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Der amerikanische Fabrikant James Lychner diskutiert mit dem Berliner Journalisten Dr. Arber über die Todesstrafe. Und als Dr. Arber danach auf der Straße einen Toten entdeckt, der Lychner gleicht, ist er bereit, Lychner in einem gefährlichen Spiel zu beweisen, wie leicht ein Unschuldiger zum Tode verurteilt werden kann. Er vertauscht Lychners Pass mit dem des Toten - und die Polizei verhaftet ihn prompt als Mörder Lychners. Aus dem Spiel wird tödlicher Ernst... Frank Arnau, geborener Heinrich Karl Schmitt, auch Harry Charles Schmitt (* 9. März 1894 bei Wien, Österreich-Ungarn; † 11. Februar 1976 in München), war ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller. Der Roman DER GESCHLOSSENE RING erschien erstmals im Jahr 1957. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
FRANK ARNAU
Der geschlossene Ring
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
DER GESCHLOSSENE RING
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Copyright © by Frank Arnau/Signum-Verlag.
Published by arrangement with the Estate of Frank Arnau.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Umschlag: Copyright © by Zasu Menil.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Der amerikanische Fabrikant James Lychner diskutiert mit dem Berliner Journalisten Dr. Arber über die Todesstrafe. Und als Dr. Arber danach auf der Straße einen Toten entdeckt, der Lychner gleicht, ist er bereit, Lychner in einem gefährlichen Spiel zu beweisen, wie leicht ein Unschuldiger zum Tode verurteilt werden kann.
Er vertauscht Lychners Pass mit dem des Toten - und die Polizei verhaftet ihn prompt als Mörder Lychners.
Aus dem Spiel wird tödlicher Ernst...
Frank Arnau, geborener Heinrich Karl Schmitt, auch Harry Charles Schmitt (* 9. März 1894 bei Wien, Österreich-Ungarn; † 11. Februar 1976 in München), war ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller.
Der Roman Der geschlossene Ring erschien erstmals im Jahr 1957.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Die Stimme im Lautsprecher hallte noch durch die ebenerdige Halle des Hamburger Flugplatzes, als die Passagiere bereits durch den ganz dünn, aber eifrig rieselnden Regen zu der Constellation schritten.
Es klang allen noch in den Ohren: Hamburg - Düsseldorf - Paris - Lissabon - Dakar - Recife - Rio de Janeiro - Buenos Aires.
Die elf Passagiere wurden von einer schmucken Stewardess zu ihren Plätzen geleitet. Da die Maschine ab Lissabon ausverkauft war, musste rechtzeitig für Ordnung in der Verteilung gesorgt werden.
Dr. Georg Parker, Rechtsanwalt aus Berlin, hatte sich vorsorglich nicht nur einen Fensterplatz reservieren und zuweisen lassen, sondern sogar einen am Notausgang. Er verband damit die Vorstellung, dass es immerhin leichter sei, durch einen Notausgang aus einem etwa brandbedrohten, notlandenden Flugzeug zu entkommen, als erst nach einem Handgemenge mit anderen Passagieren. Die Frage, ob allerdings im Ernstfall ein Notausgang mehr als eine technische Bedeutung haben könnte, belastete seine Gedanken nicht.
Der Platz neben ihm blieb zunächst unbesetzt; er erfuhr von der Stewardess, dass sein Reisenachbar, ein Industrieller, in Düsseldorf zusteigen würde.
Die viermotorige Maschine kam glatt vom Boden ab.
Die Passagiere begannen es sich bequem zu machen; sie kramten in Handtaschen und Reisenecessaires; blätterten in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern; betrachteten den Flugplan und versuchten, über die kurze Zeitspanne bis zur nächsten Landung hinwegzukommen.
Kurz nachdem die rote Leuchtschrift das Rauchverbot anzeigte und das Festschnallen der Gurte empfahl, begann die Maschine bereits niederzugehen. Der Flughafen von Düsseldorf zeigte sich ganz plötzlich, als die Maschine die Wolkendecke durchstoßen hatte.
Nach knapp einstündigem Aufenthalt wurden zunächst die aus Hamburg gestarteten Fluggäste aufgerufen. Dann kamen die Düsseldorfer Passagiere an die Reihe. Die Maschine war beim Abflug mit mehr als der Hälfte der verfügbaren Sitze belegt.
Der Herr neben Dr. Parker stellte sich mit freundlichem Lächeln vor: »Franz von Hellmer.« Er hatte eine große Aktentasche neben sich auf den Boden gestellt. »Ich habe mir zwar vorgenommen, während des Fluges einmal richtig auszuruhen - aber das sind alles Vorsätze, die man doch nie einhält.«
»Aus dieser Erwägung habe ich mir das Faulenzen erst gar nicht auf mein Programm gesetzt«, erwiderte Dr. Parker, »denn ich werde bestenfalls gerade während der Flugzeit mit dem letzten Ordnen meines Materials fertig werden.« Er nahm mehrere Aktenhefte zur Hand.
Franz von Hellmer nickte: »Es ist nicht Neugierde, Herr Doktor, aber ich sehe, dass Sie Anwalt sind - befassen Sie sich etwa mit Internationalem Recht?«
Dr. Parker verneinte: »Ich bin Strafrechtler und fliege zum Kongress der Kriminologen nach Montevideo. Falls Sie Rechtsstreitigkeiten haben, die nach Übersee spielen, so dürften Sie in Bonn mühelos einige Spezialisten auf diesem Gebiet finden.«
»Wir haben Schwierigkeiten mit unseren Tochtergesellschaften in Brasilien und Argentinien«, erläuterte Franz von Hellmer. »Wir sind natürlich mit Fachanwälten bestens versorgt, aber es ist meist wie beim Patienten, der immer gern noch eine ärztliche Ansicht mehr hört...«
Dr. Parker lachte hell auf: »Nur, dass die Ärzte in einer viel günstigeren Situation sind als wir Anwälte. Ihre Erfolge gehen lustig spazieren - und ihre Misserfolge schweigen sich in den Friedhöfen aus. Bei uns Rechtsanwälten lassen sich selbst die Erfolge nicht gern sehen - und die Misserfolge beteuern hinter Zuchthausmauern ihre Unschuld und - unsere Unfähigkeit.«
Franz von Hellmer nickte belustigt: »Dennoch beneide ich die Ärzte nicht, denn wenn bei ihnen wirklich ein Irrtum vorkommt, so kann es tatsächlich den Tod bedeuten.«
Dr. Parker blickte seinen Nachbarn nachdenklich an: »Sollten Sie da nicht irren, Herr von Hellmer? Und wie ist es, wenn ein Angeklagter hingerichtet wird?«
Der Industrielle wehrte ab: »Wenn ein Mörder hingerichtet wird, so ist das durchaus in Ordnung. Es besteht für die Gesellschaft - und ganz besonders für einen Anwalt - keine Ursache zur Beunruhigung. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
Dr. Parker legte die Aktenbündel mit einer schroffen Bewegung neben sich. Seine Gesichtszüge nahmen plötzlich Spannung an, und er beugte sich seitlich nach vorn: »Wie stehen Sie zu der Todesstrafe, Herr von Hellmer, wenn es sich um einen Justizmord handelt? Dann möchten Sie doch sicherlich gern der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen - so völlig unmöglich das auch ist!«
Franz von Hellmer zündete sich umständlich eine Zigarre an - nachdem sein Nachbar die ihm gebotene mit einer kurzen Geste abgewehrt hatte: »Ich glaube nicht an Justizmorde. Gewiss, es wird manchmal ein großes Geschrei angestellt, dass ein Unschuldiger hingerichtet worden sein soll. Aber bei dem heutigen Stand der Rechtspflege, bei der heutigen Sicherheit der Ermittlungsverfahren und der technischen Hilfsmittel, dürften Justizmorde ausgeschlossen sein.«
»Sie glauben wirklich an eine auch nur einigermaßen fehlerlose und von den gröbsten Irrtümern freie Justiz?«, fragte Dr. Parker mit einer fast mitleidigen Stimme.
»Sie dürfen mich nicht für einen Unmenschen halten, Dr. Parker! Ich bin nur der Meinung, dass die Todesstrafe unerlässlich ist, um die Gesellschaft vor einem noch größeren Anschwellen der Kapitalverbrechen zu schützen.«
Dr. Parker nahm eine Zeitung aus seiner Manteltasche und wies auf einen Artikel: »Sie haben hier einen ganz ausgezeichneten Bericht über die beiden Mordprozesse unserer Tage - die Ablehnung des Wiederaufnahmeverfahrens gegen den zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilten Daertz und die Verhandlung gegen den Zahnarzt Dr. Müller. In dem ersten Fall geht nun der Verurteilte zumindest für fünfzehn Jahre ins Zuchthaus, nachdem völlig einwandfrei erwiesen ist, dass die Sachverständigen grobe Fehler und Irrtümer begangen haben. Gewiss - der Angeklagte war ein unsympathischer Mensch und machte sich mit ungewöhnlichem Geschick vor Gericht so unbeliebt wie möglich. Aber spricht die Tatsache, dass ein Angeklagter unsympathisch, ja vielleicht sogar- widerlich ist, für seine objektive Schuld?... Und wer würde leugnen, dass die Erscheinung des Zahnarztes Dr. Müller das vollendete Gegenteil von angenehm ist! Aber kann man deshalb einen Menschen lebenslänglich ins Zuchthaus schicken wollen?«
Der Industrielle blickte seinen Nachbarn an: »Demnach müsste jeder eines Verbrechens verdächtige Angeklagte freigesprochen werden, wenn auch nur der geringste Zweifel an seiner Schuld besteht. Wie selten sind aber die Fälle, wo einem Angeklagten mit hundertprozentiger Gewissheit die Tat nachgewiesen werden kann! Nach Ihrer Theorie, Herr Dr. Parker, müssten zahllose zweifelsfreie Verbrecher straflos auf die Menschheit losgelassen werden!«
Dr. Parker entgegnete heftig: »Wenn es sich um zweifelsfreie Täter handelt, so wird jeder Jurist und sogar jeder Strafverteidiger eine gerechte Bestrafung gutheißen. Aber soll man wirklich zahllose Angeklagte verurteilen, weil sie wahrscheinlich schuldig sind? Die Liste staatlich autorisierter Hinrichtungen von Unschuldigen ist länger, als Sie denken. Während die Freiheitsentziehung bei erwiesener Unschuld der Verurteilten zumindest eine gewisse Wiedergutmachung ermöglicht, nämlich die Freilassung und eine geldliche Entschädigung - sofern man für Zuchthausjahre einen Menschen abfinden kann -, lässt sich das vollstreckte Todesurteil nicht wiedergutmachen.«
Franz von Hellmer hielt sich einige Augenblicke beide Hände an die Stirn. Dann sagte er fast verzweifelt: »Nach Ihrer Ansicht ist also der anklagende Staatsanwalt für jeden unschuldig Verurteilten verantwortlich zu machen?«
Dr. Parker lachte kurz auf: »Seien Sie sich doch im Klaren darüber, Herr von Hellmer, dass der Staatsanwalt im Grunde genommen nur der Handlanger einer Kultur ist, die bodenlose Angst vor sich selbst und ihren Errungenschaften hat! Rein sachlich gesprochen, beweisen alle Statistiken, dass die Todesstrafe eine Absurdität ist. In den Staaten ohne Todesstrafe ist die Anzahl der Kapitalverbrechen, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, viel geringer als in jenen Ländern, wo die Menschen durch den Strang, durch Strom, durch das Messer oder durch Gas vom Leben zum Tode befördert werden. Ich will dabei gar nicht den Ekel zur Geltung kommen lassen, den jeder normale Mensch bei dem Gedanken empfinden muss, dass ein Beauftragter des Staates einen Menschen umbringt. Ich weiß auch nicht, wie es im Gehirn und in der Seele eines Henkers aussieht - besonders wenn er später einmal erfährt, dass er einen Unschuldigen ermordet hat. Denn Gott kennt nicht zweierlei Arten von Tötung. Er kennt nicht den ungesetzlichen und den gesetzlichen Mord. Er schuf nur das Gesetz: Du sollst nicht töten!«
Franz von Hellmer versuchte durch das Anstecken einer neuen Zigarre Zeit zu gewinnen. Er tat es mit aller Umständlichkeit. Seine Worte klangen vorsichtig, ja fast beschwichtigend: »Aber der Mörder - er verstößt ja auch gegen das Gottesgesetz!«
Dr. Parker legte seine Linke auf den rechten Unterarm seines Nachbarn und zwang ihn geradezu, ihm in die Augen zu schauen: »Denken Sie wirklich, dass es möglich ist, Gleiches durch Gleiches vergeltend, die schuldhafte erste Tat ungeschehen zu machen oder zu sühnen? Nach dieser wunderbaren Logik müsste also einem Taschendieb, der jemandem eine Uhr stiehlt, von einem staatlich bestellten Stehlmeister ebenfalls die Uhr gestohlen werden? Der Mann, den seine Frau betrügt, schafft Gerechtigkeit und handelt also im Sinne des Aug’ um Auge, Zahn um Zahn, indem er nun seinerseits fremdgeht!?
Nein, Herr von Hellmer, das ist unhaltbar. Es gibt nach meiner Ansicht keine »normalem Mörder - denn jeder Mörder ist in einem tiefen menschlichen Sinne unnormal. Die Gesellschaft muss sich gegen das Verbrechen aller Arten und aller Stufen schützen - durch vorbeugende Erziehung - durch nach der Tat einsetzende psychologische und pädagogische Maßnahmen. Die Todesstrafe schreckt nicht ab - in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie mit einer wahrhaft barbarischen Ausschlachtung durch die Presse vollzogen wird, finden je Kopf der Bevölkerung mehr Kapitalverbrechen statt als in Schweden oder anderen Ländern, wo es keine Todesstrafe gibt!«
Franz von Hellmer spürte die überzeugende Kraft dieser Worte. Dennoch wollte er nicht widerspruchslos beigeben: »Ich bin weder Philosoph noch Rechtsgelehrter, Herr Dr. Parker, es fehlt mir an wirklichem Wissen, an der Kenntnis bestimmter Fälle von wirklichen - wie Sie es wohl nennen - Justizmorden.«
Dr. Parker legte beide Hände zusammen: »Ich glaube, dass ich Ihnen mit Leichtigkeit helfen kann. Der Vortrag, den ich bei der internationalen Tagung der Kriminologen in Montevideo halte, befasst sich mit dem düstersten Kapitel der Justiz - dem Todesurteil auf Grund eines Indizienbeweises. Die nackte Wahrheit der Kriminalgeschichte lehrt, dass selbst ein Mörder, der einen Mord eingesteht, noch lange nicht der Täter zu sein braucht - denn es spielen so viele Einflüsse, fast unerforschlicher Art, mit, dass ein Mensch, der Tage und Nächte, Wochen und Monate hindurch als Mörder behandelt, angesehen und qualvoll verhört und seelisch zerschlagen wird, schließlich ein Kapitalverbrechen eingesteht, an dem er völlig unschuldig ist. Ist also schon ein eingestandener Mord kein bedingungsloser Beweis bezüglich des Geschehenen - wieviel weniger darf ein Gericht einen Menschen auf Grund eines Indizienbeweises hinrichten lassen! Nicht ein, nicht zwei und nicht zehn - fast unzählige Justizmorde kennt die Geschichte der internationalen Justiz, bei denen unschuldige Menschen auf Grund eines Indizienbeweises gerichtet und hingerichtet wurden. Die Staatsanwälte der ganzen Welt gefallen sich in ihren lückenlosem Indizienbeweisen - und gestrenge Richter belehren die Geschworenen, dass sie keinen Schuldspruch fällen dürfen, wenn nicht die Schuld des Angeklagten über jeden möglichen Zweifel hinaus klar erwiesen ist. Dass aber diese Geschworenen unter dem Eindruck des mit dem ganzen Apparat der Staatsgewalt und der Behörden geführten Anklageverfahren stehen - unter dem Einfluss der Anklagerede des Staatsanwalts, demgegenüber der Strafverteidiger als der bezahlte Anwalt des Angeklagten auftritt, ist nicht zu verkennen. Niemandem dieser Geschworenen fällt es ein, daran zu denken, dass der Staatsanwalt genauso dafür bezahlt wird, dass er Menschen in die Zuchthäuser oder an das Schafott bringt, wie der Rechtsanwalt dafür sein Honorar empfängt, dass er für die Angeklagten eintritt, wobei es noch nicht bekanntgeworden ist, dass der Staatsanwalt auch nur ein einziges Mal eine Anklage kostenlos oder zu der der Kostenlosigkeit nahe kommenden Bezahlung des Pflichtverteidigers übernommen haben würde - während die Zahl der Strafverteidiger, die aus innerster Überzeugung für einen von ihnen als unschuldig angesehenen Angeklagten eintreten, groß ist!«
»Sie sprechen mit einer solchen Überzeugungskraft, Dr. Parker, dass ich mir sehr gut vorstellen kann, wie großartig Sie für einen Mandanten, von dessen Unschuld Sie überzeugt sind, plädieren! Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einmal Gelegenheit gäben, einem Plädoyer, das Sie vor Gericht halten, beizuwohnen - und ebenso für die Angabe von geeigneter Literatur über dieses ja auch in der Bundesrepublik hochaktuelle Thema. Es gibt unzählige Anhänger der Todesstrafe - offengestanden war ich vor einer halben Stunde auch zu diesen zu zählen -, aber ich glaube tatsächlich, dass wir in der Bundesrepublik froh sein sollten, dieser äußersten Strafmaßnahme zu entsagen.«
»Ihre Worte, deren Aufrichtigkeit ich stark empfinde, Herr von Hellmer, bedeuten für mich weitaus mehr, als Sie vielleicht annehmen. Wenn Sie tatsächlich dieses die ganze Menschheit angehende Problem der Todesstrafe interessiert, so will ich Ihnen gern Lesestoff geben. Ich bin eben dabei, jenen einzigartigen Fall zusammenzustellen, dessen gesamte Elemente ich hier vorliegen habe - jenen Fall, der vielleicht zu den interessantesten und außerordentlichsten Experimenten der Justizgeschichte gehört.«
Franz von Hellmer blickte den Anwalt fast erregt an: »Von welchem Fall sprechen Sie, Herr Dr. Parker?«
Der Anwalt holte sein Aktenbündel hervor und entnahm ihm ein Bündel zusammengehefteter Blätter.
»Es handelt sich um den Mordfall Lychner. Der Tat angeklagt war - im Jahre 1932 - der Chefredakteur der damaligen Berliner Morgenzeitung, Dr. Magnus Arber. Diese Seiten hier«, der Anwalt deutete auf die Blätter in seiner Hand, die er nun seinem Nachbarn überreichte, »sind dem Tagebuch Dr. Arbers wortgetreu entnommen, ohne Hinzufügungen und ohne Weglassungen. Von dem Punkte an, da er es nicht weiterschreiben konnte, haben wir dann in langer und mühseliger Arbeit aus allen erreichbaren Berichten, Zeitungsartikeln, Gerichtssaalnotizen und den Verhandlungsschilderungen, sowie aus Unterhaltungen mit den mittelbar und unmittelbar Beteiligten des Falles, den ganzen Hergang objektiv darzustellen versucht. Lesen Sie jetzt einmal das Tagebuch - und wir können dann auf dem Flug von Lissabon nach Dakar, oder gar beim Sprung über den Atlantik, weiter über den Fall reden. Wenn es Sie auf Grund des Tagebuches interessiert, so gebe ich Ihnen das ganze Material zur Durchsicht - ich muss es nur noch vor Rio de Janeiro chronologisch ordnen.«
Franz von Hellmer winkte der Stewardess, die eben vorbeiging, und bat um einen Portwein. Dann steckte er sich seine erloschene Havanna an und begann das Manuskript zu lesen.
Aus dem Tagebuch von Dr. Arber
Ende Februar 1932
Seit Monaten vernachlässige ich diese Seiten. Aber ich glaube, einem späteren Leser eine Aufklärung zu schulden.
Es begann mit dem Anruf von James Lychner. Einen Augenblick musste ich angestrengt nachdenken. Dann fiel es mir ein - das war der beste Freund meines verstorbenen Vaters. James Lychner - aus einem kleinen württembergischen Dorf stammend und als Jakob Liechter nach Nordamerika ausgewandert - befand sich auf einer Vergnügungsreise mit seiner Enkelin. Er wohnte - selbstverständlich - im Hotel Adlon. Dort sollte ich ihn besuchen.
Er stellte mich Virginia vor. Die folgenden Tage waren wir oft zusammen; wir speisten zu Mittag, gingen in die Scala, und ich zeigte Lychner und seiner Enkelin Berlin. Sonst habe ich niemals Zeit gehabt. Jetzt fand ich sie. Alles hat seine Ursache.
Dann kam ein festliches Abendessen im Adlon. Aber die Herrlichkeit der Speisen und Getränke wurde mir gar nicht bewusst.
Die Nähe von Virginia beherrschte, beängstigend und beglückend, all meine Gefühle.
Ich erlebe den Abend jetzt, da ich über ihn schreibe, so intensiv, als wäre er nochmals Wirklichkeit.
Die Jazz-Musik klang gedämpft in dem intimen Raum, man hörte fast nur den stark betonten Rhythmus, nach dem die Paare in einem seitlich gelegenen Saal tanzten.
Ich fragte James Lychner, wie lange er eigentlich in Deutschland bleiben wolle. Seine Antwort war unbestimmt. Wir redeten über seine Reisepläne - aber auch sie waren nicht klar. Schließlich gewann ich den Eindruck, dass er sich wohl mit der Idee trug, eine ganze Weile von Amerika wegzubleiben. Sein sehr bedeutendes Vermögen erlaubte ihm zu leben, wo es ihm am besten gefiel. Als ich eine direkte Frage an ihn stellte, nahm er die Hand von Virginia in seine Rechte, streichelte sie und legte sie dann geradezu vor mich auf den Tisch. Er fragte mich, ob ich nichts Besonderes sähe, ob mir nichts auffiele.
Ich musste seine Frage verneinen, und als er mich groß anblickte, konnte ich nur verlegen auf den prachtvollen Smaragd zeigen, den Virginia an ihrem Ringfinger trug.
»Wenn Sie genau die Fingernägel meines kleinen Mädchens hier betrachten, so werden Sie eine leichte Verfärbung sehen. Virginia gilt in Amerika als farbig. Ich weiß nicht, der wievielte Urgroßvater - vielleicht auch eine frühere kubanische Urgroßmutter - sich an diesen kleinen betonten Halbmonden in Erinnerung bringt.«
Virginias Antlitz flammte in einer Blutwelle auf. Sie hatte unwillkürlich die Augen gesenkt.
Ich weiß nicht, was mich in diesem Augenblick überkommen hatte, aber ich griff plötzlich nach beiden Händen des jungen Mädchens und küsste ihre Fingerspitzen ehrerbietig.
»Das würde Sie in der guten Gesellschaft drüben in USA ebenso unmöglich machen, wie es Virginia selbst ist!«, sagte James Lychner. Dann drückte er mir fest die Hand. »Ich danke Ihnen. Aber Sie wissen nicht, was es im Land der Freiheit heißt, auch nur den kleinsten Schuss farbigen Blutes in den Adern zu haben. Gewiss - wir sind das Land der Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit. Aber es werden heute, wie gestern und wie vor hundert Jahren, mehr farbige Menschen straflos umgebracht - man nennt es gelyncht -, weil eben in den südlichen Gebieten der Farbige rechtlos ist. Es würde kein Neger riskieren - und nicht, wenn er Millionen hätte oder größte wissenschaftliche Verdienste -, ein für Weiße reserviertes Abteil in der Trambahn zu betreten, und in New York oder Washington könnte er es nicht wagen, in ein von Weißen besuchtes Hotel zu gehen. Und da sich Virginia allgemach dem heiratsfähigen Alter nähert...«
Sie starrte ihn fassungslos an: »Aber Daddy! Wie kannst du nur...«
Er lachte, er lachte wie ein großer Junge, dem ein ausgezeichneter Spaß gelungen ist. Und dann stand er ganz plötzlich auf: »Ich muss noch nach meiner Korrespondenz sehen - und Virginia tanzt leidenschaftlich gern.«
Ehe ich ihm etwas sagen konnte, war er zur Tür geschritten - und hatte uns allein gelassen.
Wir saßen noch einige Minuten beisammen, und dann bat ich sie zum Tanz.
Es war das erste wirklich große Erlebnis. Ich wusste, dass ich dieses prachtvolle Geschöpf mehr liebhatte als irgendeine Frau vor ihr.
Als wir uns nach dem Tanz wieder an den Tisch setzten, begann ich über meinen Beruf zu sprechen. Ich hatte Angst, ihr sonst einfach klar zu sagen, wie es um mich stand.
Es war lange nach Mitternacht, als ich mich von ihr in der Halle verabschiedete, um in die Redaktion zu fahren. Der Abend war so außergewöhnlich, dass mir jede Konzentration fehlte.
Ich war glücklich, als Virginia mich am nächsten Morgen im Namen ihres Großvaters zum Mittagessen bat.
Als wir nach Tisch in der Halle Platz genommen hatten, fragte mich James Lychner lachend: »Ist es denn im heutigen Deutschland so üblich, dass ein immerhin doch noch junger Herr einer nicht ganz hässlichen jungen Dame stundenlang von seinem Beruf erzählt?«
Ich war froh, dass Virginia kurz vorher aufgestanden war, um sich ein paar Zeitschriften zu kaufen. Nachdem sie an den Tisch zurückgekommen war, ließ sich James Lychner an Hand eines Exemplars unserer Berliner Morgenzeitung den ganzen Aufbau des Blattes erklären. Dann studierte er den von mir geschriebenen und mit meinen Anfangsbuchstaben signierten Leitartikel. Er fragte mich ganz erstaunt:
»Ist Ihnen das Problem der Todesstrafe so wichtig, dass Sie darüber zwei ganze Spalten schreiben? Im letzten Weltkrieg wurden doch einige Millionen Menschen getötet - und täglich gibt es auch heute noch irgendwo Kämpfe -, ich verstehe Ihre große Empörung wegen der Hinrichtung eines Mörders nicht.«
James Lychner berührte hier ein Thema, das ich von allen möglichen Seiten her untersucht, studiert und bearbeitet hatte. Es entspann sich eine weit über das von mir gewollte Maß hinaus verlängerte und verschärfte Diskussion.
»Gut!«, sagte James Lychner schließlich, und seine Stimme klang so erregt, dass Virginia ihm beschwichtigend die Hand streichelte. »Ich will zugeben, dass es eine verabscheuungswürdige Lynchjustiz gibt - und vielleicht hat es auch bei uns in Amerika Fälle gegeben, wo ein Unschuldiger hingerichtet wurde. Mir selbst sind solche Fälle nicht bekannt. Aber ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass hier in Deutschland, in diesem Staat der vollendeten Ordnung, der Achtung vor dem Gesetz und der richterlichen Unabhängigkeit, ein Mensch unschuldig hingerichtet werden könnte. Das ist für mich undenkbar.«
Ich versuchte ihn zu beschwichtigen:
»Sie sind vor einem halben Jahrhundert ausgewandert. Es war eine andere Zeit, ich möchte beinahe sagen, es war eine andere Welt. Ich könnte Ihnen allein mit dem Fall des unglückseligen Jakubowsky gerichtsurkundlich nachweisen, was das Gericht festgestellt hat: Die Hinrichtung eines völlig unschuldigen Menschen. Jakubowsky ist ein Opfer des Indizienbeweises geworden. Er wurde durch einen Freispruch wegen erwiesener Unschuld - wie sagt man doch nur in einem solchen Falle, Mr. Lychner? - er wurde rehabilitiert. Man gab ihm die Ehre wieder, die bürgerlichen Ehrenrechte sozusagen, die man ihm zugleich mit dem Leben weggenommen hatte. Was man ihm nicht wiedergeben konnte, war sein armes, kleines unglückliches Leben. - Fälle dieser Art gibt es genug.«
Der Portier brachte ein Telegramm und, nachdem es James Lychner gelesen hatte, fragte er mich:
»Könnten Sie mir den Gefallen tun, Magnus, bei der französischen Botschaft anzufragen, wie man am schnellsten ein Visum nach Paris bekommt? Ich möchte nicht unbedingt, dass der Portier es weiß.« Er fügte lächelnd hinzu: »Wenn man so lange in Amerika gelebt und gearbeitet hat, kann man das Geschäftemachen nicht ganz lassen...«
Da ich einen Sekretär des Botschafters gut kannte, machte ich mich erbötig, diese Formalität zu erledigen.
James Lychner sagte dann, dass er möglichst schon mit dem Schlafwagenzug am selben Abend die Reise antreten wolle, um in wenigen Tagen wieder zurück sein zu können. Und dann - er schien tatsächlich amerikanisiert zu sein - legte er mir ans Herz, mich um Virginia zu kümmern, da er sie nicht nach Paris mitnehmen wolle. Er wäre unablässig durch Besprechungen aufgehalten - und Paris für eine junge Dame ganz allein sei nicht das Richtige. Dann gab er mir seinen Pass.
Ich telefonierte mit der Botschaft. Der Sekretär sagte mir bereitwillig das Visum zu. Ich sollte den Pass an ihn adressieren, und er würde ihn mir dann abends im Hotel Excelsior, wo er ständig wohnte, visiert übergeben.
Ich teilte dies James Lychner mit. Da ich infolge des Zusammenseins mit James Lychner und Virginia viel versäumt hatte, musste ich unbedingt nachmittags und abends in der Redaktion bleiben. Ich verabredete mich mit James Lychner am Bahnhof Zoo, um ihm dorthin den visierten Pass mitzubringen.
Virginia ging auf ihr Zimmer, und James Lychner begleitete mich in die Halle.
Er konnte sich noch immer nicht damit abfinden, dass es in Deutschland Justizmorde geben sollte. Er bat mich, ihm alle Unterlagen über den Fall Jakubowsky sowie über andere Irrtümer der Justiz herauszusuchen. Er hielt es offenbar für unmöglich, dass derlei in seinem Deutschland geschehen könne.
Dieser fast kindliche Glaube an eine geradezu unfehlbare Gerechtigkeit war rührend.
Ich versprach ihm, mit dem Pass auch die noch bis abends erreichbaren Zeitungsausschnitte über nachweisbare Justizirrtümer und Fehlurteile zum Bahnhof zu bringen.
»Und halten Sie sich genügend Zeit frei für die nächsten drei Tage meiner Abwesenheit - Virginia soll nicht ganz vergessen bleiben!«
Es ist alles wie ein unvorstellbarer Traum.
Ich glaube auch nicht, dass ich das alles tatsächlich erlebt habe - so sehr es beweisbar ist, aber es wirbelt unwirklich durch meine Erinnerung.
Nachdem ich die aktuellsten Fragen mit den Ressortleitern in der Redaktion besprochen hatte, hielt ich eine kurze Redaktionskonferenz ab. Dann diktierte ich meinen Leitartikel. Zwischendurch fiel mir ein, dass ich für Lychner die einzelnen Gerichtsfälle heraussuchen lassen wollte; ich unterbrach mein Diktat und gab dem Leiter des Archivs eine Anweisung. Inzwischen hatte ich auch den Pass vollkommen vergessen und bat nun die Sekretärin des Wirtschaftschefs - eine unbedingt zuverlässige, nicht mehr ganz junge Dame -, das Dokument Lychners, das ich in ein festes Kuvert tat, zur französischen Botschaft zu bringen. Sie sollte dort nochmals den Sekretär an unsere Vereinbarung erinnern.
Zwischendurch dachte ich, in unregelmäßigen Abständen, aber mit gleichbleibender Intensität, an Virginia. Als ich mir gar nicht anders helfen konnte, rief ich sie im Hotel an - doch sie war ausgegangen, ebenso wie James Lychner.
Ich erkundigte mich, in welchem Schlafwagen Lychner einen Platz belegt hatte, und erfuhr, dass der Zug um dreiundzwanzig Uhr einundzwanzig vom Bahnhof Zoo abging.
Ich las noch selbst die Korrekturen meines Leitartikels und ging dann zu Kempinsky in der Friedrichstraße zum Abendessen.
Dann schlenderte ich langsam durch die Innenstadt bis zum Hotel Excelsior. Es war kurz vor zehn Uhr, als ich die Halle betrat.
Der Sekretär des Botschafters wartete bereits auf mich und gab mir den visierten Pass. Ich nahm ein Taxi, und als wir durch den Tiergarten zum Bahnhof Zoo fuhren, sah ich, dass ich viel zu früh an mein Ziel kam. Die Luft war frisch, würzig und trocken. Ich bezahlte den Fahrer und legte den letzten Teil des Weges zu Fuß zurück.
Ich bog in die Jebensstraße ein. Wenige Schritte vor mir ging ein Mann. Als er sich ein bisschen seitwärts wandte und das Licht der Laterne auf ihn fiel, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es James Lychner sei. Aber ehe ich mir darüber Gedanken machen konnte, begann der Mann ganz unsicher, als wäre er betrunken, hin und her zu torkeln.
Ich eilte auf ihn zu. Er blieb stehen und sah mich aus großen, fast regungslosen Augen an. Wieder fiel mir diese Ähnlichkeit mit James Lychner auf.
Ich fragte den Unbekannten, ob ich etwas für ihn tun könne. Aber er schien mich gar nicht zu verstehen. Er atmete schwer. Schließlich schüttelte er den Kopf, klopfte mir auf den Arm und ging, etwas schwankend, weiter.
Ich wusste nicht, was ich von dem Vorgang denken sollte. Ich nahm meine Zigarettendose, steckte mir eine Senoussi an und sah unwillkürlich auf meine Armbanduhr. Es war zwanzig Minuten vor dreiundzwanzig Uhr.
Als ich wieder vor mich hinblickte, sah ich den Unbekannten etwa vierzig oder fünfzig Schritte von mir entfernt, zwischen der nächsten und übernächsten Laterne -, und in diesem Augenblick warf er beide Hände hoch, ließ sie gleich wieder herunterfallen, griff sich dann an den Hals, drehte sich seitlich um und stürzte neben den Bürgersteig auf die Straße. Ich war so überrascht und entsetzt, dass es einige Sekunden dauerte, bis ich ihm nacheilte.
Die Straße war völlig menschenleer.
Nur von weit her kamen undefinierbare Geräusche und dann und wann der Ton einer Autohupe.
Als ich bei dem Unbekannten ankam, bot sich mir ein entsetzlicher Anblick.
Gerade dort, wo er vom Gehsteig auf die Straße getreten war, war das Pflaster mehrere Meter lang aufgerissen. Ein geborstenes Rohr, aus Zement offenbar, harrte der Reparatur. Ein rotes Signallicht, das Fußgänger und Fahrzeuge warnen sollte, hatte entweder ein unvorsichtiger Fahrer oder vielleicht der Sturm in den Schacht gestoßen.
Ich hob den Unbekannten auf und sah zu meinem Entsetzen, dass sein Gesicht schwer zerschlagen war; die scharfen Kanten des geborstenen Rohres hatten bis tief in das Fleisch Wunden gerissen. Ich schrie ganz mechanisch einige Male um Hilfe - aber die Straße blieb menschenleer, wie sie war. Ich hob den Verwundeten auf und setzte ihn hin, mit dem Rücken an einen kleinen Erdhaufen gelehnt. Als ich jetzt seine Augen sah - Augen, die völlig verglast und leblos vor sich hinstarrten, da wusste ich, dass er nicht mehr lebte.
Beim Fallen war ihm der Inhalt seiner Brusttasche herausgefallen; ich sah eine mit goldenen Ecken verzierte Brieftasche am Boden liegen.
Ich hob sie auf.
Als ich sie öffnete, sah ich - einen Pass.
Was nun geschah, hatte ich weder überlegt noch gewollt oder auch nur bewusst getan.
Ich öffnete den Pass und sah bei dem fahlen Schimmer der ziemlich entfernten Straßenbeleuchtung das Bild eines Mannes, der sehr wohl James Lychner sein konnte. Es war ein luxemburgischer Pass, und er lautete auf den Namen Eduard Sperber.
Ich nahm den Pass James Lychners aus meiner Jackettasche.
In wenigen Augenblicken, ganz mechanisch, durchsuchte ich die Brieftasche Eduard Sperbers nach Visitenkarten oder anderen Identitätspapieren. Aber sie enthielt nur mehrere hundert Mark sowie einige unbeschriebene Blätter eines ziemlich starken Papiers. Drei Briefe nahm ich an mich. Ich durchsuchte seine Taschen, fand aber sonst nichts, das ihn identifizieren konnte.
Dann senkte ich die Brieftasche in die rechte und den Pass von James Lychner in die linke Brusttasche des Toten.
Als ich mich umwandte und aus der Grube hochstieg, berührte ich Eduard Sperber, und ehe ich zugreifen konnte, glitt er seitwärts und fiel nun mit dem Hinterkopf auf den Grund des ausgehobenen Schachtes. Ich sah mechanisch nach meiner Armbanduhr. Es war drei Minuten vor elf.
Wie ein heller, weißer Fleck starrte die Armbanduhr des Toten zu mir herauf.
Ich beugte mich nieder, stellte sie auf dreiundzwanzig Uhr und vierzig Minuten und zerschlug mit einem Stein das Glas und das Zifferblatt, so dass die Zeit dadurch fixiert blieb.
Um elf Uhr und acht Minuten traf ich James Lychner im Bahnhof Zoo.
Während des hastig zurückgelegten Weges beschäftigte mich nur der eine Gedanke: Ob wohl Virginia ihn begleitet hatte? Denn ich wusste, dass ich James Lychner für meinen Plan gewinnen konnte. Ob es mir auch gelänge, Virginia zu überreden, schien mir mehr als zweifelhaft.
Ich ging mit James Lychner bis an das äußerste Ende des Bahnsteiges. Wir unterhielten uns eigentlich sehr ruhig. Ich trug ihm meinen Plan vor. Er verstand mich und willigte ein.
Die einzige augenblickliche Ungelegenheit ergab sich daraus, dass er natürlich nicht in dem reservierten Schlafabteil erster Klasse von Mr. James Lychner nach Paris reisen konnte.
Er nahm es auf sich. Wir gingen, um einen Cognac zu nehmen, ans Büfett.
Als der Zug nach Paris einfuhr, bestieg Eduard Sperber ein Abteil erster Klasse. Es war in dem direkten Wagen nach Paris. Luxemburgische Staatsangehörige brauchten nach Frankreich, kein Visum. Das Abteil des amerikanischen Millionärs James Lychner im Schlafwagen erster Klasse nach Paris blieb unbesetzt.
Ich saß nach Abfahrt des Zuges noch eine ganze Weile auf einer Bank im Wartesaal. Alles schien mir unwirklich.
Ich war entschlossen, den Beweis zu erbringen, dass ein Mensch auf Grund von Indizien von einem deutschen Gericht zum Tode verurteilt werden konnte - auch wenn er völlig unschuldig war. Ja, auch wenn gar kein Mord vorlag.
Franz von Hellmer hatte gar nicht bemerkt, dass die rote Schrift wieder das Rauchen untersagte und um Festschnallen ersuchte. Erst als ihn Dr. Parker darauf hinwies, wurde er es gewahr. Und ebenso, dass sich der gigantische metallene Vogel bereits zu senken begann. Unten, ganz in der Tiefe, leuchtete der Tajo auf und Lissabon.
»Nun?«, fragte Dr. Parker mit einer eigenartigen Betonung, »wie ist es mit der Lektüre?«
Der Industrielle schien sich förmlich zusammenzuraffen.
»Ich lese eigentlich wenig, um es offen zu gestehen. Aber dieses Tagebuch hat es in sich. Wenn Sie das jemals in Buchform herausbringen, muss es ein ganz großer Erfolg werden. Nun möchte ich nur, dass Sie mir die Fortsetzung geben - bald!«
Die Maschine nahte dem Rollfeld.
»Ich habe hier den an das Tagebuch anschließenden Teil chronologisch zurechtgelegt, Herr von Hellmer«, sagte der Rechtsanwalt, »und anschließend bekommen Sie auch die Fortsetzung des Tagebuches von Magnus Arber. Durch die von uns gesammelten Berichte bildet das dann ein geschlossenes Geschehen. Wir haben dabei vermieden, Licht und Schatten willkürlich zu verteilen. Das Ausleuchten besorgen die Tatsachen für sich.« Er gab dem Industriellen ein Bündel Papierbogen.
»Nun eine Frage!«, sagte Franz von Hellmer eilig, da die Maschine eben aufsetzte. »Geht die Polizei auf den Plan von Arber ein? Wird er angeklagt? Genügen die Indizien? Und...« Er schaute den Anwalt ganz nahe an, während er mechanisch die Gürtelschnalle lockerte, »wird Arber etwa verurteilt?!«
Dr. Parker machte sich ebenfalls frei von seinem Gurt. Die Maschine lief aus. Sie stand still. Er erhob sich: »Magnus Arber wollte einen Beweis erbringen. Den Beweis, dass es durchaus möglich ist, einen Menschen unschuldig zu richten.«
»Zu richten?!«, rief Franz von Hellmer heftig. »Sie meinen doch nicht etwa - hinzurichten?!«
Dr. Georg Parker half dem Industriellen beim Aussteigen. Als sie zum Ausgang schritten, sagte er ganz nebenbei: »Sollten Sie sich so schnell von einem Anhänger der Todesstrafe in ihren Gegner verwandelt haben.