Der glücklose Therapeut - Noam Shpancer - E-Book

Der glücklose Therapeut E-Book

Noam Shpancer

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Beschreibung

Auch Therapeuten können irren – der neue Roman von Noam Shpancer

Zu David Winter kommen Menschen, die in ihrem Leben in eine Sackgasse geraten sind. Sie erhoffen sich von dem Therapeuten, dass er ihnen den Weg zurück in die Normalität bahnt. Doch dann übernimmt er den Fall eines schwer depressiven Versicherungsangestellten und ist zum ersten Mal in seinem Berufsleben überfordert. Als auch seine Familie ihm immer mehr entgleitet, ringt er verzweifelt um Kontrolle - und begeht eine therapeutische Todsünde.

Noam Shpancer gelingt erneut ein kurzweiliger Einblick in die Arbeit und die Psyche eines Therapeuten. Fazit: Ein Psychologe kann zwar anderen helfen, aber nicht unbedingt sich selbst.

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Seitenzahl: 285

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Noam Shpancer

Der glückloseTherapeut

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Brigitte Heinrich

Knaus

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»A Measure of Mercy«.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2013

by Noam Shpancer

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Gesetzt aus der Fournier von

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-09156-9

www.knaus-verlag.de

Für meine Eltern, Talma und Avi

If I knew the way, I would take you home.

Robert Hunter, Ripple

1

Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann mir klar wurde, dass Barry Long log. Ich weiß, dass man Begriffe wie Präzision nicht auf das Gedächtnis anwenden sollte. Auch vom Lügen sollte man so nicht sprechen. Dennoch belastet mich, wie die Sache ausging, dass es mir nicht gelang, zwei und zwei zusammenzuzählen. Schließlich bin ich weder taub noch blind. Ich erkenne oft, wo die Musik spielt, erkenne den Leopard im Gebüsch schon am Zucken seines Schwanzes. Ich bin auch nicht naiv. Im Gegenteil, meine Arbeit erfordert Skepsis. Außerdem Vertrauen. Man könnte sie als paradox bezeichnen. Ich bin Psychologe. Barry Long war mein Klient. Man könnte sagen, er war mein wichtigster Klient. Ich weiß, dass wir eigentlich keine »wichtigsten Klienten« haben sollen. Und doch haben wir sie. Die Dinge sind häufig nicht ganz, wie sie sein sollten, das lernt man im Laufe der Zeit.

Zu Beginn war nicht offensichtlich, dass Barry Long log. Falls ein Schwanz im Gebüsch zuckte, sah ich ihn nicht. Doch andere Dinge wurden rasch offensichtlich. Zum Beispiel, dass er versuchen würde, sich umzubringen. In erster Linie, weil er es schon früher versucht hatte, wie seiner Akte zu entnehmen war. In meinem Beruf lautet das oberste Gesetz, dass die Vergangenheit die Zukunft voraussagt; zugegebenermaßen ein merkwürdiges oberstes Gesetz in einem Beruf, der danach trachtet, die Zukunft aus der Umklammerung der Vergangenheit zu befreien. Doch die Welt ist voller Merkwürdigkeiten– mit ihren Finten und Gesetzmäßigkeiten und jenen Finten, die als Gesetzmäßigkeiten daherkommen. Wie dem auch sei, wer es schon einmal versucht hat, wird es wieder versuchen. Deshalb war mir klar, dass Barry Long versuchen würde, sich umzubringen; auch weil er mir gegenüber davon gesprochen hatte.

»Wenn ich im Wald hinter unserer Wohnung spazieren gehe«, sagte er mit schleppender, tonloser Stimme, »sehe ich zu den Bäumen hinauf und denke: An welchem Ast kann ich mich aufhängen? Welcher wird nicht brechen? Wohin kann ich gehen, damit mich niemand hört oder sieht? Wenn ich am Fluss entlanggehe, denke ich: Wo ist er tief und schnell genug, dass ich hineinspringen kann?Das ist für mich die Natur«, sagte er. »Der einzige Grund, warum ich es nicht schon längst getan habe, ist, dass ich Mimi nicht wehtun möchte.«

Das Schicksal von Depressiven ist nicht nur, dass ihr Lebenswille erschöpft ist, sondern auch, dass er von einem anderen, ebenso mysteriösen und ebenso drängenden Willen ersetzt wird: dem Willen zu sterben. In einer Krise sehnen sich schwer depressive Menschen– die »true blue«, wie mein Boss John Savoia, der Eigentümer der New Mood Clinic, sie nennt– mit aller Kraft nach dem Tod, so wie Gesunde ums Überleben kämpfen: mit Schläue, Entschlossenheit und in dem festen Glauben, es sei ihr Recht und ihre Schuldigkeit, zu sterben.

Depressive Klienten wie Barry Long sind das Alltagsgeschäft unseres Therapiezentrums. Ich kann sogar davon ausgehen, dass ich einigen von ihnen im Laufe der Jahre geholfen habe, auch wenn solche Annahmen schwer zu belegen sind. Der Klient kommt mehrere Monate zu uns, und manchmal verbessert sich sein Zustand. Doch sein Zustand könnte sich natürlich auch verbessert haben, wenn er nicht gekommen wäre; vielleicht ist die Besserung, deren Zeuge man wird, gar keine, sondern nur eine vorübergehende Waffenruhe, ein zufälliger Waffenstillstand, der weder einen echten Sieg noch einen dauerhaften Frieden bedeutet.

Wie dem auch sei, bei Barry Long handelte es sich um einen durchschnittlich depressiven Klienten. Und dennoch rief seine Anwesenheit, grau und ruhelos wie eine Taube im Stadtpark, in mir von Anfang an Unbehagen hervor. Er war ein kleiner, adretter Mann mit einem dichten Haarschopf, hohen Wangenknochen und dem entrückten Blick eines Sechziger-Jahre-Folksängers. Er bevorzugte schlichte, in die Jeans gesteckte Herrenhemden mit geknöpften Manschetten und ordentlich gebügeltem Kragen. Er absorbierte weder das Licht, noch reflektierte er es, und er schien in einer schwachen Aura aus Zigarettenqualm zu existieren. Nach jeder Sitzung musste ich das Fenster öffnen und im ganzen Zimmer Lufterfrischer versprühen, um zu verhindern, dass die nächste Klientin sich aufregte– eine rundliche, weichherzige Frau, die gerade ihren Vater durch Lungenkrebs verloren hatte. Barry Longs rauchgeschwängerte, geisterhaft im Raum schwebende Hinterlassenschaft förderte die Wut und die Angst zutage, die in ihr schlummerten, ließ sie in Tränen ausbrechen und abgehackt vom Vergessen sprechen.

Barry Long saß auf dem roten Sofa, nahm ein Zierkissen und drückte es sich fest gegen die Brust, eine Angewohnheit, die ich als eine übertrieben defensive Geste empfand (vor dem Tod hat er keine Angst, vor mir aberschon?) und als ein Zeichen von Unreife, was für seine Prognose nichts Gutes erahnen ließ. Eine Depression ist schließlich ein ernsthafter Gegner– wie einer dieser Komodo-Warane, die ihren giftigen Biss an den Sprunggelenken eines Wasserbüffels ansetzen, der zehnmal größer ist als sie selbst, sich dem Büffel dann wochenlang lautlos an die Fersen heften, bis er zusammenbricht, und ihn schließlich auffressen.

Barry Long umklammerte also das Kissen und stimmte sodann mit schwacher, zittriger Stimme eine Klage über sein Leben an, das in seinen Augen überhaupt nicht als Leben bezeichnet werden konnte und das er schon vor langer Zeit beendet hätte, wenn er nicht befürchten müsste, damit Mimi wehzutun. Mimi sei seine Freundin, sagte er. Im Rollstuhl, ein tragischer Unfall; sie lebe von der Entschädigung und einer Unfallversicherung. Er helfe ihr bei ihren täglichen Verrichtungen, so gut er könne, was keine besonders große Hilfe sei, eigentlich überhaupt keine. Sie unterstütze ihn an seinen schlechten Tagen, also eigentlich fast immer. Mimi erinnere ihn daran, seine Medikamente zu nehmen und seine Arzttermine einzuhalten. Wenn er aus einem Albtraum aufwache, sage sie: Es ist nur ein Traum. Schlaf weiter.

»Ohne Mimi«, sagte er, »würde ich es nicht schaffen, könnte ich dieses Leben nicht mehr ertragen, falls man es überhaupt ein Leben nennen kann. Ich nenne es nicht so.«

Barry Long erschien nicht zu seinem ersten Termin. Er rief eine Stunde später an und sagte, seine Freundin fühle sich nicht gut, deshalb müsse er absagen. Er entschuldigte sich wortreich, und ich fragte mich, ob man nach den Gesetzen der Logik einen Termin noch absagen konnte, wenn er bereits verstrichen war. Ich versuchte, ihn zu beruhigen.

»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Uns allen kommt manchmal etwas dazwischen. Wir vereinbaren einen neuen Termin für nächste Woche. Nein, ich bin nicht wütend. Ja. Ich hoffe auch, dass es nicht wieder vorkommt. Kein Grund für große Erklärungen, weder jetzt noch in Zukunft. Kommen Sie einfach zum nächsten Termin, lassen Sie uns das versuchen. Ja, ich sehe Sie dann nächste Woche. Nein, ich bin nicht wütend.«

John Savoia ist der Meinung, dass ich meinen Klienten gegenüber zu nachgiebig bin. »Du entwertest deine eigene Zeit«, sagt er dann. »Ein Klient, der nicht auftaucht, ohne vierundzwanzig Stunden vorher abzusagen, sollte für den Termin bezahlen– der Behandlungsvertrag besagt das ganz eindeutig. Deine Zeit, die Zeit eines Experten, ist wertvoll, und du solltest schützen, was wertvoll ist.« John nimmt dann ein Taschentuch und wischt sich über die Stirn, obwohl er nie schwitzt. Ich glaube nicht, dass er überhaupt Schweißdrüsen hat. Doch seine Gesichtshaut glänzt stark, als wollte sie sagen: Ich bin stolz darauf, John Savoias Haut zu sein!

John tadelt seine Klienten gewöhnlich für ihr Zuspätkommen, weist sie »freundlich, aber entschieden« zurecht– eine Ausdrucksweise, die mir ob ihrer seltsamen Tröstlichkeit immer wieder auffällt– und forscht eindringlich nach den tiefer liegenden Ursachen ihres Verhaltens. Doch ich neige dazu, es durchgehen zu lassen; vielleicht weil ein verspäteter Klient oder einer, der gar nicht auftaucht, ein wenig freie Zeit bedeutet, und solche Freiräume fühlen sich an wie ein Geschenk, Flecken blauen Himmels an einem ansonsten langen, trüben Wintertag; vielleicht auch, weil ich einen verspäteten oder gar nicht auftauchenden Klienten nicht als Beleidigung meines Berufsstands auffasse– eines Berufsstands, den ich zwar für durchaus ehrenvoll halte, für allzu hochmögend dann allerdings doch wieder nicht.

Die Psychotherapie wird gelegentlich überschätzt. Viele junge Leute, die diesen merkwürdigen Beruf ergreifen, träumen davon, einen Thron absoluter, von Empathie getragener Weisheit zu besteigen. Häufig fühlen sie sich von der strukturellen Einfachheit dieser Arbeit angezogen– kein Bedarf an komplexen Instrumenten, teurer Technologie oder hoher Mathematik. Nur ein Stuhl und eine Stimme, und in dieser Stimme die Kraft zu heilen. Manche von ihnen– diejenigen, die sich im Dschungel menschlicher Belange nur schwer zurechtfinden– suchen Zuflucht in dem sicheren Rahmen der therapeutischen Begegnung, wo Vertraulichkeit in einem klar definierten Umfeld hergestellt wird und die zahlreichen Schrecken einer lebendigen, spontanen Annäherung neutralisiert werden. In der grenzenlosen Eitelkeit der Jugend trachten die meisten von ihnen danach, die Tiefen der menschlichen Seele auszuloten.

Tatsächlich jedoch verbringt der Therapeut seine Tage in einem kleinen, spärlich beleuchteten Raum bei geschlossenen Fenstern und nimmt die Gebrochenheit von Fremden in sich auf; und das Stunde um Stunde, Tag für Tag, jahraus, jahrein. Niemand sieht ihn bei seinem Bemühen. Niemand erkundigt sich danach. Und selbst wenn das der Fall ist, kann er keine Auskunft geben, da er der Schweigepflicht unterliegt. Nicht einmal er selbst vermag Erfolg und Misserfolg klar zu unterscheiden, denn Unterscheiden ist niemals einfach; die Differenzierung beruht auf der persönlichen Aussage des Klienten, und die ist von Natur aus lückenhaft, denn auch der gesündeste Blick auf die Dinge weist blinde Flecken auf. So verliert sich das Bemühen des Therapeuten in einem Nebel, der unergründet bleibt, denn im Wartezimmer wartet bereits der nächste Klient. Und dann der nächste. Und der übernächste. Und so weiter.

Was mich betrifft, so kam ich eher durch Zufall zu diesem Beruf als durch genaue Zielvorstellungen und habe ihn daher auch kaum überschätzt. Ich war nicht betrunken und hatte deshalb auch keinen Kater. Dennoch, Arbeit ist Arbeit, und mit der Zeit machte sie mich müde. Ich beklage mich nicht– es liegt mir nicht, mich zu beklagen. Mein Vater ließ das nie zu, er akzeptierte weder Ausreden noch Selbstmitleid und duldete keine Ermüdungserscheinungen.

»Das Leben ist kein Penis«, pflegte er zu sagen, noch bevor ich alt genug war, Analogien im Allgemeinen oder diese im Besonderen zu verstehen. »Das Leben ist immer hart. Ha ha.« Dann ließ er seine Hand so schwer in meinen Nacken fallen, dass ich Sternchen sah.

Vielleicht haben die Jahre mit Schwerstdepressiven mir auch das eine oder andere beigebracht: Wer sich beklagt, strapaziert sich selbst und seine Umgebung. Wer jeden Morgen aufsteht und zur Arbeit geht, dessen Hoffnung bleibt bestehen. Doktor Helprin, ein hochverdienter alter Wissenschaftler, mein Freund und Mentor während meiner Zeit als Praktikant im Larsen P. Clark Mental Hospital, sagte einmal: »Sie müssen es so sehen: Zwei Krankenschwestern treffen sich nach einer langen Nachtschicht. Die erste sagt: ›Ich hatte eine schwere Nacht.‹ Die zweite sagt: ›Die Patienten hatten eine schwere Nacht.‹ Seien Sie wie die zweite Krankenschwester.« Dann lehnte er sich auf seinem zerknautschten Ledersessel zurück, schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und seufzte: »Ach, ach, Jingele.«

Und so versuche ich, so gut ich kann, wie die zweite Krankenschwester zu sein. Doch immer wieder regen sich Zweifel in mir und sprechen mit der Stimme der ersten Schwester, stellen Fragen zu meinen eigenen Problemen und anderen Wegen, die ich hätte einschlagen können.

John Savoia sagt, ich solle mein Fachgebiet ändern, vielleicht mit Kindern arbeiten. »Die sind leicht zu beeindrucken«, sagt er. »Eine kleine Süßigkeit erledigt vieles. Kinder heitern einen auf, nicht wahr? Von ihrem Standpunkt aus ist das Ende noch nicht in Sicht. Das ist ein Trost.«

Doch ich weigere mich; vielleicht weil ich den Verdacht hege, dass John sich eher dafür interessiert, das Gesetz von Angebot und Nachfrage in seiner Klinik zu befriedigen, als mich glücklich zu machen; vielleicht auch, weil ich meine eigene Vaterschaft immer als eine verhältnismäßig schwierige Aufgabe erlebt habe. Natürlich liebe ich meine Tochter Sam– mit ihren Sommersprossen, den dunklen Haaren, dem feurigen Blick und der hohen Stirn eines antiken Philosophen–, doch es liegt in der seltsamen Natur der Elternschaft, dass eine im Abstrakten so tiefgreifende Aufgabe durch so viele geistlose, ermüdende Pflichten kompromittiert wird. Ich gestehe, dass ich während Sams Kindheit manchmal Überstunden vorschob, um länger in der Praxis bleiben und mich diesen Pflichten entziehen zu können.

Selbst wenn ich mit ihr zusammen war, zog ich mich oft genug in mich selbst zurück; wenn ich sie auf der Schaukel anstieß oder neben ihr auf dem Wohnzimmerteppich lag, schweiften meine Gedanken ab zu anderen Zeiten und anderen Orten, zum Fall eines besonders problematischen Klienten, zu den längst vergangenen Tagen mit Alex, meiner Frau, bevor wir Sam bekamen und uns noch mit Spekulationen trösten konnten, wie unser Leben wohl einmal aussehen würde.

»Körperliche Anwesenheit allein genügt nicht«, sagte Alex, nachdem sie mich einige Male mit scharfem Blick bei meiner Geistesabwesenheit ertappt hatte. »Du musst emotional anwesend sein. Kinder kann man nicht täuschen. Sie spüren es, wenn du nicht da bist«, warnte sie mich. »Eines Tages wird es dir leidtun.«

Einmal gingen Sam und ich im örtlichen Einkaufszentrum in ein Modegeschäft. Wir schlenderten zwischen den Kleidern umher, die an kreisförmigen Gestellen hingen. Ich ließ Sams Hand einen Augenblick los, um nach dem Preisschild einer Lederjacke zu suchen, die mir ins Auge gefallen war, weil sie mich an meine Jugend erinnerte. Als ich wieder aufblickte, um nach ihr zu sehen, war sie verschwunden. Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte sich meine Welt, und meine Knie gaben nach. Eine Sekunde später tauchte sie wieder auf und spähte neckisch zwischen ein paar Kleidern hervor, die in der Nähe an einem Gestell hingen. Ihr spitzbübisches Grinsen verwandelte sich rasch in einen Ausdruck des Entsetzens. Ich wusste, dass sie die Angst widerspiegelte, die sie in meinem Gesicht gelesen hatte, und das prägte sich mir ein. Doch ich änderte mein Verhalten nicht. In unserem tiefsten Inneren mögen wir keine Veränderungen und widersetzen uns ihnen oft mit aller Macht. Ein einzelnes Ereignis, selbst ein traumatisches, verändert nicht unsere grundsätzlichen Neigungen, auch dann nicht, wenn wir Psychologen sind. Die Regeln gelten selbst für die, die sie durchschauen. Wir erholen uns und fallen in unsere alten Gewohnheiten zurück, nur das Wissen um die unmittelbare Nähe des Schreckens ist dazugekommen. Dieses Wissen lauert weiterhin in unserer Nachbarschaft, fauchend und unerwünscht wie eine streunende Katze.

2

Alex und ich hatten uns an der Universität kennengelernt. Ich war zu einem Gastvortrag über ein Forschungsprojekt eingeladen, an dem ich gerade arbeitete. Sie saß in der letzten Reihe und sah mich mit einem ungewöhnlich strahlenden, dunklen und dennoch blendenden Blick an. Nach der Vorlesung blieb sie noch und stellte ein paar Fragen, und ich lud sie zu einem romantischen Spaziergang zum Parkplatz ein. Als wir so nebeneinanderher gingen, empfand ich zum ersten Mal dieses entspannende und gleichzeitig stimulierende Gefühl, das einen in Gegenwart eines Menschen befällt, der bereit ist, sich völlig zu öffnen. Als wir bei meinem Auto ankamen und uns zum Abschied einander zuwandten, war uns beiden klar, dass wir ein Paar sein würden. In zehn Minuten von völliger Fremdheit zu großer Nähe, und seit damals über zwanzig Jahre des Zusammenlebens, die diese Nähe sowohl gefestigt als auch verschlissen haben.

Bereits vor meinem Examen zogen wir zusammen in eine kleine Wohnung in der Montrose Street. Damals gab es um die Ecke einen winzigen Nachtclub. Freitagabends gingen wir aus, um Milt Hopkins zu sehen, einen sehr alten einheimischen Blueshelden, der zur Gitarre sein Standardrepertoire sang. Ich trank gerne, und Alex tanzte gerne. Nach ein paar Bier nahm sie mich bei der Hand und führte mich auf die winzige Tanzfläche, zu Füßen des über uns aufragenden Bluessängers, nahm mich fest in die Arme und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Dann drehten wir uns auf engstem Raum zu der Melodie von »Love me with a feeling, or don’t love me at all«. Sie gab ihre beiden Siamkatzen auf, weil sich herausstellte, dass ich eine Katzenallergie hatte. Ich gab meine nächtliche Gewohnheit auf, bis in die frühen Morgenstunden vor dem Fernseher auszuharren. Von Anfang an stritten wir uns selten. Wenn es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kam, wurde ich in mich gekehrt, deprimiert und passiv, und sie überdachte die Sache und schritt zur Tat. Dann kam sie wieder auf mich zu, umarmte mich und sagte: »Und jetzt gib zu, dass du unrecht hattest.«

Auch beim Sex fanden wir schnell unseren Weg. Sie lag unter mir, hielt mich fest umschlungen, und ich war über ihr und stützte mich auf die Ellbogen. Ihre Augen waren geöffnet, meine geschlossen. Sie stöhnte laut, und ich blieb still. Nachdem ich gekommen war, flüsterte sie: »Bleib da, leg dich auf mich; geh nicht weg; es ist gut so, du bist nicht schwer.« Und dann sagte sie: »Jetzt bin ich dran«, und lenkte meinen Kopf zwischen ihre Schenkel. Später lagen wir nebeneinander auf dem Rücken, und sie sagte: »Ich habe das Gefühl, wir haben die Missionarsstellung noch nicht ganz ausgeschöpft«, und lachte leise. Dann ging sie unter die Dusche, und ich driftete ab in seltsame Träume.

Irgendwann in dieser Zeit gelangten wir an den sprichwörtlichen Scheideweg, wie das bei Paaren früher oder später der Fall ist. Ich erinnere mich nicht mehr genau an den Grund für den Streit– man sollte, wenn es um Gründe geht, nicht in Begriffen wie Genauigkeit sprechen–, doch ich erinnere mich, dass wir uns eine Zeit lang trennten. Im Laufe etlicher trauriger, alkoholgetränkter Abende im Club versuchte ich mein Glück bei einigen anderen Frauen. Ich erinnere mich vage, dass einer dieser Abende mit einer stämmigen Doktorandin aus dem Kurs über Forschungsmethoden in deren Wohnung in der Innenstadt endete. Sie besaß eine Kakteensammlung, was ich als schlechtes Omen deutete. Außerdem hielt sie in einem gläsernen Terrarium eine Schlange. Wir rauchten einen Joint in ihrer vollgestopften Küche. Sie fragte mich, ob ich die Schlange halten wolle, um die Schuppen zu fühlen. »Es ist eine sehr gesellige Schlange«, sagte sie. Ich lachte darüber. Sie war beleidigt, was ihre Lust anzuheizen schien. Wir knutschten auf dem Wohnzimmersofa und fielen schließlich ins Bett. Ich kann mich kaum noch an etwas erinnern, nur dass ihr starker Geruch beim Sex mich störte. Am nächsten Morgen wachte ich verwirrt und desorientiert auf und schlich mich davon, schlug im Wohnzimmer einen vorsichtigen Bogen um die Kakteen und verhielt mich so leise wie möglich, um die guten Manieren der Schlange nicht auf die Probe zu stellen. Danach kehrte ich zu Alex zurück und sagte: »Ich gebe zu, dass ich unrecht hatte.« Sie umarmte mich und sagte, sie sei schwanger. Von da an waren wir zusammen. Ich dachte, für immer.

3

Barry Long erschien pünktlich zu seinem zweiten Termin. Er saß auf dem Sofa und umarmte ein Kissen. Ich stellte ihm ein paar Standardfragen. Er war in Houston, Texas, geboren und aufgewachsen, ein schüchterner, stiller Junge. Die anderen Kinder an der Schule hatten sich über ihn lustig gemacht. Hatten ihn zum Weinen gebracht. Er hatte keine Freunde.

»Warum haben sie Sie ausgeschlossen?«, wollte ich wissen.

Er sagte, er wisse es nicht. Ich machte mir innerlich einen Vermerk. Manche Klienten haben einen intuitiven Zugang zu ihrer inneren Welt, ein Ohr für die Musik in ihrem Innern; sie erfassen ihre missliche Lage, auch wenn sie sich nicht aus ihr befreien können. Barry war keiner dieser Klienten. Seine inneren Räume waren vielmehr verdunkelt; er schien sie ziellos zu durchstreifen und mit den Schatten zu kämpfen. Kinder sind grausam war seine Erklärung, was überhaupt keine Erklärung ist, denn das Wort »grausam« kann praktisch mit allem und jedem in Verbindung gebracht werden, und selbst grausame Kinder sind nicht zu jedem grausam.

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