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Pierre Delbos lebt von Sensationen. Als Reporter erwartet seine Zeitung von ihm täglich einen neuen Knüller. Darum greift er dankbar einen Tipp auf und versucht, über den geheimnisvollen Einbruch ins Schloss Auberon, den Familiensitz des Marquis de Gilles, Informationen zu bekommen: Diebe drangen in den Saal des Schlosses ein, doch sie ließen unschätzbare Kostbarkeiten unberührt; stattdessen stahlen sie eine silberne Monstranz, deren Wert in der Tat erheblich wäre, wenn es sich dabei nicht um eine geschickt angefertigte Kopie handeln würde.
Dies ist der Auftakt zu einer wilden Jagd, die durch halb Europa führt...
Frank Arnau, geborener Heinrich Karl Schmitt, auch Harry Charles Schmitt (* 9. März 1894 bei Wien, Österreich-Ungarn; † 11. Februar 1976 in München), war ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller.
Der Roman Das Rätsel der Monstranz erschien erstmals im Jahr 1962.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
FRANK ARNAU
Das Rätsel der Monstranz
Roman
Apex Crime, Band 256
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS RÄTSEL DER MONSTRANZ
1. Paris - 38 Grad im Schatten
2. Der Nachfahr Karls des Kühnen
3. Die Prämie von 50.000 Francs
4. Der Mann, der manches wüsste, aber nicht alles
5. Wer ist wer?
6. Roberto und Romana
7. Die Juwelen der Krone
8. Das Rätsel von Schloss Auberon
9. Die zweite Prämie
10. Pinellis Laden
11. Das Haus in der Lagunenstadt
12. Alles auf eine Karte
13. Der Irrtum des Aristoteles Popokatupolus
14. Paris - 30 Grad im Schatten
Pierre Delbos lebt von Sensationen. Als Reporter erwartet seine Zeitung von ihm täglich einen neuen Knüller. Darum greift er dankbar einen Tipp auf und versucht, über den geheimnisvollen Einbruch ins Schloss Auberon, den Familiensitz des Marquis de Gilles, Informationen zu bekommen: Diebe drangen in den Saal des Schlosses ein, doch sie ließen unschätzbare Kostbarkeiten unberührt; stattdessen stahlen sie eine silberne Monstranz, deren Wert in der Tat erheblich wäre, wenn es sich dabei nicht um eine geschickt angefertigte Kopie handeln würde.
Dies ist der Auftakt zu einer wilden Jagd, die durch halb Europa führt...
Frank Arnau, geborener Heinrich Karl Schmitt, auch Harry Charles Schmitt (* 9. März 1894 bei Wien, Österreich-Ungarn; † 11. Februar 1976 in München), war ein schweizerisch-deutscher Schriftsteller.
Der Roman Das Rätsel der Monstranz erschien erstmals im Jahr 1962.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Für Pierre Delbos war das Anlaufen der Rotationsmaschinen eine «r Sphärenmusik. Damit hörte der Bereitschaftsdienst auf. Er schob seinen Stuhl erleichtert zurück, nahm den Telefonhörer ab, meldete der Zentrale, dass es nichts Neues gebe, und schlenderte, die Zigarette zwischen den Lippen, den Korridor entlang zum Fahrstuhl.
Im Maschinensaal griff er sich ein feuchtwarmes Exemplar des Echo de France, durchflog es, blätternd, wie nur ein geborener Journalist eine Zeitung verzehren kann, nickte dem Maschinenmeister zu, schritt zum Hauptausgang, wo die Straßenverkäufer bereits die Lieferwagen umdrängten.
In der Luft lag der Geruch von Druckerschwärze, Öl und Teer. Ein Aroma von überhitztem Asphalt mengte sich dazu. Die Rue Reaumur strahlte vom Straßenbelag und von den Häuserwänden unerträglich schwüle Hitze.
Pierre Delbos hasste all das und liebte es zugleich. Es war seine Welt, er ließ kein gutes Haar an ihr, er schimpfte über sie und wusste doch, wie unabänderlich er zu ihr gehörte.
Im Bistro an der Ecke kaufte er seine Caporal. Die Patronne stand hinter dem Zink - dem weißblechbezogenen Schanktisch - und warf sein neues Fünf-Francs-Stück in die Kasse.
»Merci, ça va?«
»Heiß!«, erwiderte er, als sei es eine Neuigkeit. Er blickte mechanisch auf die Croissants unter der Glasglocke, die Kuchenstücke, die heute so dalagen wie gestern und vorgestern. - Vielleicht, dachte er, sind sie nur aufgefrischt worden? - Im Hintergrund spielten zwei Mechaniker ihre Partie Belotte - die Likörflaschen schimmerten in grellen Farben - es war jeden Tag dasselbe Bild, auch die Patronne nahm kein Pfund ab, so sehr sie auch immer von ihrer strengen Diät sprach.
Delbos sah auf seine Armbanduhr. Es war vier, ein unerträglich heißer Tag Ende Juli, die Stadt schien trostlos. Als er den Boulevard Montmartre erreichte, fuhr ein Autobus mit Touristen vorbei, ein Fremdenführer redete auf die Insassen ein.
Delbos blieb im Schatten, soweit die vorgelagerten Kaffeehausterrassen es erlaubten. Er ging zum Café de la Paix, setzte sich an einen kleinen runden Tisch am äußersten Ende, bestellte einen Café Creme, atmete tief ein und aus, blickte um sich.
Er sah an der Kreuzung Opera die Flics den Verkehr regeln. Zeitweise nahmen sie ihr Käppi ab, wischten sich den Schweiß von der Stirn.
Pierre Delbos trank einen Schluck Kaffee.
Er überlegte.
Es fiel ihm nichts ein. Dabei musste er für den nächsten Tag eine Reportage zustande bringen. Der Chef des lokalen Teils ließ keinen Zweifel darüber, so gehe es einfach nicht weiter. Es sei eine handfeste Sache fällig, die man auf der ersten Seite ankündigen und auf der dritten zumindest fünfspaltig aufmachen könne. Also - eine Sensation.
Delbos merkte gar nicht, dass er unwillkürlich den Kopf schüttelte. Es war seine eigene Antwort auf seine eigenen Themenvorschläge. Er wusste, sie taugten nichts. Die Eindrücke, die der neue Franc in allen Bevölkerungsschichten gemacht hatte, waren von allen Zeitungen ausgeweidet worden. Man wusste, wie die Millionäre und wie die Clochards - die Bettler - der harten Währung gegenüber standen. Hausfrauen waren zu Wort gekommen, Käsehändler, Autobusschaffner, Tanzgirls, Fleischer und Ärzte. Mit diesem Thema ließ sich nichts mehr anfangen. »Wohnungseinbrüche im Sommer« lockte auch keinen Leser zum Kauf. Das war hundertmal in allen Varianten erschienen, mit und ohne Besuch im Polizeimuseum. Ein Interview mit dem Leiter des Meteorologischen Instituts über die Einflüsse der Atomexplosionen auf die Witterung hatte zwei Tage zuvor bereits der Soir groß herausgebracht. Politik, das einzige Gebiet, wo man sensationelle Neuigkeiten wenigstens erfinden konnte, schied für den lokalen Teil aus.
Pierre Delbos tauchte, in Gedanken verloren, sein zweites Croissant in den hellbraunen Milchkaffee, als sich eine Hand leicht auf seine Schulter legte.
Er wandte sich um, blickte auf. Vor ihm stand Bartet.
»Sie erlauben, Herr Chefredakteur?«, fragte der hochgewachsene schlanke Mann mit dem immer verbindlich lächelnden Gesicht und setzte sich, ohne die Aufforderung abzuwarten. Er winkte einen Garçon herbei, bestellte sich einen Grand Marnier. Er genehmigte allen seinen Journalisten-Freunden generös den Titel Chefredakteur und gewissermaßen als Gegenleistung sich selbst einen Likör.
Delbos zündete sich eine frische Zigarette an. Er mochte Bartet trotz seiner Eigenarten ganz gut leiden, allerdings empfand er ein gewisses Misstrauen, wie es fast alle gebürtigen Franzosen ihren naturalisierten Landsleuten gegenüber empfinden. Dazu kam, dass man bei Bartet nicht wusste, woher er kam, was er trieb, wovon er lebte. Manchmal sah man ihn mit merkwürdigen Fremden, doch mitunter tauchte er auch bei hochoffiziellen Festessen auf. Er kannte ganz Paris, wusste erstaunlich viel Klatsch... Delbos wartete, bis sein ungebetener Gast das Glas geleert hatte, bestellte ihm sogleich Nachschub. Vielleicht konnte Bartet Material für eine brauchbare Reportage liefern.
»Wie kommt's, dass Sie bei dieser Gluthitze in Paris geblieben sind? Ich glaubte Sie in Deauville oder sonst an einem Meeresstrand...«
»Eine besondere Mission hält mich hier«, erwiderte Bartet geheimnisvoll. »Eine Staatssache erster Güte.«
»Nichts für das Echo? Geben Sie mir nur einen Hinweis...« Der Reporter drängte vorsichtig.
Das verbindliche Lächeln blieb.
»Staatsgeheimnis, mein lieber Chefredakteur! Aber - der Juwelenraub im Grand Hotel...«
Delbos winkte ab, das zweite Glas Grand Marnier schien sich als Fehlinvestition zu erweisen.
»Veraltet seit zwei Wochen! Was ich brauche, ist eine echte Sensation, etwas Neues, Aufregendes! Etwas Exklusives!«
»Ich verstehe.« Bartet bestellte sich ein drittes Glas.
»Sie suchen die jungfräuliche Alarmmeldung.« Er nahm sich aus des Reporters Etui eine Zigarette.
Delbos gab ihm Feuer. Vielleicht wusste Bartet irgendeine Skandalaffäre. Zuzutrauen war es ihm.
»Wenn Sie wieder einmal eine Empfehlung für einen Ihrer Schützlinge brauchen, können Sie mit mir rechnen. Eine Hand wäscht die andere.«
Bartet blickte ihn von der Seite an.
»Ein weiser Freund sagte mir einmal: wenn eine Hand die andere wäscht, werden beide schmutzig. Aber schließlich, verehrter Chefredakteur, man hat ja Seife - oder nicht? Aber um auf Ihre Nöte zu kommen, Sie brauchen für das Echo so etwas wie eine journalistische Bombe.« Er wiegte seinen dichtbehaarten Kopf sinnend hin und her. »Und Sie wollen die Zündschnur in der Hand haben, um die Explosion nach Ihrem Gutdünken auszulösen.«
Delbos spürte, dass sein Gegenüber etwas wusste. Es bot sich also eine Gelegenheit, aus erster Hand einen Tip zu bekommen. Nur darauf kam es an. Man musste in diesem Beruf immer der erste sein - immer der Konkurrenz zumindest eine Nasenlänge voraus - man musste eben den anderen zuvorkommen.
»Also, Bartet - was ist's?«
Er bekam statt einer Antwort die Frage zu hören: »Kennen Sie den Marquis de Gilles?«
Delbos antwortete leicht beleidigt: »Selbstverständlich.« - Er hatte den Namen allerdings noch nie gehört.
Bartet deutete diskret auf einen Herrn in mittleren Jahren, der an einem Tisch in der Nähe eben das Echo de France eifrig studierte.
»Maître Latour! Der Anwalt des Schlossherrn von Auberon...«
Delbos wollte erbost erwidern, es sei ihm der Marquis so gleichgültig wie dessen Anwalt, aber irgendetwas in der Stimme Bartets hielt ihn davon ab. Da er als Reporter eigentlich alle Leute kennen musste, erwiderte er gedehnt: »Latour kenne ich. Es ist mir nur im Augenblick entfallen, woher. Gerichtssaal - tut ja nichts weiter zur Sache. Aber was hat's mit dem Marquis und seinem Rechtsbeistand auf sich?«
Bartet dämpfte seine Stimme zu einem Flüsterton.
»Auf Schloss Auberon wurde eingebrochen. Ich kann Ihnen nichts Genaues sagen, aber - die Sache hat's in sich. Meine Information kommt aus erster Quelle. Der Marquis muss sehr besorgt sein, denn er wandte sich sofort an Maître Latour.«
»Nicht an die Polizei?«, fragte Delbos erstaunt.
Bartet schien unschlüssig.
»Ich glaube, dass ich bereits zu viel gesagt habe. Wenn Sie mehr erfahren wollen...« Er deutete zu dem Anwalt.
Delbos rief den Garçon, zahlte.
»Wenn ich nur wüsste, wo ich den Paragraphenreiter kennengelernt habe? Der Name klingt mir bekannt im Ohr...«
»Er verteidigte Busson, den Scheckfälscher«, erinnerte Bartet, »und bekam ihn frei. Ein großer Erfolg.«
Delbos nickte, verabschiedete sich, schritt zwischen den Tischen und Stühlen zu dem Rechtsanwalt. Er blieb dicht vor ihm stehen und legte in seine Stimme alle freudige Überraschung.
»Maître Latour! Welche Freude, einer solchen Zierde des Barreau zu begegnen!«
Latour sah mit einem durch Zufriedenheit gemilderten Staunen den ihm unbekannten jungen Mann an.
»Zu liebenswürdig von Ihnen. Ich weiß nur im Augenblick nicht...«
Delbos winkte liebenswürdig ab.
»Berühmte Männer vergessen leicht die kleinen Leute. Was bedeutet ein Reporter? Allerdings bin ich Delbos vom Echo de France. Ich berichtete über Ihre großartige Verteidigung Bussons - eine Meisterleistung.«
»Aber natürlich, ich erinnere mich genau, Sie saßen ja auf der Pressetribüne in meiner nächsten Nähe!« Die Stimme spiegelte die starke Überzeugungskraft des Strafverteidigers, der von Berufs wegen alles mit dieser starken Überzeugungskraft sagen konnte - was seinen Erfolg bewirkte. »Nehmen Sie Platz, mein Verehrter, und bestellen Sie sich eine Erfrischung. Bei dieser Hitze...«
»Eine Eislimonade, Maître.« Delbos setzte sich.
Der Anwalt winkte einem Garçon.
Delbos ergriff kühn die Initiative. »Einmalig! Ich sehe Sie noch deutlich vor mir, höre noch jedes Ihrer Worte.« Er beugte sich vor. »Wären Sie nicht der große Latour, so genössen Sie kaum das Vertrauen des Marquis de Gilles! Der Schlossherr von Auberon wird seine guten Gründe gehabt haben, als er Sie wegen des Einbruchs sofort zu Rate zog.«
Maître Latour verhehlte seine Überraschung nicht.
»Woher wissen Sie etwas über den Einbruch?«
Delbos lächelte geheimnisvoll.
»Man hat so seine Beziehungen. Ein guter Freund bei der Präfektur - leben und leben lassen...«
»Erstaunlich«, stellte der Anwalt fest. »Es ist kaum eine Stunde her, dass ich bei dem obersten Chef der Kriminalpolizei war - und schon ist das Geheimnis durchgesickert! Wie sehr verstehe ich nun, dass der Marquis einer Mitwirkung der Pariser Polizei ablehnend gegenüberstand. Aber schließlich - für die Gendarmen der Provinz ist der Fall sicherlich zu kompliziert.«
Delbos ließ nicht locker. »Wer wird den Fall bei der Präfektur übernehmen?«
»Ungewiss!« Latour zuckte die Achseln. »Im Augenblick haben sie keinen Kommissar zur Verfügung, die höheren Beamten sind infolge der Urlaubszeit stark überlastet. Der Chef der Kriminalpolizei versprach mir aber, sobald wie möglich die Angelegenheit in geschickte Hände zu geben.«
Der Reporter sah den Anwalt prüfend an.
»Sind Sie für einen Vorschlag zu haben?«
»Das hängt ganz von den Bedingungen ab«, gab Latour zurück.
»Schließen wir einen Pakt, Maître!« Delbos zog seinen Stuhl dicht neben den des Anwalts. »Sie bewahren über diesen Einbruch auf Schloss Auberon strengstes Stillschweigen, lehnen sogar bei eventuellen Anfragen von Journalisten jede Auskunft ab. Am besten, Sie leugnen die ganze Sache. Und ich verpflichte mich, über Sie im Echo de France eine Großreportage zu bringen - mit Ihrem Foto - Der berühmte Strafverteidiger - Erinnerungen eines großen Juristen - und so weiter.« Er blickte treu in die Augen Latours: »Nun - ist das ein Vorschlag?«
»Einverstanden!« Es war nur ein Wort, aber es klang überzeugend.
»Und nun, Maître...« - Delbos trank den Rest des Fruchtsaftes aus - »...erzählen Sie mir, was Sie wissen.«
Latour stopfte sich eine Pfeife, drückte den Tabak sorgsam zurecht, entzündete ihn, blies den starken Rauch von sich. Eine platinblonde Schönheit zwei Tische entfernt hüstelte unmissverständlich, rümpfte die Nase, wandte sich ab. Aber der Anwalt nahm diesen Protest nicht zur Kenntnis. Gedämpft begann er: »Ich kann Ihnen nicht allzu viel berichten, verehrter Freund, denn ich weiß bisher auch nur wenig. Der Marquis rief mich heute Morgen zu einer für ihn noch durchaus nächtlichen Zeit - es war halb neun - an. Ich erkannte kaum seine sonst sonore und beherrschte Stimme. Er schrie! Nachts sei ins Schloss eingebrochen worden...«
»Wie aufregend«, unterbrach Delbos. »Was wurde gestohlen? Denn darauf kommt's an. Der Wert der Beute bestimmt die Größe der Überschrift, die ich zugebilligt bekomme.«
»Das eben ist das Erstaunliche«, meditierte Latour. »Das Unverständliche, möchte ich beinahe sagen. Der Einbrecher - es dürfte nur ein einzelner gewesen sein, soweit ich den Marquis verstand - raubte keineswegs alle die Kostbarkeiten, die gewissermaßen ausgebreitet vor ihm lagen, sondern« - der Anwalt flüsterte - »er nahm ausschließlich die wertvollsten Objekte mit - ein Kenner, so sollte man meinen - ein Connaisseur, wenn Sie mir den Gebrauch dieses etwas poetisch wirkenden Wortes gestatten.«
»Und?«, drängte der Reporter.
»Das ist alles. Ein merkwürdiger Fall. Sie werden mir zugeben« - Latour erhob ein klein wenig die Stimme -, »dass Einbrecher eigentlich nichts liegenlassen, was aus Gold ist, noch dazu mit Edelsteinen besetzt, aber der Eindringling auf Schloss Auberon erwies sich als ein wählerischer Herr. Er ließ sogar die berühmte Krone Karls des Kühnen zurück. - Sie wissen ja, dass das Geschlecht der Gilles die unmittelbaren Nachkommen dieses Heldenherrschers sind.«
»Vielleicht empfand er eine gewisse Pietät - oder Ehrfurcht«, warf Delbos zögernd ein.
Latour versuchte zu lächeln, was ihm aber nur sehr dünn gelang.
»Sie trauen Verbrechern solche Regungen zu? Nun, ich bewundere Ihren Optimismus. Wenn Sie mich fragen, so steckt etwas ganz Geheimes dahinter. Doch schließlich bin ich weder Kriminalist noch Reporter.« Er fragte sachlich: »Was wollen Sie nun beginnen?«
Delbos erhob sich.
»Ein Sprung zurück in die Redaktion. Vorschuss...« - er verbesserte sich schnell - »...ich meine für Reisespesen und sonstige Auslagen. Und dann...« Er winkte dem Anwalt zu und entfernte sich rasch.
Als Delbos wieder das Gebäude des Echo de France in der Rue Reaumur betrat, wirkte es wie ausgestorben. Er fragte den dösenden Pförtner: »Danielli noch oben?«
Der Mann nickte.
»Aber Sie wissen doch genau, dass er nachmittags niemanden empfängt«, antwortete er.
Delbos würdigte ihn keiner Antwort. Wenn es sich um einen Einbruch auf Schloss Auberon und den Namen des Marquis de Gilles handelte, so war der Verlagsgewaltige bestimmt zu sprechen.
Er stürmte durch das Vorzimmer, lächelte der wohlgeformten jungen Dame an, die an der Schreibmaschine saß und sich die Nägel malte, öffnete die altmodische grüngepolsterte Doppeltür des Chefzimmers und postierte sich vor Danielli.
»Sind Sie verrückt geworden?«, fragte der Finanzgewaltige des Echo de France. »Ohne anzuklopfen...« Er blickte den Reporter durch seine dicken Brillengläser erstaunt und unwirsch an.
»Als ich vorige Woche nach pflichtgemäßem Anklopfen hereinkam, warfen Sie mich fast hinaus, weil Sie das Geräusch aufschreckt und nervös macht. Sie beriefen sich auf Ihren Kreislauf.«
»Schön«, winkte Danielli ab. »Sie sollen recht haben. Aber dennoch - Vorschuss gibt's keinen.«
Delbos beugte sich vor:
»Sie haben doch schon einmal den Namen des Herzogs von Merly gehört?«
Danielli rückte seine Brille zurecht, er wurde hellwach.
»Schön.« Das war sein Lieblingswort. »Also was hat der Herzog mit Ihrem Vorschuss zu tun? Will er für Sie bürgen?«
Delbos ließ sich nicht beirren.
»Sie kennen doch zweifellos die Sammlungen auf Schloss Merlyles Pignolles?«
»Schön - und wenn schon?« Danielli setzte sich zurecht.
»Ein Einbruch. Und ich habe die Vorhand. Ich bin der erste! Ich bin der einzige! Und...« - Delbos beugte sich über den Tisch zu seinem Chef - »...wie ist's nun mit tausend guten neuen Francs? Und mit einem Dienstwagen - das vereinfacht alles - Ich muss hinfahren, muss auftreten, muss nachforschen, muss vielleicht tagelang...«
Danielli drückte auf einen Knopf. Nach einer Weile erschien die Sekretärin, sie hielt die eine Hand unsichtbar hinter dem Rücken.
»Ich war gerade dabei...«
»Es riecht nach Nagellackentferner, ich weiß also Bescheid«, sagte Danielli. »Schön. Füllen Sie für Delbos eine Anweisung auf tausend Francs aus - Vorschuss - Reisespesen - Dienstwagen...«
Delbos verneigte sich mit übertriebenem Dank.
»Die beste Kapitalanlage des Echo de France seit der Einführung des harten Franc. Und nun darf ich mich empfehlen.«
Er ging mit Mademoiselle Yvonne hinaus, zufrieden mit sich und der Welt. Es war ihm gelungen, den Vorschuss zu bekommen, das Dienstauto - und alles, ohne sein Geheimnis preiszugeben. Sicher ist sicher, das war sein Motto. Man konnte niemandem trauen. Danielli schwätzte gern. Ein Wort zu viel, und das Rätsel des Einbruchs auf Schloss Auberon konnte von einem anderen Kollegen aufgegriffen werden.
Mademoiselle Yvonne füllte ein Formular mit drei Durchschlägen aus, reichte es mit einem ausdrucksvollen Augenaufschlag dem Reporter.
»Keiner kann beim Alten so schnell etwas loseisen wie Sie. Bewundernswert.«
Pierre Delbos quittierte mit einer charmanten Verbeugung.
»Den nächsten Vorschuss verjubeln wir zusammen.«
Er eilte zur Hauptkasse, steckte die zehn Hundertfrancscheine, deren angenehmes Knistern sein Ohr erfreute, lässig in die rechte Hosentasche, fuhr mit dem reichlich klapprigen Fahrstuhl in den Keller hinab, der die Garage beherbergte, ließ sich das bestaussehende Coupé geben. Schönheitsbegriffe sind relativ, dachte er dabei verdrossen. Er stellte fest, dass der Tank gefüllt und der Aschenbecher geleert war, drückte auf den Anlasser, manövrierte zwischen Personen- und Lieferwagen hindurch auf die Straße hinaus.
Die Sonne brannte unbarmherzig auf das Stahlblechdach. Trotz der vier heruntergekurbelten Fenster ließ die drückende Schwüle nicht nach. Draußen war es ebenso heiß wie unter der Motorhaube, deren schwitzende Öldämpfe durch die lecke Abdichtung unterhalb des Armaturenbretts heraufkrochen.
Delbos fuhr zum Boulevard Perere, holte aus der »Pension Aurore«, deren Dauermieter er seit vier Jahren war, jenes kleine und stets griffbereit gepackte Köfferchen, das sonst erfreulicheren Wochenendausflügen diente, die er zwar in seinem eigenen, recht bescheidenen Wagen unternahm - dafür aber nicht allein -, und steuerte zur Avenue de la Grande Armee.
Im Bois de Boulogne - er liebte den kleinen Umweg - schoben uniformierte Schwestern equipagenhafte Kinderwägelchen sorgsam vor sich her. Auf dem spiegelglatten Wasser trieb ein einziger Kahn, der Ruderer ruhte unter dem Sonnenschirm neben seiner Begleiterin.
Pierre Delbos bog ab nach Neuilly, nahm oben am Hügel die Ausfallstraße, drückte auf das Gaspedal.
Die Landstraße nahm ihn auf, Paris blieb zurück.
Delbos fuhr die Straße nach Rouen, atmete mit dem Abenddämmern die etwas kühler werdende Luft in vollen Zügen, stellte das Autoradio an, hörte mehr Werbefunk als Musik, fand schließlich auf Kurzwelle einen ausländischen Sender, der heitere Melodien in den Äther schickte.
Die Seine glühte nochmals im Licht der untergehenden Sonne, die wie ein unwirklicher Lampion am Horizont hing, sank, plötzlich verschwand, als sei ihr Licht erloschen. Schäfchenwolken zeigten noch eine Weile das Glimmen des rötlichen Feuerscheins, der jenseits der flachen Sicht über der schnell einsetzenden Dunkelheit aufleuchtete.
Delbos passierte Rouen, er fuhr durch die Stadt, freute sich wieder an den altbekannten Straßen und Häusern, nahm dann den Weg der Abzweigung nach Honfleur. Bald bekam die Luft den würzigen Beigeschmack der jodgesättigten Meeresluft, die hier bis tief ins Land hinein vordrang.
Das Fischerdorf schlief, als der Reporter aus Paris über das holprige Pflaster zu dem kleinen Hotel L'Aigle steuerte, das von einem Patron geleitet wurde, den der Guide Michelin als erstklassigen Küchenchef rühmend hervorhob, und das trotz des Alters seines Fachwerkbaus vorzüglich eingerichtete Zimmer besaß. Besonders die französischen Doppelbetten erfüllten alle Wünsche ruhebedürftiger Gäste.
Im holzgetäfelten Speiseraum servierte Mirette. Sie rief durch die Zureiche die Bestellungen dem Chef zu, den man behäbig in seiner Küche hantieren sehen konnte. Delbos bestellte, während der Valet de chambre sein Köfferchen auf Zimmer Nr. 7 hinauftrug.
Ein vorzüglicher Nuit, gab dem gebratenen Fisch eine besondere Weihe. Das Getränk stimmte nicht genau zu dem Gericht - allein der »Patron« wusste, dass Delbos diese Kombination schätzte. Und schließlich chacun à son goȗt...
Nach dem Essen machte Delbos einen kleinen Spaziergang. Er wusste, was ein reichliches Mahl verlangte.
Bevor er zu Bett ging, trat er an das Fenster seines Zimmers und blickte aufs Meer hinaus. Er liebte das Meer wie jeder, dessen Wiege an der Küste gestanden hat. Am Himmel gleißten in verschwenderischer Pracht Sternenmyriaden. Die See lag tiefdunkel in die Nacht gebettet.
Ein großer Dampfer tauchte links in seinem Blickfeld auf. Lichter an Deck, blinkende Bullaugen - nahende Ferne, dachte Delbos verträumt. Seine eigenen Reisen über die Weltmeere kamen ihm in den Sinn und ein Satz, den er irgendwann einmal gelesen oder gehört hatte, er wusste sich nicht mehr genau zu erinnern wann, wie oder wo: Das wirkliche Ziel einer jeden Reise ist die Fahrt selbst.
Nur wer dies begreift und willig in sich aufnimmt, wird glücklich in einem Hafen landen.
Pierre Delbos dachte noch eine ganze Weile vor dem Einschlafen an das dahinziehende Schiff. Wieviel Erwartungen mochte es an Bord haben, wieviel Kummer, wieviel Enttäuschungen, wieviel Hoffen, Sehnen, Lieben und Hassen und Ahnen und Träumen...
Er träumte von einem verwirrenden tropischen Regen, in dem er stundenlang herumwatete.
Als er aufwachte, spürte er einen hauchdünnen feuchten Film auf seiner Haut.
Er verzehrte ein üppiges Frühstück, wie es Père Joseph nach eigener Zusammenstellung seinen Vorzugsgästen servierte - und mit einem dankbaren Blick zu Mirette, die ihm wortlos ein Glas Wasser und eine kleine Tüte Natron über den Tisch zuschob, beendete er sein Petit Dejeuner.
Um halb neun fuhr er über die Autostraße in Richtung Deauville. Er dachte an jenen Tag vor wenigen Jahren, da es ihm gelungen war, König Faruk im weltberühmten Kasino zu interviewen - den Herrscher Ägyptens, der gerade eine Millionen Francs in einer Nacht verspielt hatte - und dabei recht guter Laune war... Jetzt gab es keinen ägyptischen König mehr. Nasser herrschte am Nil, Faruks großartige Briefmarkensammlung, sein Kronschatz, seine Juwelen und Kunstschätze waren längst versteigert worden - das heißt, natürlich nur jene, die er nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen oder in letzter Minute mitnehmen konnte...
Delbos wischte sich den Schweiß von der Stirn, trotz der Morgenstunde und trotz des Meeresstrandes brannte die Sonne glühend auf das Auto, und durch die offenen Fenster kam keine Kühlung, sondern staubheiße Luft.
Beim Kilometer 11 bog der Reporter links ab. Eine Departement-Straße führte nach Gilles les Platanes.
Und am Ende einer sich südwestlich abzweigenden Platanen-Allee wurde das Schloss Auberon sichtbar. Es war ein imposanter Bau, im fast rein erhaltenen Renaissancestil, mit hervorspringenden Wehrmauern, zwei Türmen, mehreren Schutzwällen, die ringförmig den Haupttrakt umgaben.
Delbos war von dem Anblick fasziniert. Das majestätische Schloss nahm seine ganze Aufmerksamkeit voll in Anspruch.
Er merkte nicht, wie sein Wagen seitlich von der Fahrbahn abwich.
Erst der heftige Anprall und das unverkennbare Geräusch splitternden Holzes und quietschenden Blechs riss ihn aus seiner Beschaulichkeit. Instinktiv drückte er das Bremspedal mit aller Kraft nieder, stemmte beide Arme gegen den Volant. Doch diese Schrecksekunde hatte allzu lang gedauert.
Er stieg aus, betrachtete sein Fahrzeug, überprüfte das Terrain. Eine kleine Brücke führte über einen kaum sichtbaren Bach. Ihr knapp ein Meter hoher massiver Steinträger hatte sich in die Kühlerhaube gedrückt, und ein stetig sickernder Wasserstrom belehrte den Reporter, dass der Wagen nicht fahr-, sondern abschleppbereit war.
Er ging mehrmals bedächtig um sein Auto herum, betrachtete es von allen Seiten, als bestünde vielleicht doch noch eine Chance, den Fußmarsch bis zum Schloss zu vermeiden - aber schließlich gab er diese zwecklose Träumerei auf. Außerdem - die Versicherung aller Personenwagen der Redaktion schloss Vollkasko ein. Der Verlag wusste, was er tat.
Delbos entnahm seinem Etui eine Zigarette, fand kein Streichholz, stellte fest, dass der elektrische Anzünder nicht mehr funktionierte.
Er trennte sich von dem betrüblichen Anblick und schritt langsam die Platanenallee entlang auf das hohe schmiedeeiserne Tor zu, das den Eingang zum Park bildete.
Ein kleines Rondell unterbrach den Weg. Rechts und links stand eine steinerne Bank. Auf der einen saß ein älterer Mann und rauchte geruhsam eine kurze Pfeife.
Delbos trat auf ihn zu und bat um Feuer.
»Gern«, nickte der Fremde. Er betrachtete den Reporter aufmerksam: »Sie hatten einen kleinen Unfall? Ich sah Ihren Wagen kommen und hörte den Aufprall. Es ist nicht das erste Mal, dass der Brückenpfeiler einem Auto im Wege steht. Die Straße ist reparaturbedürftig, sie fällt gerade dort ab, wo es gefährlich ist.«
»Weshalb sollte man hier mehr für den Autoverkehr tun als auf den Hauptstraßen - nicht wahr?« Er hielt dem Mann auf der Bank sein Zigarettenetui hin.
»Danke!« Der Fremde bediente sich, zerbrach die Zigarette, stopfte mit dem Tabak seine Pfeife, rauchte munter vor sich hin: »Ein feines Kraut - angenehme Abwechslung gegen meines.« Er genoss in tiefen Zügen. »Wollen Sie das Schloss besuchen? Falls es Ihre Absicht wäre, können Sie sich den Weg bis hinauf sparen. Antoine empfängt zu so früher Stunde nicht.«
»Antoine?«, fragte Delbos überrascht.
»Entschuldigen Sie«, beeilte sich der Pfeifenraucher zu antworten, »aber ich nenne den Vicomte immer noch bei seinem Taufnamen.« Erklärend fügte er hinzu: »Ich war vierzig Jahre lang Lehrer in Honfleur. Auch der Marquis gehörte zu meinen Schülern, fünf lange Jahre. So etwas bleibt haften.« Er lächelte, machte eine ganz kleine Verbeugung. »Legard ist mein Name, Jean Legard, Lehrer im Ruhestand.« Er blickte Delbos neugierig an. »Wollen Sie sich nicht setzen? Ich übe jetzt gelegentlich den Beruf eines Fremdenführers aus. Schloss Auberon zieht viele Touristen an.
»Interessant!« Delbos stellte sich vor, nahm bereitwillig Platz. »Was bietet denn eigentlich Auberon?«
»Vieles«, erwiderte Legard mit Stolz. »Wenn auch der Hauptbau erst aus dem 15. Jahrhundert stammt und vielfach renoviert wurde - nicht immer sehr glücklich -, so sind im Innenhof doch noch bedeutende Teile der ursprünglichen Burg zu sehen. Der Erbauer war jener Graf von Auberon, der gegen Richard Löwenherz gefochten und von Philipp dem Schönen sein Leben erhalten hat. Der Marquis de Gilles stammt in direkter Linie von den Auberons ab. Dass im Schloss eines so alten Geschlechts viel Interessantes zu sehen ist, dürfte nicht verwunderlich sein.«
»Natürlich«, sagte Delbos, nur um das Gespräch im Fluss zu halten. »Also eine recht bedeutsame Stätte. Und der Marquis?« Er ließ die Frage nur angedeutet, um seine Neugier nicht offenkundig werden zu lassen.
»Antoine de Gilles« - der pensionierte Lehrer stopfte zufrieden den Tabak zweier weiterer Zigaretten von Delbos in die Pfeife - »war Politiker, Deputierter - aber das wissen Sie ja, nehme ich an.«
»Selbstverständlich«, versicherte Delbos, obwohl er nichts von diesen Zusammenhängen des Marquis mit der großen Politik ahnte. Es musste ziemlich weit zurückliegen, als er noch für keine Zeitung schrieb, sie vielleicht nicht einmal las.
Legard nickte nachdenklich.
»Dem Marquis widerfuhr ein großes Unrecht! Er war an dem Zusammenbruch der Banque Parisienne d'Escompte völlig unschuldig. Man hatte seinen altehrwürdigen Namen missbraucht - üble Elemente -, aber als Präsident musste er die Verantwortung tragen. Nach dem Finanzskandal resignierte er - und zog sich zurück auf Auberon. Das Schicksal hat ihm hart mitgespielt. Seine jüngere Schwester...« Legard setzte zögernd und gedämpft fort: »Sie nahm sich das Leben. Seither ist es noch stiller um den Marquis. Er meidet die Menschen. Ein schweigsamer, unzugänglicher Herr.«
Das hörte Delbos keineswegs erfreut. Aber er durfte es nicht zeigen. »Verständlich, nur allzu verständlich« versicherte er. »Immerhin hoffe ich, dass es möglich sein wird, mit dem Schlossherrn einige Worte zu wechseln.«
Legard erhob sich schwerfällig.
»Wenn es sich um rein historische Fragen handelt - ich meine natürlich solche, die mit der Familiengeschichte Zusammenhängen -, so könnte es sein, dass Sie nicht abgewiesen werden.« Er wischte einige Tabakkrümel von seiner Joppe. »Nun werde ich mich zur festgesetzten Stunde...«
Delbos bat den Lehrer noch, eine zuverlässige Garage mit dem Abschleppen des Wagens zu beauftragen.
»Ich wohne in Honfleur im L'Aigle, und die Werkstatt hinterlässt mir am besten dort eine Nachricht.«
Legard sagte bereitwillig die Erledigung des Auftrages zu. Für ihn war es eine kleine Abwechslung in der Monotonie seines Alltags. Er machte sich auf den Weg zum Dorf.
Delbos sah ihm eine Weile nach. War nun ein Mann dieser tiefen inneren Ruhe glücklicher als die hastenden Leute der großen Städte? Musste er nicht seine Zufriedenheit mit dem Verzicht auf die Lebensfreude spendenden Spannungen nur allzu teuer erkaufen?... Was war das überhaupt: Zufriedenheit?
Delbos wandte sich um, schritt die Platanenallee hinauf zum Schloss.
Zufriedenheit - meditierte er - war der Mangel an Auftrieb. Zufriedene Menschen mochten auf ihre Weise glücklich sein - aber sie standen still, sie suchten gar nicht die fernen Ziele, und auch die Menschheit brachten sie nicht voran.
Als er zu dieser Feststellung gelangt war, hatte er auch schon das Tor erreicht. Er ging den in einem Bogen zum Portal führenden Kiesweg entlang. Die hohe Flügeltür aus altersdunklem Eichenholz zeigte reiche Schnitzarbeiten. Ein bronzener Engel zierte das Mittelteil an jeder Seite. Der rechte Beschlag war als Klöppel ausgebildet. Delbos hob ihn. Bevor er aber auf die Metallplatte zurückfiel, tönte auch schon aus dem Innern des Hauses das Schrillen einer elektrischen Glocke. Das Schloss war also modernisiert, und man verzichtete auf das Hämmern an der Pforte, um Einlass zu gewähren.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Schritte nahten. Ein offenbar schwerer Schlüssel wurde geräuschvoll umgedreht. Das Scharren eines zurückgezogenen Riegels drang durch das Holz. Dann, ganz langsam, öffnete sich der rechte Türflügel.
Auf der Schwelle stand ein Mann von ungewöhnlicher Größe. Er trug einen etwas altmodisch anmutenden Gehrock, der viel zu hohe Kragen drückte sich in die Halshaut, eine Plastron-Krawatte füllte den Ausschnitt, den die Weste freiließ. Am linken Revers trug er zwei Ordensbänder. Sie waren aus der Zeit des ersten Weltkrieges, Militärmedaillen, wie sie Veteranen bei Vereinsanlässen gern anlegen.
Der Bedienstete - Delbos reihte ihn in die Kategorie der unentbehrlichen Hausmöbel ein - betrachtete prüfend den Besucher. Nach einer Pause fragte er kühl und gemessen: »Was wünschen Sie, mein Herr?«
Der Reporter war auf die Frage gefasst, und trotzdem überraschte sie ihn. Es lag an dem Ton, in dem sie gestellt wurde. Er nahm all seine Erfahrungen zusammen, die er in vielen Jahren bei den unterschiedlichsten Versuchen gesammelt hatte, um unnahbare Persönlichkeiten davon zu überzeugen, dass sie ihn empfangen sollten, weil es in ihrem eigenen Interesse läge. Meist war seinen Bemühungen Erfolg beschieden. Doch diesem sonderbar uninteressierten Mann gegenüber fürchtete Delbos ein Misslingen. Zögernd sagte er: »Ich möchte mit dem Herrn Marquis sprechen.«
»Ach«, gab der Diener unbewegten Gesichts zurück, setzte seine eingehende Betrachtung fort, meinte dann gelassen: »Der Herr Marquis sind nicht zu sprechen. Der Herr Marquis pflegen nach dem ersten Frühstück der Ruhe. Der Herr Marquis lieben es nicht, gestört zu werden.«
Delbos zückte entschlossen seine Visitenkarte.
»Vielleicht ändert der Herr Marquis seine Haltung, wenn er erfährt, wer ihn zu sprechen wünscht.«
Der Mann im Gehrock nahm die Visitenkarte mit unverkennbarem Misstrauen, trat einen halben Schritt aus dem Schatten hervor, um sie besser lesen zu können. Er blickte den Besucher ungläubig an.
»Lese ich richtig? Echo de France? Also ein Journalist?«
»Genau das, guter Mann, ein Journalist, und dazu einer der bekanntesten Reporter.« Delbos hob die Stimme: »Polizeireporter, wenn Sie es genau wissen wollen. Und falls der Herr Marquis nicht daran interessiert sein sollte, sich mit mir zu unterhalten, so werde ich über den Einbruch auf Grund meiner eigenen Informationen berichten. Vielleicht läge es aber eher im Interesse des Schlossherrn, wenn über diese...« Delbos überlegte kurz, wählte dann das ihm am wirkungsvollsten erscheinende Wort. »Diese etwas mysteriöse Sache...« Er schwieg, kniff die Augen zusammen, ergänzte: »Nun ja - Sie verstehen mich schon.«
»Was wissen Sie über die Vorfälle?« Die Stimme des Dieners verriet unverkennbares Erstaunen, das ganz in der Nähe von Unruhe und Besorgnis lag.
»Mehr, als Sie ahnen«, gab Delbos zurück. »Da Sie aber kein Untersuchungsrichter sind, der Fragen stellen kann, sondern lediglich die Aufgabe haben, mich bei Ihrem Herrn anzumelden, so sollten Sie keine Zeit verlieren. Meine Geduld ist begrenzt.«
Der Mann im Gehrock zog sich indigniert zurück, schloss die Tür. Der Schlüssel wurde wieder gedreht, der Riegel vorgeschoben. Die Schritte hallten auf den Steinfliesen, entfernten sich, verstummten.
Delbos ging auf dem Vorplatz auf und ab.
Weitab sah er Schäfchen.
Glücksbringer, dachte er.
Die Sonne glühte. Der Kies des Weges leuchtete schmerzend weiß. Die Luft schien stillzustehen.
Das Portal wurde wieder geöffnet. Der Diener trat zurück: »Der Herr Marquis werden den Herrn empfangen. Der Herr beliebe hier in der Halle etwas zu warten, bis der Herr Marquis sich bereitgemacht habe. Der Sitzgelegenheiten sind ausreichende vorhanden.« Er machte eine weitausholende Handbewegung, verneigte sich, schloss die Tür hinter dem Besucher ab und zog sich zurück.