Der Goldschatz aus Böhmen - Erzählungen und Anekdoten - Gertrud Fussenegger - E-Book

Der Goldschatz aus Böhmen - Erzählungen und Anekdoten E-Book

Gertrud Fussenegger

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Beschreibung

Im Jahre 1944 kamen mich die beiden [Frauen] in Tirol besuchen. ´Meine Lieben`, sagte ich, ´der Krieg ist verloren. Wenn die Russen an die Weichsel kommen, ist es für euch höchste Zeit Böhmen zu verlassen. Packt das Beste zusammen, was ihr habt, eure Pelze, eure Wintersachen, das Silber, den Schmuck und auch das Gold. Vergesst mir bloß das Gold nicht. Wir werden es noch bitter nötig haben.`Was ist noch von Wert in einer Zeit des Krieges? Wie lässt sich vorsorgen, wenn doch nichts vorauszusehen ist? Wie arrangiert sich der Mensch? Wer trägt welches Schicksal? Um diese und andere Fragen drehen sich die Erzählungen und Anekdoten in "Der Goldschatz von Böhmen".-

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Gertrud Fussenegger

Der Goldschatz aus Böhmen

Erzählungen und Anekdoten

SAGA Egmont

Der Goldschatz aus Böhmen - Erzählungen und Anekdoten

Copyright © 1989, 2018 Gertrud Fussenegger und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711677797

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Böhmische wunder

Der Goldschatz aus Böhmen

»Du kriegst einmal alles.« Das hörte ich früh und spät, wenn ich bei meinen Verwandten in Böhmen zu Besuch war. alles–? Was war das? Ein Haus und ein sogenannter Braurang in der Bierbrauerstadt Pilsen (er wäre mit ständigen, höchst erfreulichen Einkünften verbunden gewesen); alles –: das hieß freilich auch eine mit altertümlichem Mobiliar vollgestopfte Wohnung, zehn große goldgerahmte Ahnenbilder, einige hübsche, doch immer falschgehende Standuhren, einen halblebensgroßen Zigeuner aus Gips, einen nicht viel kleineren Wilhelm Tell aus Bronze, etliche Hellebarden und (falsche) Türkensäbel; dazu noch zwei Figuren aus Biskuitporzellan Die Morgen- und Die Abendröte.

Das alles sollte ich einmal erben.

Wie man sich denken kann, war ich hinsichtlich all dieser schönen Dinge recht zwiespältig gestimmt. Wer erbt nicht gern eine gute lebenslange Rendite? Wer verschmäht ein Haus in einer erstklassigen Straße einer aufstrebenden Industriestadt? Wer freut sich nicht über das eine oder andere fein intarsierte barocke oder biedermeierliche Möbelstück? Doch es wäre sehr übertrieben, wenn ich behaupten wollte, ich sei auf den gipsernen Zigeuner, auf den bronzenen Wilhelm Tell oder auch nur auf die Ahnenbilder besonders begierig gewesen (denn, unter uns gesagt, sie waren sehr mittelmäßig gemalt). Immerhin versprach ich meinen Verwandten dutzende Male, daß ich alles, das ganze Erbe, in Ehren halten, nie das Haus, geschweige denn den Braurang verkaufen würde. »Dann bist du versorgt«, sagten die alten Damen, die mich zu ihrer Erbin bestimmt hatten, »versorgt für das ganze Leben.«

Ich weiß nicht, warum sich bei diesen Reden in mir jeweils so wenig Freude regte. Fürchtete ich mich vor Morgen- und Abendröten, vor Hellebarden, Türkensäbeln, Uhren und Ahnenbildern, vor dem ganzen seit Jahrzehnten aufgetürmten und zu einem fast undurchdringlichen Wirrwarr zusammengewachsenen Kram? Flohmärkte und Sperrmülltransporteure hätten mich bestimmt in kürzester Zeit davon befreit, wäre der Erbfall wirklich eingetreten. Der Erbfall trat nicht ein – aus nur zu wohlbekannten weltgeschichtlichen Gründen.

Zum letzten Mal nahm ich im Spätherbst 1943 die Gelegenheit wahr, mein prospektives Erbe aufzusuchen. Mir war dabei schon trist zumute, düstere Ahnungen gingen in mir um. Nur noch mit Anspannung meiner ganzen Geduld konnte ich meinen Verwandten zuhören, wenn sie wieder davon anfingen, welch reiches Erbe ich zu erwarten habe. Die Sorge, was ich einst mit dem ganzen Kram anfangen sollte, war einer ganz anderen, weit drückenderen Sorge gewichen. Ich fragte mich, was wohl das Schicksal der beiden Frauen sein würde, wenn der Krieg so weiterging, wie er bis jetzt gegangen war. Ich fürchtete für ihre Zukunft. Sie allerdings waren noch ganz munter und selbstgewiß.

Im Jahr 1944 kamen mich die beiden in Tirol besuchen. »Meine Lieben«, sagte ich, »der Krieg ist verloren. Wenn die Russen an die Weichsel kommen, ist es für euch höchste Zeit, Böhmen zu verlassen. Packt das Beste zusammen, was ihr habt: Eure Pelze, eure Wintersachen, das Silber, den Schmuck – und auch das Gold! Vergeßt mir das Gold nicht. Wir werden es bitter nötig haben.«

»Wie meinst du das?« fragten sie.

»Ich meine«, sagte ich, »wenn die Russen von der Wolga bis an die Weichsel gekommen sind, dann werden sie auch noch weiter kommen. Was sich aber dann abspielt in eurem Land, das sollt ihr nicht mitmachen müssen. Es wird auch bei uns hier im Westen kein Honiglecken sein. Doch besser als dort, allemal besser als dort.«

Die beiden alten Damen sahen mich ungläubig lächelnd an. Mit dem Gefühl, nur die Rolle einer lästigen Kassandra gespielt zu haben, brachte ich die beiden zu ihrem Zug, zurück nach Böhmen.

Was das erwähnte Gold betrifft, so handelte es sich dabei um etwa zweihundert hochkarätige Münzen, die schon lange, vermutlich schon seit Urgroßvaters Zeiten, angespart in einer Schublade, in einen Wollknäuel eingewickelt, lagen. Von diesem Gold war in der Familie dann und wann die Rede gewesen als von einem ehrwürdigen Schatz, der – von Generation zu Generation weitergegeben – eine letzte Reserve darstellte, eine Art Kronschatz, Rettung für den äußersten Notfall.

Ich war ziemlich sicher, daß ein solcher äußerster Notfall demnächst eintreten werde.

Der Winter 1944/45 kam heran, die Russen standen längst an der Weichsel, aber die beiden alten Damen ließen sich nicht blicken. Die Russen stießen über die Weichsel vor, ich war aufs höchste beunruhigt, auf meine dringenden Briefe erhielt ich keine Antwort; schon war ich entschlossen, mir eine Reiseerlaubnis zu verschaffen (ohne eine solche konnte keine längere Fahrt mehr unternommen werden) – da, an einem Märzmorgen, stand dann doch die eine der beiden alten Damen in meiner Wohnungstür. »Gott sei Dank, daß du da bist! Endlich, endlich! – Aber wo ist die Tante Marie?«

Es stellte sich heraus, Tante Marie hatte die Reise gefürchtet, die Alarme, die Mühe des Umsteigens und, daß man auf der langen Fahrt nichts zu essen bekommen würde. Und überhaupt, sie wollte sich nicht trennen von ihrem komfortablen Heim.

Nicht trennen? – mir wurde elend zumute. Doch dann faßte ich die eben Angekommene näher ins Auge. »Aber du –, wo hast du dein Gepäck?« »Da ist es!« Fröhlich schwenkte sie mir ihr Köfferchen entgegen.

»Ist denn das alles – Und dein Pelz?«

»Pelz?« sagte sie und lächelte überlegen. »Es wird doch Frühling.«

»Und das Silber? und der Schmuck?«

»Gut versteckt, daheim geblieben.«

Mir wurden die Knie weich. »Aber das Gold, ich bitte dich, das Gold wirst du doch mitgenommen haben!?«

»Ach, Kind, das Gold! Das wäre mir doch viel zu schwer geworden auf dieser Reise. Weißt du, wie oft ich umgestiegen bin? Bahnhöfe waren zerstört, wir mußten durch den Acker laufen. Nein, nein, das Gold hätte ich niemals schleppen können.«

Soso? Mir drehte sich der Kopf. Mir wurde schwarz vor den Augen. So war auch das Gold verloren, es war zu schwer gewesen, zu mühsam zu schleppen, mag sein, schon möglich, nun war auch diese Hoffnung dahin.

Aber da kramte die Tante in ihrem Täschchen herum und förderte ein Päckchen zutage, es war in Seidenpapier gewickelt und mit einem Bindfaden verschnürt, sie reichte es mir, ich solle es öffnen. Und als ich es geöffnet hatte, war es ein Schleifstein.

»Mein Herr und Jesu Christ, aber den Schleifstein hast du doch mitgeschleppt!?«

»Ja freilich«, sagte sie und ließ die Augen heiter durch unsere Küche schweifen. »Den habe ich mitgebracht, denn wißt ihr, Kinder, meine Lieben, ihr habt halt immer so schlecht geschliffene Messer.«

Ja, so ging es mit dem Goldschatz aus Böhmen. Was ich damals für fast unmöglich gehalten hätte: wir überlebten auch ohne ihn. Wieviel Brot und Butter, wieviel Milch und Mehl hätten wir für jede einzelne seiner Münzen bekommen können! So mußten wir auf langen Wegen für schlechtes Geld und schließlich nur für bittende Worte das eine oder andere tauschen: Kartoffeln und Rüben und Molke, die sonst ja doch nur in den Schweinetrank gegossen worden wäre. Auch die nun längst aller Mittel entblößte, bettelarm gewordene Erbtante wanderte stundenlang und -weit zu den zerstreuten Tiroler Bauernhöfen, um irgendetwas Eßbares aufzutreiben. Dann kam sie strahlend nach Hause: »Schau her, ich bringe dir ein Ei!« Und einmal, da sie drei Tage lang im Zillertal herumgewandert war: »Ich bringe dir eine Speckschwarte, und sie ist erst zweimal ausgekocht.« Und richtig: Ich konnte sie noch dreimal in der Suppe sieden, und die Suppe schmeckte jeweils immer noch ein bißchen nach kostbarem Speck.

So behalf man sich und kam irgendwie über die Runden.

Nicht zu helfen freilich war vielen anderen und Unzähligen von jenen, die drüben geblieben waren, weil sie nicht rechtzeitig erkannt hatten, was die Stunde schlug. Auch die andere Erbtante, die ihr komfortables Heim nicht hatte verlassen wollen, die sich gefürchtet hatte vor der Unbequemlichkeit der Reise, vor dem Sprung ins Ungewisse, vor dem Wagnis ins neue Leben, hatte Schlimmstes zu erdulden. Ihr gelang es nicht mehr, in den Westen abgeschoben zu werden. Wir haben nie mehr eine Zeile von ihr erhalten. Wir wissen nicht einmal, wo sie begraben liegt.

Es vergingen mehr als zwei Jahrzehnte, bis ich endlich eines Tages und fast unerwartet die Gelegenheit fand, in meine Geburtsstadt zu fahren und mich dort ein paar Stunden lang umzusehen. Da stand ich dann vor dem Haus, das mir so oft als Erbe versprochen worden war, und das Haus war fremd, ich wagte es kaum zu betreten. Ich blickte zu den Fenstern hinauf, hinter denen ich so lange gelebt hatte: sie schienen mir sehr trüb und schmutzig in verkommenen Rahmen, und einige von ihnen waren mit Papier verklebt. Ich dachte an den Gipszigeuner und an den bronzenen Wilhelm Tell, an die Ahnenbilder und Standuhren, die immer falsch gegangen waren. Was war mit ihnen geschehen? Und ich fragte mich auch, was wohl aus dem Wollknäuel geworden sei, in den die zweihundert hochkarätigen Münzen eingewickelt gewesen waren, getarnt vor Diebesaugen, Diebeshänden. War jemand so klug gewesen, es zu durchstöbern und aufzuwickeln oder hatte man es einfach weggeworfen? Und wenn es weggeworfen worden war, wo war es gelandet? Auf einem Misthaufen, auf einer Müllhalde, zuletzt vielleicht auf einem Acker?

Dort würde dann, irgendwann einmal nach Jahrzehnten, die Münzen wieder zum Vorschein kommen, mit Kopf und Wappen und Umschrift, die dann niemand mehr verstehen würde. Doch der Finder würde sich freuen über sein Glück und würde staunen über das Gold aus der Erde, aus der Erde Böhmens.

Ein Dach überm Kopf oder Es gibt noch Wunder

»Übersiedeln, schon wieder übersiedeln!« sagte die Mutter und sank ächzend auf den Küchenhocker. Da saß sie in ihrer alten gelben Wachstuchschürze, die sie sich eben zum Geschirrspülen umgebunden hatte, saß kopfschüttelnd, beide Hände vors Gesicht geschlagen. Der Vater stand vor ihr, – er hatte soeben die Nachricht gebracht –, und blickte mit schuldbewußter Miene auf sie nieder.

Aber sie saß nicht lange so. Sie ließ die Hände sinken, stand auf, atmete tief und strich sich die Schürze glatt. »Also gut, gut«, sagte sie »wenn es sein muß. Es wird das dreizehnte Mal sein.«

Das dreizehnte Mal in zwölf Jahren: daran hatte die Weltgeschichte schuld – und der Staat. Zuerst der Staat.

Mein Vater war k.u.k. Offizier, also einer von den Zehntausenden, die – mit Sternchen am Kragen – erst im bunten, dann im feldgrauen Rock einem Staatsgebilde dienten, das vom Bodensee bis zum Eisernen Tor, von Galizien bis in die montenegrinischen Berge reichte, in zwanzig Zungen sprach und an endlosen Grenzen bewacht werden mußte. Die Folge war, daß es die Leute, die ihm dienten, hin- und herschob, von einer Garnison in die andere, aus einem Kronland in das übernächste, aus dem Deutschen ins Ungarische, aus dem Ungarischen ins Tschechische, aus dem Polnischen ins Italienische: der Rösselsprünge gab es kein Ende. Auch mein Vater wurde herumgeschoben und, da er Familie hatte, diese selbstredend mit. So hieß es übersiedeln und wieder übersiedeln, es war ein ewiges Wandern mit Betten und Schränken, Kredenzen und Tischen, mit dem Flügel aus Mahagoni und dem Salonluster aus Gablonz. Dazu Kisten mit dem guten und dem weniger guten Porzellan, mit dem guten und mit dem weniger guten Glas und mit dem großen goldgerahmten Bild: Die letzten Opfer der Schreckensherrschaft.

Alles, was da war, packte meine Mutter ein und aus; sie hätte sonst niemanden daran gelassen. Dann sah sie zu, wie ihre Möbel, die sie mehr liebte als gut war, von groben, ungeschickten Packburschen gefaßt, gedreht, gekippt, über Treppen gehievt und in einem Wagen verstaut wurden. Ihr tat das Herz weh, wenn die schönen Polituren Kratzer abbekamen und wenn die geschnitzten Zierleisten eine Matze kriegten. Wie zitterte ihr Herz in stiller Qual, wenn der geliebte Flügel, um einen Türstock gerummst, metallisch aufwimmerte und wenn es aus der Kiste, in die der Gablonzer Kristalluster versenkt war, gefährlich klirrte.

Was beim Ausziehen geschah, konnte natürlich auch beim Einziehen geschehen, und es war ja das Schlimmste nicht. Noch schlimmer war, daß man wieder einmal in eine Fremde kam: fremd war der Divisionär, bei dem sich der Vater zu melden hatte, fremd die Kameraden, fremd die Untergebenen; fremd das Haus, in das man einzog, fremd die Einteilung der Räume, der Ausblick aus den Fenstern, fremd der Krämer, bei dem man einkaufen, fremd der Schuster, bei dem man sich die Schuhe anmessen lassen mußte; fremd der Hausmeister, der Kommen und Gehen überwachte, fremd die Lehrer, zu denen man die Kinder in die Schule schickte – und fremd der Arzt; und das war vielleicht das Schlimmste, denn man war nicht gesund.

Man schleppte alte Leiden mit sich herum: der Vater, hager und überreizbar, litt an der Schilddrüse, die Mutter an einem schweren Herzklappenfehler und an einer Indisposition der Galle, die ihr viele Schmerzen verursachte. Sie hätte sich schonen sollen, beide hätten sich schonen sollen; statt dessen Dienst und Unruhe und Umgewöhnung – und diese Umzüge, einer nach dem anderen.

Dann kam der Krieg, die Trennung und die Sorge, und als der Krieg zu Ende war, Armut, neue Heimatlosigkeit und – wie denn anders? – neue Übersiedlung. Die Mutter hatte die letzten Kriegsjahre in Böhmen, im Haus ihrer Eltern verbracht, da hätten wir wohl bleiben können, zweifellos. Doch der Vater ertrug es nicht, in dem neuen Staat zu leben, der sich damit brüstete, am Untergang des alten Staates mitgewirkt und ihn an allen Fronten mituntergraben zu haben. Er mochte nicht mehr aus dem Haus gehen, seit er Aufläufen begegnet war, die sich jubelnd um einen Galgen scharten, und an dem Galgen hing die Puppe des alten Kaisers.

Also neuer Aufbruch, diesmal in die alte Familienheimat Vorarlberg, obwohl der Vater dort kaum jemanden kannte und obwohl er nicht wußte, wovon er dort würde leben können. So lag die Zukunft als unabsehbare Ungewißheit vor uns.

Wir Kinder begriffen noch nicht viel von unserer Lage. Aber wir spürten, daß sie uns mitbetraf, wenn der Vater noch wortkarger und noch gereizter war als früher und wenn sich in unserer Mutter schönes ernstes Gesicht ein noch tieferer Leidenszug eingrub.

In Vorarlberg fanden wir lange keine eigene Wohnung, und als wir endlich eine gefunden hatten (sie hätte uns gefallen können mit ihren großen, niederen vielfenstrigen Stuben, mit ihren Decken-Täfelungen und dem weiten Blick über das Rheintal zum Säntis und zum Bodensee), stellte es sich leider heraus, daß unsere Hauswirte, die im Stockwerk unter uns wohnten, an allerlei Wahnideen litten und daß sie alle, Eltern, Großeltern und Kinder, abwechselnd in die Landesirrenanstalt eingeliefert werden mußten. Es war unleidlich, an ihren Türen vorbeizugehen und immer fürchten zu müssen, daß der eine oder andere hervorschoß und seine unsinnigen Beschimpfungen und Anklagen vorbrachte. Schließlich wurde uns Kindern verboten, die Haustreppe zu benützen, wir mußten durch die hinten angebaute Scheune und über Leitern klettern, wir fanden das so übel nicht, doch unseren Eltern schien es unerträglich.

Dazu kam: Der Vater hatte keine Arbeit und damit auch keinen Verdienst, wir lebten, ich weiß nicht wie, ziemlich kümmerlich.

Einmal glaubten wir, eine Zuflucht zu finden auf dem Gut eines Onkels, das Gut war in Kärnten gelegen, in schöner Gegend. Indessen war dieser Onkel alles andere als ein guter Landwirt, schon eher ein bramarbasierender Abenteurer, der alle, die ihm über den Weg liefen, zu sich auf seinen Hof einlud, mit dessen Besitz er großtat wie mit einer glänzenden Musterwirtschaft. In Wirklichkeit gab es da nichts zu essen als Kohlsuppe, Kohlsuppe, in der die mitgekochten Würmer schwammen, das waren greuliche Mahlzeiten. Auch unsere Unterkunft war ziemlich schmählich: ein winziges Blockhaus, in dem es von Mäusen wimmelte, wir lagen auf Strohsäkken dicht gedrängt wie Sardinen in der Büchse. Zu allem Überfluß brach dann auch noch ein Unwetter über die Gegend herein, der Hagel zerdrosch die Feldfrucht, der Bach schwoll an und schwemmte das Heu davon, das Kleinvieh ersoff, die Katastrophe war komplett.

Also weg aus Kärnten und zurück nach Vorarlberg und wieder ins Blaue hinein gewartet, gehofft und mit dem nächsten Umzug gerechnet. Der kam dann auch, doch diesmal willkommen, trotz Müh’ und Plag’. Denn der Vater hatte endlich eine Stellung gefunden, im Tirolischen, er sollte dort ein Gut verwalten, es war heruntergekommen in den vergangenen Jahren, er sollte es wieder in Ordnung bringen und Ertrag erwirtschaften. Konnte er denn das? Er konnte es, er mußte es können, er las einschlägige Bücher, er befragte Einheimische, er holte sich Rat von erfahrenen Leuten, vor allem aber gehorchte er dem eigenen gesunden Menschenverstand, der eigenen Vorsicht und Geduld. Er erwartete nie etwas Außergewöhnliches. Darum konnte ihm das Normale gelingen. Als wir ins Tirolische übersiedelten, sagte meine Mutter zu mir: »Hier darfst du drei Steinchen vom Boden aufheben und sagen: sie sind mein.«

Drei Steinchen. Das war nicht viel. Trotzdem begriff ich damals: Es war ein Anfang, ein Anfang um einzuwurzeln.

Meine Mutter kam aus einer Familie, die seit langem seßhaft war. Dort in Pilsen, in der rußigen Stadt zwischen Bierbrauereien und Schwerindustrie, war die Familie einheimisch, bürgerlich, ehemals wohlhabend. Ein Urgroßvater hatte ganze Häuserzeilen besessen und, vor der Stadt, Felder, Wiesen, sogar einen Weinberg. (Ich bezweifle, daß dort jemals Wein gediehen war.) Der große Reichtum hatte sich zwar unterdessen verflüchtigt. Immerhin: Da gab es Grund und Boden. Das war meiner Mutter in Fleisch und Blut übergegangen: nur Grund und Boden verleihen etwas wie Stand und Gewicht, nur das eigene Dach überm Kopf ist Heil und Erlösung. Wer es hat, ist befreit von Angst. Er kann nicht gekündigt und von Schikanen verfolgt werden. Er braucht keinen Hauswirt zu fürchten und keine Mieterhöhung, er braucht nicht mehr einzupacken und auszuziehen und durch die Welt zu zigeunern.

So wollte sie sich und den Ihren Grund und Boden verschaffen und ein Dach überm Kopf.

Danach strebte sie mit allen Sinnen, allen Kräften und über ihre Kräfte hinaus.

Wie schon gesagt: Ihr Herz war geschädigt. Die Pumpe ging rasselnd. Ein Arzt hatte ihr einmal gesagt: »Älter als achtundvierzig werden Sie nicht.« Mit diesem Urteil lebte sie. Anfangs mag es sie nicht tiefer beunruhigt haben. Da lag der Zeitpunkt noch fern. Doch er rückte näher. Jetzt war sie vierzig. Jetzt war sie dreiundvierzig; dreiundvierzig, als der Glücksfall eintrat mit der Stellung im tirolischen Inntal; als sie sich nicht mehr sorgen mußte: Woher nehme ich das Geld für die Winterkartoffeln? für eine Zwirnrolle? für einen Schürzenstoff? und woher vor allem für die Miete? – Jetzt wohnten wir umsonst, und Vaters Hof lieferte das Nötigste: Milch und Brennholz, Käse und Nüsse. In einem Garten zogen wir Gemüse, im Hof scharrten einige Hühner. Jetzt konnte sie endlich sparen, sparen in dem Sinn, daß sie ansparte, Groschen um Groschen, Schilling um Schilling für das, wovon sie träumte, für Grund und Boden, für das Dach überm Kopf im eigenen Haus.