Der große Obelisk - Gedanken und Erfahrungen beim Lesen und beim Reisen - Gertrud Fussenegger - E-Book

Der große Obelisk - Gedanken und Erfahrungen beim Lesen und beim Reisen E-Book

Gertrud Fussenegger

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Beschreibung

Sieben Wochen war Gertrud Fussenegger in der ewigen Stadt und fasst diese Erlebnisse in zwei Essays zusammen. Eindrucksvoll und sprachgewandt beschreibt sie die Vorgeschichte Roms – zwischen Mythos und Legende – und verbindet ihre facettenreichen Beobachtungen und Gedanken zu einem poetischen aber auch poetologischen Werk. Fusseneggers Essays gestalten sich als anschauliche und klare Reiseberichte, und nehmen zugleich ihre Leser mit auf eine erzählerische Zeitreise in die Vergangenheit. Feinsinnig und ausdruckstark – und stets umgeben von dem Zauber, der dieser Stadt innewohnt.-

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Seitenzahl: 80

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Gertrud Fussenegger

Der große Obelisk

Gedanken und Erfahrungen beim Lesen und beim Reisen

SAGA Egmont

Der große Obelisk - Gedanken und Erfahrungen beim Lesen und beim Reisen

Copyright © 1977, 2018 Gertrud Fussenegger und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711677780

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der große Obelisk

Jeder Beruf hat seine besonderen Tücken und Probleme. Darum fragt der Jurist nach dem Sinn des Gesetzes, der Ingenieur nach den Grenzen der Technik, der Lehrer nach der Belehrbarkeit der menschlichen Natur – und so fragt der Schriftsteller – oder sagen wir heute etwas hochtrabend: der Dichter nach dem Wesen der Poesie. Was ist das Poetische? Was unterscheidet einen Text von der Masse des Geschriebenen, daß er Dichtung sei, was hebt ihn ab von Reportage, von banalem Bericht, was macht ihn poetisch?

Ich glaube, das Poetische ist nichts Abstraktes, Reserviertes, Definitives, es ist nichts, was sich ein für allemal genau beschreiben und von einem klassischen Modell ablesen ließe. Es ist keine Eigenschaft, die an einem Werk haftet und festklebt wie ein Firmenschild an einer Ware. Das Poetische ist ein Vorgang, der sich immer wieder ereignen muß in der Begegnung zwischen Werk und Mensch, ein Erlebnis also, ein immer neues individuelles Ereignis. Aber weil es individuell und damit so unendlich vieldeutig, vielfältig und vielgestaltig ist, scheint es mir unerläßlich, daß wir hier einen ganz realen Fall ins Auge fassen. An ihm möchte ich zeigen, was ich meine, durch ihn möchte ich mich verständlich machen. Der Fall betrifft eine römische Anekdote, in ihr steckt Poesie oder mindestens das, was ich unter einem poetischen Motiv verstehe. Trotzdem ist sie nicht zu reiner Poesie gediehen, inwiefern und wieso …, damit möchte ich mich hier beschäftigen.

Auf den schönsten Plätzen von Rom stehen ägyptische Obelisken. Sie wurden in der diktatorischen und imperialen Zeit des alten Rom aus dem Nilstromland herübergebracht und zur höheren Ehre ihres jeweiligen Räubers aufgerichtet. Als Rom verfiel und zugrunde ging, wurden diese Obelisken umgestürzt, der eine oder andere mag auch durch ein Erdbeben gefallen sein. Nur ein einziger dieser merkwürdigen gigantischen Steine blieb aufrecht stehen, er stand im Zirkus des Nero und soll, späterer Legende gemäß, auf Leiden und Tod zahlloser christlicher Märtyrer herabgeblickt haben. Der Zirkus verschwand, Rom war längst christlich geworden, doch immer noch schaute man mit Neugier und Ehrfurcht nach der riesigen steinernen Nadel, an deren Spitze eine goldene Kugel steckte. In ihr, so munkelte man, sei Caesars Asche verborgen. Nichtsdestoweniger erfrechten sich die Landsknechte, beim Sacco di Roma nach der goldenen Kugel zu schießen, sie wurde auch getroffen, aber nicht zu Fall gebracht, unbesieglich stand der Obelisk, ein zwar deutliches, doch auch wieder schwer deutbares Zeichen für königliche oder priesterliche oder königspriesterliche Macht, ein Symbol für den Sonnenstrahl, der die Erde trifft, ein Finger der Erde, der sich zum Himmel erhebt. Und so konnte es nicht ausbleiben, daß einer der großen Päpste, die eben zu jener Zeit Rom ausund umzugestalten beschäftigt waren und die sich ja gleichfalls als königliche Priester oder priesterliche Könige in nahezu pharaonischem Sinne begriffen, daß also einer von ihnen sein Augenmerk dem Obelisk zuwandte, diesem einen, der alle Jahrhunderte der Zerstörung überstanden hatte und irgendwie als Sinnbild der Unzerstörbarkeit selbst galt. Schon war die Peterskirche erbaut, wenn auch nicht ganz vollendet, und vor der Peterskirche sollte jetzt das steinerne Wunder aus Ägypten aufgepflanzt werden. Der Mann, der diesen Entschluß faßte, war Sixtus V., Sohn eines Bauern aus Grottammare, mit 65 auf den Stuhl Petri gelangt. Er war beileibe nicht der erste, der den Obelisk aus dem untergegangenen Zirkus des Nero verrücken und vor die Basilika San Pietro transportieren lassen wollte, aber er war der erste, der es wagte, wirklich an den monolithischen Koloß zu rühren. Mit der Durchführung betraute er einen gewissen Domenico Fontana, einen sehr geschickten Architekten und Techniker, der sich schon an vielen schwierigen Aufgaben bewährt hatte und dem Papst Sixtus jede erforderliche Hilfe, jede nur denkbare Erleichterung und alle Mittel von vornherein versprach.

Fontana stellte seine Berechnungen an. Danach stellte er seine Forderungen. Dann überwachte er die Herstellung der notwendigen Apparaturen. Der Obelisk wurde mit einem Gerüst aus starken Eisenstangen und Holzbalken umgeben. Zugleich wurde rings um ihn ein breiter Gürtel freien Raumes geschaffen, man brach Häuser ab, man demolierte sogar eine Kirche, um ihn niederlegen und fortschaffen zu können. Dann wurden riesige Winden aufgestellt, auf denen armdicke Seile aufgerollt waren. Am Morgen eines Apriltages 1585 begann man mit der Arbeit.

Alle zu dem Platz führenden Straßen waren mittels Schranken abgesperrt. Papst Sixtus, nicht umsonst von Freunden und Feinden wegen seiner Strenge gefürchtet und von vielen „il terribile“, der Schreckliche, genannt, hatte die Todesstrafe verhängt für jeden, der die Schranken etwa durchbrechen würde. Schwere Strafen waren auch denjenigen angedroht, die durch Sprechen oder Lärmen die notwendige Stille stören würden. Innerhalb des abgesperrten Raumes stand der Bargello, der Polizeihauptmann, mit seinen Häschern und war bereit, jeden, der die Befehle übertrat, sofort zu fassen.

Zunächst hob man die Kugel von der Spitze ab. Sie war von den Geschossen der Landsknechte durchlöchert, ihr Inneres war leer. Die Asche des Caesar hatte sich also nicht in ihr befunden. Am 30. April, zwei Stunden vor Tagesanbruch, wurden zur Anrufung des Heiligen Geistes noch zwei Messen gelesen, wobei alle, die an der Arbeit beteiligt waren, die Kommunion empfingen. Noch vor Sonnenaufgang hatten die Arbeiter ihre Plätze eingenommen. Ein Trompeter gab das Zeichen zum Beginn. Die Schreiner, die den Auftrag hatten, unter den sich neigenden Obelisken Holzbalken zu spreizen, trugen eiserne Helme, um durch herabfallende Holzstücke nicht verletzt zu werden.

Hatte man für die Kardinäle und Botschafter eine eigene Tribüne errichtet, so waren alle Fenster und Dächer in weitem Umkreis von unzähligen Zuschauern besetzt. In den angrenzenden Straßen war ein Gewoge von Menschen, so daß die Schweizergarde und leichte Reiterei gerufen werden mußten, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Endlich, nach einem neuerlichen Trompetenstoß, setzten sich die 40 aufgestellten Riesenwinden in Bewegung. 75 Pferde und 907 Menschen bedienten die Maschinen, die den 25 m hohen und 50.000 Zentner schweren Monolith mittels eines erklügelten Systems von Flaschenzügen langsam, ganz langsam aus der Senkrechten kippen und in die Waagrechte legen sollten.

Fürs erste wurden der Obelisk von seinem jahrhundertealten Standort zwei Spannen hoch in die Höhe gehoben und die vier Kugeln, auf denen er stand, durch Holzbalken ersetzt. Die Kugeln wurden – als erste Zeichen des Erfolges – dem Papst überbracht. Kanonenschüsse von der Engelsburg verkündigten der Stadt den geglückten Beginn. Die gesamte päpstliche Artillerie stimmte ein.

Acht Tage später war der Obelisk glücklich niedergelegt. Die Überführung nach dem Petersplatz nahm den ganzen Sommer in Anspruch.

Der Petersplatz hatte damals noch nicht die Ausdehnung, die ihm später durch Bernini und durch den Bau der Kolonnaden gegeben wurde. Auch hier mußten Häuser und Kirchen abgebrochen und Platz geschaffen werden für das steinerne Ungeheuer und für die Winden und Maschinen. Bis jetzt hatte sich alles nach Wunsch und Berechnung abgespielt. Aber noch stand das Schwerste bevor: den Obelisk unbeschädigt, ohne Sprung, ohne Bruch auf die Fundamente zu hieven und aufzurichten.

Wieder ein feierlicher Beginn der Arbeit; wieder waren das Kollegium der Kardinäle, das Corps der Botschafter und tausend und abertausend Menschen versammelt; wieder waren die Befehle des Papstes verkündigt und eingeschärft worden: niemand dürfte die Schranken durchbrechen, niemand mit einem Wort die Stille stören. Wieder Messen, Gebete und dann ein Trompetensignal. An den vierzig Winden setzten sich abermals 900 Menschen und diesmal 140 Pferde in Bewegung. Stunde um Stunde verging. In stummer Spannung hielten die Tausende aus und sahen zu, wie sich der Koloß langsam, ganz langsam, fast so unmerklich wie der Zeiger einer Uhr aus der Waagrechten hob. Schon war er weit aufgestiegen, schon trennten ihn nur noch wenige Winkelgrade von der Senkrechten, da – plötzlich – stockte die Arbeit. Einige Winden liefen leer, andere blockierten, das System der Flaschenzüge und Verspannungen versagte. Die Vorarbeiter blickten sich hilfesuchend nach dem Architekten um. Der Architekt stand ratlos. Auch der Papst war aufmerksam geworden, Kardinäle und Botschafter reckten die Hälse. Was war denn geschehen? So sorgfältig Fontana alles berechnet, wieder berechnet, geprüftund überlegt hatte, eins war ihm doch entgangen: das Riesengewicht des Obelisken hatte die Seile derart ausgedehnt, daß die mühsam erstellte Maschinerie nicht mehr funktionierte. Der Koloß stand auf der Kippe und war nicht mehr weiterzubewegen. Sollte das ungeheure Unternehmen in der letzten Minute mißglückt sein?

Da plötzlich ist an den Schranken unten ein kurzes Schieben, Stoßen, Vorwärtsprellen: ein Mann hat sich an die Barrieren durchgekämpft, hat sich herübergeschwungen und läuft vor, läuft in den freien, abgeriegelten verbotenen Raum, und dabei schreit er, schreit etwas vorerst kaum Verständliches, doch schreit er’s noch einmal, da wird es deutlich und lautet: „Tut Wasser an die Seile! Tut Wasser an die Seile!“

Zwei, drei oder fünf Sekunden lang ist die ganze Szenerie bewegungslos. Fontana steht und starrt den Fremden an, die Arbeiter stehen und starren gleichfalls, der Chor der Botschafter und Kardinäle atemlos, vorgebeugt und lauschend, und selbst der Papst, der sich aus seiner Sedia erhoben hat, verharrt so, und sein altes, häßliches, runzeliges Bauerngesicht, das eben erst bis in die Lippen erblaßt war, ist ganz aufgerissen vor Staunen, Überraschung und Nichtbegreifen, Nichtbegreifen, in dem sich doch von Sekundenbruchteil zu Sekundenbruchteil Begreifen anbahnt, vorformt, durchformt und dann hervorbricht in den beinahe röchelnd hervorgestoßenen Worten: „Ja, Wasser, tut Wasser an die Seile!“