Der gestohlene Bazillus - Herbert George Wells - E-Book

Der gestohlene Bazillus E-Book

Herbert George Wells

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Beschreibung

Diese Sammlung enthält 15 neu übersetze Kurzgeschichten aus der Feder von H. G. Wells, des bekannten "Vater der Science Fiction". Kleine Geschichten um Wissenschaft, menschliche Selbstüberschätzung und den ewigen Kampf mit der Natur. Die Menschheit befindet sich an der Schwelle zur Neuzeit: Elektrizität, Mikrobiologie und Kernphysik klopfen an die Tür eines von technischen Fortschritt und Kriegen dominierten Jahrhunderts. 1. Der gestohlene Bazillus 2. Die seltsame Orchidee 3. Das Observatorium in Avu 4. Die Triumphe eines Präparators 5. Der Straußenhandel 6. Durch das Fenster 7. Harringays Versuchung 8. Der fliegende Mann 9. Der Diamantenmacher 10. Die Aepyornis-Insel 11. Der bemerkenswerte Fall von Davidsons Augen 12. Der Gott der Dynamos 13. Der Einbruch im Hammerpond Park 14. Eine Motte – Genus Novo 15. Der Schatz im Wald Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 216

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H. G. Wells

Der gestohlene Bazillus

Und andere wundersame Geschichten

H. G. Wells

Der gestohlene Bazillus

Und andere wundersame Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Nadine Erler 1. Auflage, ISBN 978-3-954188-84-0

null-papier.de/419

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Inhaltsverzeichnis

Vor­wort der Über­set­ze­rin

1. Der ge­stoh­le­ne Ba­zil­lus

2. Die selt­sa­me Orchi­dee

3. Das Ob­ser­va­to­ri­um in Avu

4. Die Tri­um­phe ei­nes Prä­pa­ra­tors

5. Der Strau­ßen­han­del

6. Durch das Fens­ter

7. Har­ringays Ver­su­chung

8. Der flie­gen­de Mann

9. Der Dia­man­ten­ma­cher

10. Die Ae­pyor­nis-In­sel

11. Der be­mer­kens­wer­te Fall von Da­vid­sons Au­gen

12. Der Gott der Dy­na­mos

13. Der Ein­bruch im Ham­mer­pond Park

14. Eine Mot­te – Ge­nus Novo

15. Der Schatz im Wald

Wid­mung

Dan­ke

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»Ah! Jetzt sehe ich es«, sag­te der Be­su­cher. »Aber so viel ist gar nicht zu se­hen. Klei­ne Strei­fen und rosa Fit­zel­chen. Und doch kön­nen die­se win­zi­gen Teil­chen – blo­ße Ato­me – sich ver­meh­ren und eine gan­ze Stadt ver­nich­ten! Herr­lich!«

Vorwort der Übersetzerin

Die vor­lie­gen­den Er­zäh­lun­gen stam­men aus der Zeit der Jahr­hun­dert­wen­de. Aus heu­ti­ger Sicht her­ab­set­zen­de Be­griff­lich­kei­ten wur­den über­nom­men, um eine au­then­ti­sche Über­set­zung zu ge­währ­leis­ten. Wir wei­sen dar­auf hin, dass es sich hier um die An­sich­ten des Au­tors und sei­ner Zeit han­delt, die nicht die Ge­sin­nung des Ver­le­gers und der Über­set­ze­rin wi­der­spie­geln.

1. Der gestohlene Bazillus

»Dies wie­der­um«, sag­te der Bak­te­rio­lo­ge und schob einen Ob­jekt­trä­ger un­ter das Mi­kro­skop, »ist ein Prä­pa­rat ei­nes ge­fei­er­ten Ba­zil­lus – des Cho­le­ra-Bak­te­ri­ums.«

Der bleich­ge­sich­ti­ge Mann blin­zel­te mit ei­nem Auge durch das Mi­kro­skop. Er war of­fen­sicht­lich nicht an die­ses Gerät ge­wöhnt und hielt sich mit sei­ner schlaf­fen wei­ßen Hand das an­de­re Auge zu. »Ich sehe sehr we­nig«, sag­te er.

»Dre­hen Sie an die­ser Schrau­be«, sag­te der Bak­te­rio­lo­ge, »viel­leicht ist das Mi­kro­skop für Sie nicht rich­tig ein­ge­stellt. Au­gen sind so ver­schie­den. Nur ein klei­nes biss­chen in eine Rich­tung – oder in die an­de­re.«

»Ah! Jetzt sehe ich es«, sag­te der Be­su­cher. »Aber so viel ist gar nicht zu se­hen. Klei­ne Strei­fen und rosa Fit­zel­chen. Und doch kön­nen die­se win­zi­gen Teil­chen – blo­ße Ato­me – sich ver­meh­ren und eine gan­ze Stadt ver­nich­ten! Herr­lich!«

Er stand auf, zog den Ob­jekt­trä­ger aus dem Mi­kro­skop und hielt ihn ge­gen das Licht. »Kaum sicht­bar«, sag­te er und un­ter­zog das Ob­jekt ei­ner gründ­li­chen Mus­te­rung. Er zö­ger­te. »Sind die­se Bak­te­ri­en – am Le­ben? Sind sie jetzt noch ge­fähr­lich?«

»Die hier wur­den ein­ge­färbt und ab­ge­tö­tet«, sag­te der Bak­te­rio­lo­ge. »Ich für mei­ne Per­son wünsch­te, wir könn­ten alle Cho­le­ra-Bak­te­ri­en des Uni­ver­sums ein­fär­ben und ab­tö­ten.«

»Ich neh­me an«, sag­te der blas­se Mann mit ei­nem leich­ten Lä­cheln, »dass es in Ih­rer Um­ge­bung kaum sol­che Din­ge im le­ben­di­gen – im ak­ti­ven Zu­stand gibt?«

»Im Ge­gen­teil, wir sind dar­auf an­ge­wie­sen«, sag­te der Bak­te­rio­lo­ge. »Hier zum Bei­spiel …« Er ging durch das Zim­mer und nahm eine von meh­re­ren ver­sie­gel­ten Röh­ren in die Hand. »Hier sind le­ben­de Bak­te­ri­en. Es ist eine Kul­tur ech­ter le­ben­der Krank­heits­er­re­ger.« Er zö­ger­te. »So­zu­sa­gen Cho­le­ra in der Fla­sche.«

Ein Hauch von Zufrie­den­heit husch­te über das Ge­sicht des blas­sen Man­nes. »Es ist ein töd­li­cher Be­sitz«, sag­te er und ver­schlang die klei­ne Röh­re buch­stäb­lich mit den Au­gen.

Der Bak­te­rio­lo­ge sah die kran­ke Be­frie­di­gung in der Mie­ne sei­nes Be­su­chers. Die­ser Mann, der heu­te nach­mit­tag mit ei­nem Emp­feh­lungs­schrei­ben ei­nes al­ten Freun­des zu ihm ge­kom­men war, in­ter­es­sier­te ihn ge­ra­de des­halb, weil er so an­ders war als er selbst. Das sträh­ni­ge schwar­ze Haar und die tief­grau­en Au­gen, das zer­furch­te Ge­sicht und das ner­vö­se Auf­tre­ten, das über­eif­ri­ge In­ter­es­se sei­nes Be­su­chers wa­ren eine Ab­wechs­lung von der phleg­ma­ti­schen Nach­denk­lich­keit des nor­ma­len Wis­sen­schaft­lers, mit dem der Bak­te­rio­lo­ge meis­tens zu tun hat­te. Es war viel­leicht kein Wun­der, dass er ei­nem Zu­hö­rer, der so fas­zi­niert von dem töd­li­chen Cha­rak­ter des The­mas war, eine dra­ma­ti­sche Vor­stel­lung bot.

Er hielt die Röh­re ge­dan­ken­voll in der Hand. »Ja, hier­in ist die Pest ge­fan­gen. Man muss nur so eine klei­ne Röh­re wie die­se zer­bre­chen und ins Trink­was­ser schüt­ten – und zu die­sen win­zi­gen Par­ti­keln Le­ben, die man nur mit den bes­ten Mi­kro­sko­pen se­hen und die man nicht rie­chen oder schme­cken kann – und zu ih­nen sa­gen ›Seid frucht­bar und mehrt euch und füllt die Zis­ter­nen‹, und der Tod – ein ge­heim­nis­vol­ler Tod ohne Spu­ren, schnell und schreck­lich, voll Schmerz und Er­nied­ri­gung – wür­de auf die­se Stadt los­ge­las­sen und über­all sei­ne Op­fer su­chen. Er wür­de der Frau den Mann ent­rei­ßen, der Mut­ter das Kind, den Staats­mann von sei­ner Pf­licht ab­be­ru­fen und den Ar­bei­ter von sei­ner Mühe. Er wür­de durch die Was­ser­lei­tun­gen flie­ßen, durch die Stra­ßen pir­schen, hier und da ein Haus heim­su­chen, wo die Leu­te ihr Trink­was­ser nicht ko­chen, in die Brun­nen der Mi­ne­ral­was­ser­her­stel­ler krie­chen, Salat wür­de mit ihm ge­wa­schen wer­den, und er wür­de im Eis schlum­mern. Er wür­de dar­auf lau­ern, von Pfer­den aus dem Trog ge­trun­ken zu wer­den, und von ah­nungs­lo­sen Kin­dern aus den öf­fent­li­chen Brun­nen. Er wür­de in den Bo­den si­ckern, um aus Quel­len und Brun­nen an tau­send Or­ten un­er­war­tet wie­der her­vor­zu­spru­deln. Set­zen Sie ihn nur ein­mal im Trink­was­ser aus – be­vor wir ihn um­zin­geln und wie­der ein­fan­gen könn­ten, hät­te er die Be­völ­ke­rung deut­lich de­zi­miert.« Er brach jäh ab. Man hat­te ihm ge­sagt, dass Rhe­to­rik nicht sei­ne Stär­ke sei. »Aber hier ist der Ba­zil­lus si­cher – ganz si­cher.«

Der bleich­ge­sich­ti­ge Mann nick­te. Sei­ne Au­gen leuch­te­ten. Er räus­per­te sich. »Die­se Tau­ge­nicht­se von An­ar­chis­ten«, sag­te er, »sind Dumm­köp­fe, blin­de Dumm­köp­fe – ver­wen­den Bom­ben, wenn so et­was er­hält­lich ist! Ich glau­be –«

Ein sach­tes Klop­fen, nur ein leich­tes An­tip­pen mit den Fin­ger­nä­geln er­tön­te an der Tür. Der Bak­te­rio­lo­ge öff­ne­te. »Nur eine Mi­nu­te, Lieb­ling«, flüs­ter­te sei­ne Frau.

Als er wie­der ins La­bor kam, schau­te sein Be­su­cher auf die Uhr. »Ich habe gar nicht ge­merkt, dass ich Sie eine Stun­de auf­ge­hal­ten habe«, sag­te er. »Es ist zwölf vor vier. Ich hät­te ge­gen halb vier auf­bre­chen sol­len. Aber es war ein­fach zu in­ter­essant. Jetzt kann ich lei­der kei­nen Mo­ment län­ger blei­ben. Ich habe eine Verab­re­dung um vier.«

Er ver­ließ den Raum und be­dank­te sich noch­mals. Der Bak­te­rio­lo­ge be­glei­te­te ihn zur Tür und be­gab sich dann nach­denk­lich wie­der in sein La­bor. Er frag­te sich, wel­cher Her­kunft sein Be­su­cher sein moch­te. Der Mann war si­cher kein teu­to­ni­scher und auch kein rö­mi­scher Typ. »Je­den­falls ein mor­bi­des Ge­schöpf, fürch­te ich«, sag­te der Bak­te­rio­lo­ge zu sich selbst. »Wie hin­ge­ris­sen er von die­sen Kul­tu­ren von Krank­heits­er­re­gern war!«

Plötz­lich kam ihm ein be­un­ru­hi­gen­der Ge­dan­ke. Er ging zu der Bank bei dem Dampf­bad und dann ei­lig zu sei­nem Schreib­tisch. Dann such­te er has­tig in sei­nen Ta­schen und stürz­te zur Tür. »Vi­el­leicht habe ich es auf dem Tisch in der Hal­le lie­gen­ge­las­sen«, sag­te er.

»Min­nie!«, rief er hei­ser in die Hal­le.

»Ja, Lieb­ling?«, kam eine fer­ne Stim­me.

»Hat­te ich et­was in der Hand, als ich ge­ra­de eben mit dir ge­spro­chen habe, Lieb­ling?«

Pau­se.

»Nichts, Lieb­ling, denn ich er­in­ne­re mich –«

»Jetzt ist al­les aus!«, schrie der Bak­te­rio­lo­ge. Er rann­te kopf­los zur Haus­tür, die Trep­pen hin­un­ter und auf die Stra­ße hin­aus.

Min­nie hör­te die Tür knal­len und eil­te auf­ge­schreckt zum Fens­ter. Am Ende der Stra­ße stieg ein dün­ner Mann in eine Kut­sche. Der Bak­te­rio­lo­ge – ohne Hut und in Haus­schu­hen – lief hin­ter­her und ges­ti­ku­lier­te hef­tig. Da­bei ver­lor er einen Schuh, aber es küm­mer­te ihn nicht.

»Er ist ver­rückt ge­wor­den!«, sag­te Min­nie. »Das kommt von sei­ner schreck­li­chen Wis­sen­schaft!« Sie öff­ne­te das Fens­ter und rief ihm nach. Der dün­ne Mann sah sich plötz­lich um und hat­te of­fen­bar den glei­chen Ge­dan­ken. Er zeig­te has­tig auf den Bak­te­rio­lo­gen, sag­te et­was zu dem Kut­scher, die Tür der Kut­sche knall­te zu, die Peit­sche saus­te durch die Luft, die Pfer­de­hu­fe trom­mel­ten, und einen Au­gen­blick spä­ter wa­ren die Kut­sche und der Bak­te­rio­lo­ge, der die Ver­fol­gung nicht auf­gab, hin­ter der Stra­ßen­e­cke ver­schwun­den.

Min­nie beug­te sich aus dem Fens­ter und starr­te sich noch eine Mi­nu­te lang die Au­gen aus dem Kopf. Dann wich sie zu­rück. Sie war fas­sungs­los. »Na­tür­lich ist er ex­zen­trisch«, sin­nier­te sie. »Aber ein­fach so durch Lon­don zu ren­nen – noch dazu in die­ser Jah­res­zeit – ohne Schu­he!« Dann hat­te sie einen glück­li­chen Ein­fall. Sie setz­te has­tig ih­ren Hut auf, nahm sei­ne Schu­he, ging in die Hal­le, nahm sei­nen Hut und den Man­tel von der Gar­de­ro­be, ging vor die Tür und hielt eine Kut­sche an, die lang­sam vor­bei­fuhr. »Fah­ren Sie mich bit­te bis zum Ende der Stra­ße und um den Ha­ve­lock Cre­scent, und las­sen Sie uns se­hen, ob wir einen Herrn fin­den, der in ei­nem Samt­man­tel und ohne Hut her­um­läuft.«

»Samt­man­tel, Ma’am, und kein ’ut. Sehr gut, Ma’am.« Und der Kut­scher schwang un­ge­rührt die Peit­sche, als fah­re er je­den Tag zu die­ser Adres­se.

Ein paar Mi­nu­ten spä­ter wun­der­te sich eine klei­ne Grup­pe von Kut­schern und Nichts­tu­ern, die sich um die Kut­schen­sta­ti­on von Ha­ver­stock Hill schar­te, als eine Kut­sche, ge­zo­gen von ei­nem gelb­li­chen Klep­per, in wil­der Fahrt an ih­nen vor­bei­pol­ter­te.

Sie sa­hen stumm zu, wie sie vor­über­fuhr und ver­schwand. Dann sag­te der di­cke Mann, der Old Toot­les ge­nannt wur­de: »Das ist ’Ar­ry ’Icks. Was ’at er?«

»Er schwenkt die Peit­sche wie ein Wahn­sin­ni­ger«, sag­te der Stall­bur­sche.

»Hopp­la!«, sag­te der arme alte Tom­my By­les. »Da ist ja noch ein Ir­rer! Ich traue mei­nen Au­gen nicht!«

»Das ist der alte Ge­or­ge«, sag­te der alte Toot­les, »und er fährt wie ein Ver­rück­ter! Gleich fällt er aus der Kut­sche! Ist er hin­ter ’Ar­ry ’Icks her?«

Jetzt kam Le­ben in die Grup­pe um die Kut­schen­sta­ti­on. Sie san­gen im Chor:

»Vor­wärts, Ge­or­ge!«

»Das ist mal ein Ren­nen!«

»Du kriegst ihn!«

»Nimm die Peit­sche!«

»Sie läuft wie der Wind!«, sag­te der Stall­bur­sche.

»Un­glaub­lich!«, rief der alte Toot­les. »Hier! Da kommt noch ei­ner. Sind alle Kut­scher von Hamps­tead ver­rückt ge­wor­den?«

»Dies­mal ist es ein Mann«, sag­te der Stall­knecht.

»Sie läuft ihm nach«, sag­te der alte Toot­les. »Meis­tens ist es ja um­ge­kehrt.«

»Was ’at sie in der ’and?«

»Sieht aus wie ein ’o’er ’ut.«

»Was für eine Schön­heit! Drei sind hin­ter dem al­ten Ge­or­ge her«, sag­te der Stall­knecht. »Da ist sie wie­der!«

Min­nie saus­te vor­bei, be­glei­tet von to­sen­dem Ap­plaus. Es war ihr un­an­ge­nehm, aber sie war der Mei­nung, ihre Pf­licht zu tun, und so wir­bel­ten sie den Ha­ver­stock Hill und die Cam­den Town High Street hin­un­ter, wo­bei sie den Blick fest auf den Rücken des al­ten Ge­or­ge rich­te­te, der ih­ren flüch­ti­gen Ehe­mann un­be­greif­li­cher­wei­se von ihr weg­fuhr.

Der Mann in der ers­ten Kut­sche saß zu­sam­men­ge­kau­ert in der Ecke, die Arme fest ver­schränkt, und um­klam­mer­te das klei­ne Röhr­chen, das sol­che zer­stö­re­ri­sche Kraft ent­hielt. Er emp­fand eine son­der­ba­re Mi­schung aus Angst und Eu­pho­rie. Vor al­lem be­fürch­te­te er, ge­fasst zu wer­den, be­vor er sei­nen Plan aus­füh­ren konn­te, aber da­hin­ter ver­barg sich eine un­be­stimm­te­re, je­doch grö­ße­re Angst vor der Schreck­lich­keit sei­nes Ver­bre­chens. Aber sei­ne Eu­pho­rie über­stieg die Be­klem­mung bei wei­tem. Kein An­ar­chist vor ihm war auf so eine Idee ge­kom­men. Ra­va­chol – Vail­lant – all die wich­ti­gen Leu­te, die er um ih­ren Ruhm be­nei­det hat­te, ver­san­ken ne­ben ihm in der Be­deu­tungs­lo­sig­keit. Er muss­te nur die Was­ser­zu­fuhr er­rei­chen und die klei­ne Röh­re ent­lee­ren. Wie ge­ni­al er al­les ge­plant hat­te – ein Emp­feh­lungs­schrei­ben ge­fälscht und so ins La­bor ge­langt – und wie geis­tes­ge­gen­wär­tig er die Ge­le­gen­heit ge­nutzt hat­te! End­lich wür­de die Welt von ihm hö­ren. All die Leu­te, die ihn ver­spot­tet, bei­sei­te­ge­scho­ben, an­de­re ihm vor­ge­zo­gen und sich nichts aus sei­ner Ge­sell­schaft ge­macht hat­ten, wür­den ihn jetzt ernst­neh­men. Tod, Tod, Tod! Man hat­te ihn im­mer als einen Men­schen be­han­delt, der nicht zähl­te. Die gan­ze Welt hat­te sich ver­schwo­ren, ihn klein­zu­hal­ten. Er wür­de sie alle leh­ren, was es hieß, einen Mann zu iso­lie­ren. Wie hieß die Stra­ße, die ihm so be­kannt vor­kam? Gre­at Saint An­dre­w’s Street na­tür­lich! Wie lief die Jagd? Er lehn­te sich aus der Kut­sche. Der Bak­te­rio­lo­ge war kaum noch fünf­zig Yard hin­ter ihm. Das war schlecht. Er wür­de doch noch er­wi­scht und auf­ge­hal­ten wer­den. Er tas­te­te in sei­ner Ta­sche nach Geld und fand einen hal­b­en So­ver­eign. Den warf er dem Kut­scher durch die Klap­pe des Fahr­zeugs ins Ge­sicht. »Mehr«, rief er, »wenn wir nur da­von­kom­men!«

Das Geld wur­de ihm aus der Hand ge­ris­sen. »Sie ha­ben recht«, sag­te der Kut­scher, die Klap­pe schlug zu, und die Peit­sche saus­te auf das schweiß­nas­se Pferd nie­der. Die Kut­sche schwank­te, und der An­ar­chist, der ge­bückt un­ter der Klap­pe stand, stütz­te sich mit der Hand, in der er das Röhr­chen hielt, an die Tür ab, um das Gleich­ge­wicht zu hal­ten. Er spür­te, wie das fei­ne Ding zer­brach, und die ka­put­te Hälf­te fiel klir­rend auf den Bo­den der Kut­sche. Mit ei­nem Fluch sank er wie­der auf den Sitz und starr­te be­küm­mert auf die zwei oder drei feuch­ten Fle­cken auf der Tür.

Er schau­der­te. »Nun ja! Ich neh­me an, ich soll­te der ers­te sein. Puh! Wie auch im­mer, ich wer­de ein Mär­ty­rer sein. Das ist schon et­was. Aber es ist ein schmut­zi­ger Tod – trotz al­lem. Ich fra­ge mich, ob es wirk­lich so schmerz­haft ist, wie be­haup­tet wird.« Dann kam ihm ein Ge­dan­ke, und er such­te zwi­schen sei­nen Fü­ßen. In dem ka­put­ten Ende der Röh­re be­fand sich noch ein klei­ner Trop­fen, und er trank ihn, um si­cher­zu­ge­hen. Es war bes­ser, si­cher­zu­ge­hen. Er wür­de je­den­falls nicht schei­tern.

Dann däm­mer­te ihm, dass es nicht mehr nö­tig war, dem Bak­te­rio­lo­gen zu ent­kom­men. In der Wel­ling­ton Street be­fahl er dem Kut­scher an­zu­hal­ten und stieg aus. Er rutsch­te auf der Stu­fe aus, und sein Kopf fühl­te sich son­der­bar an. Die­ses Cho­le­ra-Gift wirk­te schnell. Er wink­te dem Kut­scher, da­mit die­ser aus sei­nem Le­ben ver­schwand, und stand mit ver­schränk­ten Ar­men auf dem Bür­ger­steig, um die An­kunft des Bak­te­rio­lo­gen zu er­war­ten. Sei­ne Hal­tung hat­te et­was Tra­gi­sches. Das Be­wusst­sein des be­vor­ste­hen­den To­des gab ihm eine ge­wis­se Wür­de. Er emp­fing sei­nen Ver­fol­ger mit ei­nem trot­zi­gen La­chen.

»Vive l’An­ar­chie! Sie kom­men zu spät, mein Freund. Ich habe es ge­trun­ken. Die Cho­le­ra wird aus­bre­chen!«

Der Bak­te­rio­lo­ge in sei­ner Kut­sche sah ihn neu­gie­rig durch sei­ne Bril­lenglä­ser an. »Sie ha­ben es ge­trun­ken! Sie sind ein An­ar­chist! Das sehe ich jetzt.« Er woll­te noch mehr sa­gen, hielt sich aber zu­rück. Ein Lä­cheln um­spiel­te sei­ne Mund­win­kel. Er öff­ne­te die Tür sei­ner kut­sche, als wol­le er aus­stei­gen. Da­rauf­hin wink­te der An­ar­chist dra­ma­tisch zum Ab­schied, eil­te in Rich­tung Wa­ter­loo Bridge da­von und rem­pel­te mit sei­nem in­fi­zier­ten Kör­per so­vie­le Passan­ten an wie mög­lich. Der Bak­te­rio­lo­ge war von die­sem An­blick so ge­fes­selt, dass er kaum die lei­ses­te Über­ra­schung zeig­te, als auf dem Bür­ger­steig Min­nie mit sei­nem Hut und den Schu­hen und dem Man­tel er­schi­en. »Sehr lieb von dir, mir mei­ne Sa­chen zu brin­gen«, sag­te er und starr­te im­mer noch in die glei­che Rich­tung.

Min­nie war jetzt ab­so­lut si­cher, dass er ver­rückt ge­wor­den war, und sag­te dem Kut­scher, er sol­le zu ihr nach Hau­se fah­ren.

»Mei­ne Schu­he an­zie­hen? Aber si­cher, Lieb­ling«, sag­te er, als die Kut­sche um eine Kur­ve fuhr und die schwar­ze, vor­wärts mar­schie­ren­de Ge­stalt, die aus der Fer­ne win­zig schi­en, aus sei­nem Blick­feld ver­schwand. Dann schoss ihm plötz­lich ein gro­tes­ker Ge­dan­ke durch den Kopf, und er lach­te. Dann be­merk­te er: »Es ist al­ler­dings wirk­lich sehr ernst. Siehst du, der Mann kam zu mir ins La­bor, und er ist An­ar­chist. Nein, fall nicht in Ohn­macht, sonst kann ich dir nicht den Rest er­zäh­len. Und ich woll­te ihn be­ein­dru­cken, weil ich nicht wuss­te, dass er An­ar­chist ist. Des­halb habe ich ihm eine Kul­tur ei­nes neu­en Bak­te­ri­ums ge­zeigt, von dem ich dir er­zählt habe – das so an­ste­ckend ist und, wie ich glau­be, die blau­en Fle­cken bei ei­ni­gen Af­fen. Ich war so dumm zu sa­gen, dass es die asia­ti­sche Cho­le­ra sei. Und er ist da­mit weg­ge­lau­fen, um das Was­ser von Lon­don zu ver­gif­ten – und dann hät­te es für un­se­re zi­vi­li­sier­te Stadt düs­ter aus­ge­se­hen. Und nun hat er es hin­un­ter­ge­schluckt. Na­tür­lich kann ich nicht sa­gen, was pas­sie­ren wird, aber es hat das Kätz­chen blau ge­macht – und die drei Wel­pen – und den Spatz hell­blau. Aber das Pro­blem ist, dass ich Kos­ten und Mühe auf mich neh­men muss, um mehr vor­zu­be­rei­ten. An die­sem war­men Tag mei­nen Man­tel an­zie­hen? Wa­rum? Weil wir viel­leicht Mrs. Jab­ber be­geg­nen? Mei­ne Lie­be, Mrs. Jab­ber ist doch kein Luft­zug. Aber warum soll ich an ei­nem war­men Tag einen Man­tel tra­gen, we­gen Mrs. – oh! Sehr gut.«

2. Die seltsame Orchidee

Der Kauf von Orchi­de­en ist im­mer eine un­si­che­re An­ge­le­gen­heit. Man sieht einen schrum­pe­li­gen brau­nen Klum­pen vor sich, und was den Rest an­geht, muss man sich auf sein Ur­teil ver­las­sen, auf den Ver­käu­fer oder sein Glück, je nach Ge­schmack. Die Pflan­ze kann im Ster­ben lie­gen oder tot sein, oder viel­leicht ist sie nur ein ganz or­dent­li­cher Fang und ihr Geld wert, oder viel­leicht – denn das pas­siert im­mer wie­der – ent­fal­tet sich vor dem hin­ge­ris­se­nen Blick des Käu­fers lang­sam, Tag für Tag, Ver­än­de­rung, neue Schön­heit, eine neue Wen­dung des Blat­tes oder eine zar­te­re Far­be oder eine un­er­war­te­te An­pas­sung. Stolz, Schön­heit und Ge­winn blü­hen ge­mein­sam auf ei­nem fei­nen grü­nen Stamm und viel­leicht so­gar Uns­terb­lich­keit. Denn das neue Wun­der der Na­tur braucht viel­leicht einen be­son­de­ren neu­en Na­men, und wel­cher wäre pas­sen­der als der sei­nes Ent­deckers? »Johns­mi­t­hia«! Es gibt schlim­me­re Na­men.

Vi­el­leicht war es die Hoff­nung auf so eine glück­li­che Ent­de­ckung, die Win­ter-Wed­der­burn dazu brach­te, die­se Auk­tio­nen so häu­fig zu be­su­chen – und au­ßer­dem viel­leicht noch die Tat­sa­che, dass er sonst nichts zu tun hat­te. Er war ein schüch­ter­ner, ein­sa­mer, nicht be­son­ders tüch­ti­ger Mann, des­sen Ein­kom­men ge­ra­de reich­te, um nicht in Not zu ge­ra­ten, und der nicht ge­nug Ener­gie hat­te, um sich eine in­ter­essan­te­re Ar­beit zu su­chen. Er hät­te Brief­mar­ken oder Mün­zen sam­meln, Horaz über­set­zen oder Bü­cher bin­den oder eine neue Art Kie­sel­al­gen ent­de­cken kön­nen. Aber er züch­te­te nun ein­mal Orchi­de­en und hat­te ein be­ein­dru­cken­des klei­nes Treib­haus.

»Ich habe das Ge­fühl«, sag­te er beim Kaf­fee­trin­ken, »dass mir heu­te et­was pas­sie­ren wird.« Er sprach eben­so, wie er sich be­weg­te und dach­te – lang­sam.

»Oh, sag so et­was nicht!«, sag­te sei­ne Haus­häl­te­rin, die auch sei­ne ent­fern­te Cou­si­ne war. Denn »et­was, das pas­sier­te« war ein Eu­phe­mis­mus, der für sie nur eine Be­deu­tung hat­te.

»Du ver­stehst mich falsch. Ich mei­ne nichts Un­an­ge­neh­mes … ob­wohl ich kaum weiß, was ich ei­gent­lich mei­ne. Heu­te«, fuhr er nach ei­ner Pau­se fort, »wer­den bei Pe­ter­s’ Pflan­zen von den An­da­ma­nen und aus In­di­en ver­kauft. Ich fah­re hin und sehe mir an, was sie ha­ben. Vi­el­leicht kau­fe ich et­was Groß­ar­ti­ges, ohne dass es mir be­wusst ist. Das kann sein.« Er hielt ihr sei­ne Tas­se hin, da­mit sie ihm Kaf­fee nach­schenk­te.

»Sind das die Sa­chen, die der arme Jun­ge ge­sam­melt hat, von dem du mir neu­lich er­zählt hast?«, frag­te sei­ne Cou­si­ne, als sie ihm sei­ne zwei­te Tas­se ein­goss.

»Ja«, sag­te er und wur­de bei ei­nem Stück Toast me­lan­cho­lisch. »Mir pas­siert nie et­was«, be­merk­te er und be­gann, laut zu den­ken. »Ich fra­ge mich, warum? An­de­ren Leu­ten pas­siert eine Men­ge. Zum Bei­spiel Har­vey, erst letz­te Wo­che. Am Mon­tag hat er ein Six­pence-Stück ge­fun­den, am Mitt­woch sind alle sei­ne Hüh­ner her­um­ge­tor­kelt, am Frei­tag ist sein Cou­sin aus Aus­tra­li­en nach Hau­se ge­kom­men, und am Sams­tag hat er sich den Knö­chel ge­bro­chen. Was für eine Auf­re­gung – im Ver­gleich zu mei­nem Da­sein.«

»Ich glau­be, ich wün­sche mir gar nicht so­viel Auf­re­gung«, sag­te sei­ne Haus­häl­te­rin. »Das kann nicht gut sein.«

»Ich den­ke, dass es an­stren­gend ist. Aber … siehst du, mir pas­siert nie et­was. Als klei­ner Jun­ge hat­te ich nie Un­fäl­le. Als ich her­an­wuchs, habe ich mich nie ver­liebt. Nie ge­hei­ra­tet … ich fra­ge mich, wie es ist, wenn ei­nem et­was pas­siert, et­was wirk­lich Be­mer­kens­wer­tes. Die­ser Orchi­de­en­samm­ler war erst sechs­und­drei­ßig – zwan­zig Jah­re jün­ger als ich –, als er starb. Und er war zwei­mal ver­hei­ra­tet und ein­mal ge­schie­den, er hat­te vier­mal Mala­ria, und ein­mal hat er sich den Ober­schen­kel ge­bro­chen. Er hat ein­mal einen Malai­en ge­tö­tet und wur­de ein­mal von ei­nem ver­gif­te­ten Pfeil ver­wun­det. Und am Ende wa­ren die Sch­ling­pflan­zen im Dschun­gel sein Tod. Es muss al­les sehr läs­tig ge­we­sen sein, aber auch in­ter­essant – au­ßer den Pflan­zen viel­leicht.«

»Ich bin si­cher, dass es nicht gut für ihn war«, sag­te die Dame mit Über­zeu­gung.

»Vi­el­leicht nicht.« Und dann sah Wed­der­burn auf die Uhr. »Drei­und­zwan­zig nach acht! Ich fah­re mit dem Zug um vier­tel vor zwölf, also ist ge­nug Zeit. Ich den­ke, ich zie­he mei­nen Ka­mel­haar­man­tel an – er ist ge­ra­de warm ge­nug – und mei­nen grau­en Filz­hut und brau­ne Schu­he. Ich neh­me an –«, er warf einen Blick aus dem Fens­ter, auf den blau­en Him­mel und den Gar­ten im Son­nen­licht, und dann mit ei­nem An­flug von Ner­vo­si­tät auf das Ge­sicht sei­ner Cou­si­ne.

»Ich den­ke, du soll­test einen Schirm mit­neh­men, wenn du nach Lon­don fährst«, sag­te sie in ei­nem Ton, der kei­nen Wi­der­spruch dul­de­te. »Bis zum Bahn­hof kann noch viel pas­sie­ren.«

Als er zu­rück­kam, war er bei­na­he et­was auf­ge­regt. Er hat­te einen Kauf ge­tä­tigt. Es kam nur sel­ten vor, dass er sich schnell ge­nug zum Kauf ent­schlie­ßen konn­te, aber dies­mal hat­te er es ge­tan.

»Das sind Van­das«, sag­te er, »und eine Den­dro­be und ei­ni­ge Palaeo­no­phis.« Er sah sei­ne Neu­er­wer­bun­gen lie­be­voll an, als er sei­ne Sup­pe ab. Sie la­gen vor ihm auf dem blü­ten­wei­ßen Tisch­tuch, und er er­zähl­te sei­ner Cou­si­ne al­les über sie, wäh­rend er sich beim Abendes­sen Zeit ließ. Er hat­te die Ge­wohn­heit, zu ih­rer und sei­ner Un­ter­hal­tung all sei­ne Aus­flü­ge nach Lon­don abends Re­vue pas­sie­ren zu las­sen. »Ich wuss­te, dass heu­te et­was pas­sie­ren wür­de. Und ich habe sie alle ge­kauft. Ich bin si­cher, dass ei­ni­ge von ih­nen – ei­ni­ge von ih­nen be­acht­lich sein wer­den. Ich weiß nicht, warum, aber mir ist, als habe mir je­mand er­zählt, dass sich ei­ni­ge groß­ar­tig ent­wi­ckeln wer­den Die da«, er wies auf eine schrump­li­ge Knol­le, »hat­te kei­nen Na­men. Vi­el­leicht ist es eine Palaeo­no­phis – viel­leicht auch nicht. Es kann eine ganz neue Art sein. Und es war die letz­te, die der arme Bat­ten ge­sam­melt hat.«

»Die ge­fällt mir nicht«, sag­te die Haus­häl­te­rin. »Sie hat so eine häss­li­che Form.«

»Ich fin­de, sie hat kaum eine Form.«

»Ich mag die­se her­vor­ste­hen­den Din­ger nicht«, sag­te sei­ne Haus­häl­te­rin.

»Sie wird mor­gen ein­ge­pflanzt.«

»Es sieht aus«, sag­te die Haus­häl­te­rin, »wie eine Spin­ne, die sich tot stellt.«

Wed­der­burn lä­chel­te und be­gut­ach­te­te die Wur­zel mit schief­ge­leg­tem Kopf. »Es ist tat­säch­lich kein hüb­sches Exem­plar. Aber aus die­sem ver­dorr­ten Äu­ße­ren kann man kei­ne Schlüs­se zie­hen. Es kann eine sehr schö­ne Orchi­dee dar­aus wer­den. Mor­gen habe ich viel zu tun! Heu­te abend muss ich mir über­le­gen, was ich mit den Din­gern ma­che, und mor­gen gehe ich an die Ar­beit. ‒ Der arme Bat­ten wur­de tot oder ster­bend in ei­nem Man­gro­ven­sumpf ge­fun­den«, fing er wie­der an, »und eine die­ser Orchi­de­en lag zer­fetzt un­ter ihm. Es ging ihm schon ei­ni­ge Tage schlecht, er hat­te ir­gend­ein Dschun­gel­fie­ber, und ich neh­me an, dass er in Ohn­macht ge­fal­len ist. Die­se Man­gro­vensümp­fe sind eine sehr un­ge­sun­de Ge­gend. Es heißt, die­se Ge­wäch­se hät­ten je­den Bluts­trop­fen aus ihm her­aus­ge­so­gen. Vi­el­leicht hat ihn ge­nau die­se Pflan­ze das Le­ben ge­kos­tet.«

»Des­we­gen ge­fällt sie mir noch lan­ge nicht bes­ser.«

»Män­ner müs­sen ar­bei­ten, auch wenn Frau­en viel­leicht wei­nen«, sag­te Wed­der­burn mit Wür­de.

»Man stel­le sich vor, ohne je­den Trost in ei­nem scheuß­li­chen Sumpf zu ster­ben! An ei­nem Fie­ber zu lei­den und kei­ne Me­di­ka­men­te zu ha­ben au­ßer Chlo­ro­dy­ne und Chi­nin – wenn man die Leu­te sich selbst über­lie­ße, wür­den sie von Chlo­ro­dy­ne und Chi­nin le­ben – und kei­ner da au­ßer den gräss­li­chen Ein­ge­bo­re­nen! Es heißt, die Ein­ge­bo­re­nen auf den An­da­ma­nen sei­en rich­ti­ge Scheu­sa­le – je­den­falls kön­nen sie kei­ne gu­ten Kran­ken­schwes­tern sein, weil ih­nen die nö­ti­ge Aus­bil­dung fehlt. Und all das nur, da­mit Leu­te in Eng­land Orchi­de­en be­kom­men!«

»Es war si­cher nicht be­quem, aber man­che Män­ner schei­nen sol­che Din­ge zu ge­nie­ßen«, sag­te Wed­der­burn. »Und die Ein­ge­bo­re­nen aus sei­ner Grup­pe wa­ren zi­vi­li­siert ge­nug, um auf sei­ne Samm­lung auf­zu­pas­sen, bis sein Kol­le­ge – ein Or­ni­tho­lo­ge – aus dem Dschun­gel zu­rück­ka­men, ob­wohl sie nicht sa­gen konn­ten, was für eine Orchi­dee es war, und sie sie hat­ten ver­wel­ken las­sen. Und das macht die­se Din­ge noch in­ter­essan­ter.«

»Es macht sie wi­der­wär­tig. Ich fürch­te, dass noch ein paar Mala­ria-Er­re­ger dar­an kle­ben. Und stell dir vor – auf dem häss­li­chen Ding lag eine Lei­che! Das fällt mir jetzt erst ein. Oh! Ich kann kei­nen Bis­sen mehr es­sen.«

»Ich neh­me sie vom Tisch, wenn du willst, und lege sie auf das Fens­ter­brett. Dort kann ich sie ge­nau­so gut se­hen.«

In den nächs­ten Ta­gen hat­te er stän­dig in sei­nem sti­cki­gen klei­nen Ge­wächs­haus zu tun und han­tier­te mit Koh­le, Teak­holz und all den an­de­ren Ge­heim­nis­sen des Orchi­de­en­züch­ters. Er fand, dass er eine herr­lich auf­re­gen­de Zeit er­leb­te. Abends er­zähl­te er sei­nen Freun­den von den neu­en Orchi­de­en und sprach im­mer wie­der von sei­ner Er­war­tung, dass et­was Selt­sa­mes pas­sie­ren wür­de.

Ei­ni­ge der Van­das und die Den­dro­bie gin­gen in sei­ner Ob­hut ein, aber die selt­sa­me Orchi­dee gab Le­bens­zei­chen von sich. Er war be­geis­tert und rief nach sei­ner Haus­häl­te­rin, die ge­ra­de Mar­me­la­de koch­te. Sie muss­te so­fort se­hen, was er für eine Ent­de­ckung ge­macht hat­te.

»Das ist eine Knos­pe«, sag­te er, »und dem­nächst wer­den eine Men­ge Blät­ter sprie­ßen – und die­se klei­ne Din­ger, die da her­vor­schau­en, sind fei­ne Wur­zeln.«

»Sie kom­men mir vor wie klei­ne wei­ße Fin­ger«, sag­te die Haus­häl­te­rin. »Ich mag sie nicht.«

»Wa­rum nicht?«

»Ich weiß nicht. Sie se­hen aus wie Fin­ger, die nach ei­nem grei­fen wol­len. Ich kann mir nicht aus­su­chen, was ich mag und was nicht.«

»Ich bin mir nicht si­cher, aber ich glau­be, ich ken­ne kei­ne Orchi­de­en, die sol­che Wur­zeln ha­ben. Das kann na­tür­lich auch Ein­bil­dung sein. Du siehst ja, dass sie am Ende ein biss­chen platt sind.«

»Ich mag sie nicht«, sag­te sei­ne Haus­häl­te­rin wie­der. Sie schau­der­te plötz­lich und wand­te sich ab. »Ich weiß, dass es al­bern von mir ist – und es tut mir sehr leid, be­son­ders, da dir die­ses Ding so ge­fällt. Aber ich muss die gan­ze Zeit an die Lei­che den­ken.«

»Es muss ja nicht ge­ra­de die­se Pflan­ze ge­we­sen sein. Das war doch nur eine Spe­ku­la­ti­on von mir.«

Sei­ne Haus­häl­te­rin zuck­te die Schul­tern. »Ich mag sie trotz­dem nicht«, sag­te sie.

Wed­der­burn fühl­te sich durch ihre Ab­nei­gung ge­gen die Pflan­ze ein we­nig ge­kränkt. Aber das hin­der­te ihn nicht dar­an, ihr von Orchi­de­en im all­ge­mei­nen und die­ser Orchi­dee im be­son­de­ren zu er­zäh­len, wann im­mer ihm da­nach war.

»Orchi­de­en kön­nen sehr selt­sa­me Ent­wick­lun­gen durch­ma­chen«, sag­te er ei­nes Ta­ges, »sie bie­ten so­vie­le Über­ra­schun­gen. Dar­win hat ihre Be­fruch­tung stu­diert und ge­zeigt, dass die Struk­tur ei­ner nor­ma­len Orchi­dee so ar­ran­giert ist, dass Schmet­ter­lin­ge die Pol­len von ei­ner Pflan­ze zur an­de­ren tra­gen kön­nen. Nun, es scheint, dass man vie­le Orchi­de­en kennt, de­ren Blü­ten nicht auf die­se Art be­fruch­tet wer­den kön­nen. Bei ei­ni­gen Cy­pri­pe­di­en zum Bei­spiel sind kei­ne In­sek­ten be­kannt, die sie be­fruch­ten, und von ei­ni­gen wur­de nie die Wur­zel ge­fun­den.«