Der Glanz vergangener Tage - Penny Vincenzi - E-Book
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Der Glanz vergangener Tage E-Book

Penny Vincenzi

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Beschreibung

England 1939: Als die junge, aus einfachen Verhältnissen stammende Grace den wohlhabenden Charles Bennett heiratet, steht die Zukunft ihrer Ehe bereits auf dem Spiel. Charles kümmert sich wenig um sie, und Grace fühlt sich unwohl in der feinen Gesellschaft seiner herablassenden Schwester Florence und der attraktiven Clarissa. Doch dann ziehen ihre Männer in den Krieg. Im Sturm, der um sie tobt, werden Grace, Florence und Clarissa allmählich zu Freundinnen, und Grace verliebt sich in den Soldaten Ben. Doch hin und her gerissen zwischen Schicksalsschlägen, Liebe und Verrat muss sich bald jede der drei Frauen fragen, ob sie ihrem Herz folgen darf …

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Buch

England 1939: Als die junge, aus einfachen Verhältnissen stammende Grace den wohlhabenden Rechtsanwalt Charles Bennett heiratet, steht die Zukunft ihrer Ehe bereits auf dem Spiel. Charles kümmert sich wenig um sie, und Grace fühlt sich unwohl in der feinen Gesellschaft seiner herablassenden Schwester Florence und seiner ehemaligen Verlobten, der temperamentvollen wie attraktiven Clarissa. Doch dann ziehen die Männer der drei Frauen in den Krieg. Im Sturm, der um sie tobt, werden Grace, Florence und Clarissa allmählich zu Freundinnen, und Grace verliebt sich in den Soldaten Ben, um dessen zwei Kinder sie sich aufopferungsvoll kümmert. Doch hin und her gerissen zwischen Schicksalsschlägen, Liebe und Verrat muss sich bald jede der drei Frauen fragen, ob sie ihrem Herzen folgen darf …

Weitere Informationen zu Penny Vincenzi sowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Penny Vincenzi

Der Glanz vergangener Tage

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Franz

Die englische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Forbidden Places« bei Orion, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Neuausgabe September 2020

Copyright © der Originalausgabe 1995 by Penny Vincenzi

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 2002 unter dem Titel »Septemberrosen« auf Deutsch erschienenen Romans.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Ildiko Neer/Arcangel Images; FinePic®, München; Elisabeth Ansley/Trevillion Images

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

KS · Herstellung: kwSatz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26174-0V002

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Paul. Dafür, dass du mir, wenn es turbulent wurde und der Abgabetermin nahte, die Hand gehalten und gut zugeredet hast, ganz zu schweigen von der praktischen Hilfe bei dem Entwurf von Handlungen und Rückschlägen und der mehr als einmal drohenden Gefahr, dass die ganze Geschichte in sich zusammenbricht …

Die Hauptfiguren

Grace Bennett

Charles Bennett (Major), Rechtsanwalt, ihr Ehemann

Frank und Betty Marchant, Grace’ Eltern

Clifford und Muriel Bennett, Charles’ Eltern

Florence, seine Schwester, und Imogen, ihre Tochter

Robert Grieg (Major), Florence’ Ehemann

Clarissa Compton Brown, eine alte Freundin von Charles

Jack (Geschwaderführer), ihr Ehemann

Giles Henry (Lieutenant-Commander der Royal Navy), Musiker und Florence’ Liebhaber

David und Daniel Lucas, zwei junge Evakuierte aus Acton, London

Ben Lucas (Sergeant), Vater der beiden, und Linda, ihre Mutter

May Potter, Clarissas Kameradin bei den Wrens

Michael Jacobs, Seniorpartner der Anwaltskanzlei Bennett & Bennett

Archibald McIndoe, Pionier der plastischen Chirurgie

Corporal Brian Meredith, ein Heimkehrer aus Kriegsgefangenschaft

Die Hauptpersonen im Dorf

Mrs Boscombe, Vermittlerin der örtlichen Telefonzentrale

Mrs Lacey, Grace’ Vorgesetzte im Komitee der Landarmee der Frauen

Miss Merton, Musik- und Tanzlehrerin der Dorfschule

Miss Baines, Imogens Kindermädchen

Elspeth Dunn, eine Musikschülerin von Grace

Jeannette, eine Evakuierte, die Muriel und Florence den Haushalt führt, und ihre Tochter Mamie

Prolog

24. Juni 1995

Heute werde ich ihr das Geheimnis entreißen. Fünfzig Jahre hat sie es für sich behalten – das reicht jetzt, wenn du mich fragst.« Diese Worte, hervorgebracht mit einer klaren, melodischen und äußerst kultivierten Stimme, hallten durch den Palmenhof des Ritz, ließen etliche Gespräche mitten im Satz, wenn nicht gar mitten im Wort verstummen und brachten viele Tassen zum Klappern. Die Besitzerin der Stimme, eine elegante, höchst stilvolle, in einen weißen Seidenanzug gekleidete Dame mit langen, wohlgeformten Beinen, die sie unter ihrem vergoldeten Stuhl verschränkte, wurde sich der Aufmerksamkeit bewusst und schenkte ihrer Begleiterin ein zufriedenes Lächeln. Die Begleiterin, konservativer gekleidet, aber ebenfalls von großer Eleganz, mit ihrem schwarzen Wollkleid und der breiten Perlenkette um den langen, anmutigen Hals, betrachtete sie ernst und sagte schließlich: »In dem Fall würde ich mein Geld auf Grace setzen, Clarissa. Du hast sie schon so oft bearbeitet, ohne jeden Erfolg. Ist es denn wirklich so wichtig? Du sagst doch selbst, dass es schon fünfzig Jahre her ist. Vielleicht lässt man die Vergangenheit besser auf sich beruhen.«

»Mir ist es einfach zuwider, im Dunkeln zu tappen«, sagte Clarissa. »Geheimnisse machen mich nervös. Erst recht fünfzig Jahre alte Geheimnisse – zumal Grace’ Geheimnis besonders pikant ist.«

»Aber du hast keine Geheimnisse, nicht wahr?«, stellte Florence beiläufig fest.

»Ich?« Clarissa riss ihre großen braunen Augen auf und schenkte Florence ein unwiderstehlich offenes Lächeln. »Natürlich nicht. Über mich wissen alle alles, wirklich. Ich kann gar nichts für mich behalten. Das solltest du wissen, Florence, Schätzchen.«

»Mhm«, machte Florence, die grauen Augen nachdenklich auf Clarissa gerichtet.

»Was soll das heißen?«

»Nichts. Gar nichts.« Sie winkte ab. »Nur dass wir drei einen aufregenden – oder besser gesagt: überaus aufregenden – Krieg erlebt haben. Meinst du nicht auch? Keine von uns ist ungeschoren davongekommen. Lauter interessante Geschichten. Und alle mit Geheimnissen behaftet.«

»Mag sein. Aber du und ich, wir kennen unsere Geheimnisse«, gab Clarissa zurück. »Grace hingegen hält sich bedeckt. Jedenfalls was ihr wichtigstes Geheimnis betrifft. Für meinen Geschmack schuldet sie uns … Ah, wenn man vom Teufel spricht – da ist sie ja.«

Sie stand auf und winkte graziös. »Grace, hier sind wir!«

»Hallo, Clarissa. Hallo, Florence!«, sagte Grace, umarmte beide und zog sich beim Setzen die Handschuhe aus. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme. Ich bin im Verkehr stecken geblieben.«

»Setz dich, mein Schatz, und trink einen Tee. Oder sollen wir Champagner bestellen? Ich denke, der Anlass schreit förmlich danach.«

»Champagner!«, protestierte Florence. »Es ist halb vier, Clarissa.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber einer der Vorteile des hohen Alters dürfte darin bestehen, dass wir tun und lassen können, was wir wollen – und wann wir es wollen. Und jetzt würde ich gern Champagner trinken.«

»Ja«, sagte Florence. »Zumal du darauf spekulierst, dass er Grace die Zunge löst. Ich warne dich, Grace. Sie wird dich heute zum Reden bringen, koste es, was es wolle.«

»Wirklich?«, sagte Grace. »Worüber denn, wenn ich fragen darf?«

»Du weißt schon, worüber«, sagte Clarissa. »Du weißt es genau. Und ich denke, nach fünfzig Jahren schuldest du uns wirklich …«

»Das ist aber ein schöner Anzug, Clarissa«, sagte Grace. »Wo hast du den denn aufgetrieben?«

»Ach, du kannst einen wirklich auf die Palme bringen«, sagte Clarissa. »Bei Harvey Nichols, wenn es dich so brennend interessiert.«

»Unbedingt. Ich habe immer noch Nachholbedarf in solchen Dingen. Vermutlich habe ich es einfach nie verwunden, dass ich früher das Landei mit Kleidercoupons war, während du in einer flotten Marineuniform herumstolziert bist.«

»Das ist nicht ganz falsch, du hast wirklich oft armselig ausgesehen«, sagte Florence und griff mit ihrer perfekt manikürten Hand nach einem Sandwich. »Ziemlich oft sogar.«

»Danke, Florence. Und du hast es immer schon geschafft, mir die Laune zu verderben. Ziemlich oft sogar.«

»Mädels, Mädels«, ging Clarissa dazwischen. »Wir wollen uns doch jetzt nicht zanken. Jedenfalls nicht hier. Ah, der Champagner, wunderbar. Grace, mein Schatz, du zuerst.«

»Danke«, sagte Grace. »Aber vielleicht sollte ich dich vorwarnen, Clarissa. Ich habe nicht die geringste Absicht, mir die Zunge lösen zu lassen. Wenn Florence recht damit hat, dass du das vorhast.«

»Aber wirklich!«, erwiderte Clarissa. »Was könnte es schon schaden, wenn du uns alles erzählen würdest? Als würden wir etwas weitersagen.«

»Ich nicht«, erklärte Florence. »Aber du mit Sicherheit. Allen und jedem, der zuhört.«

»Das ist ungerecht«, sagte Clarissa. »Ich kann schweigen wie ein Grab. Außerdem – wer würde dem Gefasel einer alten Dame schon Gehör schenken?«

»Alle«, sagte Florence munter. »Gezwungenermaßen, da sie gar keine andere Wahl haben.«

»Ich kann nur hoffen, dass du im Unterhaus mehr Takt walten lässt, Florence, Schätzchen«, sagte Clarissa. »Obwohl ich fürchte, dass Takt in diesem Ambiente keine große Rolle spielt. Wenn ich so mit meinen Aktionären reden würde, wäre die Hölle los. Aber wie ich bereits sagte, Grace: Die Zeit ist reif.«

»Aber warum?«, fragte Grace. »Wieso ausgerechnet jetzt?«

»Weil es ein solcher Meilenstein ist, wie ich schon sagte. Fünfzig Jahre treffen wir uns nun schon in diesem Restaurant, an jedem einzelnen Mittsommertag. Was für eine schöne Idee, muss ich schon sagen, auch wenn es meine eigene war. Und wir waren immer zur Stelle, egal was los war, nicht wahr?«

»Außer in jenem Jahr, als Florence auf Stimmenfang war und wir sie unterstützt haben. Damals haben wir uns dort oben getroffen«, sagte Grace.

»Und dann damals, als Grace mit ihren Schülern zu diesem wunderbaren Festival in Irland gefahren ist und wir ihnen nachgereist sind, um uns die Aufführung anzuhören«, sagte Florence. »Nicht zu vergessen das Jahr, als du nach New York gefahren bist, um den Ableger deiner Agentur zu eröffnen, und wir alle aufs Empire State Building gefahren sind …«

»Ja, richtig. Vollkommen richtig«, sagte Clarissa. »Du bestätigst nur, was ich sagen wollte. Unsere Treffen waren uns heilig, und wir sind uns immer verbunden geblieben. Und haben uns wechselseitig unterstützt. Ehemänner, Babys, Erfolge, gescheiterte Projekte, Herzschmerz, Glück, alles haben wir geteilt. Und trotzdem behält Grace ihr großes Geheimnis für sich. Dabei weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass es in der Tat ein Geheimnis gibt und auch weit mehr dahintersteckt, als du durchblicken lässt. Das finde ich ziemlich gemein von dir.«

»Tut mir leid, dass du das gemein findest«, sagte Grace, »aber ich kann es euch trotzdem nicht erzählen.«

»Aber …«

»Entschuldigt mich bitte«, sagte Florence. »So spannend es auch gerade ist, ich muss trotzdem mal telefonieren. Ich will wissen, wie es bei der Abstimmung in Europa gelaufen ist. Bin gleich zurück. Nichts erzählen, Grace, ja?«

»Und jetzt zu uns, Clarissa«, sagte Grace, während sie Florence nachsah, die in Richtung Foyer zu den Telefonen ging. Ihre blauen Augen wirkten plötzlich erstaunlich kalt. »Ich bin nicht die Einzige, die ein Geheimnis hat, nicht wahr? Und es würde dir keineswegs gefallen, wenn ich in dich dringen würde, oder?«

»Nein, aber das ist auch etwas anderes«, sagte Clarissa mit einem versonnenen Lächeln, und über ihre immer noch zarte englische Rosenhaut huschte ein rötlicher Schimmer. »Mein Geheimnis ist eher … na ja … persönlicher Natur.« Sie schaute sich um, um sicherzustellen, dass Florence nicht zurückkam. »Wenn ich es erzählen würde, wäre es vielleicht immer noch verletzend. Deine Geschichte hingegen – jedenfalls soweit wir etwas darüber wissen«, fügte sie schnell hinzu, »gehört eher zu denen, die Stoff fürs Kino bieten. Unglaublich aufregend. Ein Ehemann, der …«

»Das ist überhaupt nichts anderes«, unterbrach Grace sie mit einem ebenso lieblichen Lächeln. »Geheimnis ist Geheimnis. Und ich habe vor vielen, vielen Jahren versprochen, nie jemandem davon zu erzählen. Daran habe ich mich gehalten, und ich gedenke es auch weiterhin zu tun.«

Kapitel 1

Frühjahr 1938

Als Grace Marchant ihrem zukünftigen Ehemann zum ersten Mal begegnete, brach sie in Tränen aus. Nicht weil er etwas Schlimmes gesagt oder getan hätte, im Gegenteil. Sondern weil sie vom Fahrrad gefallen war und ihr sämtliche Glieder schmerzten; außerdem waren ihr ein Eierkarton und eine Tüte Zucker aus dem Korb gefallen, und der Inhalt verteilte sich nun auf der Straße.

Den Sturz hatte sie teils sich selbst zu verdanken, teils aber auch einem Scottish Terrier, den seine Besitzerin, Miss Parkins, nach Meinung sämtlicher Dorfbewohner – außer der von Miss Parkins selbst – eigentlich an der Leine führen sollte, besonders auf der High Street. Er hatte eine Katze aus dem Metzgerladen kommen sehen und war losgestürmt, und Grace, die sich nicht hinreichend auf die Straße konzentriert, sondern eher die Sonne des späten Frühlings im Gesicht genossen und die Kirschblütenzweige bewundert hatte, die über die Mauer der Pfarrei ragten, stieß mit ihm zusammen. Dem Terrier ging es bestens, trotz seines erbärmlichen Gekläffes. Grace hingegen hatte sich die Knie aufgeschlagen und den Ellbogen aufgeschürft und musste nun auch noch den Zorn von Miss Parkins über sich ergehen lassen, die sie aufforderte, doch besser auf die Straße achtzugeben. Grace hatte eine zu gute Erziehung genossen, um sich mit Miss Parkins zu streiten, und verfügte außerdem über die nötige Einsicht, um zu wissen, dass die Dame nicht ganz unrecht hatte. Als sie sich aufrappelte und darum bemühte, ihre Würde wiederzuerlangen und den stechenden Schmerz in ihren Knien zu ignorieren, hörte sie einen Wagen neben sich anhalten. Eine Stimme, die ihre Mutter als dunkelbraun bezeichnen würde, erkundigte sich: »Alles in Ordnung mit Ihnen?« Grace sah auf, blickte in das Gesicht eines äußerst attraktiven Mannes (hinterher war sie selbst überrascht, wie genau sie es noch in Erinnerung hatte, mit dem vollen blonden Haar, den strahlend blauen Augen, dem wunderschönen Mund und der leichten Sonnenbräune), schaute dann auf ihren dreckigen Rock, ihre blutenden Knie und die gerinnende Masse aus Ei und Zucker auf der Straße und brach schließlich – zu ihrer unendlichen Beschämung – in Tränen aus.

»Oje, kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte der Mann, stieg aus seinem Wagen – einem hübschen kleinen MG, wie sie zerstreut registrierte –, hob ihr Rad auf und lehnte es an die Mauer der Metzgerei. Dann nahm er ihre Hand, führte sie zu einer Holzbank (die eher dazu diente, Hunde anzuleinen, als dort ein Päuschen einzulegen) und hieß sie niedersitzen. Grace schaute zu ihm auf und rang sich ein Lächeln ab, in ihrer Tasche nach einem Tuch kramend. Der junge Mann reichte ihr sein eigenes und unterzog ihr Fahrrad einer eingehenden Prüfung.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Keine bleibenden Schäden.«

Dann schenkte er ihr ein absolut überwältigendes Lächeln.

»Nun«, sagte der junge Mann, als er zu ihr zurückkam und sich neben sie setzte, »erlauben Sie mir bitte, Sie nach Hause zu bringen. Sie sind ja ganz blass. Ach so …« – er streckte ihr die Hand hin – »… Charles Bennett, sehr erfreut.«

»Ebenso«, sagte Grace und schüttelte ihm matt die Hand. Eine angenehme Hand, dachte sie, fest und trocken. Ihre eigene war vermutlich eher feucht. »Grace Marchant.«

»Leben Sie in Westhorne?«

»Ja. Ganz am Rand, wo das Land beginnt.«

»Dann bestehe ich darauf, Sie nach Hause zu bringen. Kommen Sie, ich schiebe Ihr Fahrrad. In Ihrem Zustand können Sie nicht aufsteigen. Ich fahre nur den Wagen aus dem Weg, dann können wir aufbrechen.«

Grace’ Eroberung, wie ihre Mutter es beim Abendessen ihrem Vater gegenüber ausdrückte, war beträchtlich.

»Er ist der Sohn von Clifford Bennett, weißt du? Diesem Anwalt in Shaftesbury, der aber auch eine Kanzlei in London hat. Sie sind steinreich und leben in einem wunderschönen Haus in Thorpe Magna. Seine Mutter ist eine Adlige.« Grace’ Vater fing den Blick seiner Tochter auf und zwinkerte ihr zu. »Die ehrenwerte Muriel Saxton, eine ziemlich bedeutende Dame der Gesellschaft. Ihre Tochter, also Charles’ Schwester …«

»Das passt ja wunderbar«, sagte Frank Marchant mit einem seiner wohlwollenden Lächeln.

Mrs Marchant ignorierte ihn. »Charles’ Schwester hat als Debütantin großes Aufsehen erregt, wenn ich mich recht entsinne. Sie lebt in London und ist mit einem Anwalt verheiratet. Die Hochzeit war ein Traum …«

»Mutter«, unterbrach Grace sie lachend, »woher weißt du das alles?«

»Das weiß man doch, mein Schatz. Das ist Allgemeinwissen. Charles ist natürlich nicht verheiratet. Ein lebenslustiger Junggeselle. Und steinreich.«

»Ich halte es eher für unwahrscheinlich, Mutter, dass ich Charles Bennett heiraten werde, falls du darauf hinauswillst«, sagte Grace. »An deiner Stelle würde ich mir nicht allzu große Hoffnungen machen …«

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Betty Marchant stand auf, um den Anruf entgegenzunehmen. Sie konnten ihre Stimme im Flur vernehmen und registrierten auch, dass sie in ihren hoheitsvollen, wohlmodulierten Tonfall verfiel. Frank schaute Grace mit hochgezogenen Augenbrauen an. Als Betty zurückkehrte, war sie hochrot im Gesicht, und ihre Augen funkelten.

»Er ist es«, verkündete sie, und es wäre nicht übertrieben gewesen, ihren Tonfall triumphierend zu nennen.

»Wer?«

»Charles Bennett natürlich. Der Anrufer. Los, Grace, lauf hin. Lass ihn nicht warten.«

Grace lächelte immer noch, als sie zum Hörer griff. »Woher haben Sie denn meine Nummer?«, fragte sie.

»Von Mrs Boscombe natürlich.«

»Ach ja, natürlich.«

Mrs Boscombe war die Dame von der örtlichen Telefonvermittlung. Sie versorgte nicht nur jeden, den sie mochte (eine unbedingt notwendige Voraussetzung), mit jeder beliebigen Telefonnummer, sondern übermittelte auch Nachrichten (»Ihre Schwester lässt Ihnen ausrichten, dass sie mit dem Drei-Uhr-Bus eintrifft«) und gab Informationen weiter, die sie bei ihren passionierten Lauschaktionen abstaubte (»Jetzt müssen Sie dort gar nicht anrufen, meine Liebe. Sie ist spazieren gegangen und wird dann dem Pfarrer einen Besuch abstatten, wegen der Schwester von Mrs Babbage«).

»Ich wollte mich erkundigen, wie es Ihnen geht«, sagte Charles.

»Mir geht es gut, danke. Und danke auch dafür, dass Sie sich heute Morgen so freundlich um mich bemüht haben.«

»Es war mir ein Vergnügen. Hören Sie, ich wollte Sie noch etwas fragen – falls Ihre Knie nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen sind. Könnten Sie sich vorstellen, am Sonntag auf eine Partie Tennis vorbeizukommen?«

»Oh.« Grace verspürte, wie eine leichte Panik nach ihrem Herzen griff. »Ich weiß nicht. Ich fürchte, ich spiele nicht sehr gut.«

»Um Himmels willen, wer tut das schon. Meine Schwester und ihr Mann kommen am Wochenende zu Besuch. Sie leben in London, daher sind sie vermutlich jämmerlich in Form. Aber das wäre doch schön. Bitte, kommen Sie.«

»Also, danke«, sagte Grace. »Das klingt gut.«

»Wunderbar. So gegen drei also?«

Grace kehrte ins Esszimmer zurück. Sie erzählte ihren Eltern von dem Gespräch, um einen beiläufigen Tonfall bemüht. Ihr war sofort klar, dass ihre Mutter, solange sich Charles nicht offiziell mit einer anderen Frau verlobte, bereits die Hochzeit plante.

Grace war neunzehn Jahre alt. Sie war auf eine Mädchenschule in der Nähe von Salisbury gegangen, hatte erfolgreich einen höheren Schulabschluss erworben und dann auf Insistieren ihrer Eltern einen Sekretärinnenkurs belegt. Eigentlich wäre sie lieber Musikerin geworden. Sie war eine talentierte Pianistin, hatte eine ziemlich schöne Stimme und spielte auch gut Geige. Es sei aussichtslos, in diesem Bereich eine Stelle zu bekommen, hatten ihre Eltern erklärt. Außerdem sei sie ein Mädchen und schneller verheiratet, als sie sich umschauen könne. In dem Fall könne sie immer noch einem Laienorchester oder einem Chor beitreten. Grace hasste die Vorstellung, irgendetwas zum Zeitvertreib zu tun. Entweder ganz oder gar nicht, dachte sie. Andererseits war ihr klar, dass sie, um Musikerin zu werden, äußerst hart und zielstrebig sein müsste – und dass sie schon an der ersten Hürde scheiterte, am Widerstand ihrer Eltern nämlich, konnte nur heißen, dass ihr beides abging. Gut möglich, dass ihr sogar das nötige Talent fehlte.

Frank Marchant war Bankdirektor in Shaftesbury. Er hatte es zu bescheidenem Wohlstand gebracht, war aber frei von jeglichem Ehrgeiz, der ihn auf der Karriereleiter noch wesentlich weiter nach oben führen würde. Für Betty war das eine große Quelle des Kummers, da sie selbst erheblichen Ehrgeiz verspürte – nicht für sich selbst natürlich, sondern, wie das damals so war, für ihren Ehemann. Viele Jahre lang hatte sie unermüdlich auf Frank eingeredet, hatte ihn gedrängt, sich auf diese oder jene Stelle zu bewerben, hatte Gesellschaften für seine wichtigeren Kunden gegeben und sie mit ihrem Charme umgarnt, immer von der unbändigen Sehnsucht nach einem größeren, standesgemäßen Haus getrieben, da sie selbst nur in einem zugewucherten Cottage in Westhorne lebten. Sie hätte auch gern eindrucksvollere Angestellte gehabt als Mrs Hobbs, die täglich im Haushalt half, und Mr Hobbs, der sich um den Garten kümmerte, außerdem einen Ehemann, mit dem sich wirklich Staat machen ließ, und den Zugang zu Gesellschaftskreisen, denen sie (auf keiner anderen Grundlage als einem irregeleiteten Instinkt) unbedingt angehören zu müssen glaubte. Ihr größter Traum war es, glanzvolle Dinner und Tennisfeste zu geben und zu besuchen, und wenn sie zu Tanzveranstaltungen eingeladen werden wollte, die es auf die Seiten des Tatler schafften, hatte das nicht nur mit Eigennutz zu tun, sondern auch mit der Hoffnung, ihre Tochter könne in diese Kreise einheiraten und die entsprechenden Privilegien genießen.

Obwohl sie nämlich eine respektierte und engagierte Bewohnerin ihres Städtchens war, Vorsitzende etlicher Wohltätigkeitsvereine und die zweifellos hochgeachtete Gattin eines Bankdirektors, war ihr durchaus bewusst, dass sie es nicht geschafft hatte und niemals mehr schaffen würde.

Für Grace hegte sie allerdings noch Hoffnungen.

Grace arbeitete als Nachwuchssekretärin für den Direktor von Stubbingtons, einem Fuhrunternehmen in der Nähe von Shaftesbury. Sie mochte die Arbeit nicht. Tatsächlich war sie ihr sogar zuwider, aber bislang zeichnete sich der Ausweg, den ihre Eltern ihr mit einer baldigen Hochzeit in Aussicht gestellt hatten, nicht am Horizont ab. Andererseits war sie erst neunzehn, und obwohl drei ihrer engsten Freundinnen bereits verlobt und eine sogar schon verheiratet war, hatten sie und die anderen noch ein bisschen Zeit. Obgleich die Ehe (und die Mutterschaft) die unbestreitbare Bestimmung eines jeden Mädchens war, ging für Grace kein großer Reiz davon aus. Das Dasein einer Ehefrau, soweit sie es bei ihrer Mutter sah, bestand im Wesentlichen darin, eine Unmenge von lästigen Aufgaben zu erledigen und sicherzustellen, dass den Wünschen und Anordnungen des Familienoberhaupts Rechnung getragen wurde.

Dabei war Frank Marchant ein überaus reizender Mann, überhaupt nicht wie manche anderen Väter, die den gesamten Haushalt in einen Zustand fiebriger Angst versetzten und unbedingten Gehorsam und Respekt verlangten, nur weil sie die Ernährer der Familie waren. Dennoch bekam er sofort seine Zeitung, auch wenn Grace oder Betty gerade darin lasen, oder stellte das Radio einfach auf sein Programm um, wenn sie gerade etwas anderes hörten. Das letzte Stück Kuchen und das schönste Stück Fleisch gebührten ihm, das stand gar nicht zur Debatte. So war es immer, und so würde es auch bleiben. In ruhigen Momenten fragte sich Grace, ob eine Ehefrau, wenn sie arbeiten und zum Lebensunterhalt beitragen würde, vielleicht wenigstens anmerken dürfte, dass sie ein Konzert gern zu Ende hören würde, bevor man wieder zu den Nachrichten umschaltete. Oder ob sie erwarten dürfte, dass ihr Gatte auch nur ansatzweise beim Abräumen des Tisches half oder ihre Ansichten über die sich zuspitzende Krise in Europa zur Kenntnis nahm. Grace war aber nur zu bewusst, dass es keinen Sinn hätte, ihrer Mutter gegenüber solche Ansichten zu äußern, zumal selbst die Mädchen ihrer eigenen Generation sie tendenziell als Sakrileg betrachteten. Aufgewecktere Mitschülerinnen hatten solche Überlegungen in den Debattierclubs vehement verteidigt, wurden aber immer in Grund und Boden geredet. Wäre Grace in einem geistig anspruchsvolleren Umfeld aufgewachsen und nicht auf eine Mädchenschule gegangen, in der man bestenfalls eine Ahnung von höherer Bildung mitbekam, hätte sich ihr Leben vielleicht anders entwickelt.

Grace war außerordentlich hübsch. Sie hatte rotblondes Haar (wenngleich zu wild gelockt für ihren Geschmack, sodass erhebliche Ausdauer vonnöten war, um es mit Hilfe von Haarfestiger zu bändigen), dunkelblaue Augen, eine kleine, gerade Nase und einen Mund mit einem perfekten, im Moment sehr modischen Amorbogen. Trotz ihrer Körpergröße (fast ein Meter siebzig) war sie sehr schlank, hatte wunderbare Beine und ungewöhnlich schöne Hände, wobei sie ihre kleinen Brüste mit einem gewissen Missmut betrachtete. Ihre Umgangsformen waren bezaubernd, aber bei aller Freundlichkeit, Fügsamkeit und einer gewissen Schüchternheit verfügte sie doch über eine gewisse Klarsicht, was sie selbst und andere betraf.

Frank Marchant bestand darauf, sie am Sonntag zu den Bennetts zu bringen. Grace wäre lieber mit dem Fahrrad hingefahren, aber Mrs Marchant fragte entsetzt, was denn die Bennetts denken müssten, wenn es so aussähe, als hätten sie keinen Wagen. Natürlich müsse Frank sie hinbringen.

»Ich wünschte, du hättest mir das Autofahren beigebracht«, sagte Grace. »Dann könnte ich selbst hinfahren.« Ihr Vater war allerdings der Ansicht, dass sie mit einundzwanzig noch genug Zeit dafür hatte; das sei das Alter, in dem man frühestens fahren lerne, was für junge Mädchen erst recht gelte. Die Straßen seien derart überfüllt, dass er keinen Moment Ruhe hätte, zumal es ihm nichts ausmache, sie irgendwohin zu bringen. Im Gegenteil, dann könnten sie sich mal ungestört unterhalten. Grace und ihr Vater hatten sich viel zu erzählen, aber wenn Betty in der Nähe war, brachten sie selten auch nur einen einzigen Satz zu Ende.

Die Abtei war ein erlesenes Gebäude im Queen-Anne-Stil am Rande von Thorpe Magna und lag hinter einer langgezogenen, geschwungenen Backsteinmauer.

Frank Marchant fuhr mit seinem Morris vor dem Eisentor mit den großen Steinpfosten vor. Grace stieg aus, den Tennisschläger in der Hand, und fühlte sich plötzlich hilflos und schüchtern.

Als sie über die geschwungene Zufahrt schritt, betrachtete sie die großen Fenster, das mächtige Eingangsportal und die Glyzinien, die zu beiden Seiten emporwuchsen und vom oberen Geschoss herabhingen. Misstrauisch beäugte sie den schwarzen Labrador, der auf sie zugetrottet kam und halbherzig bellte, und musterte dann die drei Wagen, die vor dem Haus parkten: Charles’ grünen MG, einen flotten roten Morris Tourenwagen (vermutlich das Auto der Schwester aus der Großstadt) und einen höchst imposanten Daimler. Über die Rabatten entlang der Einfahrt beugte sich eine Gestalt, offenbar der Gärtner.

»Guten Tag«, rief er, und sie nickte leicht distanziert, wie man es bei einem Gärtner vermutlich tut, vor allem in einem Haus wie diesem. Gleichzeitig konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass es ziemlich hart sein dürfte, auch am Sonntag arbeiten zu müssen. Die Bennetts waren zweifellos knallharte Arbeitgeber.

Sie zog am Klingelstrang und hörte die Glocke durchs Haus schallen. Im nächsten Moment hörte sie den Gärtner rufen: »Die sind alle hinten bei den Tennisplätzen. Es wird Sie niemand hören. Gehen Sie einfach an der Seite vorbei.«

»Danke«, sagte Grace und machte sich auf den Weg, immer noch ein wenig beunruhigt wegen des Labradors, der sie offenbar nicht aus dem Blick zu lassen gedachte. Aber dann öffnete sich plötzlich die Haustür, und Charles rief ihr einen Gruß zu.

»Hallo! Tut mir leid, ich hatte Sie gar nicht gehört. Wir haben schon ein paar Schläge gewechselt. Wo ist Ihr Wagen?«

»Mein Vater hat mich gebracht«, antwortete Grace verlegen. »Er hat mich vorne am Tor abgesetzt.«

»Ah, verstehe.« Er wirkte ebenfalls ein wenig befangen und gab sich Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Das gefiel ihr, auch wenn sie sich plötzlich noch schüchterner fühlte. »Gut. Kommen Sie einfach mit.«

»Ich wollte gerade ums Haus herumgehen. Ihr Gärtner hat gesagt, dass ich …«

»Wer? Der Gärtner ist heute gar nicht … Ach so, Sie meinen Dad. Kommen Sie, ich stelle Ihnen meinen Vater vor.« Wieder lachte er leicht befangen und führte sie dann zu der gebeugten Gestalt.

»Vater, das ist Grace Marchant.«

Clifford Bennett richtete sich auf und lächelte. Er war sehr groß, größer noch als sein Sohn, und hatte weiße Haare. Aber seine Augen waren genauso blau und durchdringend.

»Sie müssen das Fräulein sein, das ein solches Missgeschick hatte. Wir haben viel darüber gehört.« Er streckte die Hand aus. »Clifford Bennett, sehr erfreut.«

»Ganz meinerseits«, sagte Grace und wurde knallrot bei dem Gedanken, dass sie fast an ihm vorbeigegangen wäre, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Sie konnte nur hoffen, dass Charles nichts sagte, was ihren Mangel an Takt offenbaren würde.

»Gesellst du dich zu uns, Vater?« war aber alles, was er sagte.

»Nein, ich muss mich noch um diese Beete kümmern. Was für eine schreckliche Jahreszeit für Gärtner. Viel mehr Unkraut als Blumen. Mögen Sie Gärten, meine Liebe?«

»Ich liebe Gärten«, antwortete Grace. »Wirklich. Eines Tages möchte ich einen umfriedeten Garten haben, voller Rosen und herrlicher Kletterpflanzen …«

Wieder wurde sie rot, selbst überrascht, wie bereitwillig sie mit ihm plauderte. Sie konnte nur hoffen, nicht töricht zu wirken. Das schien aber nicht der Fall zu sein. »Wir haben einen, obwohl ich nicht weiß, ob er Ihren Ansprüchen genügt. Er ist ein wenig verwahrlost, fürchte ich. Bitten Sie Charles, dass er Ihnen das gute Stück später zeigt. Ach nein, ich führe Sie lieber selbst dorthin, es ist auch mein Lieblingsgarten. Kommen Sie einfach nach dem Spiel zu mir. Jetzt aber erst einmal viel Spaß.«

»Danke«, sagte Grace.

»Kommen Sie mit«, sagte Charles, »dann stelle ich Ihnen meine Leutchen vor.«

Leutchen schien nicht ganz das richtige Wort zu sein, da es einen zärtlichen, warmen Klang hatte. Charles’ Mutter – groß, dünn und »durch und durch grau«, wie Grace später zu ihrem Vater sagte – begrüßte sie jedoch mit ihrer monotonen Stimme, aus der man die Generationen von Oberklasse-Drill förmlich heraushörte, als wäre Grace eine potenzielle Angestellte. Oder Aushilfe, dachte Grace, die sich verzweifelt bemühte, ihren Humor nicht zu verlieren. Wo sie denn genau wohne und was ihr Vater tue? Nachdem sie die Antwort auf die zweite Frage erhalten hatte, nickte sie kurz und wandte sich wieder an ihre Tochter, um zu signalisieren, dass das Einstellungsgespräch beendet war.

Die Tochter, Florence, war noch schlimmer. Dunkelhaarig, aber genauso groß und von derselben verhärmten Schönheit, hatte sie auch dieselben langen Beine und dieselbe Stimme. Ihre Nägel waren lang und rot und ihr Mund breit und voll und mit derselben grellen Farbe angemalt. Die Besucherin hielt sie offenbar für keine würdige Gesprächspartnerin, denn sie schenkte Grace nur ein flüchtiges Lächeln und begann dann mit einer ausgedehnten Schilderung eines Hauses, das ihr Ehemann und sie in der Nähe von etwas, das eher Sloane Squaw als Sloane Square zu heißen schien, zu kaufen beabsichtigten. Ihr Ehemann hingegen wirkte freundlich und schien Grace das Gefühl geben zu wollen, willkommen zu sein. Sein Name war Robert, ein wahrer Hüne von massiger Statur. Seine schwarzen Haare waren mit Pomade zurückgekämmt. Die Augen waren sehr blass, aber die Haut erstaunlich dunkel, und er hatte eine lange, eindrucksvolle Nase, über die er buchstäblich hinabzuschauen schien. Trotzdem wirkte er sehr sympathisch, schenkte ihr ein warmes Lächeln und erklärte, dass er ein absolutes Tennisass sei. »Ich hoffe für Sie, dass Sie da mithalten können.«

»Sei nicht so garstig, Robert«, sagte Florence, den Blick auf Grace’ Tennisschuhe gerichtet, die trotz der morgendlichen Bemühungen ihrer Mutter leicht angegraut waren. Offenbar war es genau das, was sie von Grace erwartete. »Mädchen vom Lande sind immer gut im Tennis. Vermutlich spielen Sie jeden Tag. Oder spielen Sie eher Golf, Miss Marchant?«

»Bitte nennen Sie mich doch Grace«, sagte sie. »Nein, ich spiele kein Golf. Und auch im Tennis bin ich nicht gerade ein Ass. Dazu habe ich gar nicht die Zeit.«

»Oh Gott, nein«, sagte Florence. »Das hatte ich ganz vergessen. Charles sagte ja, Sie würden arbeiten.« Aus ihrem Mund klang das, als hätte Grace eine fiese Krankheit.

Schweigen senkte sich herab. Schließlich sagte Charles: »Gut, dann mal los. Lasst uns ein paar Bälle schlagen. Grace, sind Sie mutig genug, um mit mir zusammen anzutreten?«

Zu ihrer großen Überraschung spielte sie genauso gut wie Florence und wesentlich besser als Robert, der tatsächlich kein großes Ass war. Sie gewann den Eindruck, dass er sich nicht einmal besonders ins Zeug legte, sondern das Ganze eher als dümmlichen Zeitvertreib betrachtete. Das war ein kleiner Trost. Sie und Charles, der wiederum ein ziemlich guter und ehrgeiziger Spieler war, gewannen die erste Partie, worauf Charles vorschlug, sie möge doch mal mit Robert spielen. Florence, die etwas irritiert war, spielte plötzlich ziemlich hart und legte ein paar hinterhältige Aufschläge hin, die zweimal im Aus waren. Sie beharrte jedoch darauf, dass sie drin waren, und niemand hatte große Lust, ihr zu widersprechen. Trotzdem verloren Robert und Grace nur knapp.

»Sie sind wirklich ziemlich gut«, sagte Charles, als er sie zu den Stühlen neben dem Spielfeld führte. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie so wenig spielen.«

»In der Schule haben wir schon viel gespielt«, sagte Grace. Das war ein Fehler.

»Auf welche Schule sind Sie denn gegangen?«, erkundigte sich Mrs Bennett. »Es ist wirklich wunderbar, dass Mädchen heutzutage zur Schule gehen. Ich hätte es geliebt, auf die Schule zu gehen, aber ich bekam natürlich Privatunterricht. Tatsächlich sind viele unserer Freunde immer noch nicht davon überzeugt, die Mädchen wegzuschicken, obwohl ich für Florence darauf bestanden habe. Meiner Ansicht nach erweitert das den geistigen Horizont.«

»Ich bin auf die … die St. Catherine’s School bei Salisbury gegangen«, antwortete Grace. »Das ist eine sehr kleine Schule. Sehr persönlich. Sicher haben Sie noch nie von ihr gehört.«

»Nein, ich denke nicht«, sagte Mrs Bennett gemessen. »Mit den Schulen hier in der Gegend kenne ich mich nicht aus. Florence ist auf die St. Mary’s Wantage gegangen, die war nicht sehr persönlich. Für meinen Geschmack war sie ein bisschen zu gelehrt. Vielleicht wäre sie an einer Schule wie der Ihren besser aufgehoben gewesen …« Ihre Stimme verlor sich, und es war offenkundig, dass sie nichts dergleichen dachte.

»Lasst uns eine Kleinigkeit essen«, sagte Charles etwas zu munter.

Nach dem Tee, der auf der Terrasse hinter dem Haus serviert wurde und zwar von einem dieser standesgemäß uniformierten Hausmädchen, von denen Betty Marchant immer träumte, verlangte Mr Bennett, der deutlich Gefallen an Grace gefunden hatte, ihr nun endlich seinen umfriedeten Garten zeigen zu dürfen. Es war eine zauberhafte, von allem abgeschlossene Welt. In der Luft lag Vogelgesang, an den Mauern krochen knospende Kletterhortensien empor, und die Beete waren mit verwilderten Büschen gefüllt. Auf die mit Backsteinen gepflasterten Wege quollen ganze Wolken von dunkel- und blassblauen Lobelien, und mitten im Garten stand ein wundervoller alter Steinsitz.

»Wie wundervoll!«, sagte Grace. »So vollkommen abgelegen – eine ganz eigene Welt.«

»Das ist genau der Grund, warum ich ihn so mag«, sagte er. »Und ich kann Ihnen auch verraten, was ich liebe: abends mit einem großen Glas Whisky und der Zeitung hierherkommen und mich vor allem und allen sicher fühlen.«

Grace dachte, wenn sie mit Muriel Bennett zusammenleben müsste, würde sie es genauso halten. Sie würde sogar noch ein Schloss am Tor anbringen.

Nicht dass die Gefahr ernsthaft bestand, Gott sei’s gedankt.

»Bleiben Sie doch bitte noch zum Abendessen«, sagte Muriel Bennett, als sie aus dem umfriedeten Garten zurückkamen. »Es wird bescheiden ausfallen, da wir ja Sonntag haben, aber …«

»Nein, wirklich, das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Grace, »aber meine Eltern erwarten mich. Dürfte ich Sie vielleicht darum bitten, meinen Vater anrufen zu dürfen, damit er mich abholen kommt?«

»Was für eine abwegige Idee«, sagte Charles, der seit dem Tennismatch ziemlich still geworden war. »Ich werde Sie natürlich nach Hause fahren. Möchten Sie vielleicht trotzdem anrufen? Damit sich Ihre Eltern keine Sorgen machen?«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Wenn Sie sich ganz sicher sind …«

»Natürlich bin ich das. Bitte, folgen Sie mir.«

Er führte sie durch eine Schiebetür in den Salon, der zwar sehr geschmackvoll eingerichtet war und einen schönen Kamin besaß, aber weit weniger groß war, als sie und sicherlich auch ihre Mutter erwartet hätten. Von dort gelangten sie in die Vorhalle, wo auf einem niedrigen Tischchen neben einem hohen Stapel von Ausgaben von Country Life das Telefon stand.

»Dort, bitte«, sagte er. »Hören Sie …« Er zögerte. »Wir könnten noch eine kleine Ausfahrt machen, bevor ich Sie nach Hause bringe. Falls Ihre Eltern nichts dagegen haben.«

»Oh … warum nicht«, sagte Grace, die in erster Linie erleichtert war, dass er nicht darauf brannte, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. »Ja, ich frage sie.«

Schweigend fuhren sie los, durch die schmalen, mit hohen Hecken bestandenen Sträßchen. Es war ein herrlicher Abend. »Ich dachte, wir könnten zum Old Wardour hochfahren«, sagte Charles. »Was halten Sie davon?«

»Ja, sehr gerne.«

Das Old Wardour Castle war eine allseits geschätzte Ruine, die hoch oben auf einem Hügel lag, weit über dem vornehmen Haus, durch das man die Burg im achtzehnten Jahrhundert ersetzt hatte. Vor dem diesigen Himmel bot sie einen Anblick von herber Schönheit.

»Ein schöner alter Ort, nicht wahr?«, sagte Charles. »Ich bin hier früher auf meinem Pony hochgeritten, wenn ich für die Ferien aus der Schule zurückkam. Das war immer das Allererste, was ich getan habe. Haben Sie auch eine Stelle wie diese?«

»Ich bin immer nach Shaftesbury gefahren, weil da all diese Lichter brannten«, sagte Grace. »Mit dem Bus«, fügte sie lachend hinzu.

»Stören Sie sich nicht an meiner Mutter«, sagte er unvermittelt. »Sie wirkt immer ein bisschen hochnäsig, aber sie kann nicht anders. So wurde sie erzogen. Eigentlich ist sie eine wunderbare Person.«

»Natürlich. Mich hat das gar nicht gestört«, flunkerte Grace. »Ich fand sie sehr nett. Und Ihren Vater auch. Es war so reizend, dass er mir seinen Garten gezeigt hat.«

»In der Tat, er hat Sie sichtlich gemocht. Und der gute alte Robert auch. Er lässt gern mal den Blick schweifen. Florence hat es nicht leicht mit ihm, soweit ich das beurteilen kann.«

»Wirklich?«, sagte Grace. Sie hätte eher gedacht, Robert hatte es nicht ganz leicht.

»Oje, das hätte ich Ihnen gar nicht erzählen dürfen. Aber Sie haben so etwas an sich« – er schaute sie eindringlich an – »das einem Vertraulichkeiten entlockt. Mein Vater hat das offenbar auch so empfunden.«

»Ja?« Grace spürte, wie sie rot wurde.

»Ja. Sie sind das, was die Italiener simpatico nennen würden. Waren Sie je in Italien?«

»Nein, ich war noch nie im Ausland. Das würde ich furchtbar gern mal tun.«

»Wenn dieser ganze Unsinn in Europa schlimmer wird, ist man dort leider nicht mehr sicher. Mein Vater denkt, dass kein Weg mehr an einem Krieg vorbeiführt.«

»Teilen Sie seine Meinung?«, fragte Grace.

»Nein, eigentlich nicht. Unumgänglich ist der Krieg sicher nicht. Meines Erachtens wird Chamberlain immer unterschätzt. Was denkt denn Ihr Vater darüber?«

»Dasselbe wie Ihrer«, sagte Grace und wartete darauf, dass er sich nach ihrer Meinung erkundigte, aber er tat es nicht.

Auf dem Heimweg kamen sie an den Toren des Old Wardour Cemetery vorbei, der letzten Ruhestätte des Anwesens von Arundells und des dazugehörigen Dorfs.

»Das ist mein Lieblingsort«, sagte Grace und schaute fast sehnsüchtig durch das schmiedeeiserne Tor auf die wilden Bäume und die geisterhaft gruppierten Grabsteine.

»Der Friedhof? Ein bisschen merkwürdig für einen Lieblingsort.« Charles klang belustigt.

Grace wurde rot. »Ich weiß. Aber er wirkt so romantisch. Und so schön.«

»Nun ja … mag sein. Jedem das Seine, kann man da nur sagen.« Er lächelte. »Haben Sie noch Zeit für einen Drink?«

»Oh … warum nicht. Das wäre nett.«

Sie tranken noch in einem Pub in der Nähe von Swallowcliffe etwas, dann fuhr Charles sie heim.

»Ich würde Sie ja hereinbitten, aber …«, begann Grace.

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich muss zurück. Meine Mutter erwartet mich, außerdem muss ich morgen früh raus. Wenn man mit seinem Vater zusammenarbeitet – oder besser: für ihn arbeitet –, kann man sich nicht auf die faule Haut legen. Wir betreuen im Moment eine Menge Fälle.«

»Sind Sie gern Anwalt?«

»Ja, sehr gern«, antwortete er, »vor allem in einer so kleinen Stadt wie Shaftesbury. Eines Tages werde ich die Kanzlei übernehmen, darauf freue ich mich schon. Besonders auf den Londoner Ableger.«

»Wie oft fahren Sie denn hin?«, fragte Grace.

»Nicht sehr oft, leider. Vater fährt mehrmals die Woche hin, daher muss ich hier die Stellung halten. Aber zu gegebener Zeit hoffe ich, sehr viel mehr Zeit dort verbringen zu können. Ich werde sowieso einige Änderungen einführen.«

»Welche denn?«

»Gütiger Gott, das interessiert Sie bestimmt nicht. Und jetzt muss ich wirklich heimkehren. Herzlichen Dank, dass Sie heute gekommen sind. Es war ein sehr angenehmer Nachmittag.«

»Danke für die Einladung«, sagte Grace.

Er schüttelte ihr die Hand, und sie stieg aus. Von einer weiteren Verabredung war nicht die Rede. Als Grace die Tür aufschloss, verspürte sie eine gewisse Enttäuschung.

»Bevor du etwas sagst«, wandte sie sich an ihre Mutter, die erwartungsvoll im Vorraum herumstand, »ich glaube nicht, dass er mich wirklich nett findet. Seine Mutter ist eine alte Hexe, und seine Schwester hat mich spüren lassen, dass ich so weit unter ihrem Niveau bin, dass ich mich nicht einmal im selben Raum mit ihr aufhalten sollte. Und das stimmt ja auch. Dass ich weit unter ihrem Niveau bin, meine ich«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

»Wie unverfroren«, sagte Betty Marchant, auf deren Wangen zwei rote Flecken erschienen. Sie war sichtlich aufgebracht. »Nun, ich bin strikt dagegen, dass du in diese Familie einheiratest.«

»Mutter«, sagte Grace erschöpft. »Ich kann dir versichern, dass es überhaupt nicht zur Debatte steht, in diese Familie einzuheiraten. Es sei denn, ich würde mit dem guten alten Mr Bennett durchbrennen.«

Clifford Bennett saß in seinem Arbeitszimmer und lauschte den Neun-Uhr-Nachrichten, als das Telefon in der Vorhalle klingelte. »Ich geh schon«, rief er Muriel zu. »Ein besorgter Mandant. Ich hatte ihm gesagt, dass er heute Abend anrufen kann.«

Fünf Minuten später trat er in den Salon, wo Muriel am Kamin saß und an ihrem neuesten Gobelin stickte, nach einem eigenen Entwurf, den sie ihrem väterlichen Wappen nachempfunden hatte.

»Morgen muss ich in aller Frühe nach London, meine Liebe. Gleich mit dem ersten Zug, fürchte ich. Ich wollte dich nur schon einmal vorwarnen.«

»Mit dem ersten Zug? Wieso denn das um alles in der Welt? Und wieso überhaupt am Montag? Du fährst doch montags nie …«

»Ich sagte doch, dass ich einen äußerst besorgten Mandanten habe. Schwieriger Fall. Ich möchte ihn ganz früh treffen und dann die Kollegen instruieren.«

»Clifford, ich bin wirklich der Meinung, dass du deine Arbeitslast reduzieren solltest«, sagte Muriel. »Du wirst nächstes Jahr sechzig, aber du scheinst dir immer mehr aufzuhalsen. Eigentlich hattest du angekündigt, du würdest dich aus dem Londoner Büro zurückziehen und Charles das Feld überlassen. Nun, davon merke ich nichts.«

»Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Aber John Reeves ist notorisch überlastet, der arme alte Knabe. Und auch ein bisschen überfordert, besonders in diesem Fall. Aber das muss unter uns bleiben. Dabei ist die Sache höchst interessant, ein Betrugsfall. Mein Mandant hat vor zweieinhalb Jahren eine Lebensversicherung abgeschlossen und …«

»Clifford, du stehst mir im Licht. Gut, dann fahr eben. Aber ich denke trotzdem, du solltest künftig strenger mit John Reeves sein. Er nutzt dein freundliches Wesen aus.«

»In Ordnung, meine Liebe. Ich gebe mir Mühe.« Er hielt inne und nippte an seinem Whisky. »Was für ein reizendes kleines Ding heute Nachmittag, oder?«

»Wer? Die kleine Marchant? Mag sein. Aber ein bisschen … gewöhnlich. Ich würde mir wünschen, Charles würde sich endlich ein wirklich passendes Mädchen suchen und seinen Platz im Leben finden. Amanda Bridgnorth zum Beispiel, die ist so charmant und hübsch. Und zu Pferde hinterlässt sie den allerbesten Eindruck …«

»Ich würde doch hoffen, meine Liebe, dass Charles an seine zukünftige Ehefrau höhere Ansprüche hat als ihre Haltung zu Pferde. Wenn du mich fragst, würde ich Grace Marchant als Schwiegertochter deutlich den Vorzug gegenüber Amanda Bridgnorth geben.«

»Daran will ich nicht einmal denken«, sagte Muriel mit einem kleinen kontrollierten Schauer. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie ihre Mutter sein mag. Offenbar näht sie Vorhänge für andere Leute.«

»Wirklich, meine Liebe!«, sagte Clifford kopfschüttelnd, lächelte allerdings. »Aber jetzt werde ich mich noch ein wenig in den Fall vertiefen. Ich schlafe im Ankleidezimmer, damit ich dich morgen früh nicht störe. Gute Nacht, meine Liebe.«

Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück und rief die Nummer in London an, um zu bestätigen, dass er am nächsten Morgen komme.

»Ich glaube nicht, dass ich noch einmal Lust dazu habe«, sagte Robert Grieg und trat mit dem Fuß ziemlich vehement aufs Gaspedal, als der Wagen endlich auf die Straße nach London rollte.

»Wozu?«

»Diesen ganzen Weg zurückzulegen, nur für ein Wochenende. Das ist viel zu weit. Ich werde morgen früh vollkommen erschöpft sein.«

»Aber Robert, wir fahren ja nicht oft hin. Das letzte Mal war Ostern, und da hätten wir durchaus länger bleiben können. Aber du wolltest doch …«

»Tut mir leid, aber spätestens nach einem Tag langweile ich mich zu Tode. Das Land ist eben nichts für mich.«

»Zu den Whittakers fährst du aber gern, Robert. Oder zu den Bedfords. Die leben auch auf dem Land.«

»Mag sein, aber die haben auch mehr zu bieten. Sie planen jedes Mal eine richtige Dinnerparty, und es gibt dort viele Leute unseres Alters. In Thorpe besteht die Unterhaltung darin, den Ansichten deiner Mutter über das Leben zu lauschen und deinem Vater bei der Gartenarbeit zuzuschauen.«

»Das ist ungerecht!«, sagte Florence. »Sie laden oft Gäste zum Dinner ein. Oder am Sonntag zum Lunch. Und du kannst Tennis spielen, soviel du willst.«

»Ich hasse Tennis, wie du wissen solltest, Florence. Und die Gäste, die sie aufzubieten haben, sind nicht gerade die Crème de la Crème. Schau dir nur das lustige kleine Ding heute an.«

»Die war doch in Ordnung.«

»Du hast dich nicht gerade so verhalten, als fändest du sie in Ordnung, wenn ich das sagen darf. Aber das ist nicht der Punkt. Könnten wir das Thema jetzt begraben, es ödet mich an. Ich möchte einfach meine Wochenenden nicht dort verbringen, verstanden?«

»Und was soll ich meinen Eltern sagen, wenn … wenn sie uns einladen?«

»Denk dir einfach einen Vorwand aus. Sie werden schon einsehen, dass es ein langer Weg ist.«

Florence widersprach nicht mehr. Den Wert des Schweigens hatte sie bereits zu schätzen gelernt.

Kapitel 2

Sommer 1938

Grace begann zu denken, dass sie sich verliebt haben könnte.

In letzter Zeit hatte sie viele Liebesromane gelesen, einschließlich des Buchs, das gerade in aller Munde war – Vom Winde verweht –, um die Gefühle der Heldinnen mit ihren zu vergleichen. Sogar Jane Eyre hatte sie noch einmal gelesen. Und obwohl sie für Charles nicht dieselbe wilde Leidenschaft zu empfinden vermeinte wie Scarlett O’Hara für Ashley Wilkes oder Jane für Mr Rochester, verspürte sie doch eine Reihe ganz neuer Gefühle: eine gewisse Sehnsucht kurz vor einem Wiedersehen; ein schönes, warmes Glücksgefühl, wenn sie zusammen waren; eine sonderbare, atemberaubende Zärtlichkeit, wenn er ihre Hand hielt und sie einfach wortlos anschaute. Sie ließ sich auch gern von ihm küssen. Es war so viel schöner als mit ihren anderen Freunden, wo sie es, wenn sie ehrlich war, immer ein bisschen ekelhaft gefunden hatte, vor allem wenn die Zunge ins Spiel kam.

Bei Charles war das ganz anders. Sein Mund war fest und stark, und sie merkte, dass ihr eigener Mund fast unbewusst darauf reagierte. Nicht nur ihr Mund, sondern ihr ganzer Körper. Sie fühlte sich gewärmt und eingehüllt und irgendwie weicher. Ihm schien es genauso zu gehen. Hinterher löste er sich von ihr, auf dem Wagensitz oder im langen Gras oben an der Burgruine, die ihr besonderer Ort geworden war, und schaute sie einfach nur an. Und wenn sich sein Blick forschend in ihrem versenkte, spürte sie, mehr noch als beim Küssen, eine wunderbar fließende Zärtlichkeit und noch etwas anderes, Stärkeres, merkwürdig Körperliches, eine Regung tief in ihrem Innern. So fühlte es sich vielleicht an, nur stärker, wenn man es tatsächlich tat, wie sie es in der Schule bei den einschlägigen Gesprächen immer genannt hatten. In jüngster Zeit dachte sie oft daran, es zu tun. Zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, es wirklich zu wollen, und die stockenden, verlegenen Erläuterungen ihrer Mutter (wenn sie mehr als ein Glas Sherry getrunken hatte) füllten sich allmählich mit Sinn.

Charles hatte ihr natürlich nie seine Liebe gestanden. Sie wusste nur, dass er, wenn sie zusammen waren, sehr romantisch sein konnte. Die Sache war aber schon von Beginn an ziemlich unberechenbar gewesen, gelinde gesagt. Da waren die ersten trostlosen Tage nach der Tennispartie, als sie sich ganz sicher war, dass sie nie wieder etwas von ihm hören würde, weil sie viel zu langweilig und stillos für ihn war. Und dass er sie vermutlich nur eingeladen hatte, weil jemand anders ausgefallen war. Dann klingelte am Donnerstag plötzlich das Telefon, und er war dran.

»Hallo«, sagte er, »hier ist Charles Bennett«, als müsse er ihr erst auf die Sprünge helfen. »Ich wollte fragen, ob Sie Lust hätten, sich am Freitag einen Film anzuschauen.« Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ihm zu sagen, dass sie da schon etwas vorhatte, schließlich hieß es immer, man würde einen Mann nur abschrecken, wenn man stets Zeit für ihn hatte. Ihr war aber selbst klar, dass sie das nicht übers Herz brachte, daher bedankte sie sich für die Einladung und erklärte, sie freue sich sehr.

Sie saßen im Kino in Shaftesbury, umgeben von Paaren, die sich küssten oder wenigstens Händchen hielten. Er wahrte höflich Abstand und fuhr sie im Anschluss nach Hause. Während er über dies und das plauderte, dachte sie mit größter Verzweiflung, dass er sie nicht sehr mögen konnte und sie bestimmt nicht anziehend fand, als er plötzlich anhielt und sich zu ihr hinüberbeugte. »Sie sind so hübsch, Grace. Dürfte ich Sie wohl küssen?«

Sie lächelte nur unsicher, daher küsste er sie, ganz sanft, und erkundigte sich dann: »Haben Sie morgen schon etwas vor?« Sie sagte: »Nein, nichts!«, worauf er erklärte, dass er sie gern zum Essen einladen würde. Sie gingen ins Grosvenor in Shaftesbury, das sehr teuer und vornehm war. Ihr Vater wurde von wichtigen Kunden zu Weihnachten dorthin eingeladen, während ihre Mutter und sie noch nie dort gewesen waren. Nach einem Sherry und zwei Gläsern Wein war sie ziemlich betrunken, und als er sie an jenem Abend in seinem Wagen küsste, war es für sie beide etwas vollkommen anderes.

»Ich hoffe, das ist in Ordnung?«, fragte er zärtlich, als er nach einer Weile von ihr abließ. Sie sagte, das sei absolut in Ordnung, mehr als in Ordnung, worauf er lächelte und sie weiterküsste. Das war das erste Mal, dass sie dieses merkwürdige Gefühl im Bauch fühlte.

Und so hatte alles begonnen. Aber es war nie eine so klare Sache, wie ihre Freundinnen sie erlebten, mit täglichen Telefongesprächen, zweimal Ausgehen in der Woche und der wenigstens inoffiziellen Annahme, ein Paar zu sein. Manchmal hörte sie zehn Tage nichts von ihm, dann wieder wollte er sie fast jeden Abend sehen. Über die Zeiten seiner Abwesenheit hielt er sich bedeckt. Oft war er natürlich in London, in der Kanzlei dort, aber zu anderen Zeiten wusste sie, dass er in der Gegend war und sich einfach nur nicht meldete. Tag für Tag sah sie den MG vor der Kanzlei in Shaftesbury stehen und fühlte sich elend – vor Kummer und vor Eifersucht. Sie war ohnehin ein eifersüchtiger Mensch, was, wie sie selbst wusste, ein Makel ihres sonst so reizenden Charakters war. Sie war nicht nur eifersüchtig, wenn ihre Freunde mit anderen Mädchen tanzten oder flirteten, sondern auch wenn ihre Freundinnen sie von einer Vergnügung, und sei sie noch so harmlos, ausschlossen. Oder wenn ihr Chef eine der anderen Sekretärinnen lobte. Zum Teil hatte das mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun, zum Teil aber auch mit dem Bedürfnis, in den Herzen ihrer Mitmenschen einen besonderen Platz einzunehmen.

Zu Beginn ihrer Bekanntschaft war sie sich oft sicher, dass Charles Bennett einfach das Interesse an ihr verloren hatte, und dachte missmutig, dass er bestimmt mit einem anderen Mädchen ausging – oder gleich mit mehreren. Immerhin war er eine blendende Partie und frei wie der Wind, sodass er nicht den geringsten Grund hatte, sich ihr gegenüber verpflichtet zu fühlen, nur weil er ein paarmal mit ihr ausgegangen war. Manchmal wurde sie regelrecht wütend und schwor, ihn nie wiedersehen zu wollen. Dann machte sie sich die Meinung ihrer Mutter und ihrer Freundinnen zu eigen, die erklärten, er spiele nur mit ihr, und sie solle klarstellen, dass sie so nicht mit sich umspringen lasse. Zu anderen Zeiten verteidigte sie ihn allerdings, vor sich selbst und vor anderen, und behauptete, dass sie einfach gern zusammen waren und schöne Zeiten miteinander verbrachten – was noch lange nicht hieß, dass einer von ihnen Anspruch auf den anderen hatte.

Aber sie mochte ihn sehr und war gern mit ihm zusammen. Da war es schwer, Nein zu sagen und das Risiko einzugehen, ihn zu verlieren, nur weil der Stolz siegte. Wenn er sich mal wieder entschuldigte, dass er sich nicht gemeldet habe, weil er in London oder in Bath gewesen sei, vor Gericht, oder weil er bis zum Hals in Arbeit gesteckt habe, war es schlicht leichter, ihm zu glauben und ihn ein wenig zu verspotten, um dann zu erklären, ja, sie würde sehr gern mit ihm ins Kino gehen oder wohin auch immer. Zumal von anderen Mädchen keine Spur zu sehen war – jedenfalls für sie nicht, dachte sie unglücklich, wenn ihre Laune mal wieder im Keller war und sie eine Woche oder länger nichts von ihm gehört hatte. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich deutlich. Sie war bedeutend neugieriger und interessierte sich für seine Beziehungen in der Vergangenheit, während er diesbezüglich sehr verschlossen war und ihre Nachfragen stets abwehrte. Irgendwann sagte sie sich, es habe wohl nichts mit ihr zu tun, und verdrängte solche Gedanken.

Sie beschloss, das Beste aus der Sache zu machen – schließlich hatten sie ja auch viel Spaß –, und kämpfte darum, sich ihren Stolz zu bewahren. Sie liebten beide das Kino, und er ging mit ihr immer in die neuesten Filme. Musik mochte er leider gar nicht, aber sie besuchten manchmal das Theater in Bath oder machten Ausfahrten mit seinem Wagen. Er hatte sogar angefangen, ihr ein paar rudimentäre Fahrstunden zu geben, was sie wunderbar und großzügig fand, weil sie den MG mit großer Wahrscheinlichkeit gegen einen Baum setzen würde. Wenn es etwas gab, das sie zu der Überzeugung brachte, dass sie nicht nur ein belangloses Spielzeug für ihn war, dann die Tatsache, dass er ihr sein geliebtes Auto anvertraute. Beide gingen sie auch gern in den Pub und unterhielten sich einfach miteinander. Man konnte überraschend gut mit ihm reden, und er war offenkundig an ihrer Meinung interessiert. Er selbst konnte wunderbare Geschichten über die alten Fälle seines Vaters erzählen, während seine eigenen »meist noch ziemlich banal« waren; auch über seine Kindheit, die sehr glücklich gewesen sein musste, und die Schulzeit im Jungeninternat. Mindestens einmal im Monat führte er sie zum Essen aus, in irgendein teures Lokal, und erklärte, sie sei das netteste, schönste und intelligenteste Mädchen, das er kenne. Auf dem Rückweg dann küssten sie sich unentwegt, und wenn Grace hinterher im Bett lag, war sie rundum glücklich und fragte sich, was sie eigentlich wolle, wo doch alles so wunderbar war.

Charles war nicht nur romantisch, witzig, charmant und aufmerksam, sondern auch überaus anständig. Er genoss es sichtlich, sie zu küssen, aber er versuchte nie, etwas anderes zu tun, etwas, das ihr Sorgen bereiten müsste. Wenn sie allein oben an der Burgruine oder spätabends in seinem Wagen waren, hatte sie nie Angst, dass er sich vergessen könnte (eine Gefahr, über die ein paar ihrer Freundinnen und auch ihre Mutter düstere Anspielungen hatten fallen lassen). Manchmal, wenn sie sich sehr nah waren, spürte sie seine Hand auf ihrem Oberschenkel, einen drängenden Druck, der sehr schön und auch leicht beunruhigend war. Aber es befand sich immer noch ihr Kleid darunter, und er hatte nie versucht, es hochzuschieben oder aufzuknöpfen. Einmal hatte er ihren Hals geküsst und war dann mit den Lippen zum Ausschnitt ihres Kleids gewandert; in diesem Moment hatte sie eine leichte Sorge verspürt, es aber zu sehr genossen, um unruhig zu werden: Doch dann hatte er sich plötzlich von ihr gelöst und gesagt: »Entschuldige, Grace, aber du bist einfach zu schön.«

Nach solchen Begegnungen verschwand er manchmal für zehn, vierzehn Tage von der Bildfläche. Und sosehr sie sich auch sagen mochte, es mache ihr nichts aus, war sie doch verletzt.

Die Sorge wegen ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellung beschäftigte sie nach wie vor, und als sie eines Tages beim Essen – schon dem zweiten in dieser Woche – ein paar Gläser Wein getrunken hatte und er besonders witzig und zärtlich war, verspürte sie mehr Selbstbewusstsein als sonst. »Charles«, begann sie, »kann ich dich etwas fragen?«

»Ja«, antwortete er, »natürlich.«

»Hast du … hast du je das Gefühl, dass ich anders bin als du?«

»Was um Himmels willen meinst du?«, fragte er und schaute sie ernsthaft überrascht an.

»Du musst doch wissen, was ich meine, Charles. Deine Familie ist so viel …«

»So viel was?«

Oh Gott, was sollte sie nur sagen? Die meisten Ausdrücke waren so altmodisch und dumm, Dinge wie »distinguierter« oder »aus einer höheren Klasse«. Im besten Fall würde es albern klingen, im schlimmsten neurotisch. Schließlich entschied sie sich für »wohlhabender«, weil das unstrittig war.

»Klar«, sagte er und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Das ist aber nicht dein Fehler, und meiner auch nicht. Dafür müssen wir unsere Väter verantwortlich machen. Für mich spielt das jedenfalls keine Rolle, wenn es das ist, was du meinst. Und jetzt küss mich.«

Ende Juli hatte sie Geburtstag. Ein riesiger Blumenstrauß wurde bei ihr abgegeben, gelbe und weiße Rosen, was ihre Mutter in einen solchen Freudentaumel versetzte, dass Grace lachen musste. Am Abend führte Charles sie zum Essen aus, in ein Restaurant, in dem sie noch nie waren, ein irrwitzig teures Lokal auf dem Land. Als sie in der Bar saßen und einen Drink nahmen, sie ihren Sherry und er seinen Gin & Italian, reichte er ihr eine kleine Schachtel. »Herzlichen Glückwunsch, Grace«, sagte er. Sie war einer Ohnmacht nahe, weil sie dachte, es sei ein Ring. Als sie die Schachtel öffnete und ihr Blick auf eine Korallenkette fiel, verspürte sie zunächst bittere Enttäuschung. Dann mahnte sie sich zur Vernunft. Auf der Karte stand: Für den hübschesten Hals, den ich kenne. Nicht sehr poetisch, das musste sie zugeben, aber der Gedanke dahinter war doch ausgesprochen romantisch.

Alles war ausgesprochen romantisch, romantisch und wunderbar, aber auch nach diesem Abend war er wieder für eine gute Woche verschwunden. Und wieder einmal konnte sie nicht glauben, dass er sie nicht letztlich doch für eines der Mädchen aus seinen Kreisen sitzen lassen würde – sorglose, selbstbewusste Mädchen mit Doppelnamen und schrillen Stimmen, die wunderbare Gattinnen abgeben, großartige Dinnerpartys schmeißen und beizeiten äußerst feine Babys produzieren würden.

Eine besonders schlimme Zeit brach an, als er gegen Ende des Sommers nach Südfrankreich fuhr, um für ein paar Wochen bei Freunden seiner Eltern zu wohnen. »Meine Eltern sind bereits dort. Das ist schon seit Ewigkeiten ausgemacht.« Jede einzelne Stunde wurde zur Qual, weil sie sich vorstellte, wie er mit unzähligen überwältigenden Mädchen am Strand lag oder, schlimmer noch, mit einem einzigen überwältigenden Mädchen. Nach seiner Rückkehr kam er allerdings sofort zu ihr, wundervoll braun gebrannt, schenkte ihr einen Flakon französisches Parfüm (Joy von Jean Patou) und erklärte, er habe sie furchtbar vermisst und ständig an sie denken müssen.

Ein zutiefst beängstigender Anlass war ein großes Gartenfest Anfang August, das seine Mutter anlässlich von Mr Bennetts Geburtstag gab. »Bitte komm doch«, drängte Charles, als sie sich strikt weigerte. »Das wird ein großes Vergnügen. Alle sollen dich kennen lernen und sehen, was für ein reizendes Mädchen du bist.«

Die nächsten drei Wochen schwankte Grace zwischen dem Grauen vor dem bevorstehenden Fest und der Einsicht, dass es etwas bedeuten musste, wenn er sie einlud. Sicher konnte er sich nicht nur mit ihr vergnügen wollen und sie als kleines provinzielles Abenteuer betrachten, wenn er sie bei einem derart wichtigen Familienereignis dabeihaben wollte.

Letztlich betete sie allerdings darum, dass eine Krankheit sie niederstrecken möge, und überlegte sogar, in nassem Bettzeug zu schlafen, um sich eine Lungenentzündung zuzuziehen. Aber ihr mangelte es an dem nötigen Mut, und am Ende war alles in bester Ordnung – außer dass sie sehr schnell merkte, dass das schlichte weiße Seidenkleid, das ihre Mutter ihr für diese Gelegenheit genäht hatte, mit Flügelärmelchen und Zipfelsaum, einfach nicht vornehm genug war. Alle anderen erschienen in fließendem Satin oder besticktem Taft, in sehr, sehr langen Kleidern mit sehr, sehr großen Dekolletés, die die Aufmerksamkeit auf Brüste, nackte Schultern und überaus beachtlichen Schmuck lenkten. Sie ging durch das Haus in das blumengeschmückte Festzelt mit den vielen Tischen und den weiß befrackten Kellnern, die Tabletts mit Getränken herumreichten, an diese Leute mit Stimme, wie sie sie mittlerweile bei sich nannte, diese Mädchen von umwerfend sorgloser Schönheit, die plauderten und lachten, und diese selbstbewusst lärmenden Männer. Alle kannten einander, da sie alle zu demselben hochprivilegierten, von sich selbst überzeugten Club gehörten. Und obwohl sie an Charles’ Arm ging, spürte sie – wusste es –, dass alle sie anstarrten und sich fragten, ob Charles das wirklich ernst meinte.

Sie hätte sofort die Flucht ergriffen, wenn er sie nicht zu seiner Mutter geführt hätte, die immerhin auf liebenswürdige Weise höflich war, und zu dem guten alten Mr Bennett, der absolut reizend war und erklärte, sie sei das hübscheste Mädchen im ganzen Zelt und er wolle so bald wie möglich mit ihr tanzen. Und als er sie dann auf die Tanzfläche führte und in einen erstaunlich geschmeidigen Foxtrott lenkte, dachte sie, dass er eigentlich gar nicht alt wirkte, nur sehr distinguiert, mit seinem dichten weißen Haar, seinen wunderbaren blauen Augen und dem braun gebrannten Gesicht. Es war das erste Mal, dass sie ihn nicht in seiner alten ausgebeulten Gartenkluft sah, und in seiner schmalen, perfekt geschnittenen Smokingjacke erkannte man, wie wunderbar schlank er war.

»Nun«, sagte er, »unser junger Charles ist offenkundig sehr von Ihnen eingenommen. Er redet von nichts anderem mehr.«

Grace konnte nur hoffen, dass das nicht stimmte, weil es Muriel Bennett gegen sie aufbringen dürfte; andererseits wollte sie es natürlich nur zu gern glauben.