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Als James P. Baldon, der Präsident einer Whisky-Firma, etwas angeheitert seine Junggesellenwohnung betreten will, liegt ein Toter vor seiner Tür.
Chefinspektor Brewer kann den Ermordeten bald identifizieren: Es handelt sich um einen mehrfach vorbestraften Rauschgifthändler!
Was hatte dieser in dem vornehmen New Yorker Apartmenthaus zu suchen? Oder befand sich unter den Mietern ein Gangster mit bürgerlicher Maske?
Frank Arnau, geborener Heinrich Karl Schmitt, auch Harry Charles Schmitt (* 9. März 1894 bei Wien, Österreich-Ungarn; † 11. Februar 1976 in München), war ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller.
Der Roman Lautlos wie sein Schatten erschien erstmals im Jahr 1959.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
FRANK ARNAU
Lautlos wie sein Schatten
Roman
Apex Crime, Band 255
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
LAUTLOS WIE SEIN SCHATTEN
1. Der unbekannte Besucher
2. Die Nachforschungen beginnen
3. Routine - Schlaf - und wieder Routine
4. Vier Männer arbeiten vier Stunden
5. Die Nacht nach dem Mord
6. Das letzte Wort
7. Die Zeugen sagen aus
8. The people versus James Garwick
Als James P. Baldon, der Präsident einer Whisky-Firma, etwas angeheitert seine Junggesellenwohnung betreten will, liegt ein Toter vor seiner Tür.
Chefinspektor Brewer kann den Ermordeten bald identifizieren: Es handelt sich um einen mehrfach vorbestraften Rauschgifthändler!
Was hatte dieser in dem vornehmen New Yorker Apartmenthaus zu suchen? Oder befand sich unter den Mietern ein Gangster mit bürgerlicher Maske?
Frank Arnau, geborener Heinrich Karl Schmitt, auch Harry Charles Schmitt (* 9. März 1894 bei Wien, Österreich-Ungarn; † 11. Februar 1976 in München), war ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller.
Der Roman Lautlos wie sein Schatten erschien erstmals im Jahr 1959.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das Savannah, ein Apartment-Haus in der oberen Westend Avenue in der Höhe des Central Park, wies nur sechzehn Stockwerke und ebenso viele Mieter auf. Mehrere Konstruktionsfirmen hatten dem Besitzer verlockende Kaufangebote unterbreitet, um an Stelle des Gebäudes aus den zwanziger Jahren, ein modernes Hochhaus mit vierzig oder mehr Etagen zu errichten. Doch der Eigentümer, Donald Mac Keenley, war an diesen Projekten völlig uninteressiert. Er lebte in Texas, förderte Öl und galt als einer der reichsten Männer der Staaten. Die Frage nach der Höhe seines Vermögens beantwortete er mit der Feststellung: »Solange man sein Geld zählen kann, ist man nicht reich!«
Er wusste von seinen Mietern im Savannah ebenso wenig wie von denjenigen seiner, neununddreißig weiteren Häuser in New York oder den vielen weiteren in Chicago, Los Angeles, Detroit und Boston. Eine eigene Corporation befasste sich mit diesem Bruchteil des Mac Keenley'schen Vermögens.
Abgesehen davon, dass der Tycoon des amerikanischen Öls grundsätzlich keine Zeitungen las, sondern nur die für ihn mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis von einem vierzigköpfigen Pressekomitee streng gesiebten Ausschnitte durchflog, hätte er die Meldung über einen Vorfall im Savannah auch deshalb nicht beachtet, weil ihm dieser Name gar nichts sagte. Wer seine Häuser zählen und sich ihre Namen merken konnte, besaß eben nicht genügend viele.
Die ersten Ausgaben der New Yorker Zeitungen am 11. Mai veröffentlichten auch nur eine kurze Notiz über das Ereignis im Savannah. Es war zu einer denkbar ungünstigen Zeit bekannt geworden, knapp vor Schluss der Seite mit den neuesten Informationen, als die Re-writer am City Desk nur noch in gedrängtester Form die von den Reportern hereintelefonierten Meldungen verarbeiteten. Überdies lag das Schwergewicht der ersten Montagausgabe im Sportteil.
In wenigen Zeilen erfuhren die Leser, dass im elften Stockwerk des Savannah ein Toter aufgefunden worden war. Die Polizei sei bereits mit den ersten Nachforschungen beschäftigt.
Dies lag der Meldung zugrunde:
James P. Baldon, Präsident der Bellamy Whisky Inc., ein Schotte, Junggeselle und methodischer Clubgänger, war nach einem zu Ehren des Golfsiegers seines Clubs veranstalteten Festabend um zwei Uhr morgens nach Hause gefahren. Der Nachtportier des Savannah half dem nicht mehr ganz nüchternen Herrn in den Lift, drückte den Knopf der elften Etage und machte es sich wieder in seiner Loge bequem.
Wenige Minuten später leuchtete das rote Licht des Alarmsignals auf.
Duke Potter eilte trotz seiner zweihundert Pfund mit wenigen Sätzen durch die mattbeleuchtete Halle. Der Aufzug kam gerade wieder herunter. James P. Baldon versuchte die beiden Flügel der automatischen Tür auseinanderzudrücken, noch bevor sie sich öffnete. Er zwängte sich hindurch. Sein grauer, steifer Hut war ihm in den Nacken gerutscht.
»In diesem Land ist der Teufel am Werk!«, keuchte er verärgert. Selbst nach vierzigjährigem Aufenthalt in den Staaten hielt er Schottland noch immer für das einzige wohlgesittete Land.
»Mr. Baldon«, versuchte Duke Potter den alten Herrn zu beruhigen und gab sich alle Mühe, ein dem Schotten verständliches Englisch zu sprechen, so gut es ihm eben in der Grundschule in Alabama und später in Harlem beigebracht worden war, »Sie haben den Schlüssel vergessen - wie vorige Woche - aber...«
Der Mieter hielt dem Mann seine Hand mit dem Schlüsselbund vor das Gesicht.
»Hier! Nicht der Schlüssel hindert mich daran, meine Wohnung zu betreten, sondern der Kerl am Fußboden! Er liegt genau vor der Wohnungstür!«
»Ein Mann...?«, fragte Potter ungläubig. »Kennen Sie ihn? Ist er betrunken? Was sagt er?«
»Er gab mir auf keine Frage eine Antwort und blieb liegen, wo er lag. Da ich keinen Schlüssel zum Service-Eingang habe, konnte ich diesen Umweg nicht einschlagen. Es ist mir aber gar nicht recht, über einen fremden Menschen zu schreiten, um in meine Räume zu gelangen. Sie müssen mit hinaufkommen und ihn aus dem Weg räumen.«
Er trat in den Aufzug zurück.
Im elften Stock bedeutete Baldon dem Neger, vorauszugehen.
Potter kam dem Wunsch ungern, doch pflichtgemäß nach. Er blickte sich um.
Über den ausgelegten Fußboden des Vorplatzes zog sich ein roter Läufer. In dessen Mitte, die Füße zur Eingangstür, den Körper gegen die Längswand gerichtet, lag ein Mann. Er trug einen grauen Raglan, dunkle Hosen und gelbe Halbschuhe. Aus der Seitentasche des Mantels ragte eine etwas zerknitterte Zeitung. Der tief in die Stirn gedrückte Schlapphut verdeckte das Gesicht.
Potter sagte gedämpft: »He, Mister! Aufstehen!« Als die Gestalt sich nicht rührte, wiederholte der Neger seine Aufforderung mit größerem Stimmaufwand. Schließlich beugte er sich zu dem Liegenden nieder, legte die Hand auf seine linke Schulter und drehte ihn zur Seite.
Das Gesicht kam in den Schein der Deckenbeleuchtung.
Es war das Antlitz eines jungen Menschen. Er mochte vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt sein. Die Augen blickten erstaunt ins Leere.
Potter stieß einen kurzen, heiseren Schrei aus. Er deutete auf die Brust des Mannes.
Unterhalb der kleinen Fliege, die er trug, schien eine Krawatte zu hängen. Sie war dunkelrot, schmal und glänzte. Sie endete in einem spiegelnden Fleck auf der Weste.
»Ermordet! Erschossen!«, schrie Potter. »Mr. Baldon, bleiben Sie hier, ich verständige die Polizei!«
»Sind Sie wahnsinnig geworden!«, protestierte der Schotte. »Ich bin kein Totenwächter. Rufen Sie die Polizei, das ist sehr in Ordnung, obwohl ich wenig von ihr halte. Aber ich komme mit!«
»Die Polizei wird sehr böse sein, Mr. Baldon!« jammerte Potter. »Ich weiß, dass man nichts anrühren darf. Wer weiß, es kann jemand vorbeikommen, vielleicht der Mörder...«
»Und deshalb soll ich hierbleiben?« Baldon ergriff die Uniformaufschläge des Negers. »Nein! Ich rufe die Polizei an! Sie bleiben hier! Das ist Ihre Aufgabe!« Er betrat bereits den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf »Basement«.
Auf dem Schild neben dem Telefon waren die Emergency-Anschlüsse vermerkt. Er wählte die Mordkommission Nummer SP-73100, begann den Tatbestand zu erzählen, wurde weiterverbunden, begann von neuem. Diesmal war er an der richtigen Stelle.
Homicide Squad, Headquarters, New York Police, 240 Center Street.
»Rühren Sie nichts an! Verändern Sie nicht die Lage des Toten! Wir sind in zehn Minuten dort. Sorgen Sie dafür, dass die Haustür offen ist!«
Baldon beschloss, in der Halle zu warten. Er ging langsam auf und ab, rauchte eine seiner gewohnten »Henry Clay Medium« und gewann so allmählich sein seelisches Gleichgewicht wieder. Die Verbrechen im Allgemeinen und die Morde im Besonderen entbehrten längst jeder Sensationskraft. Man las sie wie alle anderen alltäglichen Nachrichten.
Das Heulen der Polizeisirenen drang durch die dicken Scheiben der bronzegerahmten Frontfenster und des reichverzierten Hauptportals.
Baldon klopfte ganz mechanisch die silbergraue Asche von seiner Zigarre, eilte schnellen Schrittes, aber doch würdig und ohne seine Haltung zu verlieren, zur Tür und öffnete.
Draußen standen drei Autos mit laufenden Motoren. Eilig entstiegen ihnen Beamte in Zivil und Uniformierte. Vier Männer überschritten die Schwelle fast gleichzeitig.
»Mr. Baldon?«, fragte eine klare, eindringliche und kühle Stimme.
»Ganz recht, der bin ich«, erwiderte der Schotte, »ich ließ den Portier oben mit dem toten Gentleman, damit nichts angerührt wird - ich dachte, es sei besser, wenn ich Ihnen hier öffne und Sie gleich hinaufgeleite...«
»Danke! Ich bin Inspektor Brewer von der Mordkommission, das ist Polizeiarzt Dr. Kennedy, Detective Gatsky und Detective Lowett. Die anderen Herren sind vom kriminologischen Laboratorium, dem Erkennungsdienst und der Morgue. Das ist die Endstation, Mr. Baldon, in der 29th Street...« Er blickte um sich, als zähle er seine Getreuen, die sich in der Halle sammelten. »Weiß außer Ihnen und dem Portier jemand von dem Vorfall? Ich meine - ist, seitdem Sie den Toten entdeckten, jemand nach Hause gekommen oder hat jemand das Haus verlassen?«
»Das ist ausgeschlossen! Ich ließ den Fahrstuhl nicht aus den Augen und hielt mich ständig in der Halle auf!«, antwortete Baldon.
»Sie sagten - ausgeschlossen? Bitte, seien Sie mit Ihren Äußerungen und Angaben vorsichtiger!« belehrte ihn der Inspektor. »Während Sie mit dem Portier im elften Stock weilten, konnte über das Treppenhaus, wer immer wollte, zumindest jede Wohnung vom ersten bis einschließlich dem zehnten Stock erreichen oder verlassen - oder beides.«
»Aber«, wandte der etwas gekränkte Präsident der Bellamy ein, »es ist doch klar...«
»Nichts ist in einem Mordfall klar, Mr. Baldon!« stellte Brewer fest, »bis auf das, was uns der Täter freundlicherweise zeigt. Leider legen die Mörder kein besonderes Gewicht darauf, uns aufzuklären. Deshalb müssen wir es selbst tun oder zumindest versuchen. Dazu gehört größte Genauigkeit. Ich wies Sie nur deshalb auf die Unzuverlässigkeit Ihrer Behauptung hin, damit Sie meine späteren Fragen gewissenhafter beantworten. Seien Sie mir deshalb nicht böse!«
Er winkte seinem Stab und folgte dem wortlos zum Aufzug schreitenden Baldon.
»Wer soll außer uns gleich mit Ihnen hinauffahren?«, fragte Detective Gatsky.
»Doc Kennedy, Sie und Lowett. Wenn auch alle Fußabdrücke durch Mr. Baldon und den Portier fast sicher verwischt wurden, so wollen wir doch nicht auch noch eventuelle Reste zerstören!«, ordnete Brewer an. »Vielleicht sind einige Spuren erhalten geblieben - trotz des Umhertrampelns. Sobald der Tatort besichtigt ist, holt Lowett die anderen. Weiterhin sollen sofort alle übrigen Ein- und Ausgänge festgestellt werden. Alle sind zu besetzen! Rigoros! Niemand verlässt das Gebäude, und wer es betreten will, ist zunächst festzuhalten.«
»Und ich?«, fragte Baldon erstaunt und gekränkt.
»Bitte warten Sie bei den Herren hier, das kann für Sie eine interessante Unterhaltung werden!«
Der Inspektor fuhr mit Doc Kennedy, Gatsky und Lowett in den elften Stock. Sie betraten den Vorplatz behutsam, obwohl auf den ersten Blick keine Spuren auf dem Teppich zu sehen waren. Die beiden Beamten blieben ganz dicht seitlich beim Fahrstuhl, und nur Brewer und Doc Kennedy näherten sich auf Zehenspitzen der regungslosen Gestalt am Boden.
Der Polizeiarzt tastete sie mit den Händen ab, ohne an der Lage etwas zu ändern.
»Zweifellos tot!« Er öffnete Weste und Hemd und betrachtete die Wunde. »Schuss aus einiger Entfernung. Selbstmord ausgeschlossen.« Er zwängte ein Thermometer in die Achselhöhle des Toten, presste den Arm darauf, verfolgte den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. Nach einer Weile las er die Temperatur ab: »Noch 30,3 Grad. Und es ist jetzt genau zwei Uhr sechzehn.« Er machte sich in ein kleines Büchlein Notizen und fügte erklärend hinzu: »Ein Körper beginnt mit dem Eintritt des Todes abzukühlen. Der wärmespendende Kreislauf steht still. Allerdings sinkt die Wärme keineswegs nach einem bestimmten Rhythmus ab. In einem warmen Raum bleibt der Leichnam viel länger warm, als wenn ihn Kälte umgibt. Aber in dieser Umgebung hier lässt der Grad der eingetretenen Abkühlung zumindest annähernde Rückschlüsse auf den Zeitpunkt zu, an dem der Tod eintrat. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er nicht weniger als eine Stunde und nicht mehr als drei zurückliegt. Der Mann dürfte zwischen einer Stunde vor und einer Stunde nach Mitternacht ums Leben gekommen sein. Vielleicht liefert uns der Mageninhalt weitere Aufschlüsse. Verschiedene Speisen haben stark voneinander abweichende Verdauungszeiten. Aus dem Grad der chemischen Zersetzung können sich nützliche Hinweise ableiten lassen.«
Brewer, der ähnliche wissenschaftliche Vorträge von Doc Kennedy auswendig kannte, atmete auf.
»Fertig? Gott sei Dank! Sie machen mich mit Ihren Ausführungen immer nervös. Dabei komme ich nie hinter Ihre Geheimnisse. Weshalb können Sie mir keine genaueren Angaben machen? Drei Stunden Spielraum sind viel - besonders, wenn es sich um Alibifragen handelt!«
»Bedaure sehr«, wehrte Dr. Kennedy ab, »aber es gibt eben nur eine annähernde Bestimmung. Nicht nur die Temperatur der Umgebung beeinflusst die Auskühlung. Auch das Alter spielt eine Rolle. Dann verliert ein schlanker Mensch viel schneller an Temperatur als ein beleibter, dessen Fett konservierend wirkt. Es gibt zwar Tabellen mit Durchschnittswerten für alle Eventualitäten, doch ihr Wert ist umstritten. Ich hoffe, dass Sie zufrieden sind. Sobald ich das Protokoll extrahiert habe, schicke ich es zum ballistischen Dienst. Meine Arbeit ist beendet. Schicken Sie mir den Patienten baldigst auf den Marmortisch!«
Er verabschiedete sich eilig.
Brewer winkte dem Portier.
»Haben Sie denn unten in der Halle den Schuss nicht gehört?«, fragte er.
»Nein, Inspektor!«, versicherte der Gefragte. »Sonst wäre ich doch sofort der Sache nachgegangen!«
Brewer überlegte.
Es stand nicht einmal fest, wo die Tat begangen worden war. Wahrscheinlich in einer der Wohnungen der obersten Etagen, von wo der Täter den Körper des Ermordeten dann hinuntergezogen und Baldon vor die Tür gelegt hatte. Traf diese Annahme zu, so konnte der Schuss in der Halle nicht gehört worden sein.
Der Portier zog sich in die Ecke an der Längswand zurück.
Der Inspektor sah sich lange um und ließ seinen Blick durch den ganzen Raum gehen, um sich jede Einzelheit genauestens einzuprägen. Gatsky und Lowett tauschten Blicke. Sie kannten ihren Chef. Er pflegte immer wieder zu sagen, der Scant des Tatorts sei von tiefer Bedeutung, sozusagen das Aroma und die Atmosphäre. Bei vielen, lange nach der Tat auftretenden Zweifeln gab oft die ganz klare Rückerinnerung an den Schauplatz wertvollste Aufschlüsse. Im ersten Augenblick übersah man manches, weil es bedeutungslos schien. Im Zusammenhang mit einer später ermittelten Einzelheit konnte es aber entscheidendes Gewicht bekommen.
Der Neger verfolgte jede Bewegung der drei Beamten mit unbehaglichem Gefühl. Seine persönliche Einstellung zur Polizei beruhte vorwiegend auf unangenehmen Erfahrungen. Er war unbescholten, aber bereits als Junge hatte er bei mehr oder minder harmlosen Anlässen eins von einem Flatfoot abbekommen, den Plattfüßlern, wie man die patrouillierenden Polizisten nannte. Und später hatte er gelegentlich in irgendeiner Kneipe, die ausgehoben wurde, die vorzügliche physische Ausbildung der New Yorker Polizisten kennengelernt.
Die prüfenden Blicke lösten bei Potter Misstrauen aus und drängten ihn in eine Abwehrstellung. Ein tiefwurzelnder Schuldkomplex kam zutage.
»Ich weiß von nichts, so wahr mir die Mutter Gottes helfe. Mr. Baldon holte mich...«
»Beruhigen Sie sich!« Die Worte klangen unpersönlich, aber nicht unfreundlich. Der Inspektor wusste, dass man mit den Aussagen erschreckter Menschen nichts anfangen konnte. »Natürlich müssen wir Sie später verhören, aber es liegt nichts gegen Sie vor, also machen Sie sich keine albernen und unnützen Gedanken! Jetzt möchte ich nur wissen, ob Sie von dem Augenblick an, als Sie mit Mr. Baldon den Toten fanden, ununterbrochen hiergeblieben sind?«
»Ich habe mich keinen Schritt weggerührt«, versicherte der Portier, sichtlich erleichtert. »Mr. Baldon war mit dem Fahrstuhl hinuntergefahren, um die Polizei zu benachrichtigen.«
»Worauf es ankommt, ist nur Ihre Anwesenheit hier«, erklärte Brewer geduldig. »Sie hätten die Treppe hinauf- oder hinuntergehen können. In diesem Fall wären Sie jetzt nicht in der Lage, aus eigenem Wissen zu bestätigen, dass niemand am Tatort vorbeikam.«
»Ich habe mich gar nicht getraut, wegzugehen«, gestand Potter. »Der Mörder hätte ja noch in der Nähe sein können - eigentlich wollte ja ich telefonieren gehen, doch Mr. Baldon war auch so gescheit - und als Mieter...« Der Neger zuckte bedauernd die Schultern. »Aber hier war niemand. Weder über die Treppe konnte jemand kommen noch mit dem Aufzug.«
Brewer nickte.
»Gut, eine klare Aussage! Haben Sie übrigens einen Schlüssel zu der Wohnung von Mr. Baldon?«
»Nein«, antwortete der Neger, »den Reserveschlüssel hat die Hausverwaltung im Safe. Sie kann zu jeder Stunde erreicht werden - wenn’s brennt. Aber Mr. Baldon hatte ja seinen Schlüssel bei sich. Er ging nicht in sein Apartment, denn es war ihm unheimlich, über diese Gestalt hinwegzuschreiten. Als er zuerst hier oben angekommen war, hielt er den Mann am Boden für einen Betrunkenen. Der Gedanke lag für ihn nahe«, Potter versuchte zu lächeln, »unter uns gesagt, Inspektor, der Präsident verschmäht auch einen guten Tropfen nicht.«
»Bleiben Sie weiterhin dort in der Ecke«, wies ihn Brewer an. »Einer meiner Beamten wird Ihren Dienst unten versehen, bis Sie wieder selbst nach dem Rechten sehen können.« Er winkte Gatsky: »Holen Sie die Leute vom Erkennungsdienst herauf. Sorgen Sie dafür, dass unten ein Mann für den Portier einspringt. Wenn Bewohner nach Hause kommen, darf nichts von Mord bekannt werden. Nur irgendeine Andeutung über einen angeblichen Einbruch oder ähnliches - aber die Namen notieren! Und niemand darf aus dem Haus!«
Der Detective ließ den Fahrstuhl heraufkommen.
Drei Beamte in Zivil erschienen mit einem größeren Koffer und zwei Handtaschen. Der Inspektor gab kurze Hinweise, und sie begannen mit ihrer Arbeit.
Sie legten auf den Fußboden einen Meterstab mit Dezimaleinteilung und lehnten einen anderen an die Wand. So konnten von den Fotos Maße und Entfernungen abgelesen werden. Dann wurden der Tatort und der Tote aus je drei Blickwinkeln in einer Ebene und anschließend mit einer Kamera auf einem bis an die Decke reichenden Stativ von oben fotografiert. Durch diese Aufnahmetechnik konnte die Lage des Toten in ihren richtigen Proportionen zur Umgebung genauestens festgehalten werden.
Potter verfolgte aus seiner Ecke jede Bewegung mit erregter Verwunderung.
Einer der Spezialisten des Erkennungsdienstes zeichnete auf millimetriertes Papier den Grundumriss des Tatortes unter Markierung der Position des Toten, des Treppenhauses, des Aufzugs und der Türen.
Mit einer Spezialapparatur wurden die Fingerabdrücke des Ermordeten auf flexible, durchsichtige Streifen, die sich der Fingerform genau anpassten und so die Papillarlinien in ihrer natürlichen Formgebung aufnehmen konnten, fixiert.
Brewer wies auf den Fahrstuhl. »Untersuchen Sie die Kabine auf Fingerabdrücke. Ich verspreche mir zwar wenig davon, aber man kann nie wissen. Vielleicht finden sich die des Ermordeten.«
Nach einigen Minuten hatten die Beamten auch diese Arbeit getan.
»Fertig?«, fragte Brewer. »Fein! Sorgen Sie dafür, dass ich das ausgewertete Material bei meiner Rückkehr vorfinde. Schicken Sie mir jetzt die Kollegen vom Labor herauf.« Er blickte zu Gatsky. »Sehen Sie gleich einmal unten nach, ob’s irgendetwas Neues gibt! Und nehmen Sie Lowett mit!«
Der Detective kehrte nach kurzer Zeit mit den beiden Beamten zurück. Während sie ihre Instrumente auspackten, berichtete er dem Inspektor.
»Ein wirklich anständiges Haus! Kein Mensch ist bis jetzt aufgetaucht - weder am Hauptportal noch beim Serviceeingang oder der Garage.«
Die Leute vom Labor hatten inzwischen den Läufer angehoben. Es waren nur wenige kleine, dunkle Flecken zu sehen - von der Schusswunde abgetröpfeltes Blut. Sie schabten die gallertartige Masse von der Oberfläche und strichen sie in eine verschließbare Glasröhre, die sie danach markierten. Mit einem durch Batteriestrom betriebenen Handstaubsauger gewannen sie Material vom Läufer rings um den Toten. Sie öffneten den Apparat, entnahmen ihm den staubgefüllten Plastikbehälter, notierten den Ursprung auf das angeheftete Etikett und setzten einen neuen Behälter ein.
Der Staubsauger glitt nun über die Kleidung des Ermordeten und über dessen Kopfhaar. Nach nochmaligem Behälterwechsel und neuer Beschriftung wurden der gesamte Läufer und anschließend der Bodenbelag in derselben Weise erneut abgesaugt. Mit einem feinen, aber ein wenig stumpfen Gerät schabten die Spezialisten die Unsauberkeiten unter jedem Fingernagel hervor, separierten sie für jede Hand gesondert und klopften sie in vorher gekennzeichnete Plastikdosen. In einem Metallbehälter verwahrten sie den Schmutz von den Schuhsohlen des Toten.
Die Drehknöpfe an den Türen hatten an der Oberfläche ein feines Gießmuster, so dass sie die Sicherung daktyloskopischer Spuren ausschlossen.
Auf die anschließenden Türflächen wurde ein Pulver zerstäubt, das einige Fingerabdrücke erkennen ließ, welche mit transparenten Klebestreifen abgenommen wurden. Auch sie erhielten die genauen Angaben der Fundstelle.
»Wir sind mit unserer Arbeit fertig«, meldete der ältere der beiden Beamten. »Wurde eigentlich die Waffe gefunden?«, erkundigte er sich bei Brewer.
Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Keine Spur von einer Waffe! Diesen Gefallen tat uns der Mörder nicht! Aber bevor Sie gehen, prüfen Sie bitte genau das Innere des Fahrstuhls - und zwar gründlichst! Nach meiner Auffassung ist der Mord kaum hier geschehen. Wenn der Tote unmittelbar nach dem Schuss von dem wirklichen Tatort fortgetragen wurde, müsste er Blut verloren haben. Das ist zwar keine Gewissheit, denn die eigentliche Blutung setzte wohl erst ein, als er mit der Schusswunde zum Boden gewandt auf den Läufer gelegt wurde.«
Die Beamten setzten ihre Arbeit wie zuvor im Fahrstuhl fort.
Als sie auch hier jede Möglichkeit festgehalten hatten, erhielten sie von Brewer die Weisung, nunmehr die Leute der Morgue heraufzuschicken.
Die Experten des Laboratoriums entfernten sich.
Die beiden Männer der Morgue hoben die Bahre mit der berufsmäßigen Sicherheit langjähriger Routiniers aus dem Fahrstuhl. Sie schnallten den Toten mit wenigen raschen Griffen fest, bedeckten ihn mit einem weißen Leintuch und brachten ihn fast aufrecht stehend in der Liftkabine unter.
Brewer hielt die Tür offen und sagte: »Bitten Sie Mr. Baldon, zu mir heraufzukommen!« Er wandte sich an Gatsky: »Begleiten Sie unseren toten Freund hier...« - er zeigte auf die verhüllte Gestalt - »...auf seiner Fahrt und nehmen Sie im Leichenschauhaus ein genaues Verzeichnis aller Gegenstände auf, die er bei sich trägt!«
Der Präsident der Bellamy entstieg dem Fahrstuhl in einer Laune, die selbst ein schlechter Menschenkenner nicht als besonders gehoben bezeichnet hätte.
Er stimmte dem Inspektor ein Klagelied über die Polizei im Allgemeinen und über die New Yorker Polizei im Besonderen an.
Dann blickte er prüfend auf den Läufer, als sei er erstaunt, seinen unbekannten nächtlichen Besucher dort nicht mehr zu sehen, machte einen Umweg um den dunklen Fleck herum und schloss umständlich die Tür zu seiner Wohnung auf.
Brewer folgte der Einladung, zuerst einzutreten, nicht. Er schob Baldon und nach ihm den Portier über die Schwelle.
Beim Betreten der Halle in der Wohnung Baldons leuchteten schimmernde Neonröhren hinter Ornamenten auf. Das indirekte Licht kam vom Plafond mild reflektiert durch den weiten Raum.
Der Präsident öffnete eine mächtige Flügeltür. Wieder überflutete sogleich eine starke, doch angenehme Helligkeit den Raum. Es war ein überdimensionierter Salon mit ebenso unwahrscheinlich großen Sitzgarnituren, einigen Tischen und einem Renaissancepult. An den Wänden hingen Gemälde, die auch ein Laie instinktiv als Kostbarkeiten empfinden musste.
Potter blieb respektvoll neben der Tür stehen.
Baldon bot Brewer einen brokatbezogenen Fauteuil an. »Nehmen Sie bitte Platz. Trinkbares finden Sie im eingebauten Schrank neben der Stehlampe. Ein Druck auf den Löwenkopf genügt. Bedienen Sie sich und reichen Sie mir ein Glas herüber. Whisky - ohne.« Er setzte sich müde dem Inspektor gegenüber.
Brewer griff nach dem bronzenen Kopf. Der durch Edelholz verdeckte Eisschrank öffnete sich und strömte kühle Luft aus. Auf drei Regalen standen Flaschen. Zwei enthielten Gläser verschiedener Größen, vom kleinen Cognacnäpfchen bis zu Napoleonpokalen und hohen geschliffenen Kelchen.
»Darf ich...«, Potter kam unsicher näher, »ich war zwei Jahre im Norfolkclub Kellner...« Noch bevor eine Antwort kam, begann er zu servieren.
»Danke«, nickte Brewer, »aber nun warten Sie draußen, bis ich Sie rufe. Und wenn ich sage, dass Sie warten sollen, so meine ich das wörtlich!«
Der Neger verbeugte sich und ging.
»Fast drei Uhr morgens!«, stöhnte Baldon. Er schob Zigarren und Zigaretten seinem Gast zu. »Ich möchte nur wissen, was Sie denn während der Zeit getan haben, als ich unten bei Ihren merkwürdigen - wie soll ich sagen - Mitarbeitern ausharren musste! Schließlich - tot ist tot ich würde mit so einer Sache schneller fertig werden!«
Der Inspektor blies den blauen, duftenden Rauch von sich. »Fragt sich nur, in welcher Beziehung, Mr. Baldon! Wahrscheinlich ginge es bei Ihnen flotter vorher - aber langsamer nachher. Ihr ganzes restliches Dasein reichte dann nicht aus, um den Mörder zu finden.« Er sprach nicht unfreundlich. Es war ihm klar, dass er von einem Manne wie Baldon nur durch persönlichen Kontakt etwas erfahren konnte, keinesfalls mit amtlichem Nachdruck.
Rein gefühlsmäßig hielt der Inspektor sein Gegenüber für unverdächtig. Aber seine lange Berufserfahrung ließ ihn immer wieder vor solchen abstrakten Urteilen zurückschrecken. Er hatte schon einmal einen reizenden alten Herrn mit gütigen, blauen Augen mit aller Überzeugung für unschuldig gehalten, der dann doch eines Tages auf dem elektrischen Stuhl endete.
Aber was hätte bei Baldon als Motiv dienen können? Und - ohne Motiv kein Verbrechen, es sei denn bei Geisteskranken. Und zu denen zählte dieser Mann keinesfalls.
Brewer überlegte. War eine Verbindung zwischen Baldon und Potter denkbar? Sie konnten sich gegenseitig ein Alibi bezeugen, doch nur für die Zeit nach fast zwei Uhr, während der Mord wesentlich früher geschehen war.
»Sie haben mir auf meine Frage noch keine Antwort gegeben!«, erinnerte der Schotte. »Was gibt’s denn schon so viel zu tun, wenn man einen Ermordeten auffindet? Entweder Sie erwischen den Täter, oder er geht Ihnen durch die Lappen. Wenn er keinen groben Fehler begangen hat, sind Sie auf den Zufall angewiesen. In diesem Fall hier gibt es keine Zeugen...«
»Wie kommen Sie auf diese Idee?«, wollte Brewer wissen. »Wir besitzen die Aussagen einer ganzen Reihe stummer Zeugen - und sie sind zuverlässiger als jene, die vor Gericht aussagen! Wir haben einmal versuchsweise einen Banküberfall gestellt und die ganze Sache vor fünfzig Zeugen wie ein Theaterstück heruntergespielt. Genau eine Stunde nach dem Überfall nahmen wir die Aussagen der fünfzig Zeugen zu Protokoll. Ich bemerke noch, dass jeder sich bereit erklärte, seine Aussage zu beeiden. Es ergab sich, dass zwei, drei und vier Täter gesehen worden waren. Tatsächlich waren es drei. Sie wurden als mittelgroß, als groß und sogar als sehr groß beschrieben - als hager, als muskulös, als dick. Sie trugen graue, blaue, dunkelblaue, hellblaue und sandfarbene Mäntel. Sie hatten blonde, brünette, braune, schwarze und kastanienbraune Haare. Tatsächlich waren als Verbrecher drei fast gleichgroße Männer ausgewählt worden. Alle drei waren mittelstark, alle drei trugen graue Mäntel verschiedener Tönung, alle drei hatten braunes bis dunkelbraunes Haar. Nur sieben Zeugen gaben richtige Darstellungen!«
»Das glaube ich Ihnen einfach nicht!« behauptete Baldon. »Mir könnte so etwas nicht passieren!«
»Dann besitzen Sie eine ungewöhnlich gute Beobachtungsgabe und ein vorzügliches Gedächtnis.« Brewer leerte sein Glas. Er lenkte weiter ab, um erst später ganz unvermittelt auf den Mordfall zurückzukommen.
»Für wie alt halten Sie meinen Kollegen Gatsky? Sie sahen ihn sich unten in der Halle bei unserem Eintritt genau an!«
»Das ist der hagere Lange?«, fragte der Präsident.
»Nein, der dickliche Kurze!«, lächelte Brewer.
Baldon trank sein Glas aus, suchte Zeit zu gewinnen, bat um eine weitere Nachfüllung. »Vierzig! Und dabei irre ich mich höchstens um zwei Jahre!«
Der Inspektor blickte dem Rauch seiner zweiten Zigarette nach. »Gatsky zählt ganze dreißig Lenze, Herr Präsident. Aber vielleicht blieb Ihnen die Augenfarbe besser im Gedächtnis?«
»Braun!«, rief der Schotte triumphierend.
»Hellblau!«, gab Brewer zurück. »Doch sicher erinnern Sie sich noch an die Farbe von Doktor Kennedys leichtem wollenem Übergangsmantel?«
»Grau...«, kam es zögernd von Baldons schmalen Lippen.
»Er trug keinen grauen Wollmantel, sondern einen blauen Nylon-Regenmantel!« Der Inspektor hüstelte: »Wie sähe ich also mit Ihrer Zeugenaussage vor den Geschworenen aus?«
»Schön, man kann sich irren, ein Zufall, blähen Sie sich nicht so auf, so etwas kommt bei mir sonst nie vor!«, murmelte Baldon. »Und Ihre stummen Zeugen? Die müssen Sie erst für die Ohren der Geschworenen hörbar machen!« Er kicherte.