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Das Haus Morell - Glanz und Sünde E-Book

Penny Vincenzi

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Beschreibung

London 1985: Als Sir Julian Morell stirbt – legendärer Gründer des luxuriösen Kosmetikimperiums »Morell’s« –, versammelt sich die ganze Familie zur Testamentseröffnung. Allen voran Julians junge, ehrgeizige Tochter Roz und seine zweite Ehefrau, die schöne, ambitionierte Phaedria. Jede der beiden hofft, das Unternehmen künftig zu führen. Doch die Testamentsverlesung endet im Eklat: Julian hat einen bedeutenden Teil des Geschäfts einem völlig Fremden vermacht. Sein Erbe ist mit einer großen Geschichte voller Glanz und Glamour, aber auch Macht und dunklen Geheimnissen verbunden, die ihren Anfang in den Vierzigerjahren nimmt …

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Seitenzahl: 1464

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Buch

London 1985: Als Sir Julian Morell, Gentleman extraordinaire und legendärer Gründer des luxuriösen Beauty-Imperiums »Morell’s«, stirbt, hinterlässt er ein beträchtliches Erbe. Zur Testamentseröffnung versammelt sich die gesamte Familie. Allen voran die wichtigen Frauen seines Lebens: seine Mutter Letitia Morell, seine erste Ehefrau Eliza, seine junge, zielstrebige Tochter Roz sowie seine flamboyante, zweite Ehefrau Phaedria. Die Anspannung im Raum ist mit Händen zu greifen. Sowohl Roz als auch die ihr verhasste Phaedria erhoffen sich, die Mehrheitsanteile des Unternehmens zu erhalten. Doch dann gipfelt die Verlesung des Testaments in einer unerhörten Verkündigung: Sir Julian hat einen bedeutsamen Teil des Geschäfts einem völlig Fremden vermacht. Sein Erbe ist mit einer großen Geschichte voller Glanz und Glamour, aber auch Macht und dunklen Geheimnissen verbunden, die ihren Anfang in den Vierzigerjahren nimmt …

Weitere Informationen zu Penny Vincenzi sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Penny Vincenzi

–––––––––––––––

Das Haus Morell

Glanz und Sünde

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Franz

Die englische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Old Sins« bei Century und 1990 bei Arrow Books, The Random House Group Limited, London.Nachweis

Samuel Taylor Coleridge. Der alte Matrose. Übersetzt von Ferdinand Freiligrath. München: Josef Müller, 1925.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung November 2021

Copyright © Penny Vincenzi, 1989

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Arcangel/Jayne Szekely; FinePic®, München; gettyimages/Jessica Horn

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26170-2V001

www.goldmann-verlag.de

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PROLOG

London, Mai 1985

Rosamund Emerson betrachtete ihre Stiefmutter und die Geliebte ihres Vaters auf der anderen Seite des Raums und gelangte zu dem Schluss, dass er keine der beiden geliebt haben konnte – nicht nur, weil er ihnen das alles zumutete, sondern weil er darauf bestanden hatte, sie unter diesen Umständen zusammenzuführen. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches.

Einen Moment lang wog es fast ihre Trauer um ihren Vater auf, sich am Anblick dieser beiden Frauen weiden zu können. Und an deren Unbehagen, weil sie gezwungen waren, sich in ein und demselben Raum aufhalten und wie zivilisierte Menschen benehmen zu müssen.

Die zwei Frauen saßen zu beiden Seiten des klobigen Marmorkamins in einem Sitzungsraum der Anwaltskanzlei im Lincoln’s Inn, stumm und stocksteif und ohne sich eines Blickes zu würdigen. Camilla rutschte gelegentlich auf ihrem Stuhl herum und blätterte in einer Zeitschrift, während Phaedria abwesend ins Kaminfeuer starrte.

Diese personifizierte Trauer, die sie zur Schau stellte, war die letzte der Rollen, in denen man sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren hatte erleben dürfen – von der Kinderbraut zur betrogenen Ehefrau über den Umweg der öffentlichen Kultfigur. Dies hier war ihr erbärmlichster Auftritt, dachte Roz, aber sie zog ihn brillant durch wie alle ihre Rollen. Herr im Himmel, warum hatte ihr Vater das nicht durchschaut? Sie seufzte, da ihr eigener Kummer wieder hochstieg, schlimmer als zuvor. Der Schmerz ließ sie gereizt und ungeduldig werden. Was zum Teufel war hier los? Warum tat sich nichts? Warum bemühte sie sich um Pünktlichkeit, während die halbe Familie – na ja, ein gutes Drittel wenigstens – immer noch nicht eingetroffen war? Und wo war Henry Winterbourne? Er war so hoffnungslos langsam. Winterbourne & Winterbourne betreute die Familie seit 1847 in rechtlichen Angelegenheiten – seit der alte Sir Gerald Winterbourne seinem Freund Marcus Morell im Ausgleich für Spielschulden seine Dienste angeboten hatte –, und niemand schien sich daran zu stören, dass er sein Amt noch wie zu Regierungszeiten Queen Victorias versah, als wolle er den Zusammenhang zwischen Zeit und Geld nicht begreifen. Nun, Roz würde das nicht länger hinnehmen und sich einen eigenen Anwalt suchen, einen jungen, ehrgeizigen, der auch über technische Errungenschaften wie Computer und Faxgerät verfügte. Bei Henry war es schon eine Überraschung, wenn man ihn mal telefonieren sah.

Sie trat an das große georgianische Fenster und schaute auf den von der Sonne des späten Frühlings überfluteten Innenhof von Lincoln’s Inn hinab. Vielleicht würde das Treiben der Menschen sie ablenken. Aber es war alles belanglos: Gerichtsanwälte schritten in Roben und Perücken einher, die Papiere unterm Arm mit rosa Bändern zusammengehalten (ausgerechnet in Rosa, was für eine frivole, unangemessene Farbe). Anwälte in formellen Anzügen hetzten in demonstrativer Eile über den Platz. Zwei offenbar steinalte Richter steckten die Köpfe zusammen, in ein ernstes Gespräch vertieft. Alles Menschen mit einem wunderbar geradlinigen Lebensweg, während ihr eigenes Leben ein chaotischer Albtraum war. Und es war nicht ausgeschlossen, dass es noch chaotischer und albtraumhafter werden würde. Sie drehte sich wieder um und schaute in den Raum. Ihr Ehemann stand hilflos im Türrahmen, bemühte sich aber, beschäftigt zu wirken.

»C. J.«, sagte sie, »würdest du mir etwas zu trinken besorgen? Aber keinen Kaffee, sondern etwas Starkes. Und wenn du schon dabei bist, könntest du Jane fragen, warum man uns hier schmoren lässt? Um halb drei habe ich einen Termin, ich kann nicht den ganzen Tag hier herumsitzen. Wenn du mich fragst, ist es eine Schande, was Henry uns zumutet. Und was ist mit den anderen? Haben sie sich im Datum geirrt, oder was? Mir will einfach nicht in den Kopf, warum es in dieser Familie niemandem möglich ist, sich mal nicht um Stunden zu verspäten.«

C. J. Emerson, getauft auf den Namen Christopher John, aber in guter amerikanischer Tradition nur bei seinen Initialen gerufen, drehte sich gehorsam um. Im nächsten Moment wäre er fast mit Jane Gould zusammengestoßen, Henry Winterbournes Sekretärin, die mit einem Arm voller Akten eintrat.

»O Jane«, begann er zaghaft. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästige, Sie sind ja offenbar beschäftigt. Aber hätten Sie zufällig etwas Stärkeres als Kaffee? Meine Frau ist hochgradig angespannt, und ich habe das Gefühl, dass wir alle etwas gebrauchen könnten, das die Stimmung etwas löst.«

Jane Gould betrachtete ihn mitleidig. Selten hatte sie einen elenderen Menschen gesehen; er wirkte wie ein geprügelter Hund. Sie war nicht die Einzige, die sich fragte, wie C. J. an eine Frau wie Roz geraten sein konnte. Er war so höflich und charmant und sah mit seinen braunen Augen, den Sommersprossen und dem widerspenstigen Haar auch außerordentlich gut aus.

»Nun«, sagte sie, wobei ihr üblicher Ärger, wenn sie von Mandanten wie eine Kellnerin behandelt wurde, durch ihr Mitgefühl gemildert wurde, »wir hätten Sherry. Wäre das in Ordnung? Etwas Stärkeres haben wir nicht, tut mir leid.«

»Natürlich«, sagte C. J., der ihr unter keinen Umständen Mühe bereiten wollte, »Sherry ist sicher wunderbar. Vielen herzlichen Dank. Ach so, Jane …«

»Ja, Mr Emerson?«

»Haben Sie eine Ahnung, wieso es zu dieser Verspätung kommt? Wird Henry noch lange auf sich warten lassen? Er hatte doch elf gesagt, und es ist gar nicht seine Art, so unpünktlich zu sein.«

Sofort wurde Janes Miene leer, weil sie ihrem Chef nicht in den Rücken fallen wollte. »Tut mir leid«, antwortete sie, »ich habe keine Ahnung, was Mr Winterbourne aufhalten mag. Aber ich bin mir sicher, dass er so schnell wie möglich kommt.«

Roz trat neben C. J. »Jane, meine Liebe, damit lasse ich mich nicht abspeisen«, sagte sie. »Gehen Sie und suchen Sie ihn. Teilen Sie ihm mit, dass es endlich losgehen muss. Wir sind alle … na ja, fast alle«, fügte sie mit einem vernichtenden Blick in Phaedrias Richtung hinzu, »vielbeschäftigte Leute. Wir können es uns nicht leisten, stundenlang hier herumzuhocken, nur weil Henry die Sache nicht richtig vorbereitet hat. Gibt es Nachrichten von meiner Mutter und Lord Garrylaig? Oder von Mrs Brookes? Ich nehme an, sie stecken im Verkehr fest, was?«

»Entschuldigung, Mrs Emerson«, erwiderte Jane ruhig, »aber Sie warten noch nicht stundenlang, sondern zwanzig Minuten. Falls es Sie ein wenig beruhigt: Mr Winterbourne telefoniert mit New York. Er wird sicher gleich kommen. Und in der Tat wollte ich Ihnen soeben mitteilen, dass Mrs Brookes aus ihrem Wagen angerufen hat: Sie steckt am Themse-Ufer fest. Von Ihrer Mutter habe ich nichts gehört, tut mir leid, aber da dürfte es sich ähnlich verhalten. Und jetzt hole ich Ihnen erst einmal Ihren Drink. Nimmt Lady Morell auch einen Sherry, was meinen Sie? Und Miss North?«

»Was die beiden wünschen, kann ich Ihnen unmöglich sagen«, antwortete Roz kühl. »Ich schlage vor, Sie fragen sie selbst. Lady Morell nimmt alles, was sie kriegen kann, würde ich behaupten. So kennt man sie jedenfalls.«

C. J. warf ihr einen nervösen Blick zu. Roz trug ein schwarzes Kreppkleid von Jean Muir, das ihren schlanken Körper umschmeichelte; ihre langen Beine steckten in schwarzen Seidenstrümpfen. Sie trug keinerlei Schmuck, und ihr schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten, ein dramatischer, fast strenger Anblick. Schön war Roz nicht und hübsch erst recht nicht, sehr zu ihrem Leidwesen, und doch war sie eine überwältigende Erscheinung. Die Leute drehten sich nach ihr um, mit ihrer weißen Haut, den tiefgrünen Augen, dem vollen Mund und der geraden, ziemlich großen Nase. Die Männer mochten Roz: Sie war witzig, direkt und scharfsinnig. Und äußerst sexy.

»Roz«, sagte C. J., der viel Lebenszeit darauf verschwendete, sich zu wünschen, sie möge weniger direkt sein – während er von ihrem Witz und Sexappeal kaum profitierte. »Bitte sag jetzt nicht lauter Dinge, die wir später bereuen könnten.«

»C. J.«, erklärte Roz mit grausamer Ruhe, »ich sage, was ich will, und habe keinerlei Absicht, irgendetwas zu bereuen. Der Anblick, wie Phaedria wie eine tragische Königin dahockt, ist für mich nur schwer erträglich. Es liegt doch auf der Hand, dass sie nun bekommt, was sie wollte, als sie meinen Vater geheiratet hat. Meine einzige Hoffnung besteht darin, dass sie ein paar unangenehme Überraschungen erleidet, wenn das Testament verlesen wird. Sicher wird sie nicht obdach- und mittellos dastehen – leider, wenn man mich fragt –, aber vielleicht bekommt sie nicht ganz so viel, wie sie es offenkundig erwartet. Was Camilla North betrifft, kann ich nicht wirklich … O Jane, wie reizend, aber Sherry kann ich absolut nicht ausstehen. Haben Sie denn nichts anderes?«

»Nein, tut mir leid«, sagte Jane, der eine gewisse Verärgerung nun doch anzuhören war. »Wir führen ja keine Bar. Ich kann Ihnen natürlich noch einen Kaffee bringen.«

»Ach, vergessen Sie es einfach.« Roz wandte sich ab.

»Ich nehme den Sherry, Jane«, sagte C. J. schnell und verkniff sich die Frage, ob sie nicht zufällig doch einen Bourbon habe. »Das ist sehr nett von Ihnen. Soll ich die anderen fragen, was sie gern hätten? Dann müssen Sie sich nicht die Mühe machen.«

»Ja, vielen Dank, Mr Emerson«, antwortete Jane Gould, »das wäre sehr freundlich. Ich werde inzwischen schauen, ob ich Mr Winterbourne etwas zur Eile antreiben kann.«

C. J. kehrte in den Besprechungsraum zurück und ging zum Kamin. »Phaedria, darf ich dir etwas zu trinken besorgen? Einen Sherry vielleicht?«

Phaedria Morell sah zu ihm auf und lächelte. »Das ist lieb von dir, C. J., aber ich hätte lieber etwas Heißes. Einen Kaffee oder so. Und C. J., könntest du Jane vielleicht fragen, ob sie einen Heizlüfter bringen könnte? Es ist eiskalt hier.«

C. J. blickte sie erstaunt an. Die Temperatur im Raum dürfte bei fünfundzwanzig Grad liegen. Er selbst hatte gerade sein Jackett ausgezogen und schwitzte nun in seinem Brooks-Brothers-Hemd vor sich hin. Phaedria hingegen hatte sich in ihren sandfarbenen Mantel gewickelt und die Hände in den Taschen vergraben. Offenbar stand sie unter Schock.

»Das kann ich natürlich tun, wenn du es wünschst«, sagte er, »aber der Kamin müsste dich wunderbar wärmen. Vielleicht solltest du es erst mit einem Kaffee versuchen.«

Phaedria blickte überrascht in die Flammen, die in dem künstlichen Gaskamin zuckten. »Oje, ich habe gar nicht gemerkt, dass er brennt. Keine Sorge, C. J., der Kaffee wird schon helfen. Ach so, wissen wir eigentlich, wieso das alles so lange dauert? Wir sitzen ja schon Ewigkeiten hier. Und wo sind die anderen?«

»Genau wissen wir es nicht«, antwortete C. J. vorsichtig, »aber Henry telefoniert offenbar mit den Vereinigten Staaten. Und Susan – und Eliza und Peveril vermutlich auch – steckt im Verkehr fest. Wenn der Kaffee nicht hilft, dann sag Bescheid, ja? Camilla, was hättest du gern?«

Camilla North blickte langsam von ihrer Zeitschrift auf, schüttelte ihr schweres kupferrotes Haar zurück und wischte sich verächtlich ein Stäubchen von ihrem cremefarbenen Seidenkleid. Sie war eine makellose, kühle, herrische Erscheinung; sollte es sie auch nur im Geringsten tangieren, dass sie soeben erst mit dem Flugzeug aus New York gekommen war und nun auf einen Großteil der Familie Morell stieß, einschließlich der Witwe ihres Liebhabers, so zeigte sie es zumindest nicht. Sie schien sorgfältig über C. J.s Frage nachzudenken.

»Ich hätte gern ein Mineralwasser, C. J., wenn das nicht zu große Umstände bereitet. Aber ein stilles, kein sprudelndes.«

»Gut«, sagte C. J. »Mit Eis?«

Camilla starrte ihn verblüfft an. »Nein danke. Kein Eis. Nicht in Wasser.« Es klang so, als halte sie Eis in Zusammenhang mit Wasser für einen ähnlichen Fehlgriff wie Bratensoße oder Rübensirup. »Tatsächlich möchte ich, wenn es nicht Raumtemperatur hat, gar kein Wasser, C. J.«

»Warum denn nicht?«, fragte Phaedria neugierig. Es waren die ersten Worte, die sie an Camilla richtete.

»Nun«, antwortete Camilla todernst, »eiskalte Flüssigkeiten sind schlecht für die Verdauung. Der Organismus entwickelt dann eine Tendenz zu Blasenleiden. Das sagt jedenfalls mein Yogalehrer.«

»Ach herrje«, sagte Phaedria, »wie bedauerlich. Und stilles Wasser kann ich auch nicht leiden.«

C. J. zog sich zurück, um sich nach den Wünschen der anderen zu erkundigen. »Letitia«, sagte er, als er eine Gruppe großer Ledersessel am Ende des großen Mahagonitischs erreicht hatte, »hättest du gern einen Sherry?«

Letitia Morell, Roz’ Großmutter und eines der wenigen Familienmitglieder, denen gegenüber C. J. kein Unbehagen verspürte, las ebenfalls in einer Zeitschrift, dem Tatler. Gebannt studierte sie die Gesellschaftsseiten, ihr Blick huschte zwischen den Bildunterschriften und den Fotos hin und her. »Schau mal, Roz’ Schuldfreundin Rosie Howard Johnson. Hast du Rosie je kennengelernt, C. J.?«

»Nein«, antwortete C. J., »ich glaube nicht.«

»Sie hat geheiratet. Lord Pulgrave. Ich habe sie immer gemocht. Und was für ein herrliches Kleid! Wo ist Roz eigentlich? Das muss ich ihr zeigen.«

»Oh, ich glaube, sie ist auf der Toilette.«

»Ah, egal. Ja, bitte, C. J., ein Drink wäre wunderbar. Aber kein Sherry. Ich hasse Sherry, vor allem morgens. Für mich hat er etwas Ordinäres. Champagner hat Henry nicht, nehme ich an?«

»Wohl kaum«, erwiderte C. J. »Jane hat gesagt, es gibt nur Sherry. Tut mir leid, Letitia. Soll ich losgehen und schauen, ob ich irgendwo Champagner für dich bekomme?«

»Du liebe Güte, nein. Das ist ganz reizend von dir, aber ich würde nicht im Traum auf die Idee kommen, so etwas von dir zu verlangen«, sagte Letitia. »Ich nehme den Sherry, das ist besser als nichts. Ach, mein Lieber, seit Julians Tod trinke ich zu viel. Anders halte ich das meistens nicht aus.«

C. J. bedachte sie mit einem liebevollen Blick. Sie war bereits siebenundachtzig, aber bis zum Tod ihres Sohns vor drei Wochen hatte man ihr das kaum angesehen. Plötzlich wirkte sie kleiner und zerbrechlicher, sogar ein bisschen zittrig. Heute trug sie allerdings ein leuchtend rotes Kostüm (von Chanel, dachte C. J., der sich in diesen Dingen gut auskannte), dazu schlichte schwarze Seidenstrümpfe an ihren immer noch wohlgeformten Beinen und flache schwarze Schuhe. Ihr schneeweißes Haar war tadellos frisiert, und ihre fast violetten Augen funkelten. Sie war die Tapferkeit in Person, dachte er und schenkte ihr ein bewunderndes Lächeln.

»Gut«, sagte er, »dann spendiere ich dir beim Lunch einen Champagner, in Ordnung?«

»Natürlich. Danke, mein Lieber. Oh, wie schön, da ist ja Eliza. Und Peveril. Gott sei Dank! Such Roz, C. J., und sag ihr, dass ihre Mutter gekommen ist. Dann beruhigt sie sich vielleicht ein bisschen.« C. J. hielt das nicht für wahrscheinlich, machte sich aber trotzdem auf die Suche nach Roz. Letitia klopfte auf die Sessel zu ihren beiden Seiten und strahlte die beiden Neuankömmlinge an, die von Jane Gould sanft in den Raum geschoben wurden. »Kommt herein, ihr beiden, und setzt euch zu mir. Gerade habe ich C. J. erzählt, dass Rosie Howard Johnson geheiratet hat. Wart ihr bei der Hochzeit?«

Eliza, Countess of Garrylaig, eilte durch den Raum auf sie zu und küsste sie. »Hallo, Letitia, Darling, wie geht es dir? Die Fahrt vom Claridge’s hierher war absolut grauenhaft, nicht wahr, Peveril? Sie hat uns fast so viel Zeit gekostet wie die gesamte Anreise von Schottland. Vierzig Minuten ging fast gar nichts mehr. Nein, nein, wir waren nicht bei Rosies Hochzeit. Peveril hasst Hochzeiten, nicht wahr, Darling?«

Peveril, der neunte Earl of Garrylaig, deutete eine Verbeugung in Letitias Richtung an und ließ sich dankbar in den Sessel neben ihr fallen.

»Guten Morgen, Letitia. O Gott, wie ich London hasse! Was für ein grauenhafter Morgen … Nein, ich bin kein Freund von Hochzeiten. Im Gottesdienst muss ich immer weinen, und die Empfänge hinterher treiben mir ebenfalls die Tränen in die Augen, dann vor Langeweile. Man spart sich eine Menge Taschentücher, wenn man einfach fernbleibt.«

Mit einem strahlenden Lächeln tätschelte er ihre Hand. Er war groß, weißhaarig, auf eine höfliche Weise charmant und überaus zurückhaltend; lebendig wurde er nur, wenn er einem Tier nachstellte, einem Fisch oder einem Vogel – oder seiner Ehefrau, wie Letitia annahm. Wie immer war er in altmodischen Tweed gekleidet und wirkte unter den Anwesenden wie ein weiser alter Bussard, der sich für einen Moment zwischen nutzlosen Paradiesvögeln niedergelassen hat. Warum genau die umwerfende Eliza, damals Vicomtesse du Chêne, zuvor Mrs Peter Thetford und noch davor Mrs Julian Morell, ihn vor wenigen Jahren geheiratet hatte, wussten vermutlich nur sie selbst und Letitia, auch wenn Letztere es immer noch nicht ganz nachvollziehen konnte. Peveril entstammte eher ihrer eigenen Generation, und Eliza und er hatten absolut nichts gemeinsam. Andererseits hatte Eliza immer schon eine Vorliebe für ältere Männer gehabt und besaß die Gabe, sie zu becircen, angefangen mit Julian Morell vor so langer Zeit. Und es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie Peveril sehr zugetan war und ihn außerordentlich glücklich machte. Letitia schenkte beiden ein Lächeln.

»Leider ist nur Sherry im Angebot, aber wenn man stundenlang im Verkehr gesteckt hat, ist das vielleicht besser als nichts. Oder hättet ihr lieber einen Kaffee?«

»Lieber einen Kaffee«, sagte Eliza. »Ich hasse Sherry. Was ist mit dir, Peveril, Liebling?«

»Was? O Gott, nein, keinen Kaffee, danke. Schreckliches Gebräu. Ich nehme einfach ein Glas Wasser, wenn das möglich wäre.«

»Das ist sicher möglich«, sagte Letitia. »Ich werde Jane fragen.«

Peveril sah sich im Raum um, dann blieb sein Blick an Phaedria hängen. Seine Augen leuchteten auf, und er ging zu ihr.

»Guten Morgen, Phaedria, meine Liebe. Wie geht es dir?«

Phaedria schaute auf und lächelte ebenfalls. »Mir geht es gut, Peveril, danke. Wie schön, dich zu sehen! Und dich auch, Eliza. Tut mir leid, dass ihr eine so schreckliche Fahrt hattet.«

Peveril musterte sie eingehend. »Du siehst gar nicht gut aus, meine Liebe, wenn ich mir das erlauben darf. Fast ein wenig kränklich.«

»O Peveril, sei nicht so taktlos«, sagte Eliza. »Natürlich sieht sie schlecht aus, der arme Engel.« Sie ging zum Kamin hinüber und gab Phaedria einen Kuss. »Wie schön, dich zu sehen! Warum kommst du nicht für eine Weile zu uns zu Besuch? Das würde dir sicher guttun.«

»Das mache ich bestimmt.« Phaedria gab sich sichtlich Mühe, begeistert zu klingen. »Aber nicht gerade jetzt. Danke trotzdem«, fügte sie pflichtschuldig hinzu.

Eliza tätschelte ihre Hand. »Natürlich, sobald du bereit bist. Ah«, sagte sie dann, und über ihre muntere Stimme legte sich eine dicke Eisschicht. »Camilla. Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Eliza.« Camilla erwiderte ihr Lächeln stoisch. »Wie geht es dir?«

»Ausgesprochen gut, danke. Ich glaube nicht, Camilla, dass du meinem Ehemann schon begegnet bist, oder?«

»Nein, ich denke nicht.« Camillas Lächeln wurde noch liebenswürdiger. In Anbetracht von Peverils Alter erhob sie sich. »Sehr angenehm. Camilla North.«

Vermutlich war Peveril der Einzige, dachte Letitia, der die feine Ironie dieses Tableaus nicht würdigen konnte: Julian Morells zwei Ehefrauen und seine Geliebte, mit der er die beiden betrogen hatte.

Peveril lächelte, leicht über Camillas ausgestreckte Hand gebeugt. »Ich habe viel von Ihnen gehört, meine Liebe. Sehr angenehm. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Peveril«, sagte Eliza munter. »Komm, wir wollen uns zu Letitia setzen.«

»Ich setze mich, wenn ich fertig bin, Eliza«, erwiderte Peveril bestimmt. »Ich habe heute Morgen schon viel zu viel gesessen. Nehmen Sie bitte wieder Platz, Miss North. Sie müssen müde sein. Wenn ich es recht verstanden habe, sind Sie heute Morgen erst eingeflogen. Sicher haben Sie einen Jet Jack oder wie auch immer das heißt.«

»Jetlag«, sagte Camilla freundlich. »Und nein, ich leide nicht unter einem Jetlag. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir wunderbar geht, wenn ich nur Rohkost esse und Wasser trinke.«

»Gütiger Himmel!«, sagte Peveril. »Rohkost, ernsthaft? Bitten Sie das Personal, Ihnen das Essen ungekocht zu servieren? Da sind die Ihnen vermutlich dankbar, weil Sie ihnen einige Mühen ersparen, oder?« Er schenkte ihr ein wohlwollendes Lächeln. Camilla, deren Schlagfertigkeit erstaunlicherweise versagte, erwiderte sein Lächeln.

»Eliza, darf ich dir einen Sherry bringen? Und Ihnen, Sir?«

C. J. war in den Raum zurückgekehrt und wurde ebenfalls Zeuge dieses Tableaus. Er sah Eliza nervös an, die ihm eine Kusshand zuwarf. Er hatte immer große Angst vor dem, was sie sagen oder tun könnte. Ihr Mangel an Takt war legendär. Ihre Schönheit allerdings auch, dachte er. Was für eine Schwiegermutter. Arme Roz, kein Wunder, dass sie immer ein solches Theater um ihr Äußeres veranstaltete, wo ihre Mutter und ihre Großmutter so schön waren. Eliza war neunundvierzig, todschick gekleidet und kunstvoll geschminkt, wenngleich ein wenig zu stark. Ihr silberblondes Haar war zu einem perfekten Bob geschnitten und ihr Körper noch genauso schlank und biegsam wie vor einunddreißig Jahren, als sie Julian Morell geheiratet hatte.

»Nein danke, mein Schatz. Nur einen Kaffee«, sagte Eliza. »Und ein Wasser für Peveril bitte. Und C. J., was ist eigentlich los? Ich dachte schon, wir kommen zu spät. Wo ist denn Henry? Und was macht Roz?«

C. J. fühlte sich allmählich wie ein Steward, der die Flugpassagiere auf eine Notlandung einstimmte. »Roz telefoniert mit ihrem Büro. Sie ist beunruhigt wegen einer Sitzung heute Nachmittag. Susan ist auf dem Weg. Und was mit Henry ist, weiß ich nicht, tut mir leid. Ich bin mir aber sicher, dass es keinen Anlass zur Sorge gibt.«

»Nun, das wollen wir doch hoffen.«

C. J. verließ den Raum wieder, um die gewünschten Getränke zu holen.

»Ich wünschte, Susan würde endlich kommen«, sagte Letitia. »In ihrer Gegenwart geht es mir immer gleich besser. Und Roz auch.«

»Von wo reist Susan denn an?«, erkundigte sich Eliza.

»Sie schaut sich mit Richard Häuser an. Offenbar möchte er aufs Land ziehen. Nach Wiltshire. Das halte ich für einen gewaltigen Fehler, wenn man sein Leben lang in London gelebt hat. Obwohl die Leute in Wiltshire natürlich alle furchtbar nett sind.«

»Alle, Granny Letitia?«

Das war Roz, die in diesem Moment in den Raum zurückgekehrt war. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte sie. Letitia sah sie an.

»Warum setzt du dich nicht zu mir, Schätzchen? Ja, alle. So viele der allerbesten Menschen wohnen dort.«

»Granny Letitia, du bist wirklich ein Snob.«

»Ich weiß, mein Schatz, und ich schäme mich nicht dafür. In meiner Jugend war es eine Tugend, gewisse Standards zu pflegen.«

»Verstehe.«

»Soeben hatte ich gesagt, ich wünschte, Susan würde endlich kommen«, fuhr Letitia fort.

»In der Tat. Und ich möchte auf gar keinen Fall, dass sie nach Wiltshire geht, um bei den allerbesten Menschen zu leben.«

»Da passt sie aber gut hin«, erwiderte Letitia leise. »Sie gehört entschieden zu den allerbesten Menschen. O Susan, da bist du ja! Ich hatte soeben gesagt, dass du zu den allerbesten Menschen gehörst.«

Susan Brookes war in den Raum geeilt. Lächelnd beugte sie sich zu Letitia hinab und gab ihr einen Kuss. »An deinen eigenen Standards gemessen bin ich das sicher nicht. Es überrascht mich, Letitia, dass du dich eines derartigen Sakrilegs schuldig machst. Ich bin doch nur ein Ehrenmitglied der Familie.«

»O Susan, sag das nicht«, protestierte Roz. »Komm und setz dich zu Granny Letitia. Sie ist in einer etwas kratzbürstigen Stimmung. Jemand muss einen Blick auf sie haben. Und wenn ich C. J. finde, werde ich ihn bitten, dir etwas zu trinken zu holen. Was hättest du denn gern?«

»Einen Tee bitte«, sagte Susan. »Ich habe hoffentlich nichts Wichtiges verpasst, oder? Zu essen gibt es sicher nichts, was? Ich sterbe vor Hunger.«

Roz betrachtete sie liebevoll, beugte sich dann vor und küsste sie sanft auf die Wange. Susan war eine große, dünne Frau mit glänzendem braunem Haar, das schon deutlich von Grau durchzogen war. Schön im klassischen Sinn war sie nicht, aber sie hatte ein humorvolles Gesicht, eine reine, seidige Haut und überwältigende leuchtend blaue Augen. Mittlerweile war sie Mitte sechzig und wirkte fast noch älter, weil ihr Gesicht so hager war. Aber sie hatte einen ganz eigenen Stil. Sie trug ein schlichtes dunkelblaues Wollkostüm und eine cremefarbene Seidenbluse. Der einzige Schmuck bestand in einer Perlenkette und den Perlenohrringen, ohne die sie außer Letitia niemand je gesehen hatte.

»O Susan«, sagte Roz, die sich plötzlich viel besser fühlte, »kannst du dich erinnern, dass du mal nicht vor Hunger gestorben wärst? Ich werde C. J. bitten, dir etwas zu besorgen.«

Und schon war sie wieder zur Tür hinaus. Susan und Letitia sahen ihr hinterher.

»Wie geht es ihr, was meinst du?«, erkundigte sich Susan leise.

»Wenn du mich fragst, ist sie in einem schrecklichen Zustand«, flüsterte Letitia. »Von Hass auf Phaedria zerfressen, die sie irgendwie für Julians Tod verantwortlich macht. Außerdem todunglücklich und am Boden zerstört, weil sie sich nicht von ihm verabschiedet hat. Oh, ich weiß schon, dass sie selbst schuld daran ist.«

»Arme Roz«, sagte Susan. »Arme, arme Roz. Ich kenne sie schon ihr ganzes Leben lang, aber so leid hat sie mir noch nie getan. Wie können wir ihr nur helfen?«

»Das weiß nur Gott allein.« Letitia seufzte. »Sie wird sich das Leben weiterhin schwer machen, so war sie ja immer. Phaedria tut mir allerdings auch leid. Sie sieht grauenhaft aus, das arme Kind, so mutterseelenallein. Nun, nach dem heutigen Tag geht es vielleicht wieder aufwärts, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie.«

Wie aufs Stichwort erschien Henry Winterbourne, gefolgt von Jane und C. J. Der hielt ein Tablett in der Hand und gab einen eher ungeschickten Kellner ab, als er die verschiedenen Bestellungen ablieferte.

Henry nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein, mit dem Rücken zum Fenster. »Guten Morgen«, sagte er. »Es tut mir außerordentlich leid, dass ich Sie habe warten lassen. Ein hochkomplizierter Anruf aus New York. Bitte verzeihen Sie mir.«

Er öffnete die oberste der Akten, die an seinem Platz lagen, nahm einen großen Umschlag heraus und legte ihn energisch vor sich auf den Tisch. Langsam wechselten alle ihre Plätze. Phaedria erhob sich, setzte sich mit dem Rücken zum Kamin ans andere Tischende und zog den Mantel noch enger um sich. Peveril ließ sich neben ihr nieder und schien eine Beschützerrolle einnehmen zu wollen. Einen Stuhl weiter folgte Eliza. Camilla ging um den Tisch herum und nahm direkt neben Henry Platz. Letitia und Susan unterbrachen ihr Gespräch. Roz stellte sich fast trotzig an die Tür; jede Unze ihrer bewundernswerten Energie schien auf Henrys Gesicht konzentriert.

Henry sah freundlich in die Runde, fing den Blick jeder einzelnen Person mit genau dem richtigen Maß an Trauer und Mitleid auf, lächelte gelegentlich oder setzte eine verschwörerische Miene auf. Dieser aalglatte Mistkerl, dachte C. J., der sich endlich seines Tabletts entledigt hatte und sich neben Susan setzte.

»Lady Morell, ist alles in Ordnung?«, fragte Henry unvermittelt. Alle blickten zu Phaedria; sie hatte den Kopf auf die Hände gelegt und schien einer Ohnmacht nahe.

»Phaedria, komm, ich begleite dich nach draußen«, sagte C. J.

»Nein, nein, es geht mir gut«, sagte Phaedria. »Entschuldigt. Mir ist nur ein bisschen schwindelig. Wenn ich vielleicht ein Glas Wasser bekommen könnte?«

»Ich gehe schon«, beeilte sich C. J. zu sagen, dankbar für die Ablenkung.

»C. J.«, erklärte Roz von ihrem Posten an der Tür her, »setz dich. Du bist den ganzen Morgen mit Getränken herumgerannt. Jane wird Phaedria sicher ein Glas Wasser bringen können. Jane, meine Liebe«, rief sie durch die Tür, »hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser für Lady Morell? Die Anspannung ist wohl zu viel für sie.«

Sie musterte Phaedria, als die das Wasser entgegennahm, halbherzig daran nippte, es wieder wegstellte und sich zurücklehnte, den Wasserfall ihrer dunklen Haare aus dem Gesicht schüttelnd. Sie sah tatsächlich etwas krank aus. Ihre Haut war kreidebleich, nicht von der üblichen cremefarbenen Blässe, außerdem wirkte sie noch dünner als sonst, als sei sie in sich zusammengeschrumpelt. O Gott, wie sie diese Frau hasste! Phaedria hatte so viel an sich gerissen, das eigentlich ihr gehörte. Und was würde der heutige Tag noch alles bringen? Was würde Phaedria ihr noch wegnehmen, ihr, Julian Morells Tochter, seinem einzigen Kind, der rechtmäßigen Erbin? Roz schluckte und richtete den Blick wieder auf Henrys Gesicht. Sie musste sich konzentrieren. Die Worte, die sie gleich hören würde, waren das Einzige, was jetzt zählte. Für Gedanken und Gefühle war später noch Zeit genug.

»Gut«, sagte Henry, »vielleicht sollte ich anfangen. Wie Sie alle zugeben werden, handelt es sich um eine höchst ungewöhnliche Situation. Öffentliche Verlesungen von Testamenten sind heutzutage eher eine Seltenheit, obwohl vom juristischen Standpunkt zweifellos nichts dagegenspricht. Es war Sir Julian Morells ausdrücklicher Wunsch und Wille, die Verlesung in Ihrer aller Gegenwart abzuhalten. Natürlich gibt es ein paar unbedeutende Nutznießer – Personal und so –, die nicht dazugebeten werden mussten. Also … vielleicht ist es das Beste, wenn ich das Testament einfach verlese. Falls jemand der Anwesenden Kommentare oder Fragen loswerden möchte, würde ich Sie bitten, bis zum Ende damit zu warten.«

Himmel, dachte Roz, was faselt der alte Dreckskerl da?

Henry begann zu lesen. »Ich, Julian Morell, wohnhaft in Hanover Terrace, North West London, Unternehmensdirektor, widerrufe hiermit sämtliche vorausgegangenen Testamente und testamentarischen Verfügungen …«

Es begann zäh, mit ein paar kleineren Vermächtnissen. Wie der Anfang einer Party, dachte Roz, wenn die ersten Gäste steife, gestelzte Konversation trieben. Die Atmosphäre war kühl, angespannt, unbehaglich.

Fünftausend Pfund gingen je an kleinere Bedienstete. Die Haushälterin und den Gärtner im Haus in Sussex. Die Sekretärin, die zehn Jahre lang in Julians Pariser Niederlassung eine Teilzeitstelle innehatte. Die ältere Mrs Bagnold, die länger, als sich irgendjemand erinnern konnte, die Putzkolonne in den Büroräumen in der Dover Street dirigierte.

Mrs Bagnold erbte zudem eine Reihe von »viktorianischen Aquarellen, die sie einst so bewundert hat. Nun kann sie damit anstellen, was ihr beliebt, selbst, sie sofort zu Geld zu machen, ohne Angst haben zu müssen, sich meinen Unmut zuzuziehen – wo auch immer ich sein mag«.

Phaedria schaute auf und warf, plötzlich amüsiert, Letitia einen Blick zu. Er ist immer noch geistreich, wollte sie damit sagen.

»Sarah Brownsmith, meiner geduldigen, überaus loyalen Sekretärin, hinterlasse ich zehntausend Pfund, beide frühen Hockneys und die Nutzungsrechte für mein Haus in Eleuthera auf den Bahamas für mindestens einen Monat im Jahr, zu einem Zeitpunkt, der sowohl ihr als auch meiner Ehefrau genehm sein muss. Damit verknüpfe ich die demütige Hoffnung, dass sie, wenn sie in der Sonne liegt, freundlich an mich denken und mir die vielen nervenaufreibenden, ungebührlich arbeitsamen Jahre nachsehen möge.

Dem Oberkellner des Mirabelle, dem Chefsommelier des Connaught Hotel und meinem guten Freund Peter Langan lasse ich jeweils fünftausend Pfund zukommen, weil sie mir so viele Freuden und gastronomische Genüsse beschert haben.

Mein Pferdetrainer Martin Dodsworth erhält zehntausend Pfund, meine drei Hengste und meine Zuchtstute Prince’s Flora, während an meinen Jockey Michael O’Leary fünftausend Pfund und ein einjähriges Fohlen seiner Wahl aus meinem Stall gehen. Dasselbe gilt für Tony Price, meinen Stallknecht.

Jane Gould, der Sekretärin meines Anwalts Henry Winterbourne, hinterlasse ich meinen Hispano Suiza, weil ich weiß, wie viel Freude er ihr bereiten wird, außerdem eine jährliche Zuwendung von tausend Pfund für Wartungskosten.«

Jane, die still hinten im Raum saß, strahlte begeistert. Ihr Ehemann und sie waren Mitglieder des MG Club und eingeschworene Teilnehmer des Oldtimer-Rennens von London nach Brighton. Die Anschaffung eines solchen Wagens überstieg allerdings bei Weitem die Grenze, die ihr notorischer Geiz ihnen setzte. Gereizt fragte sich Roz, an wen wohl der Rest des Fuhrparks ging. Ihr Vater hatte doch gewusst, wie sehr sie selbst seine Wagen liebte. Es wäre jammerschade, wenn die Sammlung zerschlagen und unters Volk verstreut werden würde. Wenn dies ein Vorgeschmack auf den Rest war, hatte sie jetzt schon die Nase voll.

»An meinen guten Freund Peveril, Earl of Garrylaig, gehen mein Holbein und die beiden Rembrandts, die in seiner Galerie auf Schloss Garrylaig ein würdiges Plätzchen finden dürften, außerdem die Waffensammlung meines Großvaters, die es verdient, endlich in bessere Hände zu gelangen.«

»Das ist aber aufmerksam«, murmelte Peveril, rot vor Freude.

Die Party hatte begonnen; die Atmosphäre im Raum zitterte vor Anspannung und nervöser Energie.

»Meiner ersten Frau Eliza, der Countess of Garrylaig, vermache ich in Dankbarkeit für meine Tochter Rosamund und für einige interessante, vergnügliche Jahre« – an dieser Stelle räusperte sich Henry, griff nach einem Glas Wasser und hielt einen Moment inne – »meine Glassammlung von Lalique und die Chiparus-Figuren, außerdem meine Wohnung in Sutton Place, New York. Das wird ihr zur Freude gereichen und von großem Nutzen sein.«

»Wohl wahr«, sagte Eliza.

Ein kurzes Schweigen trat ein.

»Camilla North, der ich viele Jahre in toleranter, kameradschaftlicher und kluger Gesellschaft verdanke, überlasse ich meine Wohnung in Sydney, mein Jagdpferd Rose Red und meine Sammlung von Sydney Nolans, im Gedenken an die Expertise und Freude, mit der sie den Aufbau der Sammlung begleitet hat.«

Nicht schlecht, dachte Roz, von einer irrationalen Freude gepackt. Ganz schön viel für eine Geliebte und für Phaedria ein Schlag ins Gesicht. Unwillkürlich schenkte sie Camilla ein Lächeln. Das hat sie zuvor noch nie getan, dachte Letitia, die das Lächeln gesehen hatte, und schüttelte sich bei dem Gedanken an die mutmaßlichen Beweggründe.

Camillas schönes Gesicht blieb ausdruckslos. Sie saß da, den Blick auf Henry gerichtet, die Hände im Schoß verschränkt; niemand sollte merken, dass sie sich krampfhaft auf ihre Entspannungsübungen konzentrierte. Wenn sie auch nur einen Moment damit innehielt, tief ein- und auszuatmen und stumm ihr Mantra vor sich herzusagen, lief sie Gefahr, in Tränen oder hysterisches Gelächter auszubrechen.

»Meiner lieben Freundin Susan Brookes, mit der ich so lange in diesem Unternehmen zusammengearbeitet habe und ohne die ich nicht stünde, wo ich heute stehe, vermache ich mein Haus in Nizza und die Summe von fünf Millionen Pfund steuerfrei.«

Gütiger Gott, dachte Roz. Niemand sonst wird einen solchen Betrag bekommen. Warum um Himmels willen mochte er das getan haben?

Dann merkte sie, dass Susan sie ansah, knallrot im Gesicht und die Augen verdächtig glänzend. Susan zwinkerte, und plötzlich wurde ihr klar, warum: um seiner Freundin, bei aller Freude, auch eine Last aufzubürden. Immerhin hatte Susan eine Zeit lang einem glühenden Sozialismus gefrönt. Nun musste sie sich den Kopf darüber zerbrechen, was sie mit einer solchen Summe anfangen sollte. Sie sind immer so gute Freunde gewesen, dachte Roz, so liebevolle Kontrahenten, Susan und Julian. Sie war die einzige Person, die er nie ganz in die Tasche stecken konnte, bis zum Schluss. Tja, die Labour Party und Mutter Theresa dürften sich schon freuen. Aber Roz irrte sich.

»Dieser Erbteil ist für niemand anderen bestimmt als für Mrs Brookes persönlich und darf an niemanden weitergegeben werden als an ihre Töchter; sollte das Haus in Nizza verkauft werden, geht der Erlös ebenfalls an ihre Töchter.«

O Gott, dachte Roz, was für ein cleverer alter Mistkerl. Sie schenkte Susan ein Lächeln und zwinkerte zurück. Für einen Moment ging es ihr besser.

»Meinem Schwiegersohn Christopher John Emerson vererbe ich meine Monets, meine Sammlung von Cartier-Manschettenknöpfen, die Anteile an meiner Immobiliengesellschaft in der Karibik, meine beiden Hotels auf den Seychellen und den Bahamas, die wir ohne seinen ökonomischen und ästhetischen Sachverstand nicht so erfolgreich hätten bauen können, und den Rolls-Royce Corniche von 1950, den er immer so bewundert hat. Außerdem bekommt er meinen Weinkeller, weil er ihn mit Kennerschaft und Begeisterung pflegen und hoffentlich durch weitere Flaschen adeln wird.«

Plötzlich schien es Roz, als sei ihr Vater unter ihnen, sprühend vor Charme, Esprit und Feingefühl. Sie sah förmlich, wie er sie anlächelte, sie für seine Sache zu gewinnen suchte. Sie hörte seine Stimme, sah seine elegante, trügerisch entspannte Gestalt und spürte, wie sie in das Netz ging, das er um die Personen in seiner Nähe spann. Schwer schluckend blinzelte sie gegen die Tränen an.

Phaedria saß nun sehr aufrecht, die dunklen Augen auf Henry gerichtet; endlich hatte sie auch ihren Mantel ausgezogen. Sie trug ein Kleid in einem leuchtenden Pfauenblau, leuchtender noch als das Rot von Letitias Kostüm. Aber was bei Letitia herausfordernd und mutig aussah, wirkte bei Phaedria einfach nur aufgesetzt und unangemessen.

Jetzt war Letitia an der Reihe. »Meiner Mutter, meiner besten und liebsten Freundin, überlasse ich drei Millionen Pfund steuerfrei von meinem Konto in Guernsey, die sie zur Gänze bei Harrods verschwenden kann, dann mein Hotel in Paris, eingedenk ihrer großen Liebe zu dieser Stadt, außerdem meine gesamte Oldtimer-Sammlung, mit Ausnahme des bereits erwähnten Hispano Suiza und des Rolls Corniche. Ich weiß, wie sehr sie die Wagen lieben wird. Was für eine Zierde wird sie für jedes der Modelle sein, von denen sie, wie ich hoffe, häufig Gebrauch machen wird. Sollte sie sich aus irgendeinem Grund von ihnen trennen wollen, bitte ich darum, ein nach mir benanntes Automobilmuseum zu gründen und die vollständige Sammlung dort unterzubringen. Zudem bekommt sie meine Erstausgabe des Dschungelbuchs und Sir James Holbrookes Ölgemälde von Edward, dem Prinzen von Wales, in Würdigung der bedeutenden Rolle, die sie im Leben des Prinzen gespielt hat.«

Ein langes Schweigen senkte sich herab. Susan nahm Letitias Hand, während Letitia in ihren Schoß blickte. Dann bedachte sie Henry mit einem tapferen Lächeln. »Fahren Sie fort, Henry, mein Wertester.«

Henry räusperte sich verdächtig laut. »Meiner Enkeltochter Miranda Emerson überlasse ich zwei Millionen Pfund steuerfrei von meinem Konto in Guernsey, die bis zum Erreichen ihres einundzwanzigsten Lebensjahrs von ihrer Mutter verwaltet werden sollen. Der Treuhandfonds wird von meiner Anwaltskanzlei Winterbourne & Winterbourne aufgelegt. Ferner überlasse ich ihr die Summe von einhunderttausend Pfund steuerfrei, die zur Gänze für Pferde ausgegeben werden soll, da ihr Reittalent bereits unverkennbar zutage tritt. Das Geld dient dem Unterhalt und Training der Pferde und allen mit dem Pferdesport verbundenen Aktivitäten, die Miranda zu verfolgen wünscht.«

»Wie alt ist das Kind?«, erkundigte sich Letitia leise bei Susan. »Drei? Nun, da sollte sie sich das eine oder andere Pony leisten können.«

»Ähem, wenn ich dann fortfahren dürfte. Meiner geliebten Tochter Rosamund« – Roz verkrampfte sich und schloss die Augen – »vermache ich fünf Millionen Pfund steuerfrei und alle meine Pferde im Stall von Marriotts Manor, mit Ausnahme des bereits erwähnten Rose Red.« Wie grausam, dachte Letitia, da Phaedria die Pferde doch so liebte. »Außerdem« – Henry hielt inne und sah Roz eindringlich an – »neunundvierzig Prozent der Anteile an Morell Industries.«

Ein langes, schmerzliches Schweigen senkte sich herab. Roz ballte die Fäuste und spannte die Lippen an. In keinem Fall durfte sie sich bewegen oder einen Ton von sich geben, sonst würde alles aus ihr herausplatzen. Sie würde schreien und um sich schlagen und alle mit Fäusten traktieren, Henry, Phaedria, alle. Stattdessen sah sie zu Boden. Ihre Füße schienen weit weg zu sein. Mit äußerster Kraftanstrengung schaffte sie es schließlich, Phaedria in die Augen zu schauen.

In denen spiegelten sich Nachdenklichkeit, Sorge, fast Wohlwollen. Aber auch Triumph. Ich habe gewonnen, sagte dieser Blick, und du nicht.

Henry, der verstummt war, richtete sich merklich auf und las weiter. »Meiner lieben Ehefrau, Phaedria Morell« – nur liebe Ehefrau, dachte Roz wild, und ihre Wut verflüchtigte sich für einen Moment; sie selbst war seine geliebte Tochter – »überlasse ich zwanzig Millionen Pfund steuerfrei, meine Wohnung in Hanover Terrace, Regent’s Park, London, darüber hinaus Lower Marriotts Manor in Sussex, Turtle Cove House auf der Insel Eleuthera auf den Bahamas und meine gesamte Gemäldesammlung, mit Ausnahme der bereits erwähnten beiden Stubbs, der Rembrandts, des Holbein, der Hockneys und des Sydney Nolans.«

Wieder herrschte Schweigen. Komisch, dachte Roz, wer bekommt denn das Flugzeug? Ihr Vater hatte sein Flugzeug doch so geliebt.

Henry sah sich mit unergründlicher Miene im Raum um. Etwas Herausforderndes lag in seinem Blick, etwas Amüsiertes, eine Vorahnung, eine Art Triumphgefühl. Als sein Blick über Phaedria hinwegglitt, lagen allerdings vor allem Zärtlichkeit und Sorge darin. Er nahm einen großen Schluck Wasser, räusperte sich und rutschte auf seinem Stuhl herum. Alles, dachte Roz, nur nicht fortfahren. Schließlich schaute er wieder auf das Dokument, das vor ihm auf dem Tisch lag.

»Außerdem erhält Phaedria neunundvierzig Prozent der Anteile an Morell Industries.«

Die mathematischen Konsequenzen dieses Vermächtnisses schlugen in Zeitlupe bei den Anwesenden ein. Das Schweigen wurde zäh. Phaedria war nun nicht mehr blass, sondern rot im Gesicht und spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Roz hatte eine fast soldatische Haltung angenommen. Ihre Augen funkelten in ihrem bleichen Gesicht, ihre Fäuste waren geballt. C. J. blickte besorgt zwischen Roz und Phaedria hin und her. Camilla war nicht mehr gelassen, sondern hochgradig nervös, wie ein Rennpferd am Start, das seine Energie kaum noch bändigen konnte, dachte C. J. Eliza war es schließlich, die das Schweigen brach. Sie sprang auf und ging zum Fenster, dann drehte sie sich wieder um und sah über Henrys Stuhl hinweg in den Raum, gespannte Neugierde im Gesicht.

»Fahren Sie fort«, sagte sie. »Ich denke, es kommt noch etwas.«

»In der Tat.« Henry blickte wieder auf den Tisch. »Zu guter Letzt übertrage ich die verbleibenden zwei Prozent der Anteile an Morell Industries an Miles Wilburn, in der Hoffnung und felsenfesten Überzeugung, dass er weisen Gebrauch davon machen wird. Meinen Lear Jet überlasse ich ebenfalls Miles Wilburn, da die Zukunft vielleicht größere Anforderungen an die Mobilität mit sich bringt, sowie den Rest des Vermögens. Nun bleibt mir nur übrig, euch allen Lebewohl zu sagen, in der Hoffnung, dass ihr mit der Zeit erkennt, wie weise ich alles eingerichtet habe.«

Das erste Geräusch, das die Stille durchbrach, war Elizas Lachen. Fast im selben Augenblick verlor Phaedria das Bewusstsein und glitt von ihrem Stuhl.

Wenn Roz die Ereignisse der folgenden Stunde innerlich noch einmal durchlebte, stiegen nur albtraumhaft Fragmente vor ihrem Auge auf: C. J. und Henry, die Phaedria in einen anderen Raum führten. Ihre eigenen unangemessenen Forderungen nach einem Getränk ohne Kohlensäure. Letitias Vorschlag, sie könnten doch zusammen nach draußen gehen und frische Luft schnappen, und ihre eigene gereizte Weigerung. Ihre Mutter, die Peveril, Letitia, Susan und C. J. hirnlos mit der Frage traktierte, ob sie je etwas von einem Miles Wilburn gehört hätten, und ihre noch hirnloseren Spekulationen, dass es sich um den Sohn oder Cousin oder Onkel dieses oder jenes Mannes handeln könne, den sie oder Julian gekannt hatten. Camilla, die plötzlich anbot, auf der Suche nach einem Hinweis ihre alten Adressbücher und Terminkalender durchzugehen. Henry, der wichtigtuerisch in den Raum zurückkehrte und bekannte, dass er von einem Miles Wilburn genauso wenig wusste wie alle anderen, um ihnen gleichzeitig die überraschende Tatsache zu eröffnen, dass er das Testament auch gar nicht aufgesetzt, ja, es vor Julians Tod nicht einmal zu Gesicht bekommen habe – Phaedria habe es in seinem Safe gefunden und ihm geschickt. Ihre eigene herzlos vorschnelle Verkündung der Ursache von Phaedrias Ohnmacht. Henrys Beharren darauf – was offenbar an die Adresse ihrer Mutter gerichtet war –, dass kein Sterbenswörtchen über das Testament nach außen dringen dürfe, vor allem nicht über den Teil, der die Fleet Street betraf. Der Aufbruch der Familie in aufgewühlten Grüppchen, die alle merkwürdig still waren (außer Phaedria, die trotz ihrer gläsernen Blässe von einer fast fiebrigen Aufregung gepackt war). Und zu guter Letzt der Klang ihrer eigenen Stimme, in der sich Panik und Verzweiflung hinter ihrer forsch zur Schau gestellten Munterkeit verbargen, als sie erklärte, wer auch immer dieser Mr Wilburn sei, sie würde ihn für den Rest ihres Lebens hassen.

»Miles«, sagte das Mädchen aus den Tiefen des Bettes, »du musst aufstehen. Es ist fast sieben, und du hast heute Morgen dieses Treffen mit deinem Onkel. Du weißt doch, wie wichtig das ist. Miles, bitte wach auf.«

Miles streckte mit geschlossenen Augen die Hand aus, fuhr die Linien ihrer Brüste nach, ließ die Hand zu ihrem Unterleib gleiten und einen Moment lang zärtlich auf ihrem Schamhaar liegen. Dann erforschten die Finger sanft, aber zielsicher die geheimsten Winkel.

»Miles, bitte.«

»Du musst mich doch nicht erst bitten«, lächelte er. Und für eine Weile war alles vergessen, die Schulden, die Prozesse, die Falle, die bald zuschnappen würde, und er verlor sich in einem Gewirr von Haut und Haaren, Lust und Begehren.

KAPITEL 1

Wiltshire, Frankreich, London 1939-1948

Julian Morells Feinde pflegten zu behaupten, dass schwer zu sagen war, wen er mehr liebte, seine Mutter oder sich selbst. Und in der Tat, niemand, der die beiden an diesem Abend im Herbst 1952 im Ritz speisen sah, würde jemals vergessen, wie Julian abwechselnd seiner Mutter und dem Spiegel hinter ihr zärtliche Blicke zuwarf.

Sie sahen sich durchaus ähnlich; beide hatten dunkle Haare und waren groß und schlank. Julian hatte allerdings braune Augen und ein längliches, hageres Gesicht. Letitia hingegen hatte dunkelblaue, fast violette Augen, hohe Wangenknochen und einen leicht kantigen Kiefer, was ihr auch in fünfzig Jahren noch ein gutes Aussehen bescheren würde. Ihr Mund entsprach dem Schönheitsideal der Zwanziger- und Dreißigerjahre: perfekt geschwungen und weder zu voll noch zu schmal. Ihre Nase war klassisch gerade. Aber das Bemerkenswerteste an ihr war ihre Haut. Sie bot nicht nur Anlass zu vielfacher Bewunderung, sondern stellte eine wissenschaftliche Unmöglichkeit dar, so weich, elastisch und nahezu faltenlos war sie.

Alles andere an Letitias außergewöhnlicher Schönheit könnte man mit Faceliftings zu erklären versuchen, mit kunstvollen Make-ups und der permanenten Aufmerksamkeit der besten Kosmetikchemiker des Landes. Trotzdem blieb festzuhalten, dass Miss Arden und Madame Rubinstein, die sich derselben Privilegien erfreuten, bei Weitem nicht so jung aussahen wie sie.

Julian wiederum würde man eher für älter halten als zweiunddreißig. Er hatte dieses Aussehen, das sich bei manchen Menschen mit Mitte zwanzig im Gesicht festsetzt, um es für die nächsten dreißig Jahre nicht mehr zu verlassen. Seine Schönheit war eher konventioneller Natur. Von seiner Mutter hatte er die gerade Nase und den stark konturierten Mund. Seine Augen waren allerdings sehr dunkel. Es waren bemerkenswerte Augen, meist ausdruckslos, aber durchaus in der Lage zu funkeln, wenn er sich amüsierte oder jemanden umgarnte oder nervös machen wollte, vor allem Frauen. Dann wirkten sie frech, herausfordernd, belustigt, durchtrieben. Man konnte ihn kaum anschauen, ohne sich auf angenehme oder unangenehme Weise bedrängt zu fühlen. Seine Haare waren ein wenig länger, als es der gegenwärtigen Mode entsprach, und seine Kleidung zeichnete sich durch große Sorgfalt und ein sicheres Stilgefühl aus. Der schöne, offenkundig maßgeschneiderte dunkelgraue Anzug hatte ein breiteres Revers und eine etwas längere Jacke, die am Rücken auch etwas lockerer saß, als es vom klassischen Stil seines Schneiders zu erwarten gewesen wäre. Das Hemd wiederum war nicht cremeweiß, sondern blassblau und die rote Krawatte mit einem Windsorknoten gebunden. Seine maßgefertigten Schuhe waren weicher und leichter als die meisten, die an den Füßen unter den Tischen im Raum steckten. Am Handgelenk trug er eine klassische goldene Cartier-Uhr mit einem schwarzen Lederarmband. Am kleinen Finger der Linken steckte ein schwerer goldener Siegelring. Obwohl er selbst nicht rauchte, führte er immer ein goldenes Zigarettenetui mit sich, gefüllt mit den ovalen Passing Clouds, die man unter den Vornehmen der Fünfzigerjahre so liebte, und einem goldenen Dunhill-Feuerzeug. Das Etui lag nun zwischen ihnen auf dem Tisch. Letitia, die in den Zwanzigerjahren jung gewesen war (und es einmal zu Berühmtheit gebracht hatte, weil sie mit dem Prince of Wales im Glass Slipper Nightclub Charleston getanzt hatte) und in der Zigarette das Symbol für Emanzipation und Raffinesse sah, rauchte immer noch gelegentlich, mit einer langen schwarzen Zigarettenspitze. Die steckte auch jetzt zwischen ihren Lippen, während sie die Speisekarte studierte. Als Julian ihr Feuer gab, legte sie die Hand um seine und schenkte ihm durch die Rauchwolke hinweg ein Lächeln. Zweifellos sahen sie nicht wie Mutter und Sohn aus, sondern wie ein wunderschönes Paar, das sich königlich amüsierte und durchaus ein intensives Interesse aneinander ausstrahlte.

»Mutter«, sagte Julian zärtlich, »du siehst umwerfend aus. Wie lange hast du heute Abend mit Adam Sarsted verbracht?«

»Oje, mein Schatz, Stunden.« Letitia tätschelte erfreut seine Wange. »Heute wollte er mir eine neue Grundierung vorstellen, und sie ist wirklich exzellent. Die Erläuterung ihrer Vorzüge hat allerdings doppelt so lange gedauert wie das Auftragen selbst.«

»Er ist eben ein Einzelkämpfer«, erwiderte Julian, »da muss er gelegentlich über seine Produkte reden. Mir gegenüber hat er die Grundierung auch schon erwähnt. Es freut mich, dass sie dir gefällt. Er ist ein guter Mann und die gewaltigen Summen, die ich ihm zahle, absolut wert. Meinst du nicht auch?«

»Sicher«, sagte Letitia nachdenklich. »Aber wie ich dir schon ein paarmal gesagt habe: Die besten Kosmetikchemiker sitzen in New York. Du solltest wirklich darüber nachdenken, dir drüben Leute zu suchen. Wenn du das nächste Mal hinfährst, komme ich vielleicht mit und rede mit dem einen oder anderen – wenn du es nicht tust.«

»Vielleicht tu ich es ja. Falls ich mal hinfahre«, sagte Julian. »Und es wäre mir ein großes Vergnügen, dich mitzunehmen. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass man einen Besseren als Sarsted findet. Der Mann ist ein Genie.«

»Ein Genie wohl kaum«, erwiderte Letitia. »Er ist ein guter Chemiker, aber es mangelt ihm an Kreativität und Ideen.«

»Mutter, wir haben genug Ideen, um ein Dutzend Unternehmen damit zu füttern. Lass diese Unkerei. Was würdest du gern trinken?«

»Einen Gin and French.«

Sie sah über die Schulter in den Spiegel hinter sich und schenkte ihrem Abbild ein Lächeln. Das weiße, von der Schulter an plissierte Kreppkleid mündete in einer schmalen, mit einem Kummerbund aus hellem Wildleder eingefassten Taille. Ihr dunkles Haar war zurückgekämmt. Um den Hals trug sie die berühmte dreireihige Perlenkette der Morells, die sie von ihrer Schwiegermutter zur Hochzeit bekommen hatte, während die Ohrgehänge aus falschen Perlen und Diamanten ihrer dezenten Erscheinung Stil und Witz verliehen.

»Wo um Himmels willen hast du denn diese Weihnachtsbäume her?«, fragte Julian und berührte einen der Ohrringe. »So etwas habe ich im Leben noch nicht gesehen.«

»Da bin ich aber froh. Die habe ich aus der Dior-Boutique in Paris, ein himmlischer Laden mit lauter wundervollen Dingen. Falls du mal ein amüsantes Geschenk für jemanden brauchst, solltest du den aufsuchen.«

»Ich werde es beherzigen, danke«, sagte Julian. »Aber du musst mich gar nicht so hoffnungsvoll anschauen, Mutter. Du wirst von mir nicht erfahren, ob es da jemanden gibt, für den ich ein amüsantes Geschenk gebrauchen könnte. Und jetzt verrat mir einfach, was du essen möchtest.«

»Ich schaue dich nicht hoffnungsvoll an«, sagte Letitia, »im Gegenteil. Für mich ist es bedeutend entspannter, wenn du nicht verliebt bist. Andererseits wäre es natürlich an der Zeit, das ist alles, was ich dachte. Wachteleier vielleicht. Und den Steinbutt. Herrlich. Mit viel Kartoffeln und Spinat. Um mich für morgen zu stärken.«

»Was hast du denn morgen vor?«

»Mich mit den Buchhaltern treffen.«

»Es gibt doch keine Probleme, oder?«, fragte Julian scharf.

»Nein, natürlich nicht. Reg dich nicht gleich auf. In Geldfragen bist du das alte Weib, nicht ich. Es ist nur so, dass ich den neuen Mann nicht mag. Man wird das Investitionsbudget hinterfragen, das weiß ich.«

»Bist du denn sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind? Sollten wir nicht noch einmal darüber sprechen?«

»Absolut. Und nein, sollten wir nicht. Das haben wir doch schon zur Genüge diskutiert. Wir brauchen die neue Fabrik, und wir brauchen moderne Abfüllanlagen. Mach dir keine Sorgen, ich komme mit denen schon zurecht. Das ist mein Terrain. Bleib du bei deinen Konzepten.«

»Behandele mich nicht wie ein Kleinkind, Mutter.« Der unbekümmerte Blick war verschwunden. Seine Augen verfinsterten sich, und er strich sich ungeduldig das Haar aus der Stirn. Das war eine Geste, die seine Vorstandskollegen und seine Geliebten schnell zu fürchten lernten. Sie bedeutete Ärger, zumal er stets seinen Willen bekam. »Möchtest du noch etwas trinken?«

»Ja, bitte. Ich behandele dich nicht wie ein Kind. Das Geheimnis des Erfolgs, das erzählst du ja selbst überall herum, besteht darin, seine eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen. Ich kenne mich mit Zahlen aus, du mit Strategien. Andererseits …«

»Ja?«

»Das bringt mich wieder auf den Chemiker. Julian, du brauchst wirklich einen besseren als Sarsted. Die wirklich guten Kosmetikchemiker sind nicht nur Wissenschaftler, sondern Künstler. Sie starren nicht einfach auf ihre Formeln und mischen dann alles zusammen. Sie schauen auf die Formeln und träumen. Oder sie träumen und schauen dann erst auf Formeln.«

»Wo hapert es denn, Mutter?«, fragte Julian und strich sich erneut das Haar aus der Stirn. Mit der anderen Hand zerbröselte er ein Brötchen und schob die Krümel auf dem Teller hin und her. »Sag’s mir. In meinen Augen stehen wir glänzend da. Arden und Rubinstein zittern bereits vor uns. Gestern habe ich mit Norman Parkinson zu Mittag gespeist. Er sagte, jedes Model, mit dem er in den letzten drei Monaten zusammengearbeitet habe, schwöre auf unser Juliana-Make-up. Erst letzte Woche hat mir Audrey Withers erzählt, dass sie es in den Vogue-Studios immer bereithalten. Und mit der Produktion von Je kommen wir gar nicht hinterher. Ich sehe also keinen Anlass für Kritik.«

»Julian, beruhige dich«, sagte Letitia. »Das richtet sich doch nicht gegen dich. Ich will nur sagen, dass wir mit einem wahrhaft inspirierten Chemiker vielleicht besser fahren würden.«

»Und ich behaupte, dass wir hinreichend inspiriert sind«, sagte Julian. »Mehr Kreativität würde ich mir im Unternehmen gar nicht wünschen.«

»Klar«, sagte Letitia, »weil es Konkurrenz für dich wäre. Und jetzt iss weiter. Vielleicht wird es Zeit, dass du dich nach einer neuen Freundin umschaust. Oder vielleicht sogar« – sie sah ihn nachdenklich an – »einer Ehefrau. Mit zweiunddreißig sollte man kein Junggeselle mehr sein.«

Letitia hatte Julian immer auf eine wenig mütterliche Weise geliebt, und das war beiden stets bewusst. Sein älterer Bruder James kam ganz nach seinem Vater: ernst, ruhig, mit blauen Augen, hellen Haaren und vor allem fasziniert von der Landwirtschaft. Vom selben Moment an, da er laufen gelernt hatte, trottete er in Gummistiefeln hinter dem Stallknecht her, stand jeden Morgen bei Sonnenaufgang mit seinem Vater auf und führte, kaum dass er schreiben konnte, über Milcherträge und Viehpreise Buch.

Julian, drei Jahre jünger, war das genaue Gegenteil: dunkle Haare und dunkle Augen, lesewütig und gesellig (mit fünf hängte er bereits Einladungen zu Festen an die Kinderzimmerwand und zählte die Tage bis zu dem Ereignis). Am Bauernhof zeigte er bestenfalls höfliches Interesse. Eher fand man ihn mit einem Buch im Salon oder vor dem Radio oder im Gespräch mit jemandem, der ihm bereitwillig zuhörte. In der Scheune oder den Ställen ließ er sich nie blicken, obwohl er seine Ponystute leidenschaftlich liebte und gut reiten konnte, wenn auch etwas angeberisch. »Wie ein Mädchen«, befand James verächtlich. Tatsächlich hätte er eher eine Schauveranstaltung gewonnen als die Reitspiele der Kinder oder ein Hindernisrennen. Schon als kleiner Junge war er klug, geistesgegenwärtig und urkomisch; immer hatte er amüsante Beobachtungen und scharfe Kommentare parat. Seine Mutter und er wurden schnell Gefährten und Vertraute. Sein Vater Edward hingegen, ein freundlicher, gutherziger und absolut konventioneller Mann, vergötterte James und hatte große Schwierigkeiten, Julian zu begreifen.

Der Unterschied zwischen den beiden Jungen bot erheblichen Anlass für Gerüchte in Wiltshire. Und niemand begriff, wie ein so netter, geradliniger Mann wie Edward Morell jemanden hatte heiraten können, der so wenig an die Seite eines Bauern passte wie Letitia Farnworth. Aber da war sie nun einmal. Knallrot vor Stolz hatte er sie seinen Eltern vorgestellt, im Jahr 1915, nachdem er sie in London auf einer Party kennengelernt hatte, und ein Jahr später waren sie verheiratet.

Der Grund dafür war schlicht und einfach, dass Edward sich unsterblich verliebt hatte, und daran sollte sich bis zu seinem Tod auch nichts ändern. Das eigentliche Rätsel bestand darin, wie klügere Zeitgenossen scharfsinnig erkannten, warum Letitia einen solchen Mann geheiratet hatte, schön, funkelnd und geistreich, wie sie war. An Julians einundzwanzigstem Geburtstag, im Jahr 1941, in dem sie trotz der Umstände eine außerordentlich gelungene Geburtstagparty für ihn organisierte, begann sie: »Nun bist du alt genug, um die Wahrheit zu erfahren, zumal ich nicht möchte, dass du von irgendjemandem eine entstellte Version zu hören bekommst.« Sie war mal mit einem jungen Gardeoffizier verlobt und sehr in ihn verliebt gewesen, Harry Whigham, der dann nach Frankreich gegangen und in tausend Stücke gerissen worden war, ehe ihn auch nur ihr erster Brief hatte erreichen können. Angesichts dieser Tragödie und der fast ebenso grausamen Tatsache, dass fast jedem jungen Briten dasselbe Schicksal blühte, wurde sie mit ihren siebzehn Jahren von einer geradezu panischen Angst gepackt, als alte Jungfer zu sterben. Daher suchte sie Rettung bei Edward Morell. Als Bauer würde man ihn nicht nach Frankreich abberufen, außerdem sah er gut aus, war freundlich und verfügte über ein bescheidenes Vermögen. Immer noch in Schockstarre wegen Harry Whighams Tod, nahm sie nur drei Monate später Edwards Heiratsantrag an. Wieder zwei Monate später waren sie bereits verheiratet, da in Kriegszeiten alle Konventionen außer Kraft gesetzt waren, und erst nach James’ Geburt begriff sie, was sie da getan hatte.

»Aber, Julian, mein Schatz«, sie hob ihr Champagnerglas in seine Richtung, »du darfst jetzt nicht denken, dass wir eine schlechte Ehe führten. Ich habe Edward, deinen Vater, sehr glücklich gemacht. Er hat nicht eine Sekunde lang daran zweifeln müssen, dass er die große Liebe meines Lebens war, und ich war es für ihn sowieso.«

Diese Worte entsprangen keinem Dünkel, sondern schlichter Überzeugung. Julian beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.

»Mag sein«, sagte er, »aber was ist mit dir? Warst du glücklich? Das klingt ja wie die Hölle.«

»Überhaupt nicht«, sagte Letitia unbekümmert. »Ich bin nicht der Typ, der durch die Hölle geht, das dürfte niemand besser wissen als du. So sind wir beide nun mal, mein Engel. Ich habe das Beste daraus gemacht und war absolut glücklich damit. Es gab ja dich und natürlich James, und Edward war der reizendste Mann der Welt. Das einzig Traurige war der Tod deiner kleinen Schwestern, aber darüber weißt du ja bereits alles. Obwohl du damals erst zwei warst, warst du mir ein großer Trost. Und jetzt lass uns tanzen, sonst werden wir noch ganz rührselig. Und dann sollten wir besser … O verdammt, die Sirenen. Sollen wir in den Luftschutzraum gehen oder lieber tanzen?«

»Ich würde lieber tanzen«, sagte Julian widerstrebend, da er am liebsten über den Tod der kleinen Zwillinge gesprochen hätte, aber Fragen zu diesem Thema wurden stets im Keim erstickt, »und zwar mit der mutigsten und schönsten Frau im Raum.«

Edward Morell war 1939 gestorben. Für die Dauer des Kriegs kümmerte sich James um den Hof, während sich Julian zum Kriegsdienst meldete und in zwei deprimierenden, ausschließlich in England verbrachten Jahren zum Captain aufstieg. Schließlich gelang es ihm mithilfe eines Cousins von Letitia, einem Colonel und Geheimdienstmitarbeiter, und seiner eigenen größenwahnsinnigen Hartnäckigkeit, beim SOE vorstellig zu werden, einer Spezialeinheit, die den britischen Zweig der Résistance organisierte.

Julian hatte ein ungewöhnliches Sprachtalent, war ein brillanter Funker und strotzte vor Selbstbewusstsein. Er wurde zur Vorauswahl für die F-Sektion zugelassen und bestand die Prüfung mit Bravour. Nun ging er nach Schottland, wo er so unterschiedliche Fähigkeiten erwarb, wie in der freien Natur zu überleben, mit Sprengstoff umzugehen, bei einer Geschwindigkeit von vierzig Meilen aus dem Zug zu springen und auf die unterschiedlichsten Weisen zu töten.

Schließlich wurde Julian in eine Einrichtung im New Forest geschickt, wo ihm konventionellere Spionagetechniken beigebracht wurden: Verschlüsselungstechniken, der Gebrauch unsichtbarer Tinten und die Fähigkeit, bei Verhören wie ein Grab zu schweigen.

Natürlich war er einer der Jüngsten. Da man ihn deswegen auf dem Kieker hatte, versagte er nie und tat nie etwas, das auch nur entfernt nahelegte, er werde den an ihn gestellten Erwartungen nicht gerecht. Er war erst zweiundzwanzig, als er schließlich nach Frankreich geschickt wurde.

Seine Aufgabe bestand darin, Informationen über die Gegend von Chartres zu beschaffen – Bus- und Zugstrecken, Fahrpläne, Briefmarkenwerte, Regelungen für die Ausgangssperren – und diese per Funk an die SOE