein Stich durchs Herz. Die Meute hatte gemeinsam mit Pfarrer Gärtner wundervolle Stunden erlebt. Die großen Zeltfahrten, die man nie wieder vergessen konnte. Auch dann nicht, wenn man zum harten Kern gehörte.

Pfarrer Gärtner hatte sich fest vorgenommen, vor Tragik und Schuld dieses frühen Todes nicht auszuweichen, nicht zu verschweigen, was gesagt werden musste. Auch dann nicht, wenn es den einen oder anderen der Anwesenden treffen konnte und weh tat.

Die Schuld dieses frühen Todes musste verdeutlicht werden, damit nicht immer neue Opfer unter gleichen Umständen in den sicheren Tod liefen. Junge Menschen sollten angesprochen werden, die auf ihre Weise aussteigen wollten, weil sie sich den Anforderungen und Härten des Lebens nicht gewachsen fühlten, weil sie in eine Traumwelt fliehen wollten und sich damit gewissenlosen Verbrechern auslieferten. Aber auch jene, die an der Not und den Schwierigkeiten dieser jungen Menschen das große Geld verdienten.

Pfarrer Gärtner las aus dem 130. Psalm: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! Wenn du, Herr, Sünden anrechnen wolltest – Herr, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.«

In der Kapelle war es ganz still geworden.

Und dann sagte Pfarrer Gärtner: »Gott, den ewigen Herrn über Leben und Tod, können wir immer nur aus unserer menschlichen Tiefe, aus Schuld und Versagen heraus anrufen. Alles andere wäre vermessen. Aus solcher Tiefe des Versagens heraus stehen wir hier am Sarg eines hoffnungsfrohen jungen Menschen und beklagen seinen frühen und tragischen Tod. Wir klagen. Es steht uns hier nicht zu, anzuklagen. Das steht Gott selbst als Richter über unser Tun zu. Wir bitten Gott, er möchte unser Klagen und unseren Hilferuf um seine Vergebung hören und uns nicht im Stich lassen. Wir klagen, weil dieser junge Mensch von uns gegangen ist. Aber wir wollen auch der Frage nach Schuld und Sünde nicht ausweichen, weil wir anders unserer Situation hier nicht gerecht würden. Sünde ist Versagen vor Gott und an Menschen. Sünde ist Schuld, die Gott uns anrechnen und auch vergeben kann, wenn wir ihn darum bitten.«

Markus wich dem Blick von Pfarrer Gärtner, der ihn längst unter den Trauernden entdeckt hatte, aus. Einen Augenblick lang betrachtete er den gekreuzigten Christus, der über dem Sarg mit seinem Holzkreuz zu schweben schien. Ein merkwürdiges Gefühl packte Markus.

»Wir dürfen die Schuld nicht immer wieder auf andere abschieben«, predigte Pfarrer Gärtner weiter. »Wir wollen uns selber fragen, wo wir schuldig geworden sind, und wollen dann Gott um Vergebung bitten. Er wird uns vergeben, wenn wir ihn ernstlich darum bitten. Das sagt er uns in seinem Wort zu. Dieser junge Mensch, der im Sarg liegt, den wir gleich in die Erde des Friedhofs senken, starb, weil er einsam war. Vielleicht fühlte er sich der Einsamkeit nicht gewachsen. Einsamkeit kann erschütternd sein. Keine Freunde, niemanden, den er bitten mochte, ihm bei der Lösung seiner Probleme zu helfen. Noch einmal: Ich bin nicht hier um anzuklagen. Aber ich darf vor solchem Sterben auch nicht ausweichen. Vielleicht lebte der junge Mensch noch, wenn er gute Freunde in der Klasse gefunden hätte.«

Markus fühlte wieder einen Stich in der Herzgegend. Freundschaftsdienst hatten sie das Überbringen der Päckchen genannt und ihn nicht schlecht dafür bezahlt. Durch diese Päckchen, durch solchen 'Freundschaftsdienst' hatte der Klassenkamerad sterben müssen.

»Wer will nachträglich wissen, wie das alles, was zum Tod dieses jungen Menschen führte, zusammenhing, miteinander verflochten war«, setzte der Pfarrer seine Predigt fort. »Vielleicht kümmern wir Erwachsene uns zu sehr um Arbeit und Verdienst, um die Probleme unseres Lebens. Dann bleiben junge Menschen mit ihren Sorgen zwangsläufig auf der Strecke. Wo mag der junge Mensch die Droge hergehabt haben, die seinem Leben ein Ende setzte? Fragen über Fragen, die nicht dadurch beantwortet werden, dass wir von unserem eigenen Versagen absehen und vor Gott treten und warum fragen.«

Markus spürte plötzlich, wie ihm schlecht wurde. Er schob das auf die Nachwirkungen des vorgestrigen Abends. Den ganzen Tag über hatte er diesen Druck auf dem Magen gespürt, dieses Würgen von innen her. Es war Markus ganz furchtbar peinlich. Aber jeder konnte sehen, dass ihm schlecht war, dass er ganz blaß geworden war. Er stand auf, suchte so vorsichtig wie möglich durch die Reihe der Sitzenden zu kommen und ging nach draußen. Hinter der Friedhofskapelle musste sich Markus übergeben.

Dann versuchte er die frische Luft tief in sich hineinzuatmen. Es wurde ihm besser. Er ging zurück zum Friedhofskapelleneingang, und stellte sich ganz hinten, neben der Tür in die Gruppe der Trauernden.

Pfarrer Gärtner predigte von der zurechtbringenden Vergebung aller Schuld und allen Versagens. Man muss das Gott nur Zutrauen und ihm sein Angebot in Ehrfurcht abnehmen.

Und dann sagte Pfarrer Gärtner zum Schluss: »Wir empfehlen der unendlichen Liebe und Vergebung Gottes gegenüber uns Menschen auch das Versagen des Verstorbenen an, der seine Eltern und viele unter uns in Trauer und Wehmut zurückgelassen hat. Der lebendige Gott möge ihm vergeben und seiner Seele gnädig sein. Amen.«

Damit endete die Predigt. Aus der Orgel erklang das Nachspiel zur Feier. Dann wurde der Sarg hinausgetragen. Er stand auf einem Sargträger mit vier Rädern.

Was dann weiter auf dem Friedhof geschah, nahm Markus nicht mehr richtig in sich auf. Alles in ihm drehte sich um die Frage von Pfarrer Gärtner, wer dem Toten die Droge besorgt habe. Markus spürte ein böses Brausen in seinem Schädel. Der Kopf schien zu platzen. Kopfschmerzen traten auf, wie er sie noch nie gehabt hatte.

Dann, Markus wusste wirklich nicht wie, löste sich die Trauergemeinde auf. Die Eltern blieben am offenen Grab stehen. Verwandte und Freunde der Familie drückten den Eltern die Hände und sprachen ihr Beileid aus.

Markus ließ sich mit dem Strom der Menschen vom Friedhof treiben. Er wusste hinterher nicht mehr, wie er hinausgelangt war. Es spürte nur eine tiefe innere Erschütterung. Diese Beerdigung war zu viel für ihn gewesen. Das musste er zugeben, auch wenn er nun ein Mann war und zum harten Kern gehörte.

Das schreckliche X am Unterarm brannte wie Feuer. Markus sah nach. Die Wunde war kaum entzündet und brannte doch.

Am Ende der Sackgasse, die zum Friedhofstor führte, stand ein alter Mann, den Hut tief in die Stirn gedrückt. Er trug eine gelbe Armbinde mit schwarzen Punkten und eine schwarzverspiegelte Brille. Vor ihm stand ein Holzkasten. Der Mann spielte traurige Melodien auf seiner Mundharmonika. Und viele, die vorübergingen warfen Münzen in das Kästchen des Blinden mit der Mundharmonika. Auch Kommissar Räuber, der von der Predigt 'angekratzt' war, warf achtlos einen Fünfziger hinein.

Als Markus näher kam, spielte der Mundharmonikaspieler das Lied vom Tod. Es klang diesmal gequält und unsäglich traurig.

Markus war wie hypnotisiert. Es gab kein Ausweichen. Wie im Traum zog es ihn zum dem alten Mann mit der Mundharmonika. Er ging nicht auf ihn zu. Er wurde gegangen. Markus stand unter einem unerklärlichen Zwang.

Markus suchte nach einem Groschen in der Hosentasche, warf ihn in den Holzkasten und hatte dabei das Gefühl, als starrte ihn der Mann hinter der verspiegelten Brille an. Und dann sah er den weißen Zettel im Kasten liegen. Markus bückte sich und nahm den Zettel schnell und unauffällig aus dem Kasten.

Als Markus an der nächsten Ecke den Zettel auseinanderfaltete, las er: »Morgen Abend im Trainingszeug bei Willi. Kein Wort! Denk an den Schwur, der Verräter tötet!«

Markus erbrach sich heute zum zweiten Mal.

7. Eine tolldreiste Nacht

Pünktlich erschien Markus in Willis Kneipe. Heute waren Leute zusehen, die Markus noch nicht kannte. Meist junge Männer. Zuhause war bei Markus alles gut gelaufen. Die Eltern waren zu einer Geburtstagsparty bei Freunden eingeladen. Sie würden vor morgen früh, aller Erfahrung nach, nicht zurück sein. Und morgen würde Markus nicht zur Schule gehen. Eine Ausrede ließ sich finden. Der Vater würde schon eine Entschuldigung schreiben.

Markus war gespannt.