Der Geist des Hauses - Jan Eik - E-Book

Der Geist des Hauses E-Book

Jan Eik

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Beschreibung

Berlin, Mitte der Neunziger: Der berühmte Friedrichstadtpalast zeigt aus Geldmangel seine vermutlich letzte Revue. Anlass genug für den Journalisten Pingel, eine große Story über Tradition und Geist des Hauses zu schreiben. Als er der ehemaligen Primaballerina Jimena begegnet, werden böse Erinnerungen in ihm wach und wie schon vor zwanzig Jahren, scheint die Tänzerin wieder in seltsame Todesfälle verwickelt zu sein. INHALT: Vorspiel nach der Premiere Prolog im Himmel Am Zirkus Öffentlichkeitsarbeit Unerwarteter Besuch Kasino Dichterlesung Unterwelt Rotwein auf Regen Selbstmord? Wodka libre Delikte am Menschen Gina Ansicht von oben Zirkus mit Phantom Brandschaden Leonce Auf höchster Ebene Vorkommnisuntersuchung Chamäleon Elektroschock Im Reich der Toten Jonny Abendstunde im Frühherbst Versionen Trauerfeier Madame Giry Nachhaltige Belehrung The show must go on Generalprobe Epilog LESEPROBE: Und plötzlich flüsterte sie ihm zu: „Sie kannten den Mann, der sich ...“ Sie machte eine Handbewegung zum Hals. „Mit unserem Seil ...“ „Er war ein guter Freund.“ „Sehr schlimm“, sagte sie und schritt ebenso plötzlich, wie sie geflüstert hatte, mit ausdruckslosem Gesicht an ihm vorbei. Am Bühnenportal stand ihr Partner. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Conny verschwand durch die Tür neben der Vorbühne aus dem Saal. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren und die nächste Treppe zu finden. Der Weg zum Büro der PR-Managerin führte ihn um das ganze Bühnenhaus herum. Jeder, der ihm begegnete, schien ihn anzustarren. Es wurde Zeit, dass er in die Offensive ging. Frau Fechtenberg war nicht alleine in ihrem Büro. Sein Auftauchen schien sie zu überraschen. „Wir können das nachher erledigen, Peer“, sagte sie zu dem jungen Mann, den Conny bereits bei seiner ersten Visite gesehen hatte. „Lassen Sie sich bitte nicht bei Ihrer Arbeit stören“, sagte Conny entschlossen. „Ich habe Ihnen nur zwei, drei Sätze mitzuteilen, und die sollte der junge Mann auch hören. Ich lege nämlich Wert darauf, dass möglichst viele im Haus erfahren, was ich zu sagen habe.“ Die beiden saßen wie vom Donner gerührt. „Ich weiß nicht, ob ich die richtige Adresse ...“, sagte Frau Fechtenberg. „Der Direktor …“ Conny ließ sich nicht beirren. „Liebe Frau Fechtenberg. Ich bin ein freiberuflicher Journalist. Nichts weiter. Kein V-Mann der Polizei und niemand, der an irgendwelchen Todesfällen irgendwo in irgendeiner Form beteiligt ist. Joe Becker war ein alter Freund,

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Impressum

Jan Eik

Der Geist des Hauses

Ein Friedrichstadtpalastkrimi

ISBN 978-3-95655-421-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1998 bei Ullstein.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorspiel nach der Premiere

Conrad Pingel fühlte sich unzufrieden. Irgendwas lief schief in dieser Nacht. Dabei war das Programm unterhaltsam und die Stimmung besser als dem Anlass angemessen. Von seinem Balkontischchen hatte er die beste Sicht auf die kleine Bühne, die Beine der Girls und auf die Damen im Publikum. Einige davon boten einen durchaus erfreulichen Anblick. Zumindest aus der Entfernung. Sehr blond, sehr schlank und sehr elegant gekleidet. In dieser Umgebung war das kein ungewöhnliches Markenzeichen. Ihm fiel die einzige brünette Schönheit auf, die neben einem beinahe ebenso schönen jungen Mann in der ersten Tischreihe saß. Wahrscheinlich Tänzer aus der Großen Revue.

Pingel konnte sich ganz ungestört seinen Beobachtungen widmen. Die Serviererin belästigte den unauffälligen Gast ohne Schlips nicht mehr, seit er den zweiten Pfirsichsaft bestellt hatte. Nicht einmal seine Begleiterin lenkte ihn ab. Meike hatte sich rechtzeitig vor Schluss der vorläufig letzten Premiere in der Kleinen Revue des großen Berliner Friedrichstadtpalastes in das zu erwartende Getümmel der Premierenfeier gestürzt. Wenn er Glück hatte, zog sich der Trubel bis in die frühen Morgenstunden hin. Conrad Pingel bereute sein leichtfertiges Versprechen, sie als Dank für die Einladung nach Hause zu fahren. Er fühlte sich jetzt schon schläfrig.

Wahrscheinlich rührte seine Verstimmung daher, dass er sich nur allzu gut an eine ähnliche Premierenfeier erinnerte, die zwanzig Jahre zurücklag. Zu viert hatten sie an ebenso einem Ecktisch gesessen, oder vielmehr anfangs zu dritt - Merten, seine Ex-Frau und er. Mertens damalige Flamme spielte eine Rolle in dem Revueprogramm und war später direkt vom Podium zu ihnen an den Tisch gekommen. Erhitzt und aufgedreht wie ein Hubschrauber.

Was mochte aus ihr geworden sein? Seit Mertens Verschwinden hatte er nie wieder etwas von ihr gehört. Die letzte Nachricht von seiner Ex-Frau hingegen stammte aus Rupolding und informierte ihn über ein weiteres Studienjahr des gemeinsamen Sohns.

Damals schien die Welt noch in Ordnung. Er verdiente ganz gut mit der Schreiberei. Seine Ehe verlief ohne Probleme. Merten hatte den Job im Friedrichstadtpalast gefunden, eine neue Liebe war erblüht.

Natürlich stimmte das nicht. Zwischen Merten und der Soubrette hatte irgendeine Missstimmung geherrscht, und zwischen ihm und seiner Frau Doktor hatte es nicht besser ausgesehen. Nicht mal über die beschissene Situation im Lande durften er und Merten ungestört herziehen. Frau Doktor wusste es ständig besser. Nur Mertens Herkunft aus dem sozialistischen Hochadel hatte die promovierte Philosophin daran gehindert, eine Grundsatzdiskussion zu entfachen.

Melancholisch sah er über die Brüstung. Im Parkett turnte eine Menge Prominenz herum. Sänger, Tänzer und natürlich Schauspieler, dazu der Regisseur mit stolzgeschwellter Brust und schmachtendem Blick. Und allerlei Leute aus Politik und Öffentlichkeit. Bis Meike die alle abgelichtet hatte, war es bestimmt sechs. Wahrscheinlich erwartete sie außerdem, dass er für sie das eine oder andere kluge Wort aus berufenem Mund aufschrieb. Als hätte einer von den Promis jemals etwas Bemerkenswertes gesagt, Morgen würde mindestens eins der hauptstädtischen Wurstblätter melden, es hätte mal wieder der Bär gesteppt. So sahen die da unten aus.

Von seinem Platz aus hatte Conrad Pingel, den alle Welt Conny nannte, einen guten Überblick. Der grämliche Obersenator blickte beleidigt, als wolle er seinen Bonner Chef imitieren. Der kugelige Kulturboss gestikulierte mit einem Sektglas in der Hand und sah aus wie ein Raubtierdompteur, der gut ins Varieté passte. Die Fraktionsvorsitzenden zogen unterschiedlich verkniffene Grimassen, Conny entdeckte den kahlköpfigen Stadtkommandanten mit der haspligen Aussprache. Ob seine Kommandos überhaupt jemand verstand? Wahrscheinlich gab ein General gar keine Kommandos. Allenfalls Fernsehinterviews und auch davon höchstens sieben in der Woche. Der Mann im Smoking reckte und streckte sich, als wolle er noch wachsen. Bei seiner Größe fiel es ihm sicher schwer, dem Feind ins Auge zu blicken. Es sei denn, er kämpfte zu Fuß gegen Napoleon. Meike, die Kamera mit beiden Händen hoch über den Kopf haltend, überragte ihn, als wolle sie ihn aus der Vogelperspektive porträtieren. So groß wie sie war von den Feldherren allenfalls Karl der Große gewesen - wenn es ihn denn gegeben hatte. Die Historiker zweifelten neuerdings daran.

Meike drängte es zu der importierten Fiskaläquilibristin, von der die dringliche Forderung zur Schließung der Kleinen Revue rührte. Immerhin mutig von ihr, an der Beerdigung teilzunehmen. Noch dazu mitten in der Nacht, mitten im tiefsten Osten. Vermutlich war allen Inselpolitikern da unten ein bisschen unheimlich zumute. Zumal die Gegend noch immer zum Fürchten aussah. wie Conny bei der Anfahrt bemerkt hatte. Meike hatte nur spöttisch gegrient, als er seinen betagten Toyota mit der Lenkradkralle sicherte. Sie wohnte in Moabit und fuhr üblicherweise Fahrrad.

Er sah die Kamera und das blonde Stoppelhaar über der Menge und beschloss, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Bei der Gelegenheit konnte er am kalten Büfett vorbeigehen. Er begegnete dort der brünetten Frau aus der ersten Reihe. Sie legte ihrem Partner gerade ausgewählte Häppchen auf den Teller. Als ihr Blick auf Conny fiel, schien sie einen Augenblick überrascht, aber das war sicher eine Täuschung. Conny nickte ihr zu und nahm sich eine Bulette. Langsam ging er hinter den beiden her. Sie hatte die trainierte Figur und die Beine einer Tänzerin. In ihren hochhackigen Schuhen schritt sie wie eine Diva dahin. Für die Solorolle in der Revue schien sie ihm doch eine Spur zu alt.

Im Saal nahm Meike ihm die halbe Bulette aus der Hand.

„Siehst du noch irgendwen, der wichtig wäre?“

„Da drüben steht der Liebling aus SO 36.“

Meike winkte kauend ab. „Ich wundere mich, was der hier will. Ich denke, der ist krank?“

„Er ist früher hier aufgetreten. Als Sänger.“

Sie verzog das Gesicht. „Als Sänger? Hier im Osten?“

Der Schauspieler, mit dem Conny sich vor Äonen geduzt hatte und der ihm schon deshalb sympathisch war, well er keinen Schlips trug, legte seinen Arm um die Schulter eines älteren Herrn mit Brille, der nicht sehr gesund aussah.

„Hast du ihn wenigstens mit Rolf Ludwig im Kasten?“

„Der Juhnkeverschnitt daneben? Hat der auch gesungen?“

„Er ist …“, begann Conny auszuholen und gab es im gleichen Augenblick auf, „... ein bedeutender Schauspieler.“ Meike war ein guter Kumpel, und Kumpels belehrt man nicht pausenlos. Sie tat das ja auch nicht. Sie setzte einfach voraus, dass alles in diesem Land schon immer so gewesen war, wie sie es von irgendeinem Nordwestdeutschen Stadtboten nebst Friesischem Fremdenblatt her kannte. Dort hatte sie ihr fotografisches Volontariat absolviert, bevor es sie auf dem Umweg über Bielefeld mitten ins Herz der Norddeutschen Tiefebene verschlagen hatte. Jetzt machte sie Fotos für die hauptstädtischen Klatschspalten. Auf diese Weise war sie zu zwei Premierenkarten gekommen und hatte an ihn gedacht. Seit sie sich vor zwei Jahren bei einem getürkten Fototermin in einem Ostberliner Redaktionsgebäude kennengelernt hatten, hegte Meike ein mütterliches Gefühl für ihn. Gelegentlich schoben sie sich gegenseitig kleinere Aufträge zu. Meike war fast zwanzig Jahre jünger als er und einen halben Kopf größer. Bei der Fotosession hatte er eine Leiche gespielt, die abtransportiert wurde. Mit ihren Schuhen an den Füßen. Größe 46.

„Da drüben ist Sandro Waldschmitt!“, stieß Meike mit ungewohntem Temperament hervor und stürzte davon. Von ferne sah Conny sie vor einem gelackten Bürschchen herumspringen, das versuchte cool und nicht kleiner auszusehen als die Schönheitskönigin mit dem törichten Gesicht an seiner Seite. Das Paar war sich seiner Bedeutung bewusst. Conny kannte beide nicht.

„Du bist ignorant“, war alles, was Meike dazu einfiel. „Sandro Waldschmitt und Melissa Buschmann - das heißeste Frühstücksradio der Metropole! - Besorg mir mal noch eine Frikadelle.“

Gegen zwei war Meike noch nicht satt, aber das kalte Büfett bot nur noch Reste vom Eiersalat. „Gehn wir“, schlug sie vor. Conny warf einen letzten Blick in den Saal. Auf der zum Tanzen freigegebenen Bühne waren einige Paare zu einem internen Wettbewerb gegeneinander angetreten. Bei einem offiziellen Turnier hätte die Brünette mit ihrem Partner auf jeden Fall eine hohe Wertung erreicht.

Unterwegs zum Auto bemerkte Meike ganz beiläufig: „Ist vielleicht gerade die richtige Zeit, um ein paar Szenefotos auf der Oranienburger zu schießen.“

Conny stellte sich vor, wie scharf die Nutten darauf waren, mitten in der Nacht kostenlos fotografiert zu werden. Vom Fahrrad aus ließ sich das schlecht erledigen. So selbstlos, wie er Meike eingeschätzt hatte, war sie wohl doch nicht. Hoffentlich warf niemand einen Stein auf seinen antiken Toyota.

Er hatte den Wagen in der schmalen Johannisstraße vor einer weiten Trümmerfläche geparkt, auf der einmal eine Synagoge gestanden hatte. Jetzt wartete der Investor, den nur der alternative Kulturschuppen Tacheles behinderte, auf die Neubebauung des Areals.

Conny schloss die Tür auf, entfernte das Lenkradschloss und zog den Sicherungshebel auf Meikes Seite. Sie stieg nicht ein. Sie stand nicht einmal neben dem Wagen.

Er kurbelte die Scheibe herunter und rief nach ihr. Vor ihm parkte ein Wagen der oberen Preisklasse mit ausladender Heckpartie. Über das Dach dieses Gefährts hinweg antwortete Meike: „Augenblick.“ Dann zuckte ein Blitzlicht und noch eins.

Conny sehnte sich nach seinem Bett. „Fotografen!“, stöhnte er, stieg aber doch aus. Vielleicht hatte sie einen Igel entdeckt, obwohl das in dieser Ödnis unwahrscheinlich war.

Sie hatte einen Menschen entdeckt. Einen, der in gekrümmter Haltung in der engen Lücke zwischen der Nobelkarosse und einem alten Golf im Rinnstein lag und sich nicht bewegte.

„Scheiße“, sagte Conny aus tiefstem Herzen. Es drückte sein Mitgefühl für das Schicksal der Gestalt am Boden aus - und die Befürchtung, dass diese Angelegenheit nicht mit zwei Fotos abgeschlossen war. Er beugte sich hinunter. Der Duftwolke nach zu urteilen, handelte es sich um eine Frau. Sie trug eine seidene Hose und teure Turnschuhe. Das Gefühl beim Anfassen der kräftigen Knöchel ließ Conny nichts Gutes ahnen. Er ging um den Wagen herum und versuchte es von der anderen Seite. Als seine Hand das Gesicht berührte, spürte er, dass der Mensch einen Schnurrbart trug.

Meike hockte neben ihm und fotografierte. „Hol lieber Hilfe“, schnauzte Conny sie an. Im Blitzlicht erkannte er, dass es sich um einen jungen Mann mit straff nach hinten gebundenem Haarschopf handelte. Die starren Augen mit stecknadelgroßen Pupillen standen offen.

„Ist dem noch zu helfen?“, erkundigte sich Meike nüchtern.

Conny brauchte eine Weile, um den Arm des Jünglings unter dem Wagen hervorzuziehen. Er fand keinen Pulsschlag.

„Einen Taschenspiegel!“, forderte er. Ein solcher Gegenstand gehörte nicht zu Meikes Ausrüstung. Er nahm ihr die Kamera aus der Hand und schob die großflächige Linse vor den Mund des Liegenden.

Meike zerrte am Kameragurt. „Bist du verrückt?“

Conny ließ sich nicht beirren. Er hielt den Apparat schräg ins Licht der nächsten Laterne und sah, dass kein Hauch die Linse trübte.

„Wir müssen die Polizei holen“, sagte er. „Um die Ecke vor der Synagoge steht ein Posten.“

„Dann fahr du“, sagte sie.

Als Conny den Toyota wendete und in die Tucholskystraße einbog, blitzte es hinter ihm mehrmals.

Prolog im Himmel

Es dauerte eine ganze Weile, bis er das hässliche Geräusch in seinem Kopf als Telefonklingeln identifizierte.

„Kalvenkämper“, sagte eine jugendlich joviale Stimme. „Schön, dass ich Sie erreiche, Herr Pingel.“

Conrad Pingel war nicht leicht zu verblüffen. Er war Journalist. Ein Beruf, den jüngere Kolleginnen gerne Djornalist aussprachen. Aber die sprachen eh halt für Loite, die hoite ihren Spass haben wollten. Er hatte den Beruf nicht erlernt, in den Fährnissen der Zeit jedoch mit einigem Geschick auszuüben gelernt. Er verstand von allem etwas und von vielem nichts, was ihn prädestinierte, über das meiste zu schreiben. Das war schließlich sein Job.

Jedenfalls hatte Conny seit den Herbstereignissen vor acht Jahren keine Überraschung von der Güte erlebt, wie sie ihm Kalvenkämpers Anruf bereitete. Er kannte Kalvenkämper nur vom Hörensagen.

„Ich habe Ihren Beitrag über dieses Theater ohne Namen mit großem Interesse gelesen, Herr Pingel. Ich glaube, es wäre an der Zeit, dass Sie mal etwas Größeres für uns schreiben.“

Der Umstand, dass der Anruf ihn morgens um 9.10 Uhr erreichte, erschütterte Conny noch stärker als die frohe Botschaft. Den Pferdefuß der Angelegenheit würde er früh genug im Gesäß verspüren. Einen leitenden Redakteur, der kurz nach Mitternacht anrief, um ausgerechnet den allerletzten der freien und sehr gelegentlichen Mitarbeiter zu loben, hatte Conny in seinem früheren Leben allenfalls erlebt, wenn es sich um einen besonders unangenehmen Auftrag handelte, vor dem sich alle Festen erfolgreich zu drücken verstanden. In den letzten sieben Jahren war ihm vor zehn Uhr überhaupt kein fest angestellter Redakteur begegnet. Nicht einmal am Telefon.

„Ja, gerne, Herr Kalvenkämper“, sagte er deshalb mit so viel Munterkeit in der Stimme, wie er zu dieser frühen Stunde aufzubringen in der Lage war. Ein wahres Glück, dass er das Telefon mit dem urzeitlichen Läutewerk nicht längst ausgemustert hatte. „Darüber könnten wir gerne mal reden.“

„Na eben. Wie würde es Ihnen denn heute Mittag passen?“

Conny unterdrückte einen Hustenreiz. Er wusste, dass ihm jede Tageszeit zu passen hatte, wenn Kalvenkämper rief. Aber er wusste auch, was er sich und seinem Ruf schuldig war. Er sagte: „Ich schaue mal in meinen Terminkalender“, und wühlte ein bisschen in dem Papierberg auf dem Schreibtisch. Für das passende Computergeräusch war es zu spät. Der schrottreife 286er war nicht eingeschaltet.

„Heute Mittag ginge es, Herr Kalvenkämper“, sagte er schließlich und gab sich dabei Mühe, nicht zu gähnen.

Der freute sich. „Na, super, mein lieber Pingel. Dann sehen wir uns um dreizehn Uhr in der Klubetage. Ist das recht?“

Connys Erstaunen wuchs parallel zu seinem Misstrauen. In der Klubetage. Er hatte von diesem sagenhaften Klub gehört, in dem die Großen des Gewerbes dinierten. Meike hatte es durch Zufall, wie sie behauptete, einmal dorthin verschlagen. Beim Kilkenny, das sie liebte, träumte sie noch immer davon.

In Wirklichkeit war alles viel prosaischer. Conny brauchte eine Viertelstunde, um einen kostenfreien Parkplatz für den Toyota zu finden, und weitere zehn Minuten, um von dort das Pressehaus zu erreichen. Dessen marmornes Vestibül erinnerte an die Abfertigungshalle eines Provinz-Flughafens. Kalvenkämpers Name war geeignet, eine schauspielerisch gelungene Reaktion des Pförtners hervorzurufen, der von Natur aus wirkte, als hätte er jeden Besucher viel lieber gebissen. Er telefonierte und teilte dem Gast mit der hoheitsvollen Grandezza des unkündbaren deutschen Beamten mit, er hätte zu warten, bis er abgeholt würde.

Conny fühlte sich an die Gepflogenheiten in den höheren Dienststellen eines unlängst dahingegangenen Staatsapparates erinnert. Niemals hatte er gehört, dass auch nur ein einziger Klassenfeind - oder gar ein Terrorist! - durch eine solche Sicherheitsmaßnahme oder durch einen handgeschriebenen Passierschein entlarvt worden wäre.

Gelangweilt überflog er die Balkenüberschriften der ausliegenden Blätter. Krenz abgeschmettert hieß es da. Handelte es sich nicht um das Blatt, in dem der vom langweiligen Pionierleiter zum kurzzeitigen Staatsratsvorsitzenden Emporgestiegene einst seine dürftigen Memoiren publiziert hatte?

Senat kürzt Millionen entzifferte Conny über der Faltkante, aber da kam schon Kalvenkämper aus dem Aufzug quer durch die Halle auf ihn zu. Sie erkannten sich sofort. Er war so jung, wie Conny ihn sich vorgestellt hatte. Wo ältere Journalisten die Zeit bis zur Veröffentlichung ihres Nachrufs verbrachten, war ihm schleierhaft.

Kalvenkämper schüttelte ihm die Hand und gab sich viel lockerer als alle Untergebenen, denen Conny bisher hier begegnet war. Im Lift lobte er nochmals den hervorragenden Beitrag zum Theater ohne Namen - das sich tatsächlich so nannte, weil alle anderen unsinnigen Namen in dieser Stadt schon besetzt schienen. „So einen munteren und echt Berlinischen Ton brauchen wir. Und noch dazu aus dem Osten.“

Immerhin war ihm neu, dass man etwas aus dem Osten brauchte. Aber die jungen Leser wollten eben gerade das, wie Kalvenkämper betonte. Und was lag da näher, als einen bewährten und kenntnisreichen Mann heranzuziehen, eben ihn, Conrad Pingel (alias P. Legin alias C.Nigel alias Carl Peingold alias Congelin, um wenigstens die wichtigsten seiner Pseudonyme aufzuzählen. Auf Leo C. Pingrad hatte Conny der Klangassoziation Leningrad wegen seit längerer Zeit verzichtet.).

Der Klub war tatsächlich etwas Besonderes. Wieder einmal fühlte er sich ohne Schlips ein bisschen nackt um den Hals, als er den lang gestreckten Raum betrat. Die Fenster boten einen weiten Blick über die Kräne der Hauptstadt. Die Möbel waren nicht so neu wie in den Nobeltavernen der neuen Mitte, was ihren Charme um einiges erhöhte. An den eichengebeizten Wänden hingen Fotos und Bilder aller Formate und CEuvres - in dieser Umgebung zweifellos ausschließlich Originale. Um ein solches handelte es sich auch bei dem Oberkellner: Ein aufrechter, kaum mittelgroßer Mann, der auf verblüffende Weise einem bekannten englisch-deutschen Entertainer glich, dessen Akzent er vollendet nachzuahmen verstand.

Sie nahmen in einer der Sitzecken Platz, und Mister Pumpernickel erläuterte ihnen seine speziellen Angebote. Conny, durch seine finanzielle Lage und die Grenzen der eigenen Küchenkunst bisher erfolgreich daran gehindert, sich zu einem Gourmand, geschweige denn zu einem Gourmet zu entwickeln, entschied sich für Klare Brühe, Zanderfilets auf Risotto mit geröstetem Sellerie, dazu Wasser und - erst auf Anraten Pumpernickels und nach dringlicher Aufforderung durch Kalvenkämper - für eine Flasche guten trockenen Weißweins.

Kalvenkämper hielt sich nicht damit auf, die Wirkung des Klubs auf Conny zu beobachten, und das war gut so. Pingel hätte sonst gestehen müssen, dass es bei der originalen Goldelse in der Sperlingsgasse mindestens ebenso viele Originale an den Wänden gegeben und das in weißem Schleiflack gehaltene Vorstandsspeisezimmer in der ehemals Volkseigenen Filmfabrik Wolfen ihn stärker beeindruckt hatte.

Kalvenkämper, der aus Iserlohn stammte, wusste vermutlich nicht einmal, wo Wolfen lag und an welchem Geruch man die Gegend früher auf siebzig Kilometer Entfernung erkannt hatte. Er war via Tübingen, Passau und Bonn nunmehr in Berlin gelandet, wo es galt, die Leser in der ganzen Stadt und in den neuen Ländern gleichermaßen an eine modern und hauptstädtisch aufgemachte Zeitung heranzuführen, wie Kalvenkämper sie sich vorstellte.

„Das Tageblatt hat gerade so eine Serie zu den künftigen Standorten der Ministerien gebracht. So etwas scheidet leider für uns aus“, sagte er und blickte sinnend auf das Perlenspiel in seinem Wasserglas. Conny nickte weise, während er aus den Augenwinkeln verstohlen die schwarz bestrumpften Beine der jungen Serviererin betrachtete, die ihm Wasser eingoss, Sie trug einen erfreulich kurzen Rock und war außerdem hübsch.

„Obwohl das schon etwas ist. Sie hatten ja hier sozusagen eine ganze Regierung mit allen Ministerien.“

Und was für eine, dachte Conny, sagte aber nur gemessen: „Die hatten wir.“

Ministerien waren nicht sein Fachgebiet gewesen. Wie die meisten Leute im Lande hatte er kaum die Namen der Minister gekannt. Einmal hatte man ihn kurz fristig ins Justizministerium bestellt, um ihm mitzuteilen, dass in einem Film des Fernsehens der DDR weder Intershop noch Strafvollzug im Bild erscheinen dürften. Richtig verstanden hatte er das erst bei der Besichtigung einer Untersuchungshaftanstalt. Nach der Wende.

„Wir haben hier eine bedeutende Kulturlandschaft, viele Theater eine breite Off-Szene ...“

Kalvenkämper nickte heftig. „Wie dieses Theater ohne Namen“, sagte er. Anscheinend kannte er keinen anderen Beitrag von Conny.

Die Serviererin mit den ansehnlichen Beinen unter dem kurzen Rock brachte die Suppe. In der sehr klaren Brühe schwammen Gemüseschnitzel. Die von Kalvenkämper bestellte Wirsingcreme sah aus wie ein Teller Milch, verziert mit einer exotischen Blüte. Kalvenkämper tauchte den Löffel so ungerührt hinein, als äße er Erbsen. „Ich hatte eigentlich an etwas Größeres gedacht“, sagte er und schickte einen prophetischen Blick in die Runde.

„In dieser Stadt muss es doch noch anderes geben. Gebäude, architektonische Ensembles, was weiß ich. Historische Orte einfach, an denen sich die Geschichte der Hauptstadt, ja Deutschlands abgespielt hat ...“ Er hob bedeutungsvoll den Löffel. „… und die dennoch vergessen scheinen. Verstehen Sie, was ich meine?“

Conny verstand. Er hatte nach der Wende ein Jahr in einer ABM-Gesellschaft Historisches Stadtbild verbracht, die in einem weit gefächerten Forschungsprogramm nahezu jeden Pflasterstein zu erfassen suchte. Ob Ortsgeschichte, Architekturdetails, Straßennamen, Denkmäler oder Hinterhöfe - alles wurde katalogisiert und mehr oder weniger systematisch untersucht. Dabei war manches Interessante ans Tageslicht gekommen. Conny hatte sich zuletzt mit der Topografie des Stasi-Geländes in Lichtenberg befasst.

Kalvenkämper rümpfte ein wenig die Nase. „Das Thema lassen wir besser für die nächsten fünf, sechs Jahre weg. Es sei denn, wir haben etwas wirklich substanzielles zu bieten.“

Conny dachte nach. „Die Bahnhöfe“, schlug er vor. „Das ist ein interessantes Kapitel.“

Mister Pumpernickel nahte mit dem Wein und kredenzte ihn Kalvenkämper mit großer Gebärde. Der kostete und nickte abwesend. „Verkehr findet immer seine Leser, das ist wahr. Aber sind die Bahnhöfe in Ostberlin nicht alle abgerissen worden? Ich meine, bis auf diesen Hauptbahnhof ...“

„Die Bahnhöfe waren alle zerstört. Der Anhalter und der Potsdamer lagen im Westen. Der Lehrter und der Görlitzer Bahnhof auch. Im Osten gab es direkt an der Grenze den Stettiner Bahnhof. Alle diese Ruinen sind im Mai 1952 stillgelegt worden, als die DDR den Fernverkehr aus Westberlin herausnahm. Später hat man sie abgetragen.“

Seine Kenntnisse schienen Kalvenkämper zu beeindrucken. „Ich kannte nur diesen Ostbahnhof, weil ich da mal nach Stockholm weiter gefahren bin.“

„Der eigentliche Ostbahnhof lag ein ganzes Stück entfernt am Küstriner Platz. Da war bis 1945 ein Varieté drin. Die Plaza.“

Und im Augenblick, in dem er das aussprach, traf Conny die Erleuchtung. „Der Friedrichstadtpalast!“, sagte er. „Das ist das Thema, das Sie suchen.“

Davon schien Kalvenkämper ganz und gar nicht überzeugt. „Dieser orientalische Basar aus Beton?“, fragte er ungläubig. „Ich habe da eine ziemlich platte Revue gesehen. Lang Legs oder so ähnlich,“

„Zugegeben, der Palast sieht aus wie der Hauptbahnhof von Jerewan. Aber um dieses Gebäude geht es gar nicht. Und nicht um das augenblickliche Programm. Jedenfalls nicht nur. Ich meine die Geschichte des Hauses, von der alten Markthalle bis zu Europas größtem Revuetheater.“

„Na, wer weiß, wie lange noch“, wandte Kalvenkämper ein. „Sie wissen doch, wie es mit dem Geld für die Kultur aussieht in dieser Stadt.“ Aber etwas interessierte ihn doch an Connys Vorschlag „Und diesen Palast hat die DDR als Markthalle bauen lassen?“

Heinrich Pumpernickel und seine hübsche Hilfskraft rollten den Servierwagen heran. Unter der ersten der beiden großen Metallglocken verbargen sich zwei kleine Zanderfilets neben einem Reishäufchen, garniert mit einer Art verdorrtem Sauerkraut. „Geröstete Sellerieschnitzel!“, verkündete Pumpernickel stolz in seinem angelsächsischen Idiom. „Auch die Roten Bete - geröstet.“ Das waren vermutlich die vier groschengroßen Scheibchen undefinierbarer Färbung rings um den Reis. Kalvenkämper bekam sein Steak mit Kräuternudeln ohne Kommentar. Das Steak stammte augenscheinlich von einem kleinen Ochsen.

„Nicht die DDR hat die Markthalle bauen lassen. Das war der Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. Vor einhundertdreißig Jahren. Dann hat man einen Zirkus draus gemacht. Und später das Große Schauspielhaus. Max Reinhardt hat dort inszeniert.“

Kalvenkämpers Gabel, mit einem winzigen Stück Fleisch bestückt, blieb in der Luft hängen. „Das Schauspielhaus steht am Gendarmenmarkt“, sagte er befremdet.

„Das Schauspielhaus. Aber nicht das Große Schauspielhaus. Das stand an der Spree. Oder besser: an der Panke.“

„Sie meinen, Max Reinhardt hätte tatsächlich in diesem - Friedrichstadtpalast inszeniert? Die Orestie? Und Dantons Tod?“

„Nicht in diesem Friedrichstadtpalast. In dem alten. Der stand ungefähr zweihundert Meter entfernt. Direkt neben dem Berliner Ensemble.“

„Hochinteressant. Ich bin nämlich von Hause aus Theaterwissenschaftler. Über Max Reinhardt habe ich meine Magisterarbeit geschrieben. Er hatte sich doch das Theater von Poelzig ausbauen lassen.“

Noch bevor auch das zweite Zanderstückchen in seinem Schlund verschwunden war, wusste Conny, dass er den richtigen Nerv bei Kalvenkämper getroffen hatte. Sie hoben die Gläser.

„Da ist etwas dran, mein Lieber, an diesem Palast“, sagte Kalvenkämper anerkennend. „Ich werde mit dem Chef reden. Vielleicht ist eine mehrteilige Serie drin.“

Das Wort Serie hörte Conny im Zusammenhang mit eigenen Arbeiten ausgesprochen gern. Indes dämpfte der Hinweis auf die nächsthöhere Instanz seinen aufschießenden Optimismus. Chefs waren grundsätzlich anderer Meinung, wie Conny aus leidvoller Erfahrung bei Zeitungen und Fernsehen in zwei angeblich unversöhnlichen, manchmal erschreckend ähnlichen Gesellschaftssystemen wusste. Chefs unterlagen den direkten Einflüssen höchster Instanzen, die Politbüro, Generalsekretär, Herausgeber, Anzeigenkunde, Sponsor oder wie auch immer heißen mochten. Darin unterschieden sich die ungleichen deutschen Hälften wenig. Dass inzwischen Ossis dem Landarzt vom Marienhof die Dialoge unterlegten, sprach nicht gegen diese Ähnlichkeit.

Pumpernickel erkundigte sich nach dem Wohlgeschmack seiner Kreationen. Conny wollte nicht bestreiten, dass es ihm geschmeckt hatte, von den gedörrten Roten Rüben einmal abgesehen. Er stimmte dem Dessertvorschlag zu, der undeutlich wie Heidelbeerkompott klang.

Inzwischen hatte er Kalvenkämper einen Beitrag über die Premiere in der Kleinen Revue untergejubelt, und ihr Gespräch war tatsächlich in etwas Ähnlichem wie einem Auftrag für einen größeren Artikel über den Friedrichstadtpalast und seine Geschichte gemündet. Sogar von Vorschuss war die Rede und von einer Serie, wenn es das Material hergab. „Finden Sie irgendeinen Kick, eine besonders brisante Geschichte, etwas, was den Leser gespannt auf die Fortsetzung warten lässt. Das brauche ich ja einem Profi wie Ihnen nicht zu sagen, Pingel.“

Dass ihn jemand aus Iserlohn einen Profi nannte, vermerkte Conny nicht ohne Stolz.. Er hatte Leute aus größeren Städten kennengelernt, die nicht daran zweifelten, dass er seine bisherige Laufbahn mit dem Beschriften von roten Transparenten verbracht habe. In russischer Sprache selbstverständlich. Er würde Kalvenkämper etwas Spannendes liefern und hatte auch schon eine Idee.

Pumpernickel servierte ihnen zwei große, mit Kokosraspeln besäte Teller. In der Mitte ragten aus einer quarkähnlichen Masse dunkelgelbe Fruchtstückchen. Conny vermochte nicht herauszufinden, ob es sich um Mango oder Kürbis aus der Büchse handelte. Heidelbeeren waren es jedenfalls nicht.

Am Zirkus

An diesem bläulichen Herbstmorgen war Conny so früh aufgestanden wie man es eben tat, wenn man einer Arbeit nachzugehen hatte. Im Augenblick bestand seine Arbeit darin sich umzugucken. Er war lange nicht in diesem Teil der Friedrichstraße spazieren gegangen. Genau genommen: noch nie. Ein Berliner ging nicht in seiner Stadt spazieren, allenfalls - und auch das selten genug - in einem Park. Conny lebte lange genug in Europas ausgedehntester Häuser- und Baustellenansammlung, um sich als Berliner zu fühlen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er wusste, dass der Alexanderplatz Allex hieß und nicht Ahlex, und dass man seinen sächsischen Zungenschlag besser unterdrückte, wollte man in ein echtes Gespräch kommen mit einem echten Berliner. Davon gab es immer noch ein paar. Manchmal fühlte sich Conny wie einer davon. So unzufrieden wie jeder echte Berliner war er schon lange.

Hundertmal war er die Treppe vom nördlichen S-Bahnsteig hinabgestiegen, den eine undurchsichtige Glaswand von seinem südlichen Bruder trennte, wo die Züge gen Westen fuhren, war an der Distel und am Metropol-Theater vorbeigegangen, hatte sich mit Merten im Pressecafé getroffen und anschließend im tschechischen Pavillon vergeblich nach neuen Jazzplatten gefahndet. Hundertmal hatte er die Weidendammer Brücke überquert und jedes Mal Biermanns Preußischen Ikarussen einen Blick gegönnt, ins trübe Spreewasser geblickt und die düstere Öffnung im Ufermauerwerk rechts unter dem Berliner Ensemble betrachtet, aus dem sich die Panke in die Spree ergoss. Vielmehr: ergossen hatte. Die Panke war eine Legende, wie so vieles in dieser Stadt. Sie mündete längst am Nordhafen in den Spandauer Schifffahrtskanal. Und die Komische Oper, einst die Ecke zum Weidendamm, stand als halber Neubau des alten Metropol-Theaters in der Behrenstraße.

In dieser Stadt blieb nichts, wie es war. Hier wurden selbst die Immobilien mobil. Der freie Platz zwischen BE und den drei verschämten Altbauten an der Rückseite des Hotels Adria bewies es. Des einstigen Hotels Adria. Von Weitem sah Conny, dass die Fenster des Hotels und der sagenumwobenen G-Bierbar vermauert waren.

Er überquerte die Fahrbahn mitten auf der Brücke. Den Schiffbauerdamm entlang parkten die Autos dicht an dicht. Hier war einmal alles bebaut gewesen. Wenn die Grundstückspreise erst wieder stiegen, war es vorbei mit der falschen Idylle. Brecht saß auf seinem Sockel und blickte über die Spree hinüber zum Tränenpalast. Ein hässlicher Bahnhofsauswuchs, in dem die Ostberliner in den sechziger Jahren von ihren Westverwandten Abschied genommen hatten. Grenzübergangsstelle Berlin-Friedrichstraße. Hatte Brecht das geahnt oder gefürchtet und deshalb die österreichische Staatsangehörigkeit behalten? Die optimistischen Sprüche auf den drei Säulen um den toten Dichter herum verrieten es nicht. Er las:

Ja,

ich glaube

an die sanfte

Gewalt der Vernunft

über die Menschen.

Sie können ihr

auf die Dauer nicht

widerstehen.

Ein Wellblechzaun schloss den Platz ab. Conny sah sich um. Niemand beachtete ihn. Er presste den Fuß in eine Rundung des Blechs und zog sich hoch. Vor Lachen hätte er beinahe losgelassen. Eine verkrautete Betonfläche, auf der die Autos ohne jede Ordnung herumstanden. Das war alles, was vom alten Friedrichstadtpalast geblieben war. Ein verkommener Parkplatz. Er wandte sich nach links, wo eine Schranke den Hintereingang zum Berliner Ensemble abriegelte. Daneben stand hinter einem Zaun ein graues Werkstattgebäude. Conny wusste, dass unter seinen Füßen das Bett der Panke lag. Zu sehen war nichts davon. An diesem Zaun entlang hatte sich die Westwand des alten Zirkusgebäudes erstreckt. Also stand der Zaun genau da, wo sich der Palastgiebel mit dem Bühneneingang befunden hatte. Er ging an dem Zaun entlang und fand die Rinnsteinecke, wo die schmale Straße Am Zirkus in Richtung Reinhardtstraße abbog. Rechts standen noch vier Häuser der ursprünglichen Bebauung, die aussahen, als hätte es nicht gelohnt, sie zusammen mit dem Palast abzureißen. Waren ihre Grundmauern nicht angegriffen? Die seit langem unbenutzten Keller lagen fast auf Straßenniveau.

Links neben dem zurückgesetzten Eckhaus verriet eine freie Fläche die einstige Bebauung der Zufahrt zur Reinhardtstraße. Das Haus Am Zirkus 2 auf der anderen Seite war in den siebziger Jahren olivfarben renoviert und allen Zierrats aus seiner Bauzeit entkleidet worden.

Conny blickte durch ein Gittertor auf den Parkplatz. Er erinnerte sich genau an den Tag, an dem er hier zum ersten Mal gestanden hatte. Zusammen mit seinem Onkel Alfons war er extra zu diesem Ereignis nach Berlin gefahren. Ein guter Bekannter aus der Hauptstadt hatte Alfons zwei Karten für das Konzert mit Louis Armstrong besorgt.

Dieses Konzert veränderte sein Leben. Er entdeckte seine Liebe zum Jazz und zu der spröden Stadt an der schmutzigen Spree. Und ganz nebenbei die Liebe zu diesem verrückten Varieté-Bau, groß wie ein Stadion, mit düsteren Wandelgängen und verwirrenden Treppen, einer geradezu magischen Beleuchtung und einem vergammelten Ambiente, aber eben mit einer Atmosphäre. Noch zweimal war er mit Onkel Alfons in die Hauptstadt gefahren und hatte Ella Fitzgerald und das American Folk Blues Festival genossen.

Wiederum im Friedrichstadtpalast. Eigentlich das einzige Haus, das er in Berlin kannte, als er Ende der sechziger Jahre zum Studium an der Humboldtuni zugelassen wurde.

Es war keine gute Zeit, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Die Warschauer Vertragsstaaten waren in Prag einmarschiert. Von den Studenten wurden mehr als nur Lippenbekenntnisse zu dieser Maßnahme erwartet. Auch von den Chemikern. Es setzte Versammlungen, Appelle, Grundsatzreferate und vormilitärische Ausbildung. Conny, der von einer Oberschule kam, an der sich die bürgerlichen Pauker noch immer versteckte Grabenkämpfe mit den Patentsozialisten geleistet hatten, ohne völlig zu unterliegen, fühlte sich bei dieser Art von Studium wie ein rotpreußischer Kadett. Am besten gefielen ihm die historischen Hörsäle in den alten Gemäuern an der Invalidenstraße. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm dort eines Tages der alte Robert Bunsen persönlich über den Weg laufen würde. Doch dazu kam es nicht Noch vor Abschluss des zweiten Semesters traf ihn die Exmatrikulation. Wenn er es recht bedachte: der glücklichste Augenblick des ganzen Studiums.

War er nicht auch an dem Abend im Friedrichstadtpalast gelandet? Oder wenigstens in der Großen Melodie, dem Tanzschuppen im Sockel des Riesenbaus. Erst viel später wurde ihm bewusst, dass es sich auch dabei um einen historischen Ort handelte. Hier war in den zwanziger Jahren das berühmte Kabarett Schall und Rauch zu Hause gewesen, für das Tucholsky und Walter Mehring Texte schrieben. Und Ringelnatz war hier aufgetreten.

Wehmütig blickte Conny über die freie Fläche. Alle Spuren waren getilgt. Würde auch vom neuen Friedrichstadtpalast nicht mehr übrig bleiben, wenn er einmal in die Schussbahn der Stadtplaner geriet? Bestenfalls eine Asbestruine. Abriss, die berlinischste aller Alternativen, schien wahrscheinlicher.

Er drehte sich um und trottete die paar Schritte zur Reinhardtstraße. Das rote Gemäuer des Bauernverlags, ursprünglich ein katholisches Krankenhaus und dann Haus des Reichsnährstandes, war mit Planen verhängt. Links daneben war die Renovierung schon abgeschlossen, wodurch der gewaltige Bunkerklotz, nur durch die symbolische Panke von den übrigen Häusern getrennt, um so schäbiger aussah. Im Eckhaus gegenüber hatte Conny seine erste Studentenbude bewohnt, kaum hundert Meter vom Deutschen Theater entfernt. Die Risse in den Zimmerwänden rührten nicht von Kriegseinwirkungen her, wie die Wirtin zu betonen nicht müde wurde, sondern von den Baumaschinen für den Bunker. Den hatte die Reichsbahn 1942 für die Reisenden vom nahen Bahnhof Friedrichstraße errichten müssen. Jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, stand das Ungetüm noch immer da. Relikt einer verdrängten Zeit, geschmückt mit zerschlissener Disko-Werbung.

Einen Augenblick verharrte Conny an der Ecke Albrechtstraße und schickte einen Blick hinüber zum DT. Auch eine Reinhardtbühne. Aus dem studentischen Tanzlokal Emser daneben hatte der große Theatermagier die ersten deutschen Kammerspiele gemacht. Das war neunzig Jahre her. Drei Generationen. Zwei Weltkriege. Zwei Diktaturen. Zwei deutsche Revolutionen - oder gar keine?

Es tat ihm noch heute leid, dass er so spät nach Berlin gekommen war. Der Nachkriegs-Glanz des Deutschen Theaters war längst im Schwinden gewesen. Nur noch wenige Schauspieler des Wiener Volkstheaters verliehen dem Ensemble einen besonderen Reiz. Wie oft hatte er Rolf Ludwig als dreifachen Drachen und Johannes Maus als Kater gesehen? Wie oft jeden aufmüpfigen Satz beklatscht, der wie für diese DDR geschrieben schien?

Er bog in die Albrechtstraße ein. Auch hier wurde überall gebaut. Die legendäre Hajobar gab es schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Nur das alte Albrechtseck, der gewölbten Fußgängerbrücke zur S-Babn gegenüber, sah noch aus wie früher. Conny verspürte Appetit auf ein Bier, doch ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, dass er seinen nostalgischen Rundgang nicht unendlich fortsetzen konnte. An neuen Glasfronten vorbei, hinter denen sich einst das Wein-ABC (mindestens acht verschieden süße Weine aus Ungarn und Bulgarien im Angebot) befunden hatte, vorbei auch am berüchtigten Trichter, in dem Merten einmal festgenommen worden war und Conny vermutlich nur deshalb unbehelligt bleib, weil er eine Viertelstunde zu spät zu ihrer Verabredung erschienen war. Das alles gab es nicht mehr.

Conny ging auf die andere Straßenseite, zwängte sich zwischen den geparkten Fahrzeugen und dem Spreegeländer entlang. Vor dem Ganymed standen Tische und Stühle auf der Straße. Das war zu Ostzeiten ein Nobelrestaurant gewesen. Ostberlins berühmtester Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul tafelte gerne dort.

Auf der anderen Seite der Friedrichstraße erhob sich auf einem ehemaligen Trümmergelände der einzige Neubau im weiten Rund. Ein Wohnblock am Spree-Ufer, in dem einmal ein Jazzkeller eingerichtet werden sollte. Jetzt residierte dort ein Autohaus. Conny erinnerte sich dunkel an die Brandmauer der alten Klinikgebäude in der Ziegelstraße. Was hatte eigentlich den Reiz dieser Straße ausgemacht? Drei Kneipen auf jeder Seite und die beiden Buchhandlungen, die bis zur Chausseestraße noch folgten? Das Studiokino Camera, in dem er zum ersten Mal die wunderbaren alten Stummfilme gesehen hatte, während von unten die Musik aus der Pudel-Bar heraufdrang?

Aus dieser Perspektive schien Hauptbahnhof Jerewan