Nur ein Regenbogen - Erzählungen aus fünf Jahreszeiten - Gertrud Fussenegger - E-Book

Nur ein Regenbogen - Erzählungen aus fünf Jahreszeiten E-Book

Gertrud Fussenegger

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Beschreibung

"Auf der Straße bewegten sich drei Fahrzeuge. In dem ersten saß ein Bauer mit seiner Frau, seinen Kindern und seiner alten Mutter. Sie waren auf der Flucht, denn es war Krieg und Vernichtungszeit, und sie flohen vor der Vernichtung.In dem zweiten Wagen saß ein Bursche, rotbackig, munter, in Sportrock und Mütze. Er fuhr in entgegengesetzter Richtung und auf die Fronten zu. [...]Im dritten Wagen saß ein älterer Mann mit seinem Fahrer. Beide waren in Uniform, sie gehörten einer der Armeen an, die hier Krieg führten. Der ältere Mann hatte zu Hause als Bankbeamter gelebt, jetzt befehligte er eine Truppe und war unterwegs zu ihr. [...]Die drei Fahrzeuge bewegten sich auf ein und derselben Straße, und alle drei kamen kurz hintereinander an ein und derselben Stelle vorbei.Dort lag ein Mensch."Wie gehen die Menschen mit Krieg um? Welche Ziele verfolgen sie? Wie reagieren sie, wenn ihnen die Angst im Nacken sitzt? Wer ist sich selbst der nächste und wer kümmert sich um andere? Um diese und andere Fragen drehen sich die insgesamt sechs Erzählungen in " Nur ein Regenbogen".-

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Gertrud Fussenegger

Nur ein Regenbogen

Erzählungen aus fünf Jahreszeiten

SAGA Egmont

Nur ein Regenbogen - Erzählungen aus fünf Jahreszeiten

Copyright © 1990, 2018 Gertrud Fussenegger und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711677766

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Der gelbe Saal

Einige Jahre vor Beginn des großen Krieges vollzog sich in einer kleinen Stadt des deutschen Südens ein merkwürdiges Schicksal, das wohl dazu angetan gewesen wäre, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erwecken; denn es kam dahin, daß ein altes Leben, das all seine Tage in treuester Redlichkeit und Strenge gegen sich selbst verbracht, an seinem Ende Zuflucht zum Verbrechen nahm, um sich in seiner Einsamkeit an einer armen, vom Atem des Wahnsinns angefachten Liebesflamme zu erwärmen.

Allein damals gab es wenige, die nach diesem einfältigen und glücklosen Leben fragen mochten. Erst in unseren Tagen erinnerte man sich wieder daran, und so mag auch diese verschollene Geschichte hier wieder berichtet werden.

In einem Gartenhaus am Rande der Stadt wohnte ein Mann, Jakob, mit seiner Frau; er stand in den Diensten eines reichen Kaufherrn, der sich hier an heißen Sommertagen oder in den langen milden Wochen des Herbstes mit den Seinen zu erholen pflegte. Dann wirbelte der Rauch aus dem Küchenkamin zwischen den besonnten Platanenwipfeln empor, und aus den Fenstern drang der leckere Geruch von Braten und Backwerk. Leichte Frauenkleider raschelten, mit ihren Schleppen schwänzelnd, über die Freitreppen hinauf und hinab, und im Laubengang promenierte der Hausherr mit seinen Gästen in behaglichem Gespräch. Zum Abschied wurden wohl auch bunte Lichter angesteckt, und mit dem fröhlichen Lärm der Tafelnden vermischten sich die wiegenden Klänge eines altmodischen Walzers.

Sonst war es still und einsam in Haus und Garten. Leer stand der große gelbe Saal, in dessen Fenstern Blumen und Früchtetrauben nickten, leer die schönen Schlafstuben und die von Kupfer und Nickel funkelnde Küche. Nur das dienende Walten des Besorgers und seiner Frau machte die tägliche und manchmal mühselige Runde. Nie hatten sich die beiden einfallen lassen, die Räume der Herrschaft zu ihrem eignen Vergnügen zu betreten, nie ein wenn auch noch so kleines Recht an den unbenützten Dingen sich anzumaßen. Sie lebten in ihren zwei engen Kammern unterm Dach und kannten keinen andern Wunsch, als den Glanz der Herrenwohnung ungetrübt zu bewahren. Die Sorgfalt, die sie darauf verwandten, diesen ihnen anvertrauten Schatz zu hüten, war einer Leidenschaft nicht unähnlich, die ihren eintönigen Alltag erfüllte und ihr Wesen immer tiefer durchdrang.

Nicht anders als mit der Wohnung verfuhren sie mit dem Garten. Weit und breit war kein besseres Obst, kein strotzenderes Gemüse zu finden, und die Blumen entfalteten sich unter Jakobs Pflege Jahr um Jahr prächtiger als anderswo. Hinter dem weißen Staketenzaun sah man die kantige Gestalt des Mannes von der Schneeschmelze bis tief in den Herbst hinein zwischen den Pflanzungen umherwandern, sich bückend niedertauchen und wieder erscheinen. Er stach um, säte und setzte, jätete und begoß und brachte endlich die Früchte ein. Allein er versagte es sich, von ihnen zu nehmen, er behielt nur den Abfall für den eignen Tisch. Brachte er die Ernte in das Haus seines Dienstherrn, wartete er wohl heimlich darauf, daß ihm ein Teil davon angeboten würde. Aber da dies nur allzuselten geschah und er nicht bitten wollte, vertröstete er sich selbst, daß er das nächste Mal vielleicht um so reichlicher erhalten werde; und endlich dachte er bei sich, daß er und sein Weib ja die Freude an dem Wachsenden und Reifenden genössen und mit dem stillen Glück des Gärtners schon gut genug belohnt seien.

Jakob und Anna waren nicht mehr jung und glaubten, die Mitte ihres Lebens längst überschritten zu haben, als ihnen ein Knabe geschenkt wurde. Unerwartet fanden sie eine seit vielen Jahren scheu verhehlte Sehnsucht aufs lieblichste erfüllt. Die staunende Freude der beiden alternden Menschen verwandelte sich in helles Entzücken, als sie sahen, daß das Kind wohlgeraten und schön war, daß es – wie die Kinder jüngerer Eltern – lächeln und strampeln lernte, daß es bald Vater und Mutter von Fremden unterschied und seine Nahrung mit derselben tiefsinnigen Verständigkeit nahm, wie jeder gesunde und hungrige Säugling sie zu nehmen pflegt.

Sie gaben ihm in der Taufe den Namen Wilhelm, welcher der Name von Jakobs Vater war. Dieser hatte in einem ansehnlichen Marktflecken das Amt eines Bürgermeisters bekleidet, und sein Bild, das einzige Prunkstück der bescheidenen Wohnung, hing in goldenem Rahmen unter dem Kruzifix. Sonntags, wenn die Arbeit ruhte und der kleine Wilhelm satt und zufrieden in seinem Bettchen lag, holte sein Vater eine alte Mappe hervor, die alle Erinnerungen an Wilhelm, den Bürgermeister, enthielt. Bedächtig schlug er Blatt für Blatt um und las, die Lippen flüsternd bewegend, die vergilbten Zeitungsausschnitte wieder, die seines Vaters Erwähnung taten. Da stand Anna von ihrem Platz an der Wiege auf, blickte ihrem Mann über die Schultern, nickte und lächelte schließlich mit blanken Augen. Und es geschah nicht selten, daß Jakob Annas Hand ergriff und die Frau auf seine Knie zog. So saßen sie atmend still, bis das sinkende Licht zum Abendbrot mahnte.

Der Knabe bekam Zähne und lernte laufen, und es vergingen kaum zwei oder drei Sommer, bis er sich als Herr über Haus und Garten fühlte. Von der Straße und den Zäunen der Nachbarn holte er sich Spielgefährten herbei, und bald begann zwischen Beeten und Büschen ein lustiges Treiben, über die blank gebohnerten Treppen trappelten Kinderfüße, und an den blitzenden Fensterscheiben des gelben Saales drückten sich kleine Rotznasen platt: es gab darin so vieles zu bestaunen.

Dem reichen Kaufherrn war es leid, daß die träumerische und behagliche Stille seines Sommersitzes auf solche Weise gestört worden war. Mit ärgerlichem Stirnrunzeln bemerkte er, daß hier und dort ein kleiner Fuß eine Pflanzung betreten, einen Stengel geknickt hatte; lästig schien es ihm, daß, führte er seine reichen und vornehmen Gäste umher, er dem unbekümmert schwärmenden Bubenvolk auf Schritt und Tritt begegnen sollte. Mit scharfen Worten fuhr er gegen den kleinen Wilhelm los, der solches Gelichter herbeigelockt hatte, und jagte seine Gefährten kurzerhand zum Tor hinaus.

Nun mußte der Knabe bei seiner Mutter in der Stube bleiben und schmollend, weinend vor Ungeduld, die grüngoldenen Wochen des Sommers fast als Gefangener verbringen, bis der Kaufherr mit den Seinen zur Stadt zurückfuhr.

Doch mit den Jahren wuchs seine Kraft und die unbändige Sehnsucht, diese Kraft in Spielen und Knabenstreichen frei zu regen. Es war, als habe sich der starre Rechtssinn des Vaters in ihm zu trotzigem Ungestüm verwandelt, den Jakobs Ermahnungen und selbst die flehentlichen Bitten der Mutter stets nur für kurze Zeit zu dämpfen vermochten.

Eines Tages, da er mit seinen heimlich eingelassenen Kameraden Räuber und Büttel spielte, wagte er das Unerhörte: er stieg durch das offene Fenster des gelben Saales ein, um sich dort zu verbergen. Von der Lust am Spiel berauscht hörte er, wie die Gefährten draußen vergeblich nach ihm suchten, er lockte sie durch verstellte Rufe dahin und dorthin, und um sich an den Mühen der Genasführten zu weiden, schlich er ans Fenster, spähte, fand sich entdeckt und sprang noch einmal zurück. In diesem Augenblick klirrte schon die Scheibe eines kostbaren Spiegels in tausend Scherben über den Boden hin.

Verzagten Herzens wanderten Jakob und seine Frau in das Haus des reichen Kaufherrn, Abbitte zu leisten. Doch die erwartete Scheltrede blieb aus. Mit trauriger Miene reichte jener ihnen die Hand. »Arme Leute«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, »ihr werdet an eurem Kinde noch viel Kummer erleben müssen.«

Am Abend, als Wilhelm schon schlief, saßen die verstörten Eltern noch bei ihrer Ölfunzel wach. Endlich hob die Mutter das verweinte Gesicht von den Händen. »Wir haben unsern Wilhelm zu lieb gehabt, Vater«, sagte sie. »Ich sehe es nun, wir haben ihn zu lieb gehabt.«

»Meinst du das wirklich?« fragte der Mann. Er trat zum Herd, da gloste noch ein wenig Glut, er starrte in ihr düster-rotes Licht und konnte seine Augen nicht mehr wegwenden. »Dann haben wir eine schwere Sünde gegen ihn begangen.«

»Ja«, sagte die Mutter, »das haben wir wohl. Und wir müssen nun streng sein gegen ihn.«

Der Mann nickte, und nach einer Weile nickte er wieder, als fiele es ihm schwer, diesen Gedanken in sich zu fassen, obwohl er ihm willig sein wollte. »Streng sein …«, sagten die Eltern vor sich hin. »Ja, das müssen wir nun.« Und dann weinten sie wieder.

Von diesem Tag an begegneten sie ihrem Sohn anders als vorher. Sie zwangen ihn, seine kindlichen Spiele aufzugeben und an ihrer Arbeit teilzunehmen. Sie schlossen die buntbebilderten Bücher fort, in denen er so gern gelesen hatte, wachten darüber, daß er nicht mehr mit den Gefährten zusammentraf, von denen, wie sie meinten, der Trotz des Knaben aufgewiegelt würde. Sie suchten seine Lehrer auf und baten sie, ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Sie weihten ihn nicht mehr in die kleinen Geheimnisse ihres Lebens ein, sondern hielten ihn fern von sich, in der Meinung, so seine Ehrfurcht zu erwecken.

Wohl sahen sie, daß Wilhelm diesen Wandel nicht begriff. Er war, wie alle Kinder, stets bereit gewesen, seine kleinen oder größeren Übeltaten zu vergessen, und vergaß sie, sobald er glauben konnte, daß auch die Eltern sie vergessen hätten. Allein diesmal wartete Wilhelm vergeblich. Ein Tag nach dem andern verging, und was ein kurzes Ungewitter geschienen, breitete sich zu einem Landregen aus, einer nicht enden wollenden Trübe. Dem Knaben war, als hätte er sich unversehens in ein fremdes kälteres Land verirrt, aus dem es keinen Ausweg gab. Voll Schmerz und Trotz versuchte er sich die Rückkehr in das verlorene Paradies zu erzwingen, doch sein wildes Aufbegehren erschreckte die Eltern noch mehr. Sie machten ihr Herz hart gegen ihn und verbargen ihre Liebe.

Als Wilhelm vierzehn Jahre alt war, erbot sich der reiche Kaufherr, ihn zu sich in die Lehre zu nehmen. »Vielleicht mache ich noch was Ordentliches aus ihm«, sagte er. »Ich will nichts unversucht lassen, euch zuliebe, denn ihr seid gute Leute und habt das Böse nicht verdient.« So trat Wilhelm in das Geschäft seines Herrn ein, zuerst als Tütendreher und Laufbursche, später als Verkäufer. Er war jetzt ein langer und hagerer junger Mensch geworden, die dumpfe Luft in den Warenhäusern bleichte seine Haut, und seine Augen trübten sich ein wenig. Die Leute, die ihn früher gekannt hatten, stießen einander an. »Seht, das war das schöne Kind von Jakob und Anna, jetzt ist er häßlich; aber er verdient sein Brot.«

Eines Tages – es war kurz vor der Weihnachtszeit und das Wetter bitter kalt – kam der Kaufherr in sein Gartenhaus. Anna lief, als sie das Gefährt vor dem Gartentor erblickte, geschäftig hinab in den Saal, um ein Feuer anzumachen. Da blinkte und blitzte der Boden, obwohl niemand von der Herrschaft zu erwarten gewesen war, und es lag kein Stäubchen auf den Möbeln und kein dürres Blättchen unter der Zimmerlinde. Die Frau rückte den Polsterstuhl an den Ofen, eilend, dem frierenden Herrn einen Kaffee zu kochen. Aber er lehnte mit finsterer Miene ab, verlangte nach Jakob und ließ sie beide lange wartend an der Türe stehen, ehe er das grämliche Gesicht nach ihnen wandte. »Euer Sohn«, begann er, »hat mir meine Güte schlecht belohnt. Doch ich habe nie etwas von ihm gehalten, mich trügen meine Augen nicht.«

Die Eltern fingen an zu zittern. »Gnädiger Herr«, stammelte die Frau, sie faltete ihre alten, von der Arbeit gekrümmten Hände. »Gnädiger Herr, seien Sie nicht zu hart. Ich bitte Sie! Aber wenn unser Wilhelm wirklich etwas verfehlt haben sollte, wollen wir alles gutmachen, ich und mein Mann …«

»Was wollt ihr gutmachen? fragte der Kaufherr. »Er ist ein Dieb geworden, es liegt an seiner Ehre.«

Die Mutter schrie auf, und Jakob mußte sie am Arm fassen und hinausführen. Dann kehrte er in den gelben Saal zurück; alle die alten und wohlbekannten anvertrauten Dinge standen da, blank und glänzend, und grinsten ihn höhnisch an. Der Kaufmann saß am Ofen und stemmte die Füße gegen die Kacheln, er hatte seine blaugefrorene Nase im Pelz vergraben. Aber das Feuer knatterte munter, und seine Wärme weckte einen leisen Duft wie nach gebratenen Äpfeln und Behaglichkeit. Da schaute der Kaufherr auf und sagte: »Laß mir einen Glühwein bringen, Jakob! – Du willst wohl wissen, was er gestohlen hat, der Wilhelm. Hundert Kronen sind es – jawohl, sie waren in meinem Schrank versperrt.«

Es war schon spät, und der Mond zeigte sein weißes Gesicht zwischen den kahlen Ästen der Bäume und dem bewegten Gewölk, das an ihm vorbeitrieb, als die Tür ging und Wilhelm nach Hause kam.

Er trat in die Kammer, da lief die Mutter auf ihn zu und schrie: »Was hast du getan, Wilhelm, was hast du getan? Haben wir dich gelehrt, ein Dieb zu werden?«

Der Sohn knickte zusammen; sein Mund zitterte, da er ihn endlich auftat; er fragte so verwundert, daß die Eltern vor Schmerz winselten: »Glaubt ihr es denn, ihr auch?«

Doch als keine Antwort kam, lief seine Stirn dunkelrot an, sein Blick wurde glühend starr, er schrie: »Ihr seht mich nie mehr wieder …« Damit sprang er die Treppen hinab und in die Nacht hinaus.

Von dieser Stunde an blieb Wilhelm verschwunden. Ein langer, grimmiger Winter verging, und als endlich der Frühling schüchtern seinen Einzug in den verödeten Fluren und Gärten der Vorstadt hielt, saßen die beiden Alten immer noch allein in ihrem Sommerhaus und warteten. Sie warteten Tag und Nacht, ihr Schweigen war ein Hinauslauschen geworden und ihr Schlaf nur wie ein dünner Schleier, der sich für kurze Stunden auf ihre Bangnis senkte. Manchmal verließen sie ihr Heim und wanderten ein Stück ins offene Land hinaus und suchten mit ihren Augen alle Wege ab.

Die Spalierbäume begannen zu blühen, der Rasenplatz stand von weißen Narzissen voll, da kam der Wagen des reichen Kaufherrn wieder vorgefahren. Doch nicht er entstieg dem Gefährt, sondern seine Frau, eine dicke, muntere Dame mit vollen Wangenrosen. Sie stieß das Tor hastig auf und segelte auf Jakob zu, daß ihr Busen wogte. »Freuen Sie sich, lieber Mann«, rief sie und ergriff seine Hände. »Ihr Sohn ist unschuldig, die hundert Kronen haben sich gefunden: die Geldrolle ist in dem alten Schrank hinten in ein Geheimfach gekollert.«

Dem alten Jakob entfiel das Setzholz, er sagte: »Gott sei Dank …« und ließ die gnädige Frau stehen, er lief zu Anna in den gelben Saal, die dort kniete und den Boden scheuerte. Nach einer Weile erschien auch die gnädige Frau; nachdem sie Annas Hand gedrückt hatte, bat sie um Kaffee. »Eine Flasche Wein habe ich mitgebracht«, jubelte sie. »Und einen Kuchen; wir wollen dieses Fest doch feiern, zu dritt!«

Aber die Mutter wollte das Glas nicht auf die glückliche Entdeckung leeren. Die Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie kam nicht nach, sie mit der Schürze abzutrocknen. »Jetzt muß er wiederkommen«, stammelte sie ein um das andere Mal. »Im Tagblatt soll es stehen, daß der Wilhelm unschuldig ist. Dann muß er wiederkommen.«

Im Tagblatt erschien denn auch eine Nachricht, allein sie hatte von anderem zu berichten als von der wiederhergestellten Ehre des Gärtnersohnes: Ein Förster gelangte auf einer Streife in einen sehr abgelegenen Teil seines Reviers und fand dort unter den tiefhängenden Ästen einer Schirmtanne eine menschliche Leiche in einer Drahtschlinge hängend. Die Leiche war von Füchsen und anderem Raubzeug übel zugerichtet, fast bis zur Unkenntlichkeit verwest, aber der eine oder der andre meinte, in ihr den verschollenen Kaufmannslehrling erkennen zu dürfen. So begrub man die armen Reste an der Friedhofsmauer, wo Selbstmörder und Andersgläubige in ungeweihter Erde liegen. Der reiche Mann, in dessen Diensten Wilhelm gestanden, stiftete ein steinernes Kreuz, dem er Wilhelms Namen und ein von Rosen umranktes »Ruhe in Frieden!« einmeißeln ließ.

Aber kaum war dies geschehen, so pochte der alte Jakob an das Haus seines Brotherrn und bat, den Namen seines Sohnes von dem Kreuz zu entfernen. »Die wüste Leiche war unser Wilhelm nicht«, sagte er. »Unser Wilhelm war unschuldig, was hätte er sich erhenken sollen? Gott bewahre, er war ein frommer Junge, der hat seine Seele nicht dem Teufel verschrieben.« So wurde der Name wieder entfernt, und das Grab blieb unbestellt, weil sich keiner darum kümmern wollte. Niemals sah man Jakob oder Anna bei dem eingesunkenen Hügel stehen; wenn sie auf den Friedhof kamen, schlichen sie scheu daran vorbei und gönnten ihm keinen Blick.

Die Jahre vergingen, grau waren die beiden Alten geworden, verrunzelt und gebrechlich. Noch immer hausten sie auf dem Sommersitz des Kaufherrn, und noch immer blitzten die Fensterscheiben spiegelklar zwischen Wein und Klematis hervor. Mit Besen und Tuch wanderte Anna durch die hellen Räume, die gewohnte Pflicht erfüllend; doch ihr Augenlicht begann nachzulassen, sie trug eine grüne Brille, und wenn sie auf den Dielen einen feuchten Tritt oder eine Staubflocke vermutete, mußte sie auf allen vieren suchend umherkriechen – »wie ein Hund«, meinte sie dann selbst, »der seines Herrn Spur erschnüffelt …«

Auch den Mann schien das alte Gärtnerglück zu verlassen. Das pflanzliche Leben wollte sich seinen Händen nicht mehr fügen, es welkte und starb dahin, als wäre Jakobs Pflege von einem heimlichen Unsegen begleitet. Mit jedem Male wurde die Ernte karger, die er in die Stadtwohnung seines Dienstherrn brachte. »Hier ist es – und es ist alles«, sagte er, sein zahnloser Mund lächelte bitter. »Ich habe kein Äpfelchen für mich behalten, gnädiger Herr. Ich bin kein Dieb, auch ich nicht.«

Geh nur, Jakob! Dir fährt das Alter in den Kopf. Du wirst sonderbar.«

Von ihrem Sohn sprachen die Eltern selten und seltener. Aber eines wußte vom andern, daß es nicht aufgehört hatte zu hoffen und zu harren. Wilhelms Wiederkehr war etwas, das sie gleichsam am Rande ihres Lebens zu sehen erwarteten, das in irgendeiner Weise bereits zu den letzten geheimnisvollen Dingen gehörte, die Gott an der menschlichen Seele im Augenblick ihres Abscheidens vollzieht. »Wir werden nicht mehr Zeit haben, alles gutzumachen«, meinte Jakob einmal. »Ach, wie könnten wir, wie könnten wir!« antwortete die Mutter. »Selbst wenn wir ihm die ganze Welt zu Füßen legten, was wäre sie gegen unsre Reue!«

Vor Weihnacht, wenn sich der Tag jährte, an dem Wilhelm verschwunden war, wurden beide stets von einer tiefen Unruhe ergriffen. Heimlich buk die Mutter Lebkuchen und brachte wie einst eine kleine Tanne vom Markt, Wachslichter und Flitterwerk. In den langen Mittwinternächten dünkte sie der Sohn näher als sonst zu sein, sein Bild erfüllte ihre Sinne wie eine leibhaftige Gestalt, und seine Stimme schien als ein leiser Nachhall in den verlassenen Gemächern zu schweben. Qualvoll beglückt durchstreiften sie Haus und Garten, sahen die bereiften Bäume zauberisch im Dunkeln stehen. Eine fremde Spur im Schnee ließ sie plötzlich verstummen, den zwei alten Menschen war, als hielten Himmel und Erde rings um sie den Atem an vor dem, was geschehen sollte.

In einer solchen Nacht war es, als Anna plötzlich von einem Geräusch erwachte, es war ein leises Scharren, das für Sekunden aussetzte, doch immer wieder begann. Sie weckte Jakob, nun lauschten beide atemlos. »Es ist jemand draußen«, flüsterte er.

»Mach Licht, mach Licht! O Jesus Christus!« schrie sie leise, als die Schwefelhölzer zwischen seinen bebenden Fingern nicht sogleich aufflammen wollten. »Der Wilhelm!« Ihre Stimme zerbrach in Entzücken und Grauen, zitternd sprang sie auf die Beine und versuchte in ihre Kleider zu fahren. Aber die Augen versagten ihr den Dienst, sie tappte hilflos umher.

Unterdessen hatte der Mann eine Kerze zum Brennen gebracht und war auf den Flur getreten: nun war das Scharren ganz deutlich zu vernehmen, es drang aus dem Dachraum, zu dem sich eine schmale Stiege durch eine Falltür emporwand. Barfuß, vor Kälte und Erregung schlotternd, stieg der Greis die Stufen hinan. »Wilhelm!« rief er. »Wilhelm, bist du es?«

Mit dem Kopf im Dachraum auftauchend, sah er einen Mann vor einer Truhe knien und im Licht einer winzigen Laterne mit Dietrich und Feilen hantieren. Es war die Truhe, in der sie des Sohnes Kleider und Wäsche aufbewahrten. Der Fremde kehrte Jakob den Rücken zu, doch jetzt, durch den Ruf oder den Schein der Kerze gewarnt, erhob er sich, blickte zurück. Es entfuhr ihm ein gurgelnder Laut des Entsetzens, einer sinnlosen Bewegung zur Flucht folgte sekundenlang schwankendes Stillestehen, endlich sprang er hin und schmetterte die Falltür über dem Alten zu.

Die Mutter hatte den Schlag und das polternde Kollern eines Körpers vernommen. Sie stürzte in die Finsternis hinaus, stolperte und fand ihren Mann am Boden liegend, seine Hand hielt noch die erloschene Kerze krampfhaft umschlossen. Sie tastete über ihn hin, ließ ihn liegen, klomm die Stufen hinan und stemmte stöhnend die schwere blechbeschlagene Platte auf. »Wilhelm, Wilhelm …«

Im Dachraum brannte das kleine Diebeslicht, und in seinem ungewissen Schein stand ein Mensch; er war groß und breit und hatte ein wollenes Tuch um den Hals gebunden. Die alte Frau ging auf ihn zu, furchtlos, sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und brachte ihre halbblinden Augen nahe an sein Gesicht. »Du bist es, Kind!« flüsterte sie unter Tränen.

»Gott sei gelobt!«

»Kind …?« fragte der Mann.

»Mein Wilhelm …«

»Ich heiße nicht Wilhelm«, erwiderte der Fremde. »Ich weiß nicht, was Ihr wollt!«

»Verberge dich doch nicht vor mir!« rief die Mutter ausbrechend. »Ach, du bist lange fort gewesen. Aber wir wußten, daß du wiederkommen würdest, der Vater und ich. Wir haben immer daran geglaubt, daß du uns schließlich verzeihen würdest.«

Der Mann schüttelte den Kopf, wollte reden, vermochte es jedoch nicht. »Ich verstehe Euch nicht«, murmelte er endlich verwirrt. »Ich bin ein Dieb, ein Einbrecher. Einer, der nachts in fremde Häuser schleicht … Ich wollte Kleider holen, mich fror – es ist so kalt. Da kam der Alte …« Er stand eine Weile da, seine Augen suchten die Falltür, jetzt schauderte er heftig zusammen. »Der alte Mann … er fiel doch die Treppe hinab, und ich … ich bin noch hier!«

Er riß sich von Anna los, öffnete eine Luke und zwängte sich hindurch. Die Frau hörte den dumpfen Fall seines Körpers, doch kurz darauf sah sie einen hastenden Schatten zwischen den verschneiten Büschen verschwinden. Da warf sie die Arme empor und schrie …

Wenige Stunden später war das stille Haus voll fremder Menschen. Polizisten standen umher, während ernst blickende, schwarzgekleidete Männer jeden Raum Zoll für Zoll durchmaßen. Die Leiche des alten Jakob hatten sie in seiner Kammer auf das Bett gelegt, sie war nicht entstellt, nur aus Mund und Nase waren zwei feine Blutfäden hervorgesickert, die dem hohlwangigen, verrunzelten Gesicht den Ausdruck stiller Vergnügtheit gaben.

Im gelben Saal liefen Schritte hin und her, rastlos, ohne Ende. Von Zeit zu Zeit versuchte eine Hand an der Türklinke zu rütteln, dann erhob sich eine dunkle Stimme, die voll Geduld, aber auch voll Festigkeit war: »Setzen Sie sich nieder, liebe Frau. Sie dürfen jetzt nicht hinausgehen. Sie werden Ihren Sohn bald wiedersehen …«

Man fand den Mörder in einem nahen Schuppen, wo er sich im Heu vergraben hatte. Als er hörte, daß der alte Mann tot sei, beteuerte er jammernd, das habe er nicht gewollt.

Kurz vor Fastnacht trat das Schwurgericht zusammen, um über den Mann, der in einem Sommersitz eingebrochen und dabei den Hausbesorger erschlagen hatte, zu richten. Er nannte sich Albrecht Hegner, aus einem fernen Teil des Landes gebürtig, und erzählte sein Leben, wie es bisher verlaufen war, das Leben eines eltern- und heimatlosen Menschen, der es zuerst versucht hatte, redlich durchzukommen, und schließlich Hehler und Dieb geworden war. Jetzt hatte er getötet.

Als Kronzeugin erschien eine alte, gebückte, eisgraue Frau, die ihre halbblinden Augen nicht für eine Sekunde von der Anklagebank wandte, die aufstand und lauschte, wenn der Angeklagte zu reden anhub. Sie sagte, er sei ihr Sohn. Zehn Jahre habe sie auf ihn gewartet, um ihm abbitten zu können, was sie ihm einst angetan. Sie habe ihn, ihr einziges Kind, aus dem Elternhause vertrieben durch ihre Härte und den häßlichen Verdacht des Diebstahls, dem sie auch nur eine Stunde lang Glauben schenken konnte. Ihr Wilhelm habe zuviel Ehre gehabt, um das zu ertragen. Nun sei er heimgekehrt; wenn er sich auch einen andern Namen gegeben habe, sie habe ihn erkannt, sie wüßte, wer er sei. Und sie, die Mutter, wolle für ihn zeugen.

Die Richter hörten ihr schweigend zu, sie wagten nicht, die Frau in ihrem Elend anzublicken. Es wurde still im Saal, sehr still, niemand rückte auf seinem Stuhl, niemand flüsterte ein Wort, nur der Angeklagte krümmte sich zusammen, es schüttelte seinen Körper, und schließlich weinte er hemmungslos.

Vor der Urteilsverkündung ließ der Vorsitzende die Frau hinausführen. Sie duldete es willig; doch vor der Schranke, hinter der der Mörder saß, hielt sie inne und sandte ein blindes zitterndes Lächeln tröstend zu ihm empor.

Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu vier Jahren Zuchthaus. Dieser nahm die Strafe an, und auch die Mutter klagte nicht, als sie davon hörte. »Zehn Jahre sind es bis jetzt gewesen, nun noch vier …, sie werden mir nicht mehr so lange währen.«

So kehrte sie in ihr Gartenhaus zurück und lebte dort einsam für sich, Tag um Tag zählend, keinen andern Gedanken hegend als den an die Heimkehr des Sohnes zur Gesellschaft. Wenn es erlaubt war, die Gefangenen zu besuchen, machte sie sich auf und brachte einen Korb Eßwaren und Wäschestücke ins Zuchthaus. Bald war sie dort bekannt, man erzählte sich ihre Geschichte, und es geschah nicht selten, daß rohe Menschen ihrer zu spotten versuchten.

Als die vier Jahre vorüber waren und Albrecht Hegner die Freiheit erlangte, führte ihn Anna zu sich auf den Sommersitz ihres reichen Brotherrn. Es war ein so lauer Winter gewesen, daß die Bäume schon Knospen trugen, und das Gras war nicht ganz verblichen. Die Luft stand milde über dem Land, das in der Ferne leuchtend blau war, der Südwind trieb Wolken vor die Sonne, und ruhelos wechselte das feuchte, flackernde Licht auf den Dächern der Stadt.

Die Frau geleitete den Freigelassenen durch den Garten, ihre Wangen brannten im Fieber, und ihr Schritt war leicht, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Sie öffnete das Haus: da stand die Flügeltür zum gelben Saal aufgeschlagen, hinter die Bilder waren Tannenreiser gesteckt und alles, was das Glashaus an Blüten hergab, auf den Simsen aufgestellt. Die Frau rückte den hohen Lehnstuhl an den Tisch und hieß den Mann darin niedersitzen.

Die Glocken läuteten den Mittag ein, nie schienen ihre Stimmen feierlicher gerufen zu haben; das volle Licht brach hernieder, es spiegelte sich in den blanken Dielen und den hohen golden gerahmten Scheiben, und jeder Winkel des Saales war von Glanz erfüllt. Da ging Anna und steckte noch Kerzen an, siebenmal drei Kerzen in den sieben schönen, hohen, metallenen Leuchtern. Sie öffnete den Schrank und nahm den feinsten Damast, um den Tisch zu decken, und das schwerste Silber. Aus dem Keller holte sie Wein, brachte Schinken und Backwerk und leerte die großen irdenen Töpfe voll köstlichen eingemachten Obstes in kristallene Schüsseln.

»Iß und trink, Wilhelm!« rief sie. »Wir wollen fröhlich sein!« Der Mann saß da und blickte um sich; nach den Jahren der Entbehrung gelüstete ihn zu kosten und zu genießen, ihm wässerte der Mund nach dem Überfluß. Allein ein Grausen faßte ihn an, denn er sah den Wahnsinn aus der Alten Angesicht leuchten. Mehr und mehr häufte sie vor dem Platz des Gastes auf; was zur Erde fiel, schleuderte sie ungeduldig mit dem Fuß zur Seite, sie achtete nicht darauf, daß Wein und Tunke über das kostbare Tischtuch flossen. Sie, deren Hände ein Leben lang nur gedient hatten, gierte jetzt danach, die sorgsam gehüteten Dinge an sich zu reißen, sie zu genießen, zu verderben, zu vernichten. »Laß es dir gut gehen, Wilhelm, mein Wilhelm. Hier bist du daheim. Auf diesen Tag hab’ ich mich eine Ewigkeit gefreut.«

Endlich ließ sich der Mann überreden, er trank, nahm von den Speisen, und kaum hatte er den Anfang gemacht, war er schon von seiner Gier überwältigt.

»Sieh dort den Spiegel … Weiß du’s noch? Es war der Beginn, von ihm ging alles Unheil aus.« Sie ergriff eine silberne Tasse und schleuderte sie gegen die Scheibe, die zerbrach. Von dem Klirren der Scherben entzückt, erhob sich die Greisin, trat auf das Bild des reichen Kaufherrn zu, der unterdessen längst gestorben war, sie zerrte es von der Wand und zerstampfte es unter ihren Füßen.

Nachbarn waren es, die, durch das Lärmen angelockt, in den Garten drangen und, durch die Fenster spähend, der Vernichtung ansichtig wurden; eiligst sandten sie nach der Stadt, um die Besitzer herbeizuholen.

Als die Erben des reichen Kaufherrn ankamen, war es Abend geworden. Die Lichter im gelben Saal waren ausgebrannt, nur ein einziger kleiner Stumpf beleuchtete mit seinem irren Geflacker die zerscherbten Gläser, die umgestürzten Schüsseln, den verwüsteten Tisch. Der Platz, an dem der Einbrecher gesessen hatte, war leer. Doch in dem Stuhl ihm gegenüber lehnte ein schwarzes Bündel, die Gestalt der alten Frau, das erlöste Gesicht zur Decke gewandt. Sie war tot.

Am Tage, da man Anna, die Witwe Jakobs, begrub, sah man am Hause des reichen Kaufherrn von unbekannter Hand die Worte geschrieben: »Wehe über die Hartherzigen, denn sie machen die Redlichen treulos, die Gehorsamen widerspenstig. Den Samen der Gerechten machen sie zu Spreu.«

Eines Menschen Sohn

Es hatte den ganzen Tag geschüttet, und ein Gewitter nach dem anderen war, unter Sturm und schweren Donnerschlägen, das Tal der Rosanna hinabgezogen. Es war Abend geworden, bis der Regen nachließ und die Luft nur noch müde den letzten, schon entfernten Blitzen nachgrollte: da begann der Landläufer nach einem Schlafplatz Umschau zu halten. Er bog von der Straße ab und watete durch das knietiefe Gras einer sumpfigen Wiese auf einen Stadel zu, er fand den Einschlupf und in der dumpfen Dunkelheit, die ihn drinnen empfing, eine Schütte Heu. Sie fühlte sich trocken an, und der Mann ließ sich auf sie niederfallen. Erschöpft von der langen Wanderung, ausgehöhlt von Hunger, geschwächt von der Unbill des Wetters, lag er eine Weile tief atmend da, alle viere von sich gestreckt. Endlich raffte er sich dazu auf, seine durchnäßte Jacke auszuziehen und über einem Stapel Stangen zum Trocknen auszubreiten, dann grub er sich ein Loch ins Heu, kauerte sich hinein und begann seinen Rucksack aufzuschnüren. Aus dem Rucksack langte er sich ein Ei und ein Stück Brot hervor. Das Ei stieß er auf und trank es leer, das Brot zerriß er in Stücke und aß es. Die Füße brannten ihm, und er ächzte erleichtert, als er sich seiner gequollenen Stiefel entledigt hatte. Er stopfte sie mit Heu aus und wickelte die nassen Fußlappen ab. Derweil aß er immerfort, zuerst hatte er gierig geschlungen, jetzt kaute er langsam, allmählich durchdrang ihn das Gefühl der Sättigung. Indessen wurde es auch draußen Nacht. Durch die handbreiten Klufen der Balkenwände sah man die Wolken bis auf die Talsohle niederhängen. Der Fluß rauschte herauf, von allen Hängen rauschten die Bäche zu ihm hinab, im nahen Wald strich der Wind schauernd durch die triefenden Wipfel. So war die Luft von tausend Wasserlauten erfüllt. Einmal wurde sie auch von einem fremden Geräusch erschüttert: ein Zug fuhr unten am Hang mit erleuchteten Fenstern vorüber.

Der Landläufer streckte sich und gähnte. Er wühlte sich ein noch tieferes Loch ins Heu, kroch hinein und scharrte eine dicke Lage der stark riechenden, dürr knisternden Halme über sich. Er wollte nun schlafen, aber das feuchte Hemd dampfte auf seiner Haut, das Heu stach ihn, er fror. So verging eine Zeit. –

Endlich mußte er doch eingeschlafen sein, denn als er erwachte, spürte er mehr als er hörte, daß sich draußen in der Nacht eine merkwürdige Unruhe breitgemacht hatte. Verworrene Geräusche zogen sich heran, ein Fahrzeug rollte, und hinten im Tal rumorte es von metallischem Dröhnen, als würde dort mit schweren Vorschlaghämmern auf Blech geschlagen. Der Landläufer kroch aus seinem Nest und spähte hinaus. Da sah er Lichter von unten herüberblitzen, einzelne zuerst, aber gleich darauf ein ganzes Rudel wankender Laternen und Fackeln. Auch ein großes Feuer mußte irgendwo in der Nähe brennen, denn ein rotgefärbter Rauch stieg gegen die Wolkendecke auf, breitete sich unter ihr zu einem Pilz aus und zog als fahler brandroter Schatten unter ihr dahin. Das alles sah der Mann, wie er dahier vor der Balkenwand kauerte, die niedrige Stirn gegen das spänige Holz gepreßt. Er begann zu zittern und mußte schlucken, und dabei fühlte er seine Lippen trocken und spröde werden und fuhr sich mit der Zungenspitze immer wieder darüber. Endlich kam Bewegung in ihn, eilig suchte er nach seinen Stiefeln, warf das Heu heraus und zwängte seine Füße in die feuchten Röhren. Dann nahm er die Jacke und den Sack, von dem er sich niemals trennte, schwang sich zum Einschlupf empor und sprang draußen hinunter.

Zuerst schnürte er den Waldrand entlang, vorsichtig, witternd, als wollte er erst erkunden, was sich da unten ereignet habe, dann aber, als litte es ihn plötzlich nicht mehr abseits, setzte er in großen Sprüngen hinab. Er überquerte die Straße, ein Auto fuhr an ihm vorbei und brüllte ihn aus seiner Hupe an; dann stieß er auf eine Gruppe Männer, die mit Lichtern heranhasteten, sie trugen Äxte, Stangen und Schaufeln, und in ihren Gesichtern glühte etwas Wildes, eine Mischung von Angst und Neugier, sie rannten mehr als sie gingen, und jetzt bogen sie von der Straße weg und gegen den Bahndamm ein.

Hier, zwischen den Schienen, brannte ein Feuer, dasselbe, dessen Schein Thoma schon wahrgenommen hatte, menschliche Gestalten torkelten wie schwerfällige schwarze Falter vor den Flammen herum. Und jetzt sah Thoma endlich, was geschehen war: ein Zug war entgleist; an einer Stelle, wo der Fluß nah an den Bahndamm heranspülte, war die Maschine aus den verbogenen Gleisen gesprungen, hatte das Erdreich aufgerissen und war die Böschung hinab und mit der Schnauze in die Flut gestürzt. Nach oben lagen die Räder gekehrt, die Kolben und Pleuelstangen, das ganze schwarze, ansonst verborgene Eingeweide des stählernen Ungeheuers, und die Wölbung des Kessels glänzte höllisch auf in dem flackernden Licht.

Hinter der Maschine war der Kohlentender umgestürzt und hatte seine schwarze Last über die Böschung geschüttet, hinter ihm lagen die leichteren Wagen, zertrümmert, die beiden ersten ineinander geschoben, ein wirrer Haufen von Holz, Rädern und Achsen, Scherben und zerrissenen Röhren, und aus diesem wüsten Haufen drang Geschrei hervor, grell und entsetzlich, kurze schrille Rufe und langes wimmerndes Heulen, und ein Mann lief den Zug entlang, hinauf und hinab, und schrie immerfort wie ein Wahnsinniger denselben unverständlichen Namen.

Die ersten drei Wagen waren gänzlich zertrümmert, aber die rückwärtigen hatten sich nur auf die Seite gelegt, aus ihnen waren die Leute mehr oder minder unverletzt herausgekrochen, und sie hatten auch den anderen, die unter den Trümmern lagen, die erste Hilfe geleistet.

Das Unglück mußte sich vor mindestens einer Stunde ereignet haben, denn schon war man von den verstreut umliegenden Gehöften und den nächsten Stationen scharenweise herbeigeeilt. Aus der benachbarten Ortschaft rückte die Feuerwehr an. Man hatte die notdürftigsten Hilfsmittel herangebracht, an zwei Stellen surrten Schweißapparate und fraßen sich mit grellblauen Flammen an den Stellen in das Gewirr hinein, wo das entsetzlichste Geschrei darunter hervordrang, Laute des Schmerzes, der Angst und das herzzerreißendste Bitten.

Irgend jemand hatte Thoma eine Spitzhacke gereicht und ihm ein Wort zugeschrien. So begann er, wo er gerade stand und wie er es von den anderen sah, auf die verkeilten Trümmer loszuschlagen und sie auseinanderzuzerren. Längs der ganzen Unglücksstelle wurden Feuer gemacht, hüben des Dammes und drüben am Fluß. Das Feuer wollte auf dem nassen Grund erst nicht brennen, da warf man Späne, Bretter, zerspellte Wagenwände hinein, an ihnen fanden die Flammen willkommene Nahrung, es griff um sich und sauste geschäftig durch die gewaltig strahlenden Glutstöcke.

Thomas Pickel hatte sich zwischen dem verbogenen Gestänge verfangen. Als er sich bückte, ihn freizukriegen, stieß ihn jemand rüde in den Rücken, und eine Stimme schrie an seinem Ohr: Schneller, schneller müsse er machen, es lägen noch Menschen da unten, was er wohl glaube?

Thoma riß seinen Pickel los und arbeitete willig weiter. Doch ihn trieb nicht – wie die anderen – das offenbare Grauen zu rasender Hast. Er kam aus dem Krieg, da hatte er Schlimmeres gesehen als das hier, er war stumpf geworden gegen das Entsetzen. Neugierig blickte er hin, wenn man zwischen die verkeilten Teile griff und einen Leib daraus hervorzog, manchmal war noch Leben in ihm, manchmal nicht mehr. Nur wenn man ein Weib barg oder ein Kind, runzelte der fremde Landläufer die Brauen, als schauderte da auch ihn. Dann schlug er heftiger mit seinem Eisen los, zerrte eifriger an den sich widerwillig entwirrenden Trümmern. Der Schweiß rann ihm von den Schläfen, die Knie zitterten ihm, das kam daher, daß er eine harte Arbeit nicht mehr gewohnt war und daß er, ausgehungert und herabgekommen wie er war, sich nicht mehr fähig fühlte, sie zu bewältigen.

Er war noch ein junger Mensch, knapp über die Mitte der Zwanzig hinaus, groß und knochig; sein glattes, schwarzes Haar hing ihm verwildert, in Strähnen, über die Stirn. Er hatte hohe Backenknochen, und seine Ohren, deren Läppchen verkümmert waren, hatten etwas von den Ohren einer Maus. Doch war er nicht häßlich, und das Schönste an ihm waren seine Augen, die, in tiefe Höhlen gebettet, dicht und dunkel bewimpert waren. Seine Brauen waren schmal und schwarz, wie Sicheln gebogen, aber sein Blick leer und glanzlos und von jener rohen Traurigkeit, die dem Blick verwahrloster Menschen oft eigen ist.

Die Kleider des Mannes bestanden aus einigen schlechten Stücken, in denen man noch die Teile einer Uniform erkennen konnte. Er hatte jetzt seinen Rock wieder ausgezogen und arbeitete im bloßen Hemd.

Immer mehr Leute versammelten sich um die Unglücksstätte, ein Hilfszug schob sich unter gellenden Pfiffen heran, er war aus dem Inntal heraufgefahren, aus ihm sprangen Ärzte und Sanitätsmänner und hohe Eisenbahnbeamte mit goldenen Flügelrädern auf den Mützen und goldenen Spiegeln an den Jakkenkrägen.

Man trug die letzten Verwundeten auf Tragbahren fort. Die Toten hatte man auf eine lange Plane gelegt, es hieß, es würden nun keine neuen mehr hinzukommen; der Schaffner sagte aus, daß die ersten drei Wagen nur von ganz wenigen Menschen besetzt gewesen seien.

Mit einer scharfen, weißleuchtenden Karbidlampe leuchtete man noch einmal zwischen die Trümmer. Weil sich nichts mehr Menschliches darunter fand, wandten sich die Herren davon ab und den Toten zu. Es hatte wieder zu regnen begonnen, einige der Herren trugen Regenschirme, und deren von Nässe glänzende Halbkugeln schwankten schwerfällig über ihren Köpfen. Der Beamte mit der Karbidlampe leuchtete nun die Leichen an, da ließ Thoma seinen Pickel fallen und drängte sich zu den Beschauern.

Die Leichen lagen in einer Reihe wie starre Puppen auf der Zeltbahn: zuerst der Lokomotivführer, neben ihm ein Halbwüchsiger, der eine verschnürte Angelrute umklammert hielt. Dann zwei Frauen, ein alter Mann, ein kleines Kind, abermals ein Mann, dem hatte es beide Beine vom Rumpf getrennt.

Ganz außen, schon halb auf dem zerwühlten Grund, in dem niedergetretenen, schwarzen triefenden Gras lag eine Frau. Sie lag zusammengekrümmt, das Gesicht nach unten. Sie war mager, ihre schwarze Jacke war auf dem Rücken zerrissen, und in dem Riß zeigte sich eine rote, gleichfalls zerrissene Bluse, ein graues Hemd und ein Stück wachsfarbener Haut. Ihr linker Arm lag weit von ihrem Körper gestreckt, als wäre er ausgerenkt. Die gespreizten Finger bogen sich wie Krallen in die Erde. Ihr Haar war grau, nur der dünne eisenfarbene Zopf zeigte, daß es einst dunkel gewesen war.

Die Herren mit den Regenschirmen schritten die Reihe entlang. Bei manchen der Toten hatte man ein Papier gefunden, das sie auswies; man sammelte die Papiere ein und steckte dafür Zettel mit Nummern auf die entseelten Leiber. Es dauerte eine Weile, bis sie bei der letzten ankamen, die dort auf dem Wagen hingestreckt lag wie ein gefälltes Tier.

Der Schein der Karbidlampe fiel auch auf sie. Da stieß jemand einen Schrei aus. Die Herren blickten auf.

»Wer ist diese Frau?« fragte einer.

Der, welcher geschrien hatte, rührte sich nicht. Er stand vornübergebeugt, offenen Mundes, und starrte auf die Tote. Die Arme hingen ihm nieder, er sah in diesem Augenblick wie ein Blödsinniger aus.

»Kennst du diese Frau?« fragte jener, der schon gefragt hatte. Der Landläufer fuhr zusammen, und »N-nein-nein!« stotternd wich er zurück wie ein Ertappter.

»Man hat nichts bei ihr gefunden«, gab ein Dritter Bescheid. Ein Vierter bückte sich zu der Leiche nieder, er steckte in einem weißen, blutbefleckten Mantel, er war der Arzt, der sich zuerst um die Verwundeten gekümmert hatte und nun noch rasch die Leichen besah, ehe er zu jenen zurückkehrte. Er rückte an dem verkrümmten Leib, und wie er ihn drehte, hing der Kopf haltlos nach hinten und nickte gräßlich wie ein losgerissener Schwengel. »Da!« sagte der Arzt und ließ sie fallen, »die hat es im Genick erwischt.«

»Aus«, sagte der Anführer der Kommission, er meinte damit, daß sie an das Ende der Reihe gekommen waren. Sie machten kehrt und schritten unter ihren schwankenden Schirmen davon, der karbidlampe nach, die ihnen voranging.

Nur noch Thoma war bei der Leiche geblieben. Jetzt war es finster hier, seine Augen waren wie blind. Er vergrub das Gesicht in den Händen und ächzte laut. Dann rannte er davon. Er rannte den anderen nach; in der Helle taumelte er und stieß wie ein Betrunkener an. Er wollte wieder mit der Arbeit beginnen, aber er fand sein Werkzeug nicht mehr. Er setzte sich nieder auf die Böschung. Knapp vor seinen Füßen zog der Fluß. Der Regen troff ihm in den Nacken, so saß er unbeweglich, während das Aufräumewerk unter Getöse und Geschrei seinen Fortgang nahm. Der Morgen begann zu grauen, die Feuer erloschen oder glommen noch ein wenig mit kranker Rauchglut. Schwarz traten die Trümmer aus dem fahlen Licht.

Thoma fuhr auf: jemand hatte ihn mit der Spitze eines Stockes zwischen den Schultern angestoßen. Als er sich umwandte, stand ein Mann hinter ihm.

»Was tust du hier?« fragte er.

Thoma antwortete nicht.

»Mach weiter! Die Strecke muß frei werden.«

Der Mann tat, als hätte er ein Recht zu befehlen.

»Ich kann nicht«, sagte Thoma langsam.

»Warum kannst du nicht?« fragte der andere. Seine Stimme war scharf.

»Ich habe Hunger«, sagte Thoma mürrisch.

»Dann geh dorthin und laß dir etwas geben!«

Thoma ging, wohin ihn der andere gewiesen hatte: an den Hilfszug, der jenseits der Unglücksstätte hielt. Hier roch es nach Lysol, doch es roch auch nach Suppe und Brot; aus dem geöffneten Viehwagen wurde ihm, ehe er noch danach verlangte, eine gefüllte Schüssel herausgereicht. Sie enthielt eine Suppe, ein Stück Fleisch schwamm darin. Es saßen einige Arbeiter auf den Trittbrettern und löffelten; auch Thoma stolperte dahin und suchte sich einen Platz. Er aß, heißhungrig, aber bevor er noch fertig war, versank er abermals, als versänke er in Schlaf, in sein Starren und Grübeln; er ließ den Löffel sinken und saß regungslos.

Die Leute neben ihm redeten miteinander und sprachen darüber, wie das Unglück entstanden sein konnte. Die Arbeiter meinten, durch den anhaltenden Regen und das durch ihn verursachte Hochwasser sei der Bahndamm unterspült worden. Ja, sagte ein Mann in blauer Dienstbluse, man habe auch nichts mehr für die Strecke getan seit Jahr und Tag, habe doch einen Krieg führen müssen in aller Welt, dazu habe man Geld und Zeit gehabt; jetzt sei der Unterbau zerrüttet und schadhaft, und es sei kein Wunder, wenn dann ein Unglück geschehe, und es werde das letzte nicht bleiben. –

Unsinn, sagte ein dritter, und es war derselbe, der Thoma aufgeschreckt hatte, er war ihm nachgekommen, stand da und machte schmale Augen, die Strecke sei gut und erst neulich genau untersucht worden. Viel eher sei etwas anderes zu glauben, nämlich, daß ein Anschlag unternommen worden sei. Das Volk sei ja verwildert und außer Rand und Band geraten, überall würden Untaten begangen, im Ausland und jetzt auch leider in der Heimat, überall seien Leute am Werk, um Zerstörung und Unruhe zu verbreiten, um dann in der Verwirrung ernten zu können. Solchem Gesindel sei jedes Verbrechen recht.

Die Männer schwiegen, und einen Augenblick lang setzte das Löffelklappern aus, es war augenscheinlich, daß der Gedanke sie erschreckte.

Es sehe ganz so aus, fuhr der Mann fort – er war städtisch gekleidet und trug einen runden, schwarzen Hut, der sein gelbliches Gesicht beschattete –, es sehe ganz so aus, als hätte jemand die Verschraubungen an den Schwellen gelockert oder sonst Hand angelegt. Wer wüßte, was zu Tage gefördert würde, wenn nur einmal die Wagen beiseite geräumt wären, ein Sprengkörper vielleicht, eine Höllenmaschine.

Bei diesen Worten wandte er sich gegen Thoma, seine Augen glitzerten und waren hart wie Glas.