Der Gewissensfall - James Blish - E-Book

Der Gewissensfall E-Book

James Blish

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Beschreibung

Eine Welt ohne Gott ist Teufelswerk

Der Planet Lithia umkreist Alpha Arietis im Sternbild des Widders, 50 Lichtjahre vom Sonnensystem entfernt, und ist eine erdähnlich Welt – mit einem wesentlichen Unterschied: Lithia ist ein Paradies, bewohnt von intelligenten, aber absolut friedfertigen Riesenechsen. Im Jahr 2050 irdischer Zeitrechnung nehmen Erdbewohner und Lithianer Kontakt miteinander auf. Für den Jesuitenpater Ruiz-Sanchez, Mitglied der Sternenexpedition, ist dieses Paradies eine Falle des Teufels, der hier den Menschen eine Welt vorgaukeln will, wie sie vor dem Sündenfall war. Die Lithianer leben nämlich nach christlichen Maximen, an ein höheres Wesen glauben sie jedoch nicht. Lithia ist somit eine Herausforderung für jeden Menschen, schleunigst „normale“ Zustände herzustellen – was auch prompt in die Wege geleitet wird …

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JAMES BLISH

DER GEWISSENSFALL

Roman

Das Buch

Der Planet Lithia umkreist Alpha Arietis im Sternbild des Widders, 50 Lichtjahre vom Sonnensystem entfernt, und ist eine erdähnliche Welt – mit einem wesentlichen Unterschied: Lithia ist ein Paradies, bewohnt von intelligenten, aber absolut friedfertigen Riesenechsen. Im Jahr 2050 irdischer Zeitrechnung nehmen Erdbewohner und Lithianer Kontakt miteinander auf. Für den Jesuitenpater Ruiz-Sanchez, Mitglied der Sternenexpedition, ist dieses Paradies eine Falle des Teufels, der hier den Menschen eine Welt vorgaukeln will, wie sie vor dem Sündenfall war. Die Lithianer leben nämlich nach christlichen Maximen, an ein höheres Wesen glauben sie jedoch nicht. Lithia ist somit eine Herausforderung für jeden Menschen, schleunigst »normale« Zustände herzustellen – was auch prompt in die Wege geleitet wird …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

A CASE OF CONSCIENCE

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1958 by James Blish

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

1

Die Steintür krachte zu. Es war Cleavers Erkennungszeichen: Keine Tür war so schwer oder so raffiniert gebremst, dass er es nicht fertiggebracht hätte, sie mit einem Donnerschlag zu schließen.

Pater Ramon Ruiz-Sanchez, von Geburt Peruaner und seines Zeichens Mitglied der Gesellschaft Jesu, las weiter. Paul Cleaver würde eine ganze Weile brauchen, sich aus seinem Dschungelanzug zu befreien, und mittlerweile blieb das Problem bestehen. Es war ein jahrhundertealtes Problem, erstmalig 1930 gestellt, aber die Kirche hatte es nie gelöst. Und es war diabolisch kompliziert. Selbst der Roman, in dem der Fall dargelegt war, stand auf dem Index Expurgatorius und war Pater Ruiz-Sanchez SJ nur durch seinen Orden zugänglich.

Er wendete die Seite und hörte kaum das Trampeln und Murmeln im Vorraum. Der Text verlangte seine ganze Aufmerksamkeit, denn er wurde mit jedem Wort verwirrender, übler und unlösbarer:

»… Magravius droht, Anita von Sulla belästigen zu lassen, einem bekannten Wüstling (und Anführer einer zwölfköpfigen Söldnerbande, den Sullivani), der Felicia für Gregorius, Leo Vitellius und Macdugalius erhältlich machen will, wenn sie ihm nicht willfährig sein und Honuphrius betrügen wird. Anita, die behauptet, inzestuöse Lockungen von Jeremias und Eugenius entdeckt zu haben …«

Wieder stockte er. Jeremias und Eugenius waren …? Ah, ja, die »Philadelphier« oder brüderlichen Liebhaber (dahinter verbarg sich ein weiteres Verbrechen, kein Zweifel), blutsverwandt sowohl mit Felicia als auch mit Honuphrius, welch Letzterer offensichtlich der Hauptwüstling und Anitas Ehemann war. Magravius, der Honuphrius zu bewundern schien, war vom Sklaven Mauritius zum Beischlaf mit Anita gedrängt worden, offenbar auf Betreiben des Honuphrius selbst. Dies jedoch war Anita von ihrer Kammerjungfer Fortissa hinterbracht worden, die einmal Mauritius’ Frau gewesen war und ihm Kinder geboren hatte – so dass man die ganze Geschichte mit der größten Vorsicht abwägen musste. Die Fortissa-Mauritius-Verbindung blieb überdies im Nebel von Andeutungen verborgen, und nie wurde ganz klar, ob es sich nicht nur um eine Vermutung des Kommentators handelte …

»Ramon, hilf mir doch mal, ja?«, rief Cleaver plötzlich. »Ich kann dieses Ding nicht aufmachen – und ich fühle mich nicht gut.«

Der Jesuit und Biologe erhob sich besorgt und legte sein Buch aus der Hand. Ein solches Eingeständnis von Cleaver war noch nicht da gewesen. Der Physiker saß auf einem Kissen aus geflochtenen Binsen, ausgestopft mit einer Art Torfmoos. Er hatte sich zur Hälfte aus seinem Glasfiber-Dschungelanzug geschält, und sein Gesicht war weiß und schweißbedeckt. Seine dicken kurzen Finger zerrten an einem blockierten Reißverschluss.

»Paul! Warum hast du nicht gleich gesagt, dass du krank bist? Hier, lass die Finger davon; du machst es nur schlimmer. Was ist passiert?«

»Weiß nicht genau«, sagte Cleaver schnaufend und ließ den Reißverschluss los. Ruiz-Sanchez kniete nieder und versuchte den Mechanismus mit Behutsamkeit wieder in Gang zu bringen. »Ich ging ein Stück in den Dschungel, um zu sehen, ob ich weitere Pegmatitvorkommen ausfindig machen könnte. Ich dachte daran, dass dies vielleicht der geeignete Ort sei, eine Fabrik für die Produktion von Tritium zu bauen.«

»Gott bewahre«, sagte Ruiz-Sanchez, ohne vom Reißverschluss aufzublicken.

»Hm? Wie auch immer, ich fand nichts. Ein paar Eidechsen, Hüpfer, die üblichen Sachen. Dann rannte ich gegen eine Pflanze, die ein bisschen wie eine Ananasstaude aussah, und einer von den Dornen stach glatt durch meinen Anzug. Es schien nichts weiter zu sein, nur ein kleiner Stich, aber …«

»Aber wir tragen diese Anzüge nicht zum Vergnügen. Hier, nimm die Füße vom Boden, dass ich dir die Stiefel ausziehen kann. Wo ist die Stelle – oh. Nun, sie sieht nicht gut aus, das muss ich sagen. Irgendwelche anderen Symptome?«

»Mein Mund fühlt sich wund an«, sagte Cleaver.

»Mach ihn auf«, befahl der Jesuit. Als Cleaver gehorchte, zeigte sich, dass seine Mundschleimhäute beinahe ganz mit hässlichen und zweifellos schmerzhaften Geschwüren bedeckt waren, deren Ränder scharf und wie gestanzt waren.

Ruiz-Sanchez setzte eine Miene sorgfältig kalkulierter Gelassenheit auf. Wenn der Physiker das Bedürfnis hatte, seine Leiden herunterzuspielen, dann konnte das Ruiz-Sanchez nur recht sein. »Komm ins Labor«, sagte er. »Du hast da eine Entzündung.«

Cleaver stand auf und folgte dem Jesuiten mit nicht ganz sicherem Schritt ins Laboratorium. Dort machte Ruiz-Sanchez Abstriche von mehreren der Geschwüre, brachte sie auf Objektplatten und färbte sie ein. Während des Einfärbeprozesses justierte er den Mikroskopspiegel, bis er das Licht einer hellen, fast weißen Wolke reflektierte, dann trocknete er sein Präparat über der Gasflamme und steckte es in die Klemmen des Objektträgers.

Wie er bereits befürchtet hatte, sah er nur wenige der gemischten Bakterien und Spirochäten, die auf einen Fall von gewöhnlicher irdischer Mandelentzündung oder Hyperämie hingewiesen hätten. Eine solche Infektion der Mundschleimhäute hätte er über Nacht mit einer Spektrosigmin-Pastille heilen können. Cleavers Mundflora war normal, begann sich aber auf dem entzündeten und gereizten Gewebe stark zu vermehren.

»Ich werde dir eine Spritze geben«, sagte Ruiz-Sanchez freundlich. »Und dann solltest du lieber zu Bett gehen.«

»Nichts da«, sagte Cleaver. »Ich habe zehnmal so viel Arbeit, wie ich bewältigen kann.«

»Krankheit ist nie angenehm und kommt meistens zur falschen Zeit«, sagte Ruiz-Sanchez. »Aber warum sich über einen verlorenen Tag oder so Gedanken machen, nachdem du sowieso bis über den Kopf drinsteckst?«

»Was habe ich?«, fragte Cleaver misstrauisch.

»Eigentlich nichts«, sagte Ruiz-Sanchez. »Das heißt, du hast keine Infektionskrankheit. Aber deine ›Ananasstaude‹ hat dir einen bösen Streich gespielt. Die meisten Pflanzen dieser Familie hier auf Lithia tragen einen Überzug von Polysacchariden auf Blättern und Dornen, der für uns giftig ist. Das spezielle Glykosid, mit dem du heute in Berührung gekommen bist, erzeugt Symptome, die der einer gewöhnlichen Schleimhautentzündung ähneln, aber viel schwieriger zu beseitigen sind.«

»Wie lange wird das dauern?«, fragte Cleaver. Er war immer noch widerspenstig, aber jetzt in der Defensive.

»Wenigstens ein paar Tage – bis dein Körper eine Immunität entwickelt. Ich werde dir eine Spritze mit Gamma-Globulin geben, die diesen Vorgang beschleunigen und die Symptome abschwächen sollte. Aber die Sache wird nicht ohne Fieber abgehen, Paul; und ich werde dich mit Antipyretika behandeln müssen, denn in diesem Klima kann schon leichtes Fieber gefährlich werden.«

»Ich weiß«, sagte Cleaver resignierend. »Je mehr ich über diesen Ort lerne, desto weniger bin ich geneigt, mit ja zu stimmen, wenn die Zeit kommt, Empfehlungen auszusprechen. Nun, du kannst deine Spritze bringen – und ein paar Aspirin.«

Ruiz-Sanchez nickte. »Leg dich in deine Hängematte, Paul.«

Cleaver grinste. Sein verschwitztes, blasses Gesicht unter dem schmutzigen, blonden Haar war selbst in der Krankheit noch kantig und kraftvoll. Nachdem Ruiz-Sanchez ihm die Spritze verabfolgt hatte, rollte Cleaver seinen Ärmel herunter und sagte: »Dir gefällt dieser Planet, was, Ramon? Ein Paradies für einen Biologen, könnte ich mir denken.«

»Er gefällt mir wirklich«, sagte der Priester und lächelte zurück. Er folgte Cleaver in den kleinen Raum, der ihnen als Schlafquartier diente. Bis auf das Fenster erinnerte er sehr an das Innere eines Tonkrugs. Er war rund und hatte ausgebauchte Wände aus irgendeinem keramischen Material, das sich niemals nass anfühlte oder die Bildung von Kondensationströpfchen zuließ, aber auch nie ganz trocken zu sein schien. Die Hängematten waren an Haken befestigt, die nahtlos den Wänden entragten, als ob sie zugleich mit ihnen geformt und gebrannt worden wären: »Ich wünschte, meine Kollegin Dr. Mei könnte dies alles sehen; sie wäre begeistert.«

»Ich halte nicht viel von Frauen als Wissenschaftlern«, sagte Cleaver ein wenig irritiert. »Bringen ihre Emotionen immer mit ihren Hypothesen durcheinander. Aber wir sprachen über Lithia.«

»Ja. Vergiss nicht, dass Lithia mein erster extrasolarer Planet ist«, sagte Ruiz-Sanchez. »Ich glaube, ich würde jede neue, bewohnbare Welt faszinierend finden. Die unendliche Vielfalt der Lebensformen, die Verschiedenartigkeit der Bedingungen … Es ist immer wieder verblüffend, welche Fülle von Entdeckungen man machen kann.«

»Warum genügt dir das nicht?«, sagte Cleaver. »Warum musst du es außerdem noch mit Gott haben? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Im Gegenteil, das gibt allem anderen erst einen Sinn«, sagte Ruiz-Sanchez. »Glaube und Wissenschaft schließen sich nicht gegenseitig aus. Aber wenn du nur wissenschaftliche Maßstäbe gelten lässt und den Glauben ausschließt, nichts anerkennst, was nicht bewiesen werden kann, dann ist dein ganzes Tun eine Serie von leeren Gesten. Für mich ist Biologie ein religiöser Akt, weil ich weiß, dass alle Geschöpfe Gottes Werk sind, weil ich jeden neuen Planeten mit all seinen Manifestationen als eine Bestätigung von Gottes Macht ansehe.«

»Ein gottergebener Mann«, sagte Cleaver. »Nun gut. Zum größeren Wohl der Menschheit, das ist meine Devise.«

Er ließ sich schwer in seine Hängematte fallen. Nach einer Anstandspause nahm Ruiz-Sanchez sich die Freiheit, Cleavers linkes Bein in die Hängematte zu heben, das der Mann vergessen zu haben schien. Cleaver bemerkte es gar nicht. Die Reaktion setzte ein.

»Richtig«, sagte Ruiz-Sanchez. »Aber das ist nur die eine Hälfte. Die andere lautet: … und zum größeren Ruhm Gottes.«

»Lass mich mit diesen Traktatweisheiten in Ruhe«, brummte Cleaver, dann sagte er: »Entschuldige; es war nicht böse gemeint. Aber für einen Physiker ist dieser Planet die Hölle. Du könntest mir jetzt Aspirin bringen; mir ist kalt.«

»Gewiss, Paul.«

Ruiz-Sanchez kehrte ins Laboratorium zurück, machte eine Salizylsäurepaste in einem der hervorragenden Mörser der Lithier und presste einen Satz Tabletten daraus. (Die Lagerung fertiger Tabletten war in Lithias feuchter Atmosphäre unmöglich; sie waren zu hygroskopisch.) Er wünschte, er könnte jeder Tablette noch das Bayerkreuz aufstempeln, bevor sie fest wurde, denn wenn Aspirin Cleavers Haus- und Allheilmittel war, dann war es gute Psychologie, ihn denken zu lassen, er nähme echtes Aspirin, aber natürlich hatte er keinen Prägestempel für den Zweck. Er füllte ein Glas mit destilliertem Wasser und brachte es Cleaver, zusammen mit zwei von den Tabletten.

Der bullige Physiker schlief bereits; Ruiz-Sanchez weckte ihn – besser jetzt als später, dachte er –, und Cleaver schluckte die Pillen und das Wasser im Halbschlaf, ohne die Augen zu öffnen. Eine halbe Minute später war er wieder weg.

Ruiz-Sanchez setzte sich in den vorderen Raum und begann mit der Untersuchung des Dschungelanzugs. Der kleine Riss, den der Dorn der Pflanze gemacht hatte, war leicht zu reparieren. Viel schwieriger würde es sein, Cleavers Selbstbewusstsein mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass die Schutzvorrichtungen von Menschen auf Lithia nicht hundertprozentig wirksam waren und dass man nicht rücksichtslos gegen stachlige Gewächse rennen durfte.

Cleaver hatte das Ding, das ihn zur Strecke gebracht hatte, »Ananas« genannt. Jeder Biologe hätte Cleaver sagen können, dass die Ananas sogar auf der Erde eine wuchernde und gefährliche Pflanze ist, essbar nur durch einen glücklichen und an sich irrelevanten Zufall. Auf Hawaii, so erinnerte sich Ruiz-Sanchez, war der tropische Urwald für jemanden, der keine schweren Stiefel und derben Hosen trug, so gut wie unpassierbar. Selbst in den Pflanzungen konnten die dicht gedrängten Ananasstauden ungeschützte Beine in Streifen schneiden.

Er drehte den Anzug um. Der Reißverschluss, den Cleaver nicht aufgebracht hatte, war aus einem Plastikmaterial gemacht, in dessen Molekül bestimmte, gegen Pilzbefall wirksame Substanzen eingebaut waren, hauptsächlich das Gift Thiolutin. Die Pilze von Lithia respektierten diese Wirkstoffe, aber das komplizierte Plastikmolekül selbst hatte eine Tendenz, in der feuchten Hitze Lithias mehr oder weniger spontan zu polymerisieren. Das war hier geschehen. Einer der Reißverschlusszähne hatte sich zu etwas verändert, das Ähnlichkeit mit einem Maiskorn hatte.

Ruiz-Sanchez machte sich mit einem Taschenmesser an die Arbeit und überlegte verdrießlich, wie es möglich sei, dass man ausgerechnet an den Reißverschlüssen gespart und keine aus rostfreiem Metall verwendet hatte. Während er arbeitete, wurde es draußen zusehends dunkler, und dann gab es ein gedämpft puffendes Geräusch, und der Raum wurde von kleinen gelben Flammen in Wandnischen illuminiert. Der Brennstoff war Naturgas, das auf Lithia in unerschöpflichen und ständig sich erneuernden Mengen vorhanden war. Die Flammen wurden mittels Absorption durch einen Katalysator gezündet, sobald das Gas aus der Leitung strömte. Es gab Gaszylinder und Reflektoren, mit denen man den Flammen helleres Licht abgewinnen konnte, aber Ruiz-Sanchez zog den mattgelben, natürlichen Schein vor und verwendete die Verstärker nur im Laboratorium.

Für einige Zwecke brauchten die Menschen natürlich Elektrizität, zu deren Gewinnung sie ihre eigenen Generatoren mitgebracht hatten. Die Lithier besaßen eine weitaus entwickeltere Wissenschaft und Technologie auf dem Gebiet der Elektrostatik, aber von Elektrodynamik wussten sie vergleichsweise wenig. Den Magnetismus hatten sie erst wenige Jahre vor Ankunft der Forschungsgruppe entdeckt, weil natürlicher Magnetismus auf ihrem Planeten unbekannt war. Sie hatten das Phänomen auch nicht beim Eisen beobachtet, von dem sie fast nichts hatten, sondern bei flüssigem Sauerstoff.

Die Auswirkungen auf die Zivilisation der Lithier waren für einen Menschen eigenartig. Die vier Meter hohen intelligenten Reptilien hatten mehrere riesige elektrostatische Generatoren und eine Menge kleinerer gebaut, aber den Transport von Elektrizität über weite Entfernungen – von mehr als einem Kilometer oder so – betrachteten sie als technischen Triumph. Sie hatten keine Elektromotoren, machten aber schnelle Interkontinentalflüge mit Flugzeugen, die von statischer Elektrizität angetrieben wurden. Cleaver behauptete, er verstehe dieses System, aber Ruiz-Sanchez verstand nichts davon – und nach Cleavers Beschreibung, es sei durch Radiofrequenz-Induktion erhitztes Elektronen-Ionenplasma im Spiel, tappte er noch mehr im Dunkeln als zuvor.

Sie hatten ein ausgezeichnetes Rundfunknetz, das unter anderem als Navigationshilfe für den Luftverkehr des ganzen Planeten diente und dessen Zentrum ein Baum war. Doch hatten sie niemals eine Vakuumröhre produziert, und ihre Atomtheorie war über den Ansatz Demokrits kaum hinausgekommen.

Diese Paradoxien ließen sich teilweise durch die Dinge erklären, die es auf Lithia nicht gab. Wie jede große rotierende Masse hatte auch Lithia ein Magnetfeld, aber ein Planet, der so gut wie kein Eisenerz hat, macht es seinen Bewohnern nicht leicht, den Magnetismus zu entdecken. Radioaktivität war den Lithiern völlig unbekannt, was ihre nebelhafte Atomtheorie erklärte, und ohne geeignete Metalle war es ihnen nicht möglich, leistungsfähige Batterien zu bauen und Elektrizität in Bewegung zu studieren.

Auf den Gebieten, wo die Voraussetzungen einigermaßen günstig waren, hatten sie enorme Fortschritte gemacht. Trotz einer wolkenreichen Atmosphäre mit fast ständigem Nieselregen waren ihre astronomischen Kenntnisse ausgezeichnet, was der Anwesenheit eines kleinen Mondes zu danken war, der ihre Aufmerksamkeit frühzeitig auf die Phänomene des Weltalls gelenkt hatte. Dies wiederum hatte sie zum Studium optischer Probleme veranlasst und zu einer erstaunlichen Vielseitigkeit und Vollkommenheit in der Bearbeitung von Glas geführt. Ihre Chemie verstand es, die See und den Dschungel in gleicher Weise nutzbar zu machen. Aus ersterer gewannen sie so wichtige Produkte wie Jod, Salze, Spurenmetalle und Nahrung in vielerlei Form; Letzterer lieferte ihnen fast alles andere, das sie brauchten: Harze, Gummi, Hölzer aller Härten, Öle, Pflanzenfette, Seilermaterial, Früchte und Nüsse, Tannin, Färbemittel, Drogen, Kork und Papier. Der einzige natürliche Reichtum, den sie nicht nutzten, war der an jagdbaren Tieren, und der Grund für diese Zurückhaltung war schwer zu finden. Er schien dem Jesuiten religiöser Natur zu sein – doch die Lithier hatten keine Religion, und sie verzehrten viele Lebewesen des Meeres ohne Gewissensbisse.

Ruiz-Sanchez ließ den Dschungelanzug seufzend auf seinen Schoß sinken, obwohl der geschwollene Reißverschlusszahn noch nicht wieder auf seine alte Form und Größe zugeschnitten war. Draußen in der feuchten Dunkelheit hatte das allabendliche Konzert begonnen, ein Singen, Surren und Dröhnen auf allen vom menschlichen Ohr erfassten Frequenzen. Es kam von den Myriaden Insekten Lithias. Einige von ihnen brachten trillernde Tonreihen hervor, die an Vögel erinnerten, und das war in einer Weise angenehm, denn es gab keine Vögel auf Lithia.

War so das Paradies gewesen, bevor das Böse in die Welt gekommen war? Ruiz-Sanchez stellte sich die Frage nicht zum ersten Mal, doch wieder ohne Hoffnung auf eine Antwort …

Gewissensfragen – diese waren sein eigentliches Geschäft, nicht die Biologie. Es war interessant, dass die Lithier reptilienhafte Zweifüßler waren, mit beuteltierähnlichen Bruttaschen und einem eigenartigen Kreislaufsystem. Weit mehr aber beschäftigte ihn die Frage, ob sie eine Gewissensethik besaßen.

Sein Blick fiel auf den Kalender, den Cleaver mitgebracht hatte. Das Mädchen darauf war jetzt in unbeabsichtigter Keuschheit mit großen Flecken eines orangefarbenen Schimmelpilzes bedeckt. Das Datum war der 19. April 2049. Nicht mehr lange bis zum Osterfest. Für Ruiz-Sanchez war die Jahreszahl jedoch beinahe ebenso wichtig, denn 2050 würde ein Heiliges Jahr sein.

Die Kirche war zu dem alten Brauch zurückgekehrt, der im Jahr 1300 von Bonifaz VIII. offiziell eingeführt worden war. Danach wurde der Generalablass in jedem halben Jahrhundert nur einmal gewährt. Wenn Ruiz-Sanchez nächstes Jahr nicht nach Rom käme, wenn die Heilige Tür geöffnet sein würde, dann würde er sie zu seinen Lebzeiten nie wieder offen sehen.

Eile dich, eile dich!, wisperte irgendein privater Dämon in seinem Gehirn. Oder war es die Stimme seines Gewissens? Waren seine Sünden ohne sein Wissen bereits zu einer solchen Last geworden, dass ihn nur die Pilgerfahrt noch retten konnte? Oder war es nur eine Verlockung, der Sünde des Stolzes nachzugeben?

Wie dem auch sein mochte, die Arbeit konnte nicht wesentlich beschleunigt oder abgekürzt werden. Er und die anderen drei Männer der Forschungsgruppe waren auf Lithia, um zu prüfen, ob der Planet als ein Stützpunkt der Erde geeignet wäre, ohne dass es Menschen oder Lithiern zum Schaden gereichte. Die drei anderen Männer waren, wie er selbst, Wissenschaftler; aber Ruiz-Sanchez wusste, dass seine eigene Empfehlung letztlich von seiner Gewissensentscheidung abhängen würde, nicht von seinen biologischen Untersuchungsergebnissen.

Und das Gewissen lässt sich nicht drängen. Es lässt sich nicht einmal vorausplanen.

2

Vor dem ovalen Fenster des Hauses, das Cleaver und Ruiz-Sanchez bewohnten, sank das Terrain unmerklich zur Küste der Unteren Bucht ab, die zum Golf von Sfath gehörte. Der größte Teil der Küstenniederung bestand aus Salzsümpfen, die für Lithia so charakteristisch waren wie der Regenwald. Bei Flut stand der Küstenstrich halbwegs bis zum Haus unter Wasser. Bei Ebbe, wie sie an diesem Abend herrschte, wich das Meer kilometerweit zurück und die Dschungelsymphonie wurde um das heisere Bellen einer Art von Lungenfisch bereichert. Zuweilen konnte man Dutzende von ihnen gleichzeitig hören. Und manchmal, wenn der kleine Mond durch ein Wolkenloch lugte und die Lichter der Stadt nicht von feuchtem Dunst und Nieselregen getrübt waren, konnte man die froschartig hüpfenden Silhouetten irgendwelcher Amphibien sehen oder die sich schlängelnde Fährte eines der lithianischen Krokodile.

Am Horizont – der wegen des vorherrschenden Dunstes gewöhnlich auch tagsüber unsichtbar blieb – dehnte sich flach das nördliche Ufer der Bucht mit seinen vorgelagerten Sumpfniederungen, hinter denen wieder der Dschungel begann, um erst viele hundert Kilometer nördlich an der Küste der großen Äquatorialsee zu enden.

Hinter dem Haus und vom Schlafzimmer aus sichtbar, lag die Stadt Xoredesch Sfath, Hauptort des südlichen Kontinents. Wie bei allen Städten der Lithier bestand ihr vielleicht – für einen Menschen – auffallendster Zug darin, dass man sie kaum sehen konnte. Die Häuser der Lithier waren niedrig und aus der Erde gemacht, die beim Ausheben der Baugrube gewonnen wurde, so dass sie selbst für einen geübten Beobachter mit ihrer Umgebung zu verschmelzen schienen.

Die meisten älteren Gebäude waren rechteckig und hatten dicke Wände aus gestampfter Erde. Auf den Balkendecken lagerte eine meist meterdicke Erdschicht, überwuchert von Vegetation. Im Lauf der Jahrzehnte pflegten diese Gebäude sich zu setzen und in den Boden einzusinken, so dass es überflüssig war, baufällige oder aufgegebene Häuser abzureißen; man ließ sie stehen, wie sie waren, bis sie allmählich in sich zusammensanken und ihrer Umgebung gleich wurden.

Neuere Gebäude waren auffälliger, wenn die Sonne schien, denn während des letzten halben Jahrhunderts hatten die Lithier begonnen, ihre hochentwickelte Kunst der Keramikherstellung auf den Hausbau anzuwenden. Die neuen Häuser waren fast alle von rundlicher Form, ohne ebene Flächen und scharfe Kanten, aber innerhalb dieses vom Material vorgegebenen Rahmens zeigten sie in Abwandlungen und fantastischen Ausformungen einen nahezu unerschöpflichen Einfallsreichtum. Auch diese Häuser hätten sich gut in den Hintergrund von Erde und tropischer Vegetation eingefügt, nur waren die meisten von ihnen glasiert und reflektierten einen grellen, blendenden Glanz, wenn einmal die Sonne schien.

Ruiz-Sanchez blickte aus dem Schlafzimmerfenster zur Stadt hinüber, als er zu Cleavers Hängematte ging. Für ihn war Xoredesch Sfath ein lebender Organismus; wann immer er die Stadt betrachtete, nie sah sie genauso aus wie das vorige Mal. Er fand sie eigenartig schön und seltsam. Obwohl die Städte der Erde sehr verschiedenartig waren, gab es keine, die man mit dieser vergleichen konnte.