Der Gügel - Wolfram Lutterer - E-Book

Der Gügel E-Book

Wolfram Lutterer

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Beschreibung

Eine halb zerfallene Burgruine und eine einsame Kapelle in Oberfranken: Giechburg und Gügel. Der Roman erzählt eine Geschichte, in der sich reale Ereignisse mit Mythen um den Templerorden facettenhaft zu einem Ganzen verbinden. Eine zarte Liebesgeschichte im Mittelalter rund um verfolgte Tempelritter und einen Ritter des Deutschen Ordens. Sonderbare Rituale im Barock inmitten der Hexenverfolgung. Zwei traumatisierte Nazis und ihre unfreiwillige Bedienstete in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs auf der Suche nach einem geheimnisvollen Schatz. Ein Ich-Erzähler, der ratlos zwischen Ruine und Wallfahrtskapelle hin und her irrt und sich einen Reim aus alledem zu machen versucht. Die Geschichte beginnt...

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Inhalt

Prolog

Die Geschichte geht los

Aus der Tiefe

Die Geschichte geht weiter

Simone in der Kirche

Der Weg nach oben

Neue Riten (Teil 1)

Zwischen Gügel und Giech

Simone auf dem Heimweg

Neue Riten (Teil 2)

Die Giechburg

Neue Riten (Teil 3)

Spurensuche

Neue Riten (Teil 4)

Zum dritten Mal

Neue Riten (Teil 5)

Die Burg lebt

Die Rätsel der Gügelkirche

Neue Riten (Teil 6)

Das Ende der Tempelritter

Neue Riten (Teil 7)

Im Umland von Gügel und Giech

Zu Gottes Lob und Ehre

Abendliche Ränkeschmiede

Neue Riten (Teil 8)

Kunstvolle Werke

Das Erbe der Tempelritter

Im Bund mit dem Teufel

Alte Riten

Der letzte Tag der Tempelritter

Die Erfüllung des Eids

Es graut der Morgen

Neue Riten (Teil 9)

Ein Kopf wird modelliert

Es senkt sich der Abend

Neue Riten (Teil 10)

Das Modell hält nicht still

Neue Riten (Teil 11)

Die Asche der Tempelritter

Eine Nacht auf der Giechburg

Neue Riten (Teil 12)

Ein Engel erscheint

Unter der Burg

Neumond

Neue Riten (Teil 13)

Das Modell hält endlich still

Der Schatz der Tempelritter

Neue Riten (Teil 14)

Ein neues Gesicht

Konrads Entscheidung

Simone im Wald

Neue Riten (Teil 15)

Nachwort

Personen

Prolog

Im März 2003

Ein grauer Wintermorgen. Wir stapften durch den Schnee, gingen auf einem ausgetretenen Winterwanderweg einen Hügel hinauf. Anja, Sonja und ich. Wir waren auf einem alten Wallfahrtsweg. An dessen rechter Seite und in unregelmäßigen Abständen befanden sich die steinernen Relikte eines Kreuzwegs mit den üblichen Darstellungen des gequälten Heilands. Jener soll auch einen Hügel hoch gegangen sein; auf einen Hügel, der von Kreuzen gekrönt war.

Unser Ziel hingegen war weniger spektakulär. Wir wanderten zu einer Wallfahrtskirche, die sich oben auf dem Hügel befand. Und wir freuten uns über einen winterlichen Spaziergang zu dritt. Sonderlich kalt war es zudem glücklicherweise nicht mehr. Es etwas grau, denn die Sonne war nicht stark genug, den Nebel zu durchdringen. So gingen wir den Wallfahrtsweg hinauf.

Im Gegensatz zu mir interessierten sich meine beiden Begleiterinnen nur wenig für die steinernen Wegmarken am Rande des Wegs. Beide teilten sie eine Leidenschaft für Kunstgeschichte. Beide waren Kunsthistorikerinnen. Sie interessierten sich vor allem für Malerei. Vielleicht war es deshalb so, dass sie die Steinplastiken an der rechten Seite des Weges kaum als eines Blickes würdig erachteten? Ich weiß es nicht und gefragt habe ich nicht Vielleicht waren die Steinplastiken einfach zu schlicht gewesen? Vielleicht gab es zu wenig Farbe an den beige-weißen Kalksteintafeln des Kreuzwegs, die so einfallsreiche Beschriftungen trugen wie „Veronika reicht Jesus das Schweißtuch"? Ich hatte gar nicht gewusst, dass es in der entsprechenden biblischen Szene eine Veronika gegeben hat Aber was soll's. Ich bin nicht dabei gewesen. Hm. Genauso wenig, wie die vier Evangelisten dabei waren. Also gut, von mir aus: Veronika. Oder wer auch immer. Irgendwer war damais ganz sicher dabei. Mit Schweißtuch oder ohne.

„Da ist es ja!" Meine beiden Kunsthistorikerinnen freuten sich. Hinter dem winterlich kahlem Geäst der Bäume war die Spitze eines Kirchturms zu erkennen. Das musste die Kirche sein. Gleich würden wir da sein. Bald würden wir oben sein auf dem Hügel, dessen Name lustigerweise Gügel lautete.

„Gügel! Das ist ein lustiger Name. Das war sicher einmal ein Galgenhügel!" Ich freute mich. Und sah schon Dutzende dieser hölzernen Hinrichtungsapparate vor meinem geistigen Auge, welche schneeglöckchengleich aus dem Schnee emporschossen.

„Ts. Du hast wieder schräge Vorstellungen. Das ist eine Wallfahrtskirche. Nix da Galgen!" belehrte mich Sonja.

„Ach komm schon. Ob Galgen oder Kreuz, das ist nicht so weit auseinander," meinte ich. „Und tot sind die Opfer danach in der Regel jedenfalls schon, so oder so."

Sonja schnaubte etwas mir Unverständliches. Anja lachte glucksend. Die beiden teilten sogar den selben Geschmack. Leider gehörte dazu nicht unbedingt eine größere Begeisterung für meine Witze. Schade eigentlich. Na, aber immerhin teilte ich etwas mit Sonja, und zwar das Bett Aber lassen wir das.

Wir gingen weiter. Bald standen wir vor einem ansehnlichen Gebäude: der Wallfahrtskirche. Diese erwies sich als ein hoch in den Himmel ragender Bau aus hellem Sandstein, mit einer Reihe hoher, schmaler Fenster, die mit Rundbögen gekrönt waren.

„Toll, wie die Kirche auf dem Hügel steht! Als wäre sie direkt aus dem Fels heraus gewachsen!" Ich versuchte mich erneut an Konversation, diesmal ernsthafter.

Hm. Schweigen. Vielleicht sollte ich eine Frage beifügen, auf die umfangreicher zu antworten wäre, als mit ja oder nein?

„Wisst Ihr, wie alt diese Kirche ist?" Immerhin ein Anfang.

Anja und Sonja sahen sich an. Ich meinte, leichtes Achselzucken wahrzunehmen.

„Der Altar ist jedenfalls aus dem Barock oder der Renaissance," stellte Anja fest. „Mit Bauwerken kenne ich mich nicht so gut aus," gab sie dann zu, wenn auch mit einem Tonfall, der deutlich zum Ausdruck brachte, dass dies auch kaum von weiterem Interesse war. Wer weiß, vielleicht hätte sie sich nicht einmal an einem hässlichen Neubau aus Beton gestört Hauptsache, er wäre ein guter Wetterschutz für den kostbaren Altar gewesen.

Zum Hauptportal führte eine breite, hohe Treppe empor. Sie schaute eindrucksvoll aus. Unten hing jedoch quer eine Kette über der ersten Stufe. 'Bitte benutzen Sie den Seiteneingang durch die Lourdes-Grotte!’ stand auf einem Schild, das an der Kette hing. Das Schild trug ein kleines Schnee krönechen. Ein Pfeil war auf dem Schild angebracht, der uns offensichtlich dazu motivieren sollte, um die Kirche herumzugehen. In welcher Richtung wir dies tun sollten, wurde zwar nicht so ganz klar, aber vermutlich war das egal. So groß war die Kirche auch wieder nicht.

Die Treppe war zugeschneit Einzelne, halb zugewehte Fußstapfen waren darauf zu erkennen. Irgendwer war offenbar neugierig genug gewesen und hatte nachgesehen, ob das Tor oben vielleicht doch zu öffnen war. Oder er hatte die Aussicht von oben bewundern wollen. Ich ersparte mir jedoch den Vorschlag, es der unbekannten Person gleich zu tun. Da, wo wir standen, wehte ein eisiger Wind. Höchste Zeit, hineinzugehen.

Wir gingen um die Kirche herum. Fast ganz hinten an der Rückseite befand sich tatsächlich eine weitere, kleinere Tür. So wie die Kirche hoch auf dem Hügel halb auf einem Felsen stand, waren wir damit sonderbarerweise ein ganzes Geschoss unterhalb des steil nach oben ragenden Kirchenschiffs. Diese ominöse Lourdes-Grotte war offenbar eine Art Unterkirche, die aber ebenfalls oberirdisch war. Oder was auch immer. Ein sonderbares Bauwerk, diese Wallfahrtskirche, so fand ich. Wir traten ein.

Der Raum, in den wir eintraten, ließ mich nur wenig an eine Grotte denken. Recht schlicht und reichlich rechteckig sah er aus. Eine Kapelle, so dachte ich. Eigentlich gab es nichts, was mich an eine Grotte erinnerte. Rechts stand ein Altarbild mit der wohl unvermeidlichen Jungfrau Maria. Seitlich davon waren einige betende Figuren zu sehen. Und da lag ein gusseiserner Kranz mit ziemlich eindrucksvollen Dornen. Nein, es war keine Dornenkrone, sondern ein großer Kerzenständer, offenbar dazu bestimmt, eine Reihe dicker Kerzen aufzunehmen, der gerade jedoch kerzenlos am Boden lag.

Vor dem Altar konnte man sich auf einem niederen Podest hinknien um zu beten. An der Wand links gegenüber des Altars durfte man sich sogar auf eine gepolsterte Bank setzen. Wir blieben jedoch stehen, wenn auch nicht für lange. Für meine beiden Kunsthistorikerinnen war dies alles sichtbar unterhalb dessen, was sie als künstlerisch wertvoll erachteten. Ich fand, es sah alles ein wenig kitschig aus und gab ihnen damit insgeheim sogar recht.

Ganz hinten, in der linken Ecke des Raums befand sich eine schmale Öffnung in der Wand. Dort ging es weiter. Eine enge Spindeltreppe führte nach oben. So weit, so unspannend. Diese Lourdes-Grotte hatte keinen von uns umgehauen.

„Uih, das ist ja lustig! Das hatte ich von unten aus gar nicht bemerkt!" Oben angekommen standen wir auf einer Empore, von der aus wir auf den Altar und somit auf die ganze klägliche, sogenannte Grotte herabschauen konnten.

„Lustig," stimmte Sonja zu. „Das hatte ich auch nicht gesehen." Anja war während dessen schon ein Stückchen weiter gegangen. Ein nur spärlich beleuchteter Gang führte weiter.

Für meinen Geschmack leider viel zu gut beleuchtet war hingegen auf der linken Seite ein gläserner Schaukasten, eine Art Vitrine. Darin waren einige Zeichen des Volksglaubens zu bewundern: Einige bunte Bilder mit religiösen Motiven hingen darin. Vor allem aber standen da zwei große, weiß gekleidete Puppen, deren Menschenähnlichkeit im Gesichtsausdruck mir einen leichten Schauder einjagte.

Auf der rechten Seite, schräg gegenüber der Vitrine und von ihr aus leicht anschienen, war eine Nische in die Wand eingelassen. Einen knappen Meter über dem Boden wölbte sie sich in die Wand hinein. Sie war breit und tief genug, um einen liegenden Menschen darin zu bergen. Das schaute ich mir genauer an. Ich entdeckte aber nur wenig, außer dass sich innerhalb der Nische eine etwa handbreite Vertiefung befand, die eine Art Kuhle oder Wanne bildete. Wer auch immer hier gelegen haben mag, einfach so herausfallen konnte der nicht mehr.

Ich blieb stehen. Irgend etwas stimmte mich nachdenklich. Sonja und Anja waren mittlerweile verschwunden. Langsam folgte ich ihnen schließlich, ging eine zweite enge Treppe nach oben und gelangte dadurch endlich in die Kirche hinein. Wir landeten mittendrin. Und wir waren die offensichtlich einzigen, die sich an diesem Wintertag hierher verirrten.

In der Kirche

Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wie mein erster Eindruck war. Vielleicht war ich ein bisschen enttäuscht? Das unaufgeregte Äußere der Kirche wurde nicht gerade übertroffen durch ihr Inneres. Was gab es zu sehen? Einen schlichten, eher langweiligen, offenen Raum mit drei Altären. Links davon befand sich eine Kanzel und hinten gab es natürlich eine Orgel. Der Rest war aufgefüllt mit den üblichen Sitzbänken. Wir waren im hinteren Drittel des Kirchenschiffs nach oben gelangt und somit inmitten der Sitzbänke. Das war das einzig Besondere.

Anja und Sonja waren schon nach vorn gegangen. Schweigend prüften sie das Bildwerk der Altäre bezüglich dessen potentiellen Werts für die Kunstgeschichte Oberfrankens. Nein, ich muss genauer sein. Ich habe von beiden nie etwas über die Bedeutung eines Kunstwerks gehört Es ging immer nur um Zahlen und um Epochen: um die anzunehmenden Jahreszahlen in der Entstehung eines Werks und die demzufolge anzunehmende Epoche, oder noch besser: Unterepoche. Nie konnte es beispielsweise bloßer Barock sein. Nein, es musste sich um einen Früh-, Hoch- oder Spätbarock handeln. Oder um was auch immer. Gemeinsam überlegten sie also, wann das ominöse Altarbild gemalt geworden sein könnte und welcher Epoche es somit zuzuordnen war. Oder vielleicht auch umgekehrt Ich glaube nur, dass sie dabei reichlich flunkerten, denn sie wussten schon aus ihrem Kunstführer, aus welcher Zeit alles Nennenswerte hier oben stammte. Eigentlich war das alles nur ganz großes Theater.

Welchen Eindruck dieses Altarbild auf mich selber damals gemacht hatte, daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich erinnere mich eher an etwas, was ich damals gespürt hatte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas fand ich sonderbar. Von Beginn an. Nein, nicht von Beginn an, sondern irgendwann, und zwar nachdem wir an der besagten Nische in dem Gang unterhalb der Kirche vorbeigegangen waren, aber noch vor dem Zeitpunkt, an dem auch ich vor den Altären stand.

Während ich zunächst mitten im Kirchenschiff stehen geblieben war, waren meine Begleiterinnen bereits vorn, um sich intensiv dem eher übersichtlichen Bildwerk zu widmen: Zunächst war da ein großes Gemälde über dem Hauptaltar. In dessen Mitte war ein weiteres Mal die sogenannte Jungfrau Maria abgebildet. Ganz in rosa und blau gekleidet war sie dargestellt. Sie hielt beide Arme zur Seite und leicht nach oben hin ausgestreckt Maria hatte einen Bauch, als hütete sie das Jesuskindchen noch darin. Sie war umringt von einer Schar mopsiger Engel, die weiß, rosa und blau gefärbte Flügel trugen. Hatte man im Himmel tatsächlich so wenig Geschmack?

Maria schwebte. Zu ihren Füßen befanden sich ein paar Männer. Die Jünger Jesu? Aber was weiß denn ich? Auf jeden Fall bildeten sie ein recht buntes Allerlei: Die einen schauten hier hin, die anderen dort hin, einige gestikulierten wild herum, andere hingegen schienen zu disputieren oder übten sich einfach nur darin, bedeutungsvoll auszusehen. Nach oben hin guckte nur ein einziger. Frauen waren übrigens keine darunter. In der Mitte dieser Männerschar lag ein offener, steinerner Sarkophag. Dieser war mit Blumen gefüllt Ob sich ein ägyptischer Pharao mit in die Szenerie gestohlen hatte?

Doch das war es nicht, was mich damals irritiert hatte. Ich bin mir mittlerweile gar nicht mehr sicher, was meine Irritation ausgelöst hatte. War es der allzu gleichmütig am Kreuze hängende Heiland am Altar ganz links? War es die Tatsache, dass der Heiland, während er links so gleichmütig am Kreuz hing, in der Mitte hingegen fehlte, rechts dafür jedoch – einen Altar weiter – zusammengesunken auf dem Schoss einer Frau lag? In dieser Position wirkte er sonderbar kindhaft In jedem Falle aber schien er bewusstlos wenn nicht sogar tot zu sein. Oder war es sogar noch etwas anderes, was mich irritierte?

„Was ist denn das für ein schräger Vogel?" Ich deutete auf eine Heiligenfigur an der einen Seite des Kirchenschiffs, die ihren abgeschnittenen Kopf vor sich in den Händen hielt. „Aus welchem Kuriositätenkabinett stammt der?"

Sonja schaute zu Anja. Anja antwortete für beide, belehrend: „Das ist der heilige Dionysius."

Ich: „Ja, und?"

„Du hast vielleicht mitgekriegt, dass das eine Wallfahrtskirche ist. Dionysius ist einer der vierzehn Nothelfer."

„Nothelfer?" Ich schaute mir die Figur näher an. Der Typ hatte ziemliche Hängebacken. „Wofür ist der gut? Er sieht im übrigen nicht gerade sehr hilfsbereit aus. Macht eine eher finstere Miene. Aber das ist auch kein Wunder, so mit Kopf ab." Ich schüttelte den Kopf.

Anja, leise: „Kopfschmerzen."

„Du hast Kopfschmerzen?"

„Nein. Ich habe keine Kopfschmerzen. Aber zum heiligen Dionysius wird unter anderem zur Linderung von Kopfschmerzen gebetet"

Ich grinste. „Ja, das passt gut. Wenn etwas gegen Kopfschmerzen hilft, dann ganz sicher, den Kopf abzuschlagen. Die hatten einen ganz schönen Knall!"

Anja fand zu ihrer Dozierendenrolle zurück: „Dionysius war ein Bischof." Deswegen trug er wohl eine reichlich peinliche Mütze auf seinem abgeschlagenen Kopf. „Er ist im dritten Jahrhundert nach Gallien geschickt worden um zu missionieren. In Paris ist er enthauptet worden."

„Grund genug dafür, ihn heilig zu sprechen."

Anja schnaubte. „Hör nur zu! Gemäß der Legende hat er sein abgeschlagenes Haupt aufgenommen und es noch sechs Kilometer weit bis zu der Stelle hin getragen, wo er begraben werden wollte."

„Schräger Vogel."

„Und zu ihm wird auch gebetet gegen Tollwut und bei Leiden der Seele."

Okay. Mir reichte das. Das war wirklich nicht meine Welt. „Und die haben damals echt geglaubt, dass das hilft?" Ich sah mich um. Da waren tatsächlich zwei lange Reihen von Heiligenfiguren links und rechts an den beiden Langwänden des Kirchenschiffs angebracht Alle waren in dem selben Stil gefertigt, aus hellgrauem Stein und teilweise sogar vergoldet. Es waren tatsächlich vierzehn Stück. Eine sonderbare Ansammlung von Figuren. Dionysius blieb unter all diesen jedoch unschlagbar. Unschlagbar schräg. Ich wandte mich ebenfalls den Altären zu.

„Schaut Euch nur die Gesichter an!"

„Was für Gesichter?"

„Na am Altar, die Kinder!"

„Das sind Putten!" erklärte Anja.

„Puten? Das sollen Vögel sein?" Ich konnte es nicht lassen, Anja zu hänseln.

„Put-ten! Das sind..." Anja schnaubte. „Das sind stilisierte Kindergestalten. Knabenköpfe, die ganz offensichtlich dekorativ eingesetzt wurden."

„Das soll also einfach nur gut ausschauen?"

„Wenn man so will." Gequältes Augenverdrehen.

„Ich finde die schräg. Die schauen für mich alle etwas zu sehr aus wie richtige Kindergesichter. Irgendwie wirkt mir das alles etwas zu echt." Ich sah mich um. Alle drei Altäre waren geschmückt mit kleinen, engelsgleichen Kinderfiguren. Der Ausdruck ihrer Gesichter war es, der mich irritierte. Und noch mehr: An den beiden seitlichen Altären waren auf halber Höhe jeweils zwei weitere dieser Kinderköpfe angebracht Diese waren beflügelt, jedoch so, als wären sie wie aufgespießt: wie Schmetterlinge in einem Kuriositätenkabinett.

Ich schaute mich weiter um und versuchte, diese sonderbare Kirche als Ganzes zu erfassen. Es gab da außer jenen Nothelferfiguren noch eine ganze Reihe anderer Statuen. Ganz links an der Seite stand ein gewiss ebenfalls überaus heiliger Ritter mit gesenkter Lanze. Er stand da, als wollte er auf etwas einstoßen, das unter ihm zu Boden lag. Versonnen schaute er zugleich jedoch ins Nichts, so als berühre ihn seine Lanze und sein Tun gar nicht Endlich packte es mich.

„Stellt Euch vor! Ihr kommt von einer anderen Kultur und seht diese Kirche mit all diesen Figuren und Altären. Überall ist nur Tod, Teilnahmslosigkeit, Leiden und Gewalt. Bei den Azteken hat man ganz ähnliche Bilder gesehen und hat dann von realen Menschenopfern gesprochen. Dabei hatte Cortez selber gar nie irgendetwas in dieser Art beobachtet Wer weiß, was die hier früher alles getrieben haben!"

„Mann, du hast wieder Phantasien!" Sonja zeigte sich nachsichtig.

Anja verzog das Gesicht. Ich fürchtete, sie hatte doch ein paar religiöse Gefühle, die ich soeben berührt hatte. Gebetet, sich bekreuzigt oder dergleichen hatte sie allerdings nicht.

„Die ganze Bildersprache in den Kirchen ist symbolisch aufgeladen," meinte dann Sonja. „Damit wird gezeigt, was andere für ihren Glauben auf sich genommen haben. Es demonstriert die Macht des Glaubens."

„Aber wenn sie hier in dieser Kirche, so abseits wie sie gelegen ist, tatsächlich Menschenopfer gemacht haben? Damit hätten sie auch ihre Macht demonstriert, nämlich ihre Macht über die Lebenden."

Sonja grinste. „Ja sicher. Jahrhundertelang haben sie hier dunkle Rituale gefeiert und dabei Menschenopfer gemacht. Aber niemand hat jemals etwas davon erzählt. Komisch, was?"

„Na, vielleicht war es derart selbstverständlich, dass es niemand für erzählenswert gehalten hat?" konterte ich. Ich gebe zu: durchaus etwas bemüht.

„Quatsch!" meinte Sonja. Anja war inzwischen weitergegangen und widmete sich dem Studium der golden verzierten Kanzel. Ich glaubte allerdings nicht, dass deren goldener Glanz tatsächlich aus echtem Gold war. Wohl eher Messing oder sonst etwas in der Art oder einfach nur eine golden wirkende Farbe.

„Ich weiß nicht." Mich ließ es nicht los. „Natürlich nicht überall. Aber vielleicht hier? Ich finde diese Kinderköpfe..."

„Putten!"

„...ein bisschen zu natürlich, ein bisschen zu echt. Und diese Nische unten im Gang. Da hätte ein ganzer Leichnam darin Platz gehabt! Man hätte darin sogar sein Blut auffangen können. Habt Ihr gesehen, dass da so eine Art Wanne in den Stein gemeißelt ist?"

Schweigen. Sicherlich war dies die stillschweigende Aufforderung, meine tiefschürfenden Erkenntnisse weiter mitzuteilen?

„Und schaut Euch dieses Altarbild an. Was haben die ganzen Typen da eigentlich unter den Blumen versteckt? Die sehen nicht gerade aus wie Hippies oder Gärtner oder Blumenkinder. Ich sage Euch: anderswo vielleicht nicht, aber hier. Genau hier, in dieser abgeschiedenen Kirche, da haben sie Menschenopfer gemacht. Und das Volk ist hoch gepilgert um daran teilzunehmen. Wer weiß... vielleicht sogar Kannibalismus!" schloss ich finster.

„Quatsch." Anja fand ihre Sprache wieder. Sie drehte sich zur Seite, aber leider nicht zu mir hin, sondern um sich der tieferen Betrachtung eines weiteren Bildes zu widmen. Sonja gesellte sich zu ihr.

„Ja, und überhaupt, ich hab es ja gesagt: Gügel. Das steht wirklich für Galgenhügel! Ein Ort des Todes." Ich ließ nicht los.

„Was denkst du?" Sonja zu Anja gewandt

„Ah, so langsam kommt Ihr auf den Trichter?" Ich unterbrach.

„Sicher 17. Jahrhundert," meinte Anja.

„Was denn?" fragte ich.

Anja, in ihre frühere belehrende Rolle zurückkehrend: „Wann es gemalt wurde."

„Das Altarbild?"

„Ja."

„Wen interessiert das?"

„Uns!" meinte Sonja entschieden. Beide guckten das Bild an.

„Sicherlich eher erste Hälfte," meinte dann Anja.

„Denke ich auch," gab ihr Sonja recht.

„Renaissance. Späte Renaissance," urteilte Anja abschliessend.

Sonja nickte. Auch wenn beide das selbe studiert hatten, Anja war in ihrer internen Rangfolge klar die größere Autorität. Schließlich hatte sie viel länger studieren müssen und am Ende sogar promoviert. Frau Doktor. Na, wenn es ihr Spaß macht. Von mir aus. Soll sie halt recht haben.

Ich fing an, die Kinderköpfe – oder war es nicht passender: die Kindsköpfe (aber müsste ich dann nicht auch mich selber mit hinzuzählen? Oder doch lieber die beiden Mädels??) – zu zählen. Kaum fertig, vergaß ich gleich wieder, wie viele es waren. Wozu denn auch.

Meine beiden Begleiterinnen hatten sich in der Zwischenzeit wieder der Kanzel zugewandt. Sie faselten irgendwas davon, wie bedeutungsvoll diese Kanzel im Kontext vom was auch immer gewesen war. Mich nervte, was so eine Kanzel verkörperte: Nämlich, dass jemand sich zuerst kräftig aufplustert, ein paar Stufen hoch steigt, um dann auf alle anderen herabzusehen und sie zu bepredigen. Aber zugegeben, zum Zuhören wird niemand gezwungen, zumindest heute nicht. Na, zumindest nicht bei uns. Jedenfalls hörte ich den beiden kaum mehr zu. Schade, vielleicht wäre es interessant gewesen.

Alles in allem, abgesehen von meinen Phantastereien empfand ich die Kirche als wenig berauschend. Ein schlichtes Gewölbe, etwas schlichtes Schmuckwerk. All dies wirkte wenig eindrucksvoll. Wären da nur nicht diese Kinderköpfe gewesen, die allzu natürlich, allzu lebensecht die Altäre umrahmten. Sie jagten mir einen Schauder ein, und ich weiß nicht, kam dieser Schauder am Ende bloß von meinem Herumfabulieren oder vielleicht doch von ganz woanders her?

Die Templerburg

Nachdem das Hauptportal der Kirche verschlossen war, verließen wir sie wieder so, wie wir hineingekommen waren. Also die Treppe herunter und durch den grauen Gang mit der sonderbaren Nische und den gruseligen Puppen, dann durch die Grotte, die keine Grotte war. Wir machten uns auf den Heimweg.

Draußen hatte es in der Zwischenzeit aufgeklart Ein blauer Himmel mit einigen wenigen noch verbliebenen Hochnebelfetzen begrüßte uns. Wir umrundeten die Kirche und gingen langsam herunter; wieder durch das Wäldchen hindurch, dass die Wallfahrtskirche umkränzte.

Durch den Schnee schimmerten sonderbare metallene Strukturen hindurch. Das sollten wohl überdimensionale Tiere sein. Ich nahm an: Kunst? Vielleicht für hier im Sommer spielende Kinder? Eines der Stahlskelette wirkte wie eine überdimensionierte Ameise. Lange gebogene und ineinander verschweißte Eisenstangen deuteten die Strukturen ihres Körpers an. Sechs lange Beine zeichneten sich im Schnee ab. Der dicke Hinterleib der Ameise wirkte fast wie ein Käfig. Aber ich ersparte meinen Begleiterinnen weitere geistreiche Bemerkungen. Etwas anderes hingegen geriet in meinen Blick. Ich staunte. Gegenüber unseres Gügelhügels lag ein weiterer Hügel und darauf stand eine Burg. Eine richtige Burg! Die hatten wir auf dem Hinweg gar nicht gesehen.

„Hey, schaut mal: Da ist eine Burg. Wollen wir die uns anschauen?"

„Ja klar!" antwortete Sonja. Für Bewegung war sie immer zu haben. Anja machte hingegen keinen sonderlich interessierten Eindruck. In Burgen gab es für gewöhnlich zu wenig Malerei und ein richtiges Schloss war das, was wir sahen, nicht Sie fügte sich jedoch.

Unser Winterwanderweg teilte sich nach kurzer Strecke: rechts ging es den Kreuzweg hinunter und damit ins Dorf zurück, nach links führte der Weg zunächst ebenerdig, dann leicht ansteigend zu der Burg. Diese sah übrigens erstaunlich gut erhalten aus.

„Mann, das wird hier ja immer schräger!" Ich freute mich. „Das ist sicher eine Templerburg! Da drin haben die gelebt und auf dem Gügel drüben ihre perversen Rituale praktiziert Echt krass!"

„Templer! Du siehst überall Gespenster!" grinste Sonja.

„Aber warum nicht? Das wäre eine Wahnsinnsgeschichte, oder?" Ich baute darauf, dass meine beiden kunstbeflissenen Begleiterinnen keine Ahnung davon hatten, dass die Templer eher im Süden Frankreichs ihre Burgen gebaut hatten und nicht in Oberfranken. Aber wer weiß, welche Wege von Frankreich nach Franken führten? Manche Wege sind gemeinhin kürzer als man glaubt. Das habe ich aber erst später bemerkt.

„Schaut Euch den Bergfried an! Das ist echt ein riesiger Kasten!" Oben im Burghof zeichnete sich ein hohes, trutziges Bauwerk ab, dessen massive Wände bis auf das oberste Stockwerk fast fensterlos waren.

„Da hat sicher der Abt residiert!" Oder wer auch immer so einer Templerkommune vorgestanden haben mochte. Woher sollte ich das denn wissen?

Einmal mehr landeten wir auf der falschen Seite und mussten erst noch das Bauwerk umrunden. Vom Gügel aus gesehen ging es von hinten in die Burg hinein. Gerade Wege mochte man damals offenbar nicht. Klar. Herannahenden Feinden sollte es nicht zu einfach gemacht werden, so eine Burg zu erstürmen. Längere Wege bedeuteten mehr Zeit für so zeittypische Unfreundlichkeiten wie dem Verschießen von Pfeilen, dem Abfeuern von Musketenschüssen, dem Erhitzen von Pech oder was sonst so denen eingefallen haben mag.

Auch aus der Nähe sah die Burg erstaunlich gut erhalten aus. Vielleicht war sie irgendwann einmal restauriert worden.

„Giechburg" las Anja laut „Erstmals urkundlich erwähnt im Jahre 1125." Da klang fast schon etwas wie Respekt durch. Ihre bunten Dinger, die in der Kirche hingen, waren nicht einmal halb so alt. „1430 zerstört, uh, dann 1525 noch einmal von den Bauern aus dem Umland in Brand gesteckt, 1600 neu aufgebaut."

Anja hatte es mit Zahlen. Ich wette, sie wusste diese Daten bereits auswendig.

„Da war ganz schön was los hier oben!" Ich ließ mir von der drögen Zahlenverleserei nicht die Laune verderben. Ich war begeistert „Im Jahre 1971 revitalisiert, steht da. Das klingt lustig. Ich wusste gar nicht, dass man einer Burg einfach so neues Leben einhauchen kann. Ob sie ein paar frische Ritter angeworben haben? Dann müssen wir jetzt aber aufpassen, nicht dass wir aufgespießt werden!"

Aber das eigentlich Lustige dämmerte mir erst jetzt. „Giechburg? Drüben der Gügel, hier die Giech? Das ist ja fast wie Pest und Cholera. Der Galgenhügel und die Siechburg. Wow!"

Sonja grinste zu mir rüber. Irgendwie mochte sie mich ja doch und sogar manche meiner Witze. „Wollen wir nicht hinein? Weht echt ein fieser kalter Wind hier oben!"

„Okay."

Wir gingen in die Burg, mussten dabei unpassenderweise an zwei geparkten Autos vorbei. Es führte eine Straße bis hier hoch und diese war sogar komplett vom Schnee geräumt Frechheit! Eigentlich schade, dass die Zivilisation nie fern war. Da blieb nur wenig Platz für Träume.

Drinnen war es sogar noch kälter als draußen. Die noch immer tief stehende Sonne drang kaum über die Mauern. Die Mauern selber strahlten eine frostige Kälte aus. Immerhin fingen sie wenigstens den Wind ab. Ein weiterer Durchgang und wir gelangten in den Burghof. Auf der linken Seite gab es sogar eine kleine Gaststätte. Geradeaus ging es weiter in Richtung Bergfried.

Hinter der Gaststätte war es bereits sichtbar weniger revitalisiert. Man hatte bei der Restaurierung wohl doch noch ein Einsehen gehabt und wenigstens ein wenig von dem Charakter einer Ruine erhalten wollen. Oder das Geld war ausgegangen. Dafür aber standen hier zwei weitere Autos. Für manche Leute war wohl jeder Schritt einer zu viel.

Hm, und eigentlich musste ich zugeben: Sehr spektakulär war die Burg nicht. Gut, wir hatten einen recht schönen Ausblick auf das Land. In der Ferne ließ sich sogar das ferne Bamberg erkennen. Der Bergfried irritierte mich jedoch.

„Komisch, wie schräg der auf dem Burghof steht, oder?"

„Ja," stimmte Sonja zu. Anja war mittlerweile vor einer steinernen Skulptur stehen geblieben, die ein paar Meter vor dem Eingang in den Bergfried stand.

„Was ist das?" erkundigte ich mich.

„Nichts Besonderes," meinte Anja. „Das hat irgendein Bildhauer vor ein paar Jahren gemacht Nichts von Wert.“ Also nichts Altes. Aber trotzdem nicht uninteressant: die Skulptur stellte einen Tierkopf mit großen Augen dar, mit sehr breiten Nüstern und mit einem Löwenmaul. Gekrönt war der Kopf von zwei Ausbuchtungen, die wohl Hörner darstellen sollten, aber eher wie längliche Eier aussahen. Der Tierkopf stützte sich auf zwei Arme und Hände, Menschenhände. Sicher war das etwas ganz enorm Geistreiches, zumindest wenn man den Künstler gefragt hätte.

„Das schaut ja schräg aus," meinte ich. Es geht nichts über Lieblingsbegriffe. Aber schräg war hier nun einmal vieles. Leider kam meine sonst recht blühende Fantasie erst einmal ins Stocken. „Mir ist nur nicht ganz klar, was dieses MenschTierwesen mit den Templern zu tun haben soll."

„Ja, dann streng dich mal an!" grinste Sonja. „Oder kapitulierst du etwa? Komm schon!"

„Ts!" Mehr fiel mir nicht ein. Dafür offenbarte sich etwas anderes: „Hey, schaut mal, da drüben ist ja der Gügel!"

„Ja, stimmt," antwortete Sonja. „Und er schaut direkt zu uns herüber." Tatsächlich, wir sahen genau auf das Eingangsportal der Wallfahrtskirche.

„Schade, dass wir nicht in den Bergfried können," schmollte ich. Das Eingangstor war gleich zweifach verschlossen. Ein Gitter aus dicken, gusseisernen, nach oben hin spitz zulaufenden Stäben versperrte den Weg zu einer schweren Tür. Diese bestand aus Eisen und war verziert mit einem Wappen, das zwei Löwen und zwei Stäbe zeigte. Der eine dieser Stäbe sah aus wie ein Bischofsstab, aber ich war mir nicht sicher und fragen wollte ich nicht. Der andere Stab war sogar so lang, dass seine beiden Enden nicht mehr in das Wappen hineinpassten. Sonderbare Wappensleute. Haben ein Wappen, dass nicht ins Wappen passt. Doch vielleicht war das ein Zeichen, das auf etwas Geheimnisvolles hindeutete? Meine Templervermutungen gewannen neuen Nährboden.

Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass auch die vordere Gittertüre eine Verzierung aufwies. Bei ihr bestand das Zeichen oder Wappen – oder was auch immer es sein mochte - aus drei übereinanderliegenden, waagerechten Eisenstäben, die in ihrer Mitte jeweils mit einem kurzen senkrechten Stab markiert waren. Dies alles wirkte wie ein liegendes, etwas deformiertes Kreuz, und das in dreifacher Ausstattung übereinandergelegt. An ihren lang auslaufenden Enden waren die Stäbe jeweils umgeknickt, links nach unten, rechts nach oben.

„Habt Ihr eine Ahnung, was das für Wappen sind?" fragte ich dann doch.

„Nein. Nicht so mein Gebiet," meinte Anja, diesmal fast entschuldigend. „Ich glaube aber nicht, dass die etwas miteinander zu tun haben. Die hintere Tür scheint älter zu sein, vielleicht 19. Jahrhundert Na, zumindest wollte jemand, dass sie so ausschaut. Ich bin mir da nicht ganz sicher. Die vordere Tür ist neu."

„Passt dann eher zu unserer löwenmäuligen Statue, oder?"

„Ja, vielleicht. Das könnte durchaus sein." Wir gingen weiter, landeten an der Außenmauer.

„Einen richtigen Wehrgang gab es hier nicht," stellte ich fachmännisch fest Ebenerdig ging es vom Burginnenhof aus bis an die niedrige Mauer. Kaum mehr als einen Meter ragte sie nach oben. „Ich hab den Eindruck, dass die bei ihrer Revitalisierungsaktion" – mir gefiel dieses Wort – „eher einen hübschen Burghof machen wollten als das wiederherzustellen, was früher einmal gewesen ist."

Und wo ich schon dabei war mit meiner Beschwerdeführung: „Und schaut Euch doch diesen Bergfried an. Der passt überhaupt nicht hier hinein. Wieso sollten die im Mittelalter die blödsinnige Idee gehabt haben, ihn derart verdreht auf den Burghof zu stellen? So halb links an die Seite! Das macht überhaupt gar keinen Sinn. Wahrscheinlich ist das alles nur auf alt gemacht und gar nicht wirklich alt. Disneyland!" So mein verächtliches Schlusswort.

„Wollen wir gehen?" meldete sich Anja. „Mir wird kalt"

„Ja, klar," stimmten Sonja und ich mit ein.

Der Weg zurück war kurz, denn wir gingen bergab und hatten es eilig. Wir versuchten, durch rasches Laufen uns wieder etwas aufzuwärmen. Etwas weiter unten drehte ich mich nochmals um. Die große Giechburg war wundersamerweise wieder dem Blick entschwunden. Nur die ungleich kleinere Gügelkirche war noch zu erblicken. Sonderbar. Wir kehrten nach Hause zurück.

Die Geschichte geht los

29. Juli 2012, nachmittags

Es hat mich nicht losgelassen. Schon über neun Jahre ist es her. Ich mache mich nochmals auf den Weg zum Gügel. Dieses Mal jedoch alleine. Sonja ist längst Geschichte. Sie meinte irgendwann, ich sei ihr zu pedantisch. Das war es dann. Danke. Wir telefonieren noch sporadisch.

Leider nur bin ich nicht ganz fit. Ischias. Wer hätte das gedacht Ich wollte dennoch fahren, wollte einer lange schon schwelenden inneren Unruhe nachgeben und jenen Ort nochmals aufsuchen, den ich damals so sonderbar gefunden hatte.

Eine über vierstündige Autofahrt später bin ich da. Diesmal ist es ein sonniger, sommerlicher Sonntagnachmittag, den ich für meine kleine Reise gewählt habe. Besser so.

Ich stehe vor der Gügelkapelle. Diesmal führte mich mein Weg direkt zur Kirche; den Wallfahrtsweg habe ich mir erspart. Vor der Kapelle befindet sich ein großer Parkplatz, einige Autos sind darauf geparkt. Im Winter vor neun Jahren hatte es diesen Parkplatz entweder noch nicht gegeben, oder aber er war schneebedingt nicht geräumt Oder wir haben ihn einfach nicht gesehen.

Leider verhält sich mein rechtes Bein im Moment nicht sehr kooperativ. Dieses dumme Problem mit dem Ischiasnerv. Kaum zu glauben. Mitte vierzig und bereits Probleme wie ein alter Mann. Doch wenn ich mich so herum höre, scheine ich nicht der einzige zu sein. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich das tröstlich finde oder nicht: dass derartige Beschwerden deutlich früher auftauchen, als erwartet. Ich dachte, wir werden älter und bleiben länger gesund? Frechheit.

Aber wie auch immer, meine Bewegungsfähigkeit ist eingeschränkt. Es schmerzt noch immer, trotz der heldenhaften Bemühungen meiner neuen Osteopathin. Da bin ich also, ich armer Ritter. Zeitgemäß bewaffnet mit Handy, Wasserflasche, Notizblock und einer digitalen Spiegelreflexkamera. Meine Mission: herauszufinden, was mich damals so irritiert hatte. Ach so? Das hatte ich schon gesagt? Da bin ich wohl tatsächlich noch weniger fit als gedacht Trotzdem, los geht’s!

Links neben, beziehungsweise genauer gesagt: gleich hinter der Kirche steht ein kleines Haus. Das war mir früher nicht aufgefallen. Es hat aber, so wie es aussieht, schon damals hier gestanden. Das Haus dient, zumindest jetzt, zur Bewirtung: ein paar Familien sitzen draußen. Wie es scheint, sind sie hierher gekommen, um die Natur zu genießen und ihre Kinder im Wald spielen zu lassen. Sie sitzen auf Bierbänken und trinken etwas. Ich mache Fotos.

Auf einer großen Informationstafel entnehme ich einige Details zur Kirche und zum Gügelhügel. Beide sind nicht ganz das selbe. Einiges davon habe ich zuvor bereits in Erfahrung gebracht, hier vor Ort wirkt es aber erst richtig: Früher nämlich hat hier eine weitere Burg gestanden. Man stelle sich vor! Eine zweite Burg! Von dieser ist heute jedoch nichts mehr zu sehen.

Die Kirche selbst hat sich übrigens nicht immer ungeteilter Wertschätzung erfreut Die ortsansässigen Bauern haben offenbar einen Vorgängerbau im Jahre 1525 zerstört, im selben Jahr wie die Burg. Wie es scheint, war die Landbevölkerung damals auf Kirchen und derlei durchaus schlechter zu sprechen gewesen als heute.

Die jetzige Gestalt der Kirche, so die Informationstafel, datiert aus den Jahren 1610 bis 1618. Ich mache Fotos. Mir sagen diese Jahreszahlen nur wenig. Ich wüsste nicht einmal genau, wann der dreißigjährige Krieg war; habe kein gutes Gedächtnis, was geschichtliche Ereignisse anbelangt Kann man alles nachlesen.

Ein zweites Mal betrete ich die sogenannte Lourdesgrotte. Ein weiterer Aushang, diesmal bezogen auf die Grotte, ergänzt die bereits berichtete bäuerliche Zerstörungswut durch anderweitige Zerstörungslust: Die Hussiten (wer waren die?) hätten eine früheren Kapellenbau an diesem Ort bereits im Jahre 1430 dem Erdboden gleichgemacht Danach sei diese zwar wieder aufgebaut worden, sie muss aber bald darauf eingestürzt sein. Pfusch am Bau, wie es den Anschein hat. Jener (undatierte) Einsturz sei im Jahre 1501 behoben worden. Dann erst kamen die besagten Bauern ins Spiel. Nach deren Zerstörungsarbeit musste die Ruine offensichtlich 85 Jahre warten, bis sie wieder in neuem Glanz – oder was auch immer - erstrahlen durfte. Eine reichlich wechselhafte Geschichte, wie man so schön sagt

Besagte Lourdesgrotte sei im Jahr 1891 „eingebaut" worden. Ganz schön spät. Was an dieser Stelle zuvor gewesen war, darüber informiert die Informationstafel nicht. Sicher aber ist: So wie der Bau der Kirche über die Grotte emporragt, war hier früher schon etwas, eine Art Unterkirche oder was auch immer. Jedenfalls musste da ein Raum gewesen sein und nicht bloßer Stein. Ich rätsele. Und mache Fotos.

In der Grotte stehend frage ich mich, ob die Vervielfachung des christlichen Kreuzes eine besondere theologische Botschaft beinhaltet. Eine rasche Zählung ergibt insgesamt sieben Kreuze in dem kleinen Kapellenraum. Erstaunlicherweise beinhaltet jedoch der zentral in der Grotte stehende Marienaltar kein einziges Kreuz. Doch wie um diesen Makel wieder gutzumachen, der Altar ist links und rechts durch zwei schlichte Holzkreuze eingerahmt.

An der Wand links vom Marienaltar hängt eine kleine Darstellung einer weiteren Maria. Diesmal aber ist es eine Müllerstochter aus der Gegend, die ihrerseits endlich, so wie es sich gehört, ein Kreuz in der Hand hält. Ich lese an der Wand eine eher wirre Geschichte um diese Frau. Sie habe beim Tiere hüten stets besagte Gügelkirche vor Augen gehabt Aha, die Müllerstochter hatte sich nicht um Getreide und Mehl zu kümmern, sondern um Tiere. Arme Müllersleute! Sehr gläubig soll sie gewesen sein. Später sei sie in das Kloster nach Bamberg gegangen. Dort habe sie ab ihrem 33. Lebensjahr die Wundmale von Jesus als Zeichen ihrer innigen Verbundenheit mit ihm am Körper getragen.

Wann sich dieser Wahnsinn einer Selbstverstümmelung zugetragen haben soll, wird jedoch nicht klar. Ich frage mich, was so eine Tat motiviert haben mag. Aus welchem Grund mag diese unglückliche Frau ins Kloster gegangen sein? Und war das vor oder nach ihrer Selbstverstümmelung, so es denn tatsächlich überhaupt eine gewesen ist? Jedenfalls möge man um ihre Seligsprechung beten, so steht es an der Tafel. Maria Columba Schonath hat sie geheißen. Columba finde ich einen schönen Namen. Und aus dem nahen Burgellern soll sie sein. Vielleicht ein Ort an der Hinterseite des Gügelhügels? Ein weiteres Rätsel, diesmal jedoch leichter lösbar. Dafür braucht es nur eine Landkarte. Ich mache ein Foto. Okay, mehrere Fotos.

Irgendwie nervt mich dieser Kapellenkram. Ich mache schnell ganz viele Fotos, um mir das genauere Hinsehen zu ersparen. Das freundliche Angebot, vor dem Altar gegen die Zahlung eines adäquaten Geldstückes eine Kerze zu entzünden, nehme ich nicht an. Ich gehe statt dessen weiter, die enge Spindeltreppe nach oben und in den Verbindungsgang zwischen der Grotte und der Kirche. Und staune.

Die mannslange halbhohe Nische auf der rechten Seite des Ganges ist frisch vergipst. Es riecht sogar noch etwas feucht. Ein weißer, halb durchsichtiger Vorhang verdeckt das Innere der Nische. Die Vertiefung in der Nische, die Wanne, die früher einmal hier sichtbar gewesen ist: sie ist weg. Flach zugegipst. Nach vorne hin ist dafür aber eine schwere Steinplatte eingelassen.

Aus der Tiefe

Drei Jahre zuvor, Sommer 2009

„Sie haben hier immer so gern gespielt!" schluchzte die große, blonde Frau.

Es war ein schwülwarmer Spätsommernachmittag. Nur wenige Gäste saßen auf den Bänken. Die meisten von ihnen hatten eher schon ein Glas zu viel getrunken. Die Hitze tat ihr übriges.

„Wer konnte denn ahnen, was die hier verscharrt haben!" schluchzte die Frau weiter. „Sie wollten danach nie mehr hierher."

„Simone, unsere Kinder sind dafür vielleicht auch schon etwas zu alt," meinte ein mittelschwer untersetzter Herr in den frühen Fünfzigern.

"Trotzdem!" insistierte die Frau, Simone. "Sie haben hier immer so gerne gespielt Und jetzt sind sie weg.”

"So ist nun mal das Leben. Sind halt flügge geworden,” meinte der Mann. "Susanne ist fast einundzwanzig. Stefan ist auch schon fünfzehn.”

"Ja, aber wäre das mit den Gräbern nicht gewesen, wäre alles ganz anders gekommen," schluchzte Simone.

Der Mann schüttelte bedächtig den Kopf. Er nahm einen weiteren Schluck. Neben ihnen saß ein zweites Paar, das ebenfalls in jenem Alter war, wo die Vierziger in die Fünfziger übergehen. Der zweite Mann, ebenfalls leicht untersetzt, sah recht ähnlich aus, sowohl in der Statur als auch im Gesicht Beide hatten eine Halbglatze und dunkelbraune, leicht angegraute Haare. Beide hatten sie eine dicke fleischige Nase, mitsamt der dazu passenden dicken und großen Ohren. Eher dünne Lippen. Ganz offensichtlich Brüder. Die zweite Frau trug ihre langen, schon völlig ergrauten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Spindeldürr, wie sie war, bildete sie einen deutlichen Kontrast zu ihrem Ehemann. Sie schaltete sich in das Gespräch ein: "Die Toten sollte man ruhen lassen.”

"Aber man hat sie doch einfach nur verscharrt!" meinte Simones Mann.

"Begraben ist begraben," erwiderte die spindeldürre Frau mit getragener Stimme. "Der Ort der letzten Ruhe, der Friede der letzten Stätte, der sollte nicht gestört werden."

"Aber so ganz ohne Sarg?" antwortete der Mann. "Ich denke, es ist schon besser, dass man die Skelette in richtige Särge auf einem richtigen Friedhof umgebettet hat.”

"Aber es waren doch noch Kinder!" schluchzte Simone wieder. "Ich kann das immer noch nicht verstehen."

"Manches wird man nie verstehen," schaltete sich der andere, bisher schweigende Mann in das Gespräch mit ein. Nennen wir ihn Günther. "Was würde es uns auch nützen, es zu verstehen? Sie sind schon so lange tot. Gewiss sind sie an irgendeiner Seuche oder Krankheit gestorben. Das ist alles so lange her.”

"Na ja. Aber man hat auch anderes darüber gehört, was da gewesen sein soll."

"Aber das ist doch nur Gerede. Es wird schon alles seine Richtigkeit haben.”

"Die armen Kinder..."

"Jaaaa, aber trotzdem."

"... haben niemandem etwas getan!"

"Na, jedenfalls ruhen sie nun drunten auf dem Friedhof. Und sind soweit wieder zusammen, wie es eben geht. Über diese ganze, absonderliche Geschichte wächst nun endlich langsam Gras."

"Susanne und Stefan wollten danach trotzdem nicht mehr hierher kommen. Sie haben hier früher immer so gerne gespielt. Auf Leichen haben sie gespielt!" rief Simone.

"Ach Simone. Wir sehen sie ja nächstes Wochenende."

Simone schniefte. Langsam fing sie sich wieder. Sie nippte an ihrer Weinschorle und fuhr fort: „Entschuldigt. Manchmal kommt es mir einfach hoch. Das alles hat mich zu sehr mitgenommen. Dieser Ort, der für uns so ein Ort der Ruhe und des Friedens gewesen ist Und dann findet man Kinderskelette. Ist mir einfach wieder hochgekommen. Entschuldigt" Sie winkte dem Wirt, der gerade aus der kleinen Gaststätte herausschaute. „Bringst du mir noch einen Kaffee?"

„Ich bleibe dabei. Man hätte ihre letzte Ruhe nicht stören sollen," griff Günthers spindeldürre Gattin den Gesprächsfaden doch noch einmal auf.

„Ja," bestätigte Günther. „Auf diesen Ort hat sich ein Schatten gelegt Aber das mit diesen eingetrockneten Blutresten in der Kirche, das halte ich dann doch für eine etwas arg wirre Sache."

„Ich glaube auch nicht, dass das überhaupt möglich ist," bestätigte sein Bruder. „Dass man das einfach so ausrechnen kann und dass das alles gleich alt sein soll. Oder zumindest ähnlich alt."

„Hör nicht so viel auf die Wissenschaft. Es ist nicht gut, wenn man Dinge wieder ausgräbt, die ruhen," meinte Günthers Frau. „Kommt Ihr mit hinein?"

„Ja, sicher." Die beiden Männer standen auf.

„Ich warte hier so lange," meinte Simone. „Mein Kaffee kommt sicher gleich."

„Gut. Dann bis gleich."

„Bis gleich."

Günther ging mitsamt Frau und Bruder in Richtung der Unterkirche. Auf ihrem kurzen Weg dorthin kreuzten sie den Wirt, der Simones Kaffee auf einem kleinen Tablett balancierte. Man grüßte sich: „Bis gleich!" – „Bis gleich!"

„Hier ist der Kaffee." Der Wirt setzte die Tasse vor Simone ab, türmte die geleerten Gläser auf das Tablett, stellte dieses dann aber seitlich auf dem Tisch ab. Er setzte sich gegenüber von Simone hin und zündete sich eine Zigarette an; bot ihr dann stumm die geöffnete Schachtel an. Simone nickte, nahm eine Zigarette, ließ sich Feuer geben, rauchte ebenfalls.

„Es ist alles nicht mehr so, wie es war," meinte der Wirt trübsinnig. „Es kommen nicht einmal halb so viele Leute her wie noch vor zwei Jahren."

„Das Wetter war ja auch nicht so gut," schlug Simone versöhnlich vor.

„Ach, das Wetter. Das ist mal besser, mal schlechter. Aber das war schon immer so. Nein. Viele Familien kommen einfach nicht mehr her. Und die paar Wallfahrer trinken allenfalls einen Tee. Wenn sich überhaupt einmal einer von denen hierher verirrt Es läuft nicht gut."

Simone legte ihre Hand vorsichtig auf seinen Arm. Versuchte sich in einem schiefen Grinsen. „Dafür trinken immerhin wir mehr als früher."

Der Wirt lachte: „Ja. Wenn ich Euch nicht hätte. Ein bisschen trostlos ist es schon hier oben. Gerade unter der Woche. Da kommt fast gar niemand."

Etwas zögerlich fragte Simone: „Hast du denn etwas von ihr gehört?"

„Nein. Ja. Wir haben kürzlich telefoniert. Kurz." Der Wirt stützte den Kopf auf seine Hände. „Hat eh keinen Zweck."

„Ja, vielleicht." Simone nippte an ihrem Kaffee.

„Ist eben alles etwas zu viel geworden. Na, für zwei ist auch keine Arbeit mehr hier oben... Das passt alles, so auf seine Weise," fügte der Wirt nach einer kurzen Pause mit bitterem Unterton hinzu.

In der Grotte

Günthers Frau hatte sich vor dem Marienaltar hingekniet. Sie hatte gebetet. Nicht lange, aber innig. Nun stand sie wieder auf, bekreuzigte sich nochmals. Dann wandte sie sich zu den beiden Männern, die stumm hinter ihr gewartet hatten.

„Ihr wisst, ich bin immer wieder gerne hier. Das ist ein Ort der Ruhe und der Besinnlichkeit Ein Ort der Kraft. Ich spüre hier die Jahrhunderte und die Tiefe meines Glaubens."

Günther bekreuzigte sich ebenfalls, was bei ihm stets etwas linkisch wirkte.

„Gehen wir hoch?"

„Ja, sicher."

Sie gingen die Spindeltreppe hoch.

„Gute Arbeit!" meinte Günther anerkennend. „Die haben diese komische Kuhle in der Nische 1A verputzt"

„Ja," meinte sein Bruder. „Es ist sicher besser so, dass jetzt alles zugegipst ist Ich wundere mich nur, dass sie nicht gleich die ganze Nische zugemauert haben."

„Ja, ich auch. Aber der Denkmalschutz hat sich gewehrt und gemeint, das mit der zugegipsten Kuhle wäre gerade noch okay. Haben irgendwas von einem Ensemble von Wegen, Wänden und Räumen gefaselt Aber es ist doch nur eine Nische in der Wand."

„Und letztlich weiß man ja nicht einmal, von wem die Blutflecken wirklich gewesen sind. Vielleicht hat irgendwann einem einfach nur die Nase geblutet und er hat sich in die kühle Kuhle gelegt, um den Blutfluss zu stillen."

„So wird es gewesen sein."

„Jedenfalls ist es gut, dass alles wieder sauber und in Ordnung ist," schaltete Günthers Frau sich in das Gespräch mit ein. „Man hat viel zu viel Wind um die Sache gemacht."

„Jaaaa, schon," meinte ihr Mann etwas gedehnt. „Aber sonderbar bleibt es trotzdem. Wie sie die Kinder damals verscharrt haben!"

„Beerdigt!" korrigierte die hagere Frau.

„Na gut, dann eben beerdigt," meinte Günther kompromissbereit

„Jedenfalls," fuhr Günthers Bruder fort „Wenn das Nasenbluten war, dann war es damals hier oben ziemlich üblich, Nasenbluten zu haben. Das sollen ja ganz verschiedene DNA-Reste gewesen sein."

„Andere Zeiten, andere Sitten," meinte Günther schulterzuckend. „Früher gab es sicher schneller einmal eins aufs Maul. Wenn du mich fragst: Das wäre auch heute manchmal besser so." Er klopfte an die Wand, die noch etwas feucht war und nach frischem Gips roch. „Gute Arbeit." Und ging weiter, hoch in die Kirche; gefolgt von seiner Frau.

Sein Bruder blieb stehen, wie um nachzusinnen, ob sich ihm hier irgendeine besondere Wahrheit offenbaren würde. Dann zuckte er mit den Schultern und folgte den beiden. Für ihn war dies kein Ort der Tiefe oder gar der Offenbarung. Er ging ganz einfach mit, weil seine Frau gerne hierher kam und weil sie hier früher so viele Wochenenden verbracht hatten. 'Sonderbar,' dachte er sich. ‘Wir sind die Brüder. Aber es sind unsere Frauen, die beide an diesen Ort wollen und uns dadurch zusammenbringen. Und die beiden Frauen kommen nicht einmal aus den gleichen Gründen. Die eine hängt ihren Erinnerungen nach, die andere sucht ihren Gott Aber letztlich finden sie beide nicht viel. Und gut leiden können sie sich auch nicht’

Auf den Bierbänken

Währenddessen saßen Simone und der Wirt auf den Bier bänken. Simone hatte ihren erkaltenden Kaffee fast ausgetrunken. Die letzten Gäste waren aufgebrochen, der Wirt beeilte sich jedoch nicht mit dem Abräumen. Beide saßen sie da, für eine Weile, schweigend.

„Und wie geht es weiter?" fragte Simone.

„Ich weiß es nicht," antwortete der Wirt.

„Komm doch wieder runter, ins Dorf! Du erstickst hier!"

„Ersticken?" Der Wirt lachte rau. „Wie kann ich bei so viel frischer Luft ersticken? Und, was sagt doch deine Schwägerin immer? Nirgends ist man Gott so nahe! Wir spielen abends Verstecken, wir zwei. Gott und ich."

Simone schüttelte den Kopf. „Du weißt, was ich meine. Würde es nicht ausreichen, nur am Wochenende aufzumachen und den Rest der Woche etwas anderes zu tun? Ein bisschen mehr unter Menschen zu sein? Ich würde mich freuen."

Der Wirt brummte: „Vielleicht."

„Ja! Ich gehe noch kurz zu den anderen. Wir kommen dann nochmal vorbei. Bis gleich!" Simone stand auf, beugte sich zu dem Wirt hinüber und küsste ihn auf die Wange. Dann ging sie in Richtung Kirche.

Der Wirt sah ihr nach. Seine Augen waren feucht geworden. Eine Träne kullerte über die Wange. Er wischte sie ab, kurz bevor sie die Stelle erreichte, auf die Simone ihn geküsst hatte.

Die Geschichte geht weiter

29. Juli 2012, nachmittags

Ich stehe vor der mit einem Vorhang verhängten Nische und wundere mich. Mache Fotos. So wie es hier riecht, wurde die Nische erst vor Kurzem frisch vergipst. Aber womöglich ist es in diesem Gang einfach etwas feuchter und es riecht demnach schon länger so. Oder ich bilde es mir ein. Vielleicht habe ich mir diese wannenhafte Kuhle auch nur eingebildet Andererseits jedoch, die flache Steinplatte, die nun die vordere Hälfte der ehemaligen Kuhle abschließt... so ganz können mich meine Erinnerungen nicht betrogen haben. Die Platte passt nicht hierher. Sie ist neu. Die Kirche ist alt

Vom Aussehen her hat sich die Nische, so glaube ich, ansonsten kaum geändert. Sicher bin ich mir aber nicht. Es ist ja schon eine Weile her, dass ich hier gewesen bin. Nun, die Nische ist jedenfalls tatsächlich gut zwei Meter breit; aber sie ist etwas schmaler, als ich sie in Erinnerung hatte. In der Mitte ist sie gut achtzig Zentimeter hoch. Zu den beiden Seiten hin rundet sie sich nach unten hin ab, so dass die Öffnung wie ein knapp geschnittenes Halbrund erscheint. Das war früher alles etwas anders gewesen, weniger sauber und weniger ordentlich. Nach hinten hin ist die Nische fast einen Meter tief. Dort ist nackter Fels zu sehen, Granit. Dies dürfte wenigstens unverändert geblieben sein. Alles andere, die ehemalige Kuhle und das Innere des Bogens: zugegipst. In den Boden eingearbeitet wurde die Steinplatte, die nach außen hin wie ein Sims aus der Wand herausragt. Ordentlich.

Vorne, an der Wand und damit unterhalb der Kuhle ist reliefartig eine Figur angebracht. Diese war mir früher nicht aufgefallen. Ist sie neu? Ich glaube nicht. Aber wer weiß? Nein, ganz gewiss ist sie nicht neu.

Bei der Figur handelt es sich um einen Engel. Dafür sprechen die Flügel, die aus dem Rücken emporsprießen. Die Figur kniet. Die Hände sind weit nach vorne ausgestreckt und halten einen Kelch. Der Blick des Kopfes ist auf diesen Kelch hin ausgerichtet. Es ist ein Mädchenkopf, mit schulterlangem Haar und einem etwas zu flachen Gesicht Irgendwann hat sie ihre Nase verloren. Vielleicht schaut sie deshalb so fragend und verwundert auf ihren Kelch?

Eigentlich müsste man an dieser Figur erkennen, ob wirklich frisch gegipst wurde oder nicht Ich erkenne aber nichts, außer dass alles vor nicht allzu langer Zeit mit einer dicken Kalkfarbe frisch angestrichen wurde. Auch die Figur. Das ist alles, was es zu der Nische zu sagen gibt. Außer vielleicht, dass vor der Nische ein dünner Vorhang angebracht wurde und dass darin zwei Bretter liegen. Zwei nutzlose Holzdielen! Als bräuchte es einen möglichst schlicht anmutenden Grund für die Existenz dieser Nische mitsamt dem Vorhang: als Stauraum für unbenötigte Bretter. Was für ein Unsinn.

Aber zu dem Relief unterhalb der Nische gibt es noch etwas zu sagen. Die Figur ist nicht nur an der Nase beschädigt Auch die Flügel sind abgebrochen und zum Boden hin fehlt ebenfalls etwas. Bei dem rechten Bein, das nach vorne hin gebeugt ist, fehlt der Fuß. Das linke Bein, welches nach hinten hin weggestreckt ist, endet sogar bereits kurz unterhalb des Knies. Der Hintergrund des Reliefs wirkt zudem recht sonderbar. Er zeigt eine grob watteartige Struktur. Es sieht so aus, als hätte sich der Künstler nicht ganz entscheiden können, ob der Hintergrund aus Wolken bestehen sollte oder aus flach gerundeten Steinen oder aus einer in Stein fixierten Abbildung menschlichen Gedärms. Na, reichlich sonderbar schaut es jedenfalls aus.

So viele erklärende Tafeln in der Kirche angebracht sind, auf dieses Relief verweist keine einzige. Damit erfolgt keinerlei Auskunft auf dessen Alter, auf den mutmaßlichen Künstler und schon gar nicht auf seine Geschichte. Schade. Vielleicht hätten hier meine beiden Kunsthistorikerinnen helfen können, zumindest was das Alter anbelangt Aber sie sind beide wie vom Winde verweht und hätten mich womöglich nur spöttisch angeschaut: ,Was will denn der schon wieder wissen. Was für ein langweiliges Relief, so ganz ohne Farbe!'

Alles in allem mache ich nur wenige Fotos. Ich bin etwas frustriert, weil ich merke, dass das fixierende Abbilden mithilfe des Fotoapparates eigentlich nicht weiterhilft. Viel besser wäre eine Spitzhacke gewesen. Oder irgendeine Art von futuristischem Röntgenauge. Jedenfalls, die Frage bleibt: Warum ist diese Wandnische in dem ansonsten recht nüchtern und schmucklos gehaltenen Verbindungsgang zwischen der Oberund der Unterkirche mit einem Relief ausgeschmückt? Welche Funktion mag diese Nische mitsamt der nunmehr zugegipsten Wanne früher gehabt haben? Leider finde ich keine Antworten. Enttäuscht gehe ich die wenigen Schritte zurück, zu der Vitrine mit den Wachspuppen.

Die Vitrine ist von innen beleuchtet Zwei Wachspuppen stehen darin. An dieser Stelle wird die Kirche wieder wie gewohnt geschwätzig. Gleich zwei Texttafeln sind in der Vitrine angebracht. Nein, ich korrigiere, sogar drei Tafeln. Die dritte enthält jedoch nur ein Gebet, in welchem diverse Heilige sowie selbstredend die heilige Maria angefleht werden. In dem Gebet wird ein komplettes himmlisches Regiment aufgefahren: nicht nur die Nothelfer werden bemüht, sondern auch irgendwelche Schutzengel adressiert. Jesus immerhin auch.

Alles in allem beinhaltet die Vitrine nebst der Wachspuppen fünf kleine Ölbilder. Die Wachspuppen selbst sind in weiß gehalten und stehen – obzwar in der Vitrine – ihrerseits jeweils in einer eigenen kleineren Vitrine mit hölzernem Rahmen. Die rechte der Wachspuppen trägt ein grünes Zeichen auf der linken Brust; also nicht über dem Herzen. Das Zeichen schaut aus wie ein Ahornblatt. Ich mag den Ausdruck im Gesicht der Puppen noch immer nicht. Ich mache Fotos, aber zu wenige, wie ich später feststelle.

Zu der linken Wachsfigur wird eine kleine Geschichte erzählt. Sie sei für die kleine Anna gestiftet worden, bei welcher gleich nach ihrer Geburt ein Auswuchs auf dem Kopf festgestellt worden sei, der unter hohem Risiko erfolgreich wegoperiert wurde. Als Dank für die erfolgreiche Operation gab es diese Puppe, Annas Wachsfigur. Vermutlich aus dem Jahre 1920. Entsprechende Anna scheint immerhin 91 Jahre alt geworden zu sein. Ein Belegfoto von einer alter Frau mitsamt deren Lebensdaten soll dies dokumentieren.

Insgesamt, so die zweite Hinweistafel, habe es früher in der Lourdes-Grotte 17 dieser Wachskinder gegeben, dazu – so die Tafel – „viele Wachsarme und Beine". Offensichtlich wurden die meisten dieser Dinge im Jahre 1959 weggeworfen. „Entfernt" heißt es vornehm. Es sei nur wenig „erhalten geblieben". Damals war die Kirche offenbar renoviert worden.

Mit den fünf Bildern in der Vitrine kann ich nur wenig anfangen. Mindestens vier von ihnen ranken einmal mehr um Maria, in wechselnden Szenerien. Also, auf geht’s, weiter und in die Kirche hinein.

Simone in der Kirche

Auf dem Weg hinein

Obwohl das Hauptportal zur Kirche geöffnet war, betrat auch Simone das Gebäude durch die Unterkirche. Das war schlichtweg der bequemere Weg, denn sonst hätte sie um die Kirche herumgehen und die große Steintreppe hinaufsteigen müssen. Viel eleganter hingegen war es, durch die Grotte hindurch zu gehen. Den Marienaltar darin würdigte sie jedoch kaum eines Blickes, sondern stieg gleich die enge Treppe hoch. An der Nische in dem Verbindungsgang zwischen Ober- und Unterkirche hielt sie kurz inne. Sie zitterte, als ob ihr fröstelte. Dann schüttelte sie den Kopf und ging weiter.

In der Kirche

Die anderen waren für inmitten der Kirche stehen geblieben. Schweigend. Schließlich war Günthers Frau nach vorn gegangen und stand nun vor dem linken Altar mit dem gekreuzigten Jesus. Sinnierend. Regungslos. Wahrscheinlich betend.

Die beiden Männer folgten ihr nicht. Sie waren nur wenige Schritte entfernt von dem Aufgang aus der Unterkirche stehen geblieben. Es schien, als wüssten sie nicht so recht, wohin. Günther hatte bereits in der Lourdes-Grotte seine Schuldigkeit getan und sich bekreuzigt Jetzt stand er einfach so da. Sein Bruder hatte sich in der Grotte ebenso wie jetzt jedwede Glaubensbezeugungen gespart.

Noch immer hing er seinen Gedanken an die beiden Frauen nach. Er grinste schief: Wie sonderbar. Es war ja nicht nur so, dass es vor allem die Frauen waren, die immer wieder hierher wollten und auf diese Weise dafür sorgten, dass die beiden Brüder sich regelmäßig trafen. Es war aber auch so, dass beide Frauen sich nur wenig mochten. Auf den ersten Blick mochte dies mit ihren unterschiedlichen Lebenseinstellungen zu tun haben, die gerade hier besonders zur Geltung kamen. Aber das waren letztlich nur Oberflächlichkeiten, so dachte er. Günthers Frau liebte diesen Ort zum stillen Gebet. Sie sei Gott hier näher, hatte sie einmal gesagt Simone mochte zwar ebenfalls die Ruhe dieses Ortes. Aber für sie war dies stets ein besonderer Platz ihrer Familie gewesen. Der kleine wochenendliche Ausflug auf den Gügel, als Ort zum Spielen für die Kinder und für einen kleinen Plausch mit einem guten alten Freund von beiden, dem Wirt.

'Er ist grau geworden,’ dachte Simones Mann. ‘Und traurig. Vielleicht kann ihn Simone etwas trösten. Wenn Günther und seine Frau dabei sind, ist er selten gesprächig. Sollte sich eine neue Frau suchen.' Er stutzte ihn seinen Gedanken, sich selbst kommentierend: ‘Ach, wenn das so einfach wäre. Ich sehe die Kontaktanzeige schon vor mir: Alter Brummbär sucht Brummbärin. Und wie soll das überhaupt gehen: Frau suchen?’

Damit setzte er sein Sinnieren über die beiden Frauen fort. Während Simone meistens eher gleichgültig gegenüber Günthers Frau war – sie konnte mit deren Religiosität schlichtweg nichts anfangen; wirkte Günthers Frau Simone gegenüber - wenn auch in gut verdeckter Weise – öfters etwas feindselig. Simones Mann vermutete, dass dies daher kam, dass Günthers Frau auf ihre Kinder neidisch war. Sie war kinderlos geblieben und dies trotz zweier Wallfahrten zu besonderen Orten des christlichen Wunderglaubens um die weibliche Fruchtbarkeit. Er schmunzelte und äffte in Gedanken seine Schwägerin nach; etwas, das er niemals laut tun würde, nicht einmal Simone gegenüber: 'Ausgerechnet die Gottlosen werden mit der Leibesfrucht gesegnet, während die Gottesfürchtigen ihrer verlustig gehen. Es muss eine besondere Prüfung des Herrn sein. Nur die seinen werden seiner Strenge ganz offenbar, als Zeichen seiner Liebe. So ein Quatsch!’ Er schüttelte den Kopf.

So standen die beiden Männer etwas planlos wirkend mitten in der Kirche. Der eine war in Gedanken, der andere musterte gelangweilt das ihm wohlbekannte Innere. Schließlich nickte Günther zu seinem Bruder und drehte seinen Kopf in Richtung des Kirchenportals. Dieses war wie immer im Sommer tagsüber weit geöffnet und offenbarte einen fantastischen Ausblick auf die Landschaft: auf die Wiesen und den Wald sowie auf die gegenüber liegende Anhöhe der Giechburg; auf die breite Treppe vor der Kirche, jenseits derer die letzten Wegmarken des Kreuzwegs endeten. Günther ging in Richtung Portal. Sein Bruder folgte ihm. Beide traten auf den Vorplatz zwischen dem Portal und der Treppe. Sie blickten in die Landschaft. So wohlvertraut, wie diese für beide war, so genossen sie dennoch den weiten Blick, der sich in die Welt hinaus erstreckte. Sie schwiegen weiterhin, doch sie hatten sowieso selten viel miteinander gesprochen, obwohl – oder weil – sie sich stets gut verstanden.

So traf Simone das Grüppchen an. Ihre Schwägerin stand vorn bei den Altären, die beiden Brüder draußen vor dem Tor. Nur kurz sah sich Simone nach ihrer Schwägerin um und wandte sich rasch in Richtung des Portals. Sie lief die wenigen Schritte bis dorthin und blieb inmitten des Tores stehen, genau an dem Punkt, der das Drinnen vom Draußen trennt und der sich manchmal ein Stück weit mehr nach innen, manchmal sich mehr nach außen hin verlagert Jetzt in jenem Moment stand sie zwar noch einen knappen halben Fuß breit drin, befand sich dennoch bereits weit außerhalb.

„Wieso steht Ihr eigentlich draußen, wo Ihr doch in die Kirche hinein gehen wolltet?" erkundigte sie sich spöttisch bei den beiden Brüdern.

Ihr Mann drehte sich um. Er berührte sie für einen Moment sanft mit der Hand. Er grinste. „Aber vielleicht sind wir überhaupt nur deswegen hinein gegangen, um wieder hinausgehen zu können!"

„Ihr seid ja zwei sonderbare Gestalten. Und ich dachte schon, Ihr wolltet beten." Simones Neckerei galt ihrem Schwager Günther, dem es zuweilen Mühe bereitete, sich mit der tiefen Religiosität seiner Frau zu arrangieren. Ihr Mann und sie selbst machten sich nicht viel aus alledem. Ihre beiden Kinder waren aus sozialer Höflichkeit getauft worden. Wäre es ihnen damals schon klar gewesen, mit welcher Unausweichlichkeit sie später den Wegmarken christlichen Glaubens folgen müssten, sie hätten es sich vielleicht erspart. Obwohl, vielleicht auch nicht. Die Macht der Tradition.

Günther erwies sich auf ihre Neckerei hin als ungewohnt schlagfertig. „Weißt du, wir beten hier draußen gemeinsam, dein Mann und ich; im direkten Anblick der Schöpfung. Ist er nicht wundervoll, dieser Ausblick?"

Simone lachte. „Ja, das ist er tatsächlich. Und Ihr seid es auch!"

Günther stutzte. „Äh, was sind wir?"

„Na, einfach ganz wundervoll!" lachte Simone. „Tut mir leid, dass ich vorhin so losgeflennt habe," meinte sie dann wieder ernster.

„Ist schon gut," meinte ihr Mann und nahm sie in den Arm. „Wir haben alle an dieser Geschichte zu knabbern gehabt."

„Ja, das ist so," bestätigte Günther. „Das hat einige ganz schön aus der Fassung gebracht. Aber so langsam geht es wieder."

„Wie geht es dem Wirt?" fragte Simones Mann.