Der Haben-Wollen-Reflex - Luke Burgis - E-Book

Der Haben-Wollen-Reflex E-Book

Luke Burgis

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Beschreibung

Warum nur eifern wir immer anderen nach und wollen haben, was sie haben wollen? Die Antwort liegt tief in der menschlichen Natur begründet: Wir alle werden von einem mimetischen Begehren gelenkt, einem nachahmenden Verlangen, wodurch Menschen oder Dinge unwiderstehlich anziehend auf uns wirken, sobald sie bereits von anderen begehrt werden. Aus diesem "Haben wollen" entstehen Eifersucht, Neid und Gewalt. Wie also können wir uns daraus befreien? Luke Burgis erläutert gleichzeitig unterhaltsam und fundiert die psychologischen und soziologischen Hintergründe des mimetischen Begehrens: Abgesehen von grundlegenden Bedürfnissen wie Essen und Trinken wissen wir eigentlich nicht, was wir wirklich wollen. Unsere Wünsche und Begehrlichkeiten sind von Beginn an sozial geprägt: Sie richten sich nach dem, was andere für begehrenswert halten, oder nach dem, was eine Zeit oder eine Mode zu angeblichen Bedürfnissen idealisiert. So dreht sich unser "Haben wollen" um des "Haben wollens Willen" im Grunde um eine leere Mitte, die uns nie wirklich zufrieden stellen kann. Wir werden zu einem manipulierbaren Spielball unserer scheinbaren Wünsche. Das hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, wie Berufsziele, unseren Kleidungsstil und sogar unsere Partnerwahl. Werbung, Influencer und Social Media nutzen es für ihre Zwecke, indem sie ein Verlangen nach ihren Produkten in uns wecken, und in letzter Konsequenz können auch schwerwiegende Konflikte bis hin zu Kriegen daraus entstehen, wenn verbissen mit anderen um etwas gerungen wird, das vermeintlich alle haben wollen. Hier setzt Luke Burgis an. Wir lernen, die Gründe für unser nachahmendes Verlangen zu erkennen und zu hinterfragen. So wird der Weg frei, die Wünsche zu finden, die wirklich von Bedeutung für uns sind und uns auf lange Sicht erfüllen. Ganz konkrete Taktiken, wie wir dem mimetischen Begehren in uns ein Schnippchen schlagen und die Selbstkontrolle wiedererlangen, runden dieses hochaktuelle Buch ab.

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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Luke Burgis

DER HABEN-WOLLEN-REFLEX

Wie sehr die Macht der Nachahmungunser Leben bestimmt und wie wir uns davon lösen

Aus dem Englischen von Beate Brandt

VAK Verlags GmbHKirchzarten bei Freiburg

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Wanting

Copyright © by Luke Burgis 2021

ISBN 9781250262486

Published in the United States by St. Martin’s Press,an Imprint of St. Martin’s Publishing Group120 Broadway, New York, NY 10271

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im Text die weibliche und die männliche Form gewählt; alle Angaben beziehen sich selbstverständlich auf Angehörige aller Geschlechter.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

VAK Verlags GmbH

Eschbachstraße 5

79199 Kirchzarten

Deutschland

www.vakverlag.de

© VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 2022

Übersetzung: Beate Brandt

Lektorat: Irene Klasen

Illustrationen: Liana Finck

Layout & Satz: Ulrich Schmid, de·te·pe, Aalen

Covergestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg

Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Printed in Germany

ISBN 978-3-86731-255-4 (Paperback)

ISBN 978-3-95484-448-7 (ePub)

ISBN 978-3-95484-449-4 (PDF)

INHALT

Hinweis an meine Leserinnen und Leser

VorwortEine unerwartete Erleichterung

EinführungSoziale Schwerkraft

Gefährliche Gedanken

Maslow neu gedacht

Die Evolution des Begehrens

Was auf dem Spiel steht

Was werden Sie in Zukunft wollen?

Teil IDIE MACHT MIMETISCHEN BEGEHRENS

Kapitel 1Verborgene Vorbilder – Romantische Lügen, Kinderwahrheiten

Die Geheimnisse der Babys

Ein Martini als Einstiegsdroge

Fackeln der Freiheit

Mimetische Spiele

Vorbilder, die Märkte bewegen

Kapitel 2Verzerrte Realität – Wir sind alle wieder Studienanfänger

Zwei Arten von Vorbildern

Celebristan

Freshmanistan

Realitätsverzerrungen

Soziale Mediation

Kapitel 3Soziale Ansteckung – Kreisläufe des Begehrens

Lamborghini kontra Ferrari

Meme und die mimetische Theorie

Der Schwungrad-Effekt

Der kreative Kreislauf

Der zerstörerische Kreislauf

Wertehierarchien

Der Zusammenbruch des Begehrens

Kapitel 4Die Erfindung der Schuld – Eine unterschätzte gesellschaftliche Entdeckung

Heilige Gewalt

Die Gefahr der Reinheit

Menschen vor sich selbst retten

Der Weg des geringsten Widerstands

Die Tanzwut von 1518

Sichere Beurteilung

Das Vergnügen am Unglück anderer

Der Sündenbock gewinnt

Selbstbewusstheit und Selbsthass

Zeichen von Widerspruch

Teil IIDIE TRANSFORMATION DES BEGEHRENS

Kapitel 5Antimimetisch – Füttere den Menschen, nicht das System

Bewegliche Zielsetzung

Mimetische Systeme

Beobachtet und bewertet werden

Tralala und Chichi

Die weniger befahrene Straße

Eine neue Denkweise entwickeln

Kapitel 6Disruptive Empathie – Schwache Wünsche durchbrechen

Das Problem mit der Sympathie

Stabile Wünsche

Wieder aufstehen und weitermachen

Erfüllungsgeschichten

Motivationsmuster

Kapitel 7Transzendente Führung – Wie großartige Führungspersönlichkeiten Begehren anregen und formen

Immanentes Begehren

Transzendentes Begehren

Fähigkeit 1: Den Schwerpunkt verlagern

Fähigkeit 2: Die Geschwindigkeit der Wahrheit

Fähigkeit 3: Urteilsvermögen

Fähigkeit 4: Still in einem Raum sitzen

Fähigkeit 5: Feedback filtern

Kapitel 8Die mimetische Zukunft – Was wir morgen wollen werden

Kultureller Treibsand

Instrumente oder Beziehungen

Wie Begehren erzeugt wird

Transformation von Begehren

Schlüsselräume

Die drei Erfindungen

Der eine große Wunsch

Nachwort

Danksagung

Anhang A: Glossar

Anhang B: Bücher zur mimetischen Theorie

Anhang C: Motivationsthemen

Anmerkungen

Literatur und Quellen

Für Claire und Hope

TAKTIKEN

TAKTIK 1   – 

Benennen Sie Ihre Vorbilder

TAKTIK 2   – 

Finden Sie Wissensquellen, die nicht anfällig für Mimesis sind

TAKTIK 3   – 

Grenzen Sie sich von ungesunden Vorbildern ab

TAKTIK 4   – 

Nutzen Sie Nachahmung, um Innovation voranzutreiben

TAKTIK 5   – 

Setzen Sie positive Schwungräder des Begehrens in Gang

TAKTIK 6   – 

Etablieren und kommunizieren Sie eine klare Wertehierarchie

TAKTIK 7   – 

Kommen Sie auf antimimetischem Weg zu einem Urteil

TAKTIK 8   – 

Bestimmen Sie die Systeme des Begehrens in Ihrem Leben

TAKTIK 9   – 

Prüfen Sie Ihre Wünsche

TAKTIK 10  – 

Tauschen Sie Geschichten tief erfüllender Handlungen aus

TAKTIK 11  – 

Beschleunigen Sie die Verbreitung von Wahrheit

TAKTIK 12  – 

Investieren Sie in tiefe Stille

TAKTIK 13  – 

Suchen Sie nach der Koexistenz von Gegensätzen

TAKTIK 14  – 

Üben Sie meditatives Denken

TAKTIK 15  – 

Leben Sie, als wären Sie für die Wünsche anderer Menschen verantwortlich

Nachahmung ist dem Menschen von Kindheit an gegeben, einer seiner Vorteile gegenüber den niederen Tieren liegt darin, dass er das am meisten nachahmende Wesen der Welt ist.Aristoteles

Wir wollen, was andere Menschen wollen, weil andere Menschen es wollen, und es sind nachgezeichnete Augenbrauen, den ganzen Weg hinab, bis hinunter in die Tiefen des neunten Kreises der Hölle, wo wir alle sofort an einem Brazilian Butt Lift versterben, immer wieder und wieder.Dayna Tortorici

HINWEIS AN MEINE LESERINNEN UND LESER

In diesem Buch geht es darum, warum Menschen wollen, was sie wollen. Warum Sie wollen, was Sie wollen.

Wir alle verbringen jeden einzelnen Moment unseres Lebens, vom Tag unserer Geburt bis hin zum Zeitpunkt unseres Todes damit, etwas zu wollen. Wir wollen sogar etwas, während wir schlafen. Dennoch nehmen sich nur wenige Menschen die Zeit herauszufinden, wie ihre Wünsche und Begierden eigentlich entstehen.

Das Richtige zu wollen ist – wie die Fähigkeit klar zu denken – nichts, womit wir geboren werden. Es ist eine Freiheit, die wir erwerben müssen. Und aufgrund eines einflussreichen, aber wenig bekannten Aspekts des menschlichen Begehrens handelt es sich um eine hart erkämpfte Freiheit.

Als ich in meinen Zwanzigern war, verbrachte ich meine Zeit damit, Firmen zu gründen und dem Unternehmertraum nachzujagen, den das Silicon Valley mir eingepflanzt hatte. Ich war auf der Suche nach finanzieller Freiheit, so glaubte ich zumindest, und der Anerkennung und dem Respekt, die damit einhergingen.

Und dann geschah etwas Merkwürdiges: Als ich mich von einer der Firmen, die ich gegründet hatte, verabschiedete, verspürte ich plötzlich eine enorme Erleichterung. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich bislang einer falschen Begierde nachgerannt war! Meine vorherigen Erfolge hatten sich wie Scheitern angefühlt, und nun fühlte sich Scheitern wie Erfolg an. Was verbarg sich hinter meinem hartnäckigen Streben, das mir am Ende nie die erwartete Zufriedenheit gebracht hatte?

Diese Sinnkrise bewirkte, dass ich eine Menge Zeit in Bibliotheken und Kneipen verbrachte. Manchmal verlegte ich die Bibliothek auch in die Kneipe. (Kein Scherz! Einmal schleppte ich einen ganzen Rucksack voller Bücher in eine Sportbar, als gerade das Meisterschaftsfinale im Baseball übertragen wurde, und versuchte zu lesen, während die Fans der Phillies (Baseballteam aus Philadelphia, Anm. d. Verlags) um mich herum ausgelassen feierten.) Ich reiste nach Thailand und nach Tahiti. Ich trieb wie besessen Sport.

Aber all das war nur Kratzen an der Oberfläche und hatte nichts mit dem grundlegenden Problem zu tun. Zwar half mir diese Zeit, ernsthaft über meine Entscheidungen nachzudenken, aber sie half mir nicht, die Gründe zu verstehen, die mich ursprünglich zu diesen Entscheidungen veranlasst hatten – das Navigationssystem hinter meinen Bestrebungen.

Eines Tages schlug ein Mentor vor, ich solle mich einmal mit ein paar Ideen beschäftigen, die seiner Ansicht nach erklärten, warum ich dazu gekommen war die Dinge zu wollen, die ich wollte, und wie mein Wollen mich in Kreisläufen aus Leidenschaft gefolgt von Ernüchterung gefangen hielt.

Die erwähnten Ideen stammten von einem ziemlich unbekannten, aber einflussreichen Gelehrten. Bevor er am 4. November 2015 im Alter von 91 Jahren starb, wurde René Girard in die Riege der Immortels (der Unsterblichen, Anm. d. Verlags) der Académie Française aufgenommen und als „neuer Darwin der Sozialwissenschaften“ bezeichnet. Als Professor in Stanford von den 1980ern bis in die 1990er Jahre hinein inspirierte er eine kleine Schar von Anhängern. Einige von ihnen glaubten, dass seine Ideen der Schlüssel zum Verständnis des 21. Jahrhunderts sein würden – und dass er dereinst im Rückblick auf das 21. Jahrhundert als wichtigster Denker seiner Generation gefeiert werden würde.1

Wahrscheinlich haben Sie noch nie von ihm gehört.

René Girards Denken zog Menschen aus ganz verschiedenen Richtungen an. Er hatte die verblüffende Gabe, Dinge zu bemerken, die rätselhaftes menschliches Verhalten erklärten. Er war eine Art Sherlock Holmes der Geschichte und Literatur, der unbeachtete Hinweise offenlegte, während alle anderen den üblichen Verdächtigen hinterherjagten.

Girard spielte in einer anderen Liga als andere Wissenschaftler. Er war wie die einzige Person am Pokertisch, die den Tell – die verräterische Reaktion – des dominierenden Spielers erkennt. Während andere Spieler ihre Gewinnchancen anhand mathematischer Wahrscheinlichkeiten durchrechnen, blickt er in die Gesichter. Er beobachtet seinen Rivalen, um zu sehen, wie häufig er blinzelt oder an der Nagelhaut seines linken Zeigefingers pult.

Girard deckte eine grundlegende Wahrheit über Begehren auf, die scheinbar Unzusammenhängendes miteinander verband. Er brachte biblische Geschichten mit der Unbeständigkeit des Aktienmarktes in Verbindung, den Zusammenbruch alter Zivilisationen mit Arbeitsplatzproblemen, Karrierewege mit Ernährungstrends. Schon lange bevor sie überhaupt existierten, erklärte er, warum Facebook, Instagram und Konsorten so beliebt und erfolgreich darin sein würden, Menschen sowohl Dinge als auch Träume zu verkaufen.

Girard entdeckte, dass das meiste, was wir begehren, mimetisch ist, also nachahmend, und nicht intrinsisch, also aus uns selbst heraus motiviert. Menschen lernen – durch Nachahmung –, die gleichen Dinge zu wollen, die andere Menschen wollen, genauso wie sie lernen, die gleiche Sprache zu sprechen und die gleichen kulturellen Spielregeln zu befolgen. Nachahmung spielt in unserer Gesellschaft eine deutlich allgegenwärtigere Rolle, als irgendjemand jemals offen anerkannt hätte.

Unsere Nachahmungsfähigkeit stellt diejenige aller anderen Tiere in den Schatten. Sie hat den Weg für hoch entwickelte kulturelle und technische Errungenschaften geebnet. Gleichzeitig hat sie eine dunkle Seite. Nachahmung verleitet Menschen dazu, Dinge anzustreben, die zunächst wünschenswert erscheinen, sie aber unerfüllt zurücklassen. Sie hält sie in Kreisläufen von Begehren und Rivalität gefangen, aus denen es nur schwer, ja praktisch unmöglich ist, zu entkommen.

Girard allerdings machte seinen Studierenden Hoffnung. Es ist möglich, den Kreisläufen frustrierten Begehrens zu entfliehen. Es ist möglich, handlungsfähiger darin zu werden, das Leben zu erschaffen, das wir wollen.

Meine Beschäftigung mit Girard führte mich von ungläubiger Skepsis zu bahnbrechender Erkenntnis. Die mimetische Theorie half mir dabei, Muster im Verhalten von Menschen und Ereignissen zu erkennen. Das war der leichte Teil. Zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem ich mimetisches Verhalten überall entdeckt hatte, außer in meinem eigenen Leben, stellte ich es plötzlich auch bei mir fest – der Moment der bahnbrechenden Erkenntnis. Die mimetische Theorie half mir schließlich dabei, meine eigene verfahrene Welt von Begierden zu durchschauen und darin aufzuräumen. Das war kein leichter Prozess.

Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass ein Verständnis mimetischen Begehrens der Schlüssel dazu ist, auf tiefer menschlicher Ebene zu verstehen, wie Geschäftsleben, Politik, Wirtschaft, Sport, Kunst, ja selbst Liebe funktionieren. Es kann Ihnen helfen, Geld zu verdienen, wenn das Ihr größter Antrieb sein sollte. Es kann Ihnen aber auch helfen, nicht bis zur Lebensmitte oder noch länger zu warten, um zu erkennen, dass Geld oder Prestige oder ein bequemes Leben vielleicht nicht das sind, was Sie vor allem wollen.

Die mimetische Theorie wirft ein Licht auf die Ursache von wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Spannungen und zeigt uns Wege aus ihnen heraus. Bei kreativen Menschen kann sie die Kreativität in Projekte fließen lassen, die wahren menschlichen und wirtschaftlichen Nutzen bringen und nicht nur der Verlagerung von Reichtum dienen.

Ich behaupte nicht, dass das Überwinden von mimetischem Begehren möglich oder überhaupt erstrebenswert ist. Es geht mir in diesem Buch vielmehr darum, mehr Bewusstsein für sein Vorhandensein zu schaffen, damit wir es besser steuern können. Mimetisches Begehren ist wie Schwerkraft – es ist einfach da. Die Schwerkraft ist immer vorhanden. Einigen Menschen bereitet sie ständige Mühe, wenn sie in ihrer Körpermitte und rund um die Wirbelsäule nicht ausreichend Muskeln entwickeln, um aufrecht zu stehen und sich der Welt zu stellen, dem Abwärtssog zu widerstehen. Andere sind der gleichen Schwerkraft ausgesetzt und schaffen es bis auf den Mond.

Beim mimetischen Begehren ist es genauso. Wenn wir uns seiner nicht bewusst sind, dann bringt es uns an Orte, an denen wir niemals landen wollten. Entwickeln wir jedoch die richtigen sozialen und emotionalen Muskeln, kann es zu einem Weg werden, positive Veränderungen in Gang zu setzen.

Welche Veränderungen Sie vornehmen, bleibt Ihnen überlassen – das können Sie nach Lesen dieses Buchs ganz persönlich für sich entscheiden.

Es gibt eine wachsende Anzahl von Menschen, die an der mimetischen Theorie interessiert sind, und sie kommen aus allen möglichen politischen Richtungen, Fachbereichen und Ländern. Auch wenn die Verhältnisse jeweils andere sein mögen, behält die inhaltliche Kraft der Theorie die gleiche Relevanz. Die Vielfalt der Perspektiven lässt vermuten, dass sie in ihrem Kern womöglich eine profunde Wahrheit über die Menschheit enthält.

Wissenschaftler, die sich für Girards Theorie interessieren, haben bedeutende Beiträge zu Themen geleistet, die von der Hermeneutik der Mimesis bei Shakespeare bis zur sexuellen Gewalt gegen Frauen in Kriegsgebieten und dem Sündenbock-Phänomen beim Genozid in Ruanda reichen. Kurz gesagt: Wer die mimetische Theorie nur mit Girards früherem Schüler Peter Thiel (deutschstämmiger amerikanischer Unternehmer und Gründer des Online-Bezahldienstes PayPal, Anm. d. Verlags) assoziiert und sie mit Libertarismus oder Thiels Unternehmenspolitik in Verbindung bringt, hat ein unvollständiges Bild. Ein Anreiz, dieses Buch zu schreiben bestand darin, die Monopolstellung zu brechen, die er in den Köpfen einiger Menschen als Deuter von Girards Denken hat. Er wäre mit Sicherheit der erste, der Ihnen sagen würde, dass das eine gute Sache ist. Ideologische Monopolstellungen sind die schlimmsten.

Mimetisches Begehren geht weit über das Politische hinaus. Es ist auf gewisse Weise präpolitisch, ähnlich wie die Komödie. Wenn etwas lustig ist, ist es lustig. Aber selbst Humor kann vergiftet und mit bestimmten Zwecken und Rivalitäten verbunden sein. Sollte jemand dieses Buch lesen und Erkenntnisse daraus dazu nutzen, um mögliche Gegner zu attackieren, dann hat er etwas grundlegend missverstanden.

In einer Zeit zunehmender Spannungen in den USA und vielen anderen Teilen der Welt – zumindest, während ich dieses Buch schrieb – wollte ich etwas anbieten, das zu mehr Reflektion und Zurückhaltung anregt, dem Anerkennen unserer Rivalitäten und der Hoffnung, dass wir mit Nachbarn leben können, die andere Dinge wollen als wir.

Heute verbringe ich einen Teil meiner Zeit damit, aufstrebende Unternehmer und Unternehmerinnen zu schulen. Ihr Ziel, eine bessere Welt aufzubauen und ein sinnerfülltes Leben zu führen, inspiriert mich. Aber ich befürchte, dass sie am Ende enttäuscht sein könnten, wenn sie nicht verstehen, wie Begehren funktioniert.

Die Vorstellung, ein Unternehmer zu sein, hat heutzutage einen hohen mimetischen Wert. Nahezu jeder angehende Unternehmer, den ich kenne, ist motiviert, eine Form von Freiheit zu erreichen. Sein eigenes Unternehmen zu leiten, führt aber nicht automatisch zu mehr Freiheit – manchmal führt es zum Gegenteil. Wir stellen uns Unternehmer als die ultimativen Rebellen vor, die nicht an einen geregelten Arbeitstag gebunden sind oder kein langweiliges Leben als kleines Rädchen im mittleren Management fristen. Aber schon der Gedanke, dass Sie in dem Sinne keinen Chef haben, kann bedeuten, dass Sie Opfer mimetischen Begehrens geworden sind. Deshalb rege ich meine Schüler an, tiefer zu graben.

Ich kann ihnen nicht garantieren, dass sie erfolgreich in ihrem Beruf sein werden, aber ich kann ihnen garantieren, dass sie sich ab dem Moment, an dem sie meinen Kurs beendet haben, nicht mehr ahnungslos etwas wünschen werden. Sie werden mit einem besseren Bewusstsein dafür, was in ihrem Inneren vor sich geht, Hauptfächer wählen, Unternehmen gründen, Partnerinnen und Partner finden und die Nachrichten verfolgen. Dieses Bewusstsein ist die Voraussetzung für Veränderung.

Es gibt Erkenntnisse, die – sobald man sie erlangt hat – dauerhaft in die Erfahrung des täglichen Lebens einfließen. Verständnis des mimetischen Begehrens ist eine davon. Sobald Sie verstanden haben, wie es funktioniert, erklären sich Ihnen viele Dinge, die in der Welt um Sie herum ablaufen. Und das betrifft nicht nur das Familienmitglied, dessen merkwürdige Lebensweise Sie niemals wählen würden, die Regeln an Ihrem Arbeitsplatz, den Freund, der viel zu oft in den sozialen Medien unterwegs ist, oder den Kollegen, der damit prahlt, dass seine Tochter an einer renommierten Universität angenommen wurde. Es bezieht Sie selbst mit ein.

Sie werden es in sich selbst entdecken.

VORWORT

EINE UNERWARTETE ERLEICHTERUNG

Im Sommer 2008 trat etwas ein, auf das viele Gründer von Start-ups hinarbeiten – ich erfuhr, dass ich mein Unternehmen gewinnbringend würde verkaufen können. Nach einer intensiven Annäherungsphase von mehreren Monaten war ich auf dem Weg, um mit dem Geschäftsführer von Zappos (Online-Shop für Schuhe und Modeartikel, Anm. d. Verlags), Tony Hsieh, auf unseren Deal anzustoßen. Zappos würde mein Onlinehandelsunternehmen für Wellness-Produkte, FitFuel.com, übernehmen.

Eine Stunde zuvor hatte Tony mich über Twitter (damals seine bevorzugte Form der Kommunikation) zu einem Treffen im Foundation Room gebeten, einer Bar im 63. Stock des Mandalay Bay Hotels in Las Vegas. Ich wusste, dass an diesem Tag eine Vorstandssitzung stattgefunden hatte, bei der die Übernahme besprochen werden sollte. Er hätte mich nicht eingeladen, wenn es nichts zu feiern gegeben hätte.

Ich war bereits den ganzen Tag lang nervös in meinem Haus herumgetigert. Ich musste den Deal einfach abschließen, denn FitFuel verbrannte jede Menge Geld. Trotz unseres rasanten Wachstums in den vergangenen zwei Jahren sahen die kommenden Monate nicht unbedingt rosig aus. Die US-Notenbank Federal Reserve hatte gerade Zusagen gemacht, um die große Investmentbank Bear Stearns vor dem totalen Zusammenbruch zu bewahren. Der Immobilienmarkt war in voller Talfahrt. Ich brauchte eine weitere Finanzspritze, aber die Investoren waren vorsichtig geworden. Alle sagten mir, ich solle in einem Jahr noch einmal wiederkommen – aber so viel Zeit hatte ich nicht.

Weder Tony Hsieh noch ich wussten damals, wie turbulent 2008 werden würde. Zu Beginn des Jahres verbuchte Zappos einen operativen Gewinn oberhalb der angestrebten Ziele und beschloss, allen Angestellten großzügige Bonuszahlungen zu gewähren. Am Ende des Jahres – nur acht Monate nach Auszahlung der Boni – musste das Unternehmen acht Prozent seiner Mitarbeiter entlassen. Bereits im Sommer schnürten die Vorstandsmitglieder von Zappos und erfahrene Investoren, allen voran Sequoia Capital, den Gürtel enger.1

Als die Einladung von Tony kam, raste ich von meinem Heimatort Henderson in Nevada zum Las Vegas Strip, drehte die Musik voll auf und stieß abwechselnd Erleichterungs- und Freudenschreie aus, um meine Anspannung abzubauen und bei meiner Ankunft halbwegs ruhig zu wirken.

Zappos war damals seit neun Jahren am Markt, und der Umsatz hatte kürzlich die 1-Milliarden-Marke geknackt. Tony führte das Unternehmen auf ungewöhnliche Weise. So bot er beispielsweise neuen Mitarbeitern eine Abfindung von bis zu 2000 US-Dollar an, wenn sie das Unternehmen nach ihrer Einarbeitungsphase wieder verließen (Ziel war es herauszufinden, ob die eingestellten Personen wirklich engagiert waren oder nicht). Zappos war bekannt für seine eigenwillige Unternehmenskultur.

Die Unternehmenskultur schien auch das zu sein, was Tony am besten an FitFuel gefiel. Als er und die anderen Vorstandsmitglieder von Zappos unsere Büro- und Lagerräume besichtigten, erzählten sie mir, wie sehr ihnen das gefiel, was sie sahen. Wir waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen (weil wir zu wenig Mitarbeiter hatten), ziemlich verrückt ( jeder von uns hatte seine ganz eigene Macke) und auf die richtige Weise verschroben (denn wir verfügten über das gesamte Standardzubehör eines hippen Start-ups wie Wasserpfeifen und Sitzsäcke).

Tony wollte, dass ich FitFuel als neue Abteilung innerhalb von Zappos weiterführte. Ich würde das nächste Milliarden-Business aufbauen. Begonnen hatte alles mit Schuhen, Wellness würde das zweite Standbein werden.

Neben dem lebenswichtigen Kapitalzufluss und dem Eigenkapital von Zappos wäre ich Teil eines respektierten Führungsteams und erhielte ein gutes Gehalt. (Ich hatte mir bislang als Geschäftsführer meiner eigenen Unternehmen noch nie ein Gehalt gezahlt und sehnte mich nach dieser Art von Sicherheit.)

Man konnte nicht sagen, dass ich mich nahtlos in die Unternehmenskultur von Zappos eingefügt hätte. Aber seit wir begonnen hatten, über eine Zusammenlegung unserer Firmen zu sprechen, hatte ich mich in Teilen stärker an die Kultur angepasst, damit alles gut laufen würde.

In dem verzweifelten Wunsch, mein Unternehmen zu verkaufen, erzählte ich Tony alles, von dem ich glaubte, dass er es hören wollte. Zwar sah ich die Unternehmenskultur von Zappos anders, als sie in den gängigen Medien dargestellt wurde, aber ich äußerte meine Meinung nicht offen. Schließlich ist es einfach, Kritik zu üben, wenn man nicht selbst betroffen ist. Wesentlich schwieriger ist es, aktiv das dominante Narrativ in Frage zu stellen, ehrlich zu sich selbst zu sein und auch dann die Wahrheit zu sagen, wenn das schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht – und das wäre in meinem Fall der Verlust der Chance gewesen, mein Unternehmen zu verkaufen und nicht unter einem Berg von Schulden zu versinken. Ich riskiere geschäftlich immer auch persönlich etwas. In diesem Fall einiges zu viel.2

In den vergangenen Monaten hatte ich versucht, Tony besser kennenzulernen. Wir trafen uns zum ersten Mal, nachdem ich ihn einfach so angeschrieben hatte. Er lud mich daraufhin zum Essen in den Claim Jumper ein, ein Restaurant in der Nähe des Zappos-Firmensitzes in Henderson, einem Vorort von Las Vegas. Als ich das Restaurant in dem Glauben betrat, es handele sich um einen lockeren Kennenlerntermin, saßen bereits wenigstens sechs hochrangige Manager des Unternehmens um den Tisch und warteten auf mich. Es war ein Bewerbungsgespräch, über dem meine Muschelsuppe kalt wurde.

Nach dem Termin gingen Tony und ich zusammen zurück zu seinem Büro. Auf dem Weg blieb er plötzlich stehen und steckte seine Hände in die Hosentaschen, als würde er dort nach Kleingeld suchen. „Ich würde keinen guten Job machen, wenn ich Sie nicht fragen würde, ob Sie offen für eine Zusammenarbeit wären“, sagte er. Ich sagte zu, und die nächsten paar Monate waren wie eine stürmische Verlobungszeit. Ich wurde zu Firmenevents, Partys in Tonys Haus und morgendlichen Wandertouren in die Berge eingeladen.

Tony wirkte nicht wie ein typischer Millionär. Er hatte das erste Unternehmen, das er mitgegründet hatte, LinkExchange, 1998 im Alter von 24 Jahren für 265 Millionen US-Dollar an Microsoft verkauft. Aber er trug einfache Jeans und ein Zappos-T-Shirt und fuhr einen verschmutzten Mazda6. Nachdem ich ein paar Wochen mit ihm verbracht hatte, hängte ich meine Überzeugungen an den Nagel ( ja, ich weiß) und begann bei GAP einzukaufen. Ich fragte mich, ob ich ein älteres und schmutzigeres Auto fahren sollte.

Drei Jahre bevor ich Tony kennenlernte, hatte ich 2005 FitFuel mitgegründet. Wir verfolgten die großartige Firmenphilosophie, allen Menschen auf der Welt gesündere Nahrungsmittel zugänglicher zu machen. Ich arbeitete Tag für Tag daran, machte stetige Fortschritte und lernte, ein wachsendes Unternehmen zu führen. Aber obwohl unsere Umsätze stiegen und wir Auszeichnungen einheimsten, sank meine Lust, ins Büro zu gehen von Tag zu Tag.

Während ich versuchte, mir meiner Probleme bewusst zu werden, eroberte Tim Ferriss’ Buch Die 4-Stunden-Woche: Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Leben die Regale der Buchläden. Wenn ich mehr als vier Stunden pro Woche arbeite, muss ich etwas falsch machen, dachte ich. Ich suchte verzweifelt nach besseren Vorbildern für Unternehmertum, war mir aber nicht sicher, wem ich vertrauen konnte.

Mein Zusammentreffen mit Tony ließ meine Verzweiflung nur noch weiter anwachsen. Mein Ziel war ein Umsatz von 10 Millionen US-Dollar. Zappos erzielte eine Milliarde US-Dollar pro Jahr. Aus meiner Perspektive lebte Tony in einer komplett anderen Realität – einer, in der Einhorn-Gründer lebten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es in diese Sphären schaffen sollte.

Mich erfasste eine Art existenzieller Taumel – ganz so, als würde ich von der Spitze eines Wolkenkratzers auf ein riesiges Trampolin springen, das mich sofort wieder an die Spitze zurückkatapultierte, bevor es schon wieder abwärts ging. Meine Wünsche schienen sich von Tag zu Tag zu ändern: mehr Respekt und Status, weniger Verantwortung; mehr Kapital, weniger Investoren; mehr öffentliche Auftritte, mehr Privatsphäre; eine intensive Gier nach Geld, gefolgt von extremen Tugendanfällen und dem exzessiven Gebrauch des Worts „sozial“. Ich schwankte sogar dazwischen, die Muskeln aufzupumpen oder schlanker zu werden.

Was mich jedoch am meisten irritierte war, dass das Begehren, das zu Gründung und Aufbau meines Unternehmens geführt hatte, vollkommen verschwunden war. Wo war es hin? Woher war es überhaupt erst gekommen? Vergleichbar den Irrungen und Wirrungen einer romantischen Komödie fühlte ich mich eher als Spielball denn als jemand, der bewusst eine Wahl traf. (Wussten Sie übrigens, dass Menschen nahezu in allen Sprachen der Welt der Liebe verfallen? Niemand steigt in sie auf.3)

Währenddessen nahmen die internen Konflikte zwischen meinem Mitgründer und mir ebenfalls zu, bis wir beschlossen, uns zu trennen. Ich übernahm genau in dem Moment die alleinige Verantwortung für das Unternehmen, in dem meine Lust daran verschwunden war.

Es war klar, dass es geheimnisvolle Kräfte außerhalb meiner selbst gab, die beeinflussten, was ich wollte und wie sehr ich es wollte. Bevor ich mehr über sie herausfand, konnte ich keine ernsthaften Entscheidungen treffen. Ich konnte kein neues Unternehmen gründen. Ich zweifelte sogar, ob ich eines Tages heiraten würde, in dem Wissen, dass das Begehren für etwas (oder jemanden) von einem Tag auf den anderen verschwinden konnte. Ich fühlte mich daher verpflichtet herauszufinden, welche Kräfte da am Werk waren.

Am Tag nachdem ich mit Tony in Las Vegas angestoßen hatte, nahm ich einen Freund mit auf eine Tour durch die Firmenzentrale von Zappos und zeigte ihm begeistert meine zukünftige Wirkungsstätte. Als wir die „Monkey Row“ („Affen-Zeile“, Anm. des Verlags) entlangliefen (so wurde bei Zappos scherzhaft der Flur genannt, in dem die Führungskräfte saßen), fiel mir auf, dass diese mich merkwürdig ansahen. Die Unterhaltung wirkte eher aufgesetzt. Es war das schlechte Gefühl kurz vor einer Trennung.

Mein Freund und ich gingen später am Abend zusammen essen. Mittendrin erhielt ich einen Anruf von Alfred Lin, der zwischen 2005 und 2010 Finanzvorstand, leitender Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender von Zappos war. Seine Stimme klang ernst, und kurz darauf sagte er mir, warum.

Nach der offiziellen Vorstandssitzung hatte sich der Zappos-Vorstand ein zweites Mal auf dem Rückflug nach San Francisco zusammengesetzt und beschlossen, die unmittelbaren Pläne auf Eis zu legen. Es würde keine Aufkäufe geben. „Sie haben ihre Meinung geändert“, sagte er. „Sie haben ihre Meinung geändert?“, fragte ich. „Mehr kann ich dazu leider nicht sagen“, antwortete er. „Es tut mir leid.“ „Sie haben ihre Meinung geändert?“, fragte ich wieder und wieder und erhielt stets die gleiche Antwort. Selbst nachdem das Telefonat beendet war, sprach ich die Worte lautlos weiter vor mich hin, nur diesmal als Tatsache, nicht mehr als Frage. „Sie haben … ihre Meinung geändert“, wiederholte ich, als ich zum Tisch zurückging und auf meine Portion schlechter Spaghetti starrte. Ich wickelte sie immer wieder auf, nur um sie ungegessen wieder auf den Teller zurückgleiten zu lassen.

Es würde keinen lebensverändernden Ausweg geben, keinen Geldregen, keinen Zweitwohnsitz in Sizilien. Schlimmer noch: Mein Unternehmen war stark angeschlagen. Ohne den Zappos-Deal würde ich in sechs Monaten bankrott sein. Als mir das gesamte Ausmaß der Auswirkungen auf mein Leben Stück für Stück bewusst wurde und ich meinen Chianti leerte, veränderte sich plötzlich etwas in mir.

Ich war erleichtert.

EINFÜHRUNG

SOZIALE SCHWERKRAFT

An der Wand mir gegenüber hängt eine Fotografie – ein einzelner Augapfel in schwarz-weiß, nicht größer als ein Untersetzer, eingefügt in einen 55-cm-Rahmen.

Ich sitze im Zuhause von Peter Thiel hoch über dem Sunset Strip. Thiel kennt man als den milliardenschweren Mitbegründer von PayPal und ersten Investor in Facebook. Er ist ein Mann mit eigenwilligen Ansichten zur Wirtschaft und hat nicht nur das Klatschimperium Gawker in Schwierigkeiten gebracht, sondern sich auch öffentlich mit Google angelegt. Aber über all diese Dinge will ich nicht mit ihm reden.

Ein paar Minuten vergehen und der Assistent, der mich in den Raum gebracht hat, schaut kurz erneut herein. „Peter wird gleich da sein. Kann ich noch etwas für Sie tun? Noch einen Kaffee vielleicht?“

„Nein, danke“, sage ich. Es ist mir ein wenig peinlich, dass ich meine Tasse nahezu in einem Zug leer getrunken habe. Er lächelt mir zu und geht wieder.

Das zweistöckige Wohnzimmer würde in jede Architekturzeitschrift passen. Bodentiefe Fenster geben den Blick frei auf einen Infinitypool mit Blick über den Sunset Boulevard. Es ist gemütlich und beeindruckend zugleich.

Das Herzstück des weitläufigen Raums ist eine Bar, eingebettet in eine eichengetäfelte Gallery Wall, an der Kunstwerke in kühlen Farbtönen hängen: Schwarzweißfotografien, Drucke in tiefem Indigo, graue Radierungen. Darunter ein Tintenkleks, vielleicht ein Rorschach, in Form einer Krabbe; ein großformatiger Druck, der abstrakte Kreise und Stäbe enthält und wie molekulare Geometrie aussieht; ein Triptychon von einem Mann, der in etwas steht, das wie das eiskalte Wasser eines Bergsees aussieht.

An anderen Stellen im Raum werden sachlichere Elemente von weichen Samtsofas und Sesseln kontrastiert. In der Mitte des fünfzehn Zentimeter dicken Couchtischs aus Holz, der vor mir steht, balanciert eine silberne Metallskulptur in Form einer Träne trotzig auf ihrer Spitze. Sechs Meter hohe Flügeltüren – so etwas hatte ich zuvor nur in Kathedralen gesehen – führen in den nächsten Raum. Neben der Tür wartet ein Schachtisch auf einen würdigen Gegner (ich werde es nicht sein). Ein Teleskop steht am Fenster, gleich neben einer griechischen Büste. Alles passt irgendwie zusammen. Wenn Ray Eames Regie beim Film Alle Mörder sind schon da geführt hätte, dann hätte die Szenerie ausgesehen wie das Haus von Peter Thiel.

Ein Mann erscheint auf einem offenen Verbindungsgang an der gegenüberliegenden Seite des Raums, eine Etage höher. „Ich bin gleich bei Ihnen“, sagt Peter Thiel.

Er winkt mir kurz zu, lächelt und verschwindet dann durch eine Tür. Ich höre laufendes Wasser. Zehn Minuten später erscheint er wieder, diesmal in einem Baseball T-Shirt, Shorts und Laufschuhen. Er kommt eine Wendeltreppe herunter.

„Hi, ich bin Peter“, sagt er und streckt mir seine Hand entgegen. „Sie möchten also gerne über Girards Ideen sprechen.“

Gefährliche Gedanken

René Girard, ein Franzose, der als Professor für Literatur und Geschichte in den USA lehrte, gewann seine ersten Erkenntnisse zur Natur des Begehrens in den späten 1950er Jahren. Sie sollten sein Leben verändern. Drei Jahrzehnte später, als Peter Thiel in Stanford im Hauptfach Philosophie studierte, sollte der Professor auch sein Leben verändern.

Die Entdeckung, die Girards Leben in den 1950ern, Thiels in den 1990ern und meines in den 2000ern veränderte, ist das mimetische Begehren. Es war der Grund, warum ich Thiel in seinem Haus besuchte. Die mimetische Theorie zog mich ganz einfach deswegen an, weil ich mimetisch bin. Wir alle sind es.

Bei der mimetischen Theorie geht es nicht darum, eine Art unpersönliches physikalisches Gesetz zu lernen, das Sie aus der Distanz studieren können. Es bedeutet vielmehr, etwas Neues über Ihre eigene Vergangenheit zu erfahren, das erklärt, wie Ihre Identität geformt wurde und warum bestimmte Dinge und Menschen mehr Einfluss auf Sie ausgeübt haben als andere. Es bedeutet, sich einer Kraft bewusst zu werden, die menschliche Beziehungen durchdringt – Beziehungen, in die Sie in diesem Moment verwickelt sind. Sie können nie ein neutraler Beobachter von mimetischem Begehren sein.

Sowohl Peter Thiel als auch ich haben den bestürzenden Moment durchgemacht, in dem wir das Wirken dieser Kraft in unserem Leben entdeckten. Es ist so persönlich, dass ich lange gezögert habe, ein Buch darüber zu schreiben. Wenn man über mimetisches Begehren schreibt, dann deckt man automatisch ein wenig von seinem eigenen auf.

Ich frage Peter, warum er Girard in seinem populären Buch Zero to One: Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet nicht explizit erwähnt, obwohl es in dem Buch nur so von Erkenntnissen seines Mentors wimmelt.1 „Girards Ideen haben etwas Gefährliches. Ich glaube, dass Menschen gegen einige davon Mechanismen der Selbstverteidigung entwickeln“, antwortet er. Er wolle Menschen klar machen, dass die Erkenntnisse von Girard wichtige Wahrheiten enthalten und, dass sie erklären, was in der Welt um sie herum vorgeht. Aber ganz mitnehmen auf die andere Seite will er sie nicht.

Eine Idee, die weit verbreitete Ansichten in Frage stellt, kann bedrohlich wirken – ein Grund mehr sie genauer zu betrachten, um zu verstehen, warum dies so ist.

Eine Wahrheit, die wir nicht glauben, ist häufig gefährlicher als eine Lüge. Die Lüge ist in diesem Fall, dass ich Dinge allein aus mir selbst heraus begehre, unbeeinflusst von anderen, dass ich unabhängig entscheide, was begehrenswert ist und was nicht. Die Wahrheit ist, dass meine Wünsche abgeleitet sind, von anderen vermittelt, und dass ich Teil eines Systems des Begehrens bin, das größer ist, als ich vollständig verstehen kann.

Indem ich mir die Lüge von meinen unabhängigen Wünschen zu eigen mache, betrüge ich allein mich selbst. Wenn ich allerdings die Wahrheit ablehne, leugne ich die Konsequenzen, die mein Begehren auf andere Menschen hat und deren Begehren auf mich. Wie wir sehen, sind die Dinge, die wir begehren, wesentlich wichtiger als wir denken.

Ebenso wie bei Henry Ford, der eine Fertigungsstraße in einem Schlachthof sah oder dem Psychologen Daniel Kahnemann, der das neue Feld der Verhaltensökonomik schuf, kam Girards Durchbruch, als er sich außerhalb seines eigentlichen Fachgebiets, der Geschichte, bewegte. Es passierte, als er gezwungen war, sein Denken auf Klassiker der Weltliteratur anzuwenden.

Zu Beginn seiner akademischen Karriere in den USA wurde Girard gebeten, Literaturkurse über Bücher abzuhalten, die er noch nicht gelesen hatte. Weil er das Angebot nicht ablehnen wollte, stimmte er zu. Häufig las er die Romane gerade rechtzeitig zu Ende, bevor er sie dann im Lehrplan durchnahm. Er las und lehrte über Cervantes, Stendhal, Flaubert, Dostojewski, Proust und mehr.

Aufgrund seiner mangelnden fachlichen Ausbildung und der Notwendigkeit schnell zu lesen, begann er, in den Texten nach Mustern zu suchen. Dabei entdeckte er etwas Erstaunliches, das in nahezu allen wichtigen Werken der Weltliteratur vorzukommen schien: Die Charaktere in den Romanen verlassen sich darauf, dass andere ihnen zeigen, was begehrenswert ist. Sie begehren nicht einfach spontan selbst etwas. Stattdessen werden ihre Wünsche durch die Interaktion mit anderen Charakteren geformt, die ihre Ziele und ihr Verhalten ändern – und vor allem das, was sie begehren.

Girards Entdeckung war vergleichbar mit der Newtonschen Revolution in der Physik, bei der die Kräfte, die die Bewegung von Objekten bestimmen, nur in Beziehung zueinander verstanden werden können. Begehren wohnt ebenso wie Schwerkraft nicht autonom einer Person oder einem Objekt inne. Es existiert im Raum dazwischen.2

Die Romane, zu denen Girard Kurse gab, sind nicht in erster Linie handlungs- oder personengesteuert. Sie sind von Begehren gesteuert. Die Handlungen der Charaktere spiegeln ihre Begehrlichkeiten wider, die wiederum in Beziehung zu den Begehrlichkeiten anderer Charaktere geformt werden. Die Handlung entwickelt sich in Bezug darauf, wer sich mit wem in einer mimetischen Beziehung befindet und wie das Begehren der einzelnen miteinander in Bezug steht und ausgelebt wird.

Damit sich diese Beziehung bildet, müssen die beiden Charaktere einander nicht einmal begegnen. Don Quichote, allein in seinem Zimmer, liest die Abenteuer des berühmten Ritters Amadís de Gaula. In ihm entflammt das Begehren, ihm nachzueifern und auch fahrender Ritter zu werden. Er möchte das Land durchstreifen auf der Suche nach Gelegenheiten, sich in den Tugenden der Ritterlichkeit zu bewähren.

In allen Büchern, über die Girard lehrte, waren beim Begehren jeweils ein Nachahmer und ein Vorbild beteiligt. Anderen Lesern war dies nicht aufgefallen oder sie hatten es übersehen, weil sie die Möglichkeit eines solchen sich durchziehenden Themas nicht in Betracht gezogen hatten.

Girards Abstand zum eigentlichen Fachgebiet ermöglichte es ihm zusammen mit seinem scharfen Intellekt, das Muster zu erkennen. Die Charaktere in den großen Romanen sind so realistisch, weil sie Dinge auf die gleiche Weise wollen, wie wir – nicht spontan, nicht aus einem inneren authentischen Begehren heraus oder willkürlich, sondern weil sie eine andere Person nachahmen: ihr geheimes Vorbild.

Maslow neu gedacht

Girard entdeckte, dass wir viele Dinge weder aus biologischen Trieben oder reiner Vernunft heraus wollen, noch aus einer Entscheidung unseres illusorischen und unabhängigen Selbst heraus, sondern durch Nachahmung.

Als ich zum ersten Mal mit dieser Idee in Berührung kam, war sie für mich schwer erträglich. Sind wir alle nur reine Nachahmungsmaschinen? Nein. Mimetisches Begehren ist lediglich ein Teil einer umfassenden Sicht der Humanökologie. Freiheit und ein relationales Verständnis der Persönlichkeit gehören ebenfalls dazu. Die Nachahmung des Begehrens hat mit unserer Offenheit gegenüber dem Innenleben anderer Menschen zu tun – etwas, das die menschliche Spezies auszeichnet.

Begehren, so wie Girard es versteht, bedeutet nicht den Drang nach Nahrung, Sex, Obdach oder Sicherheit. Solche Dinge sind eher als Bedürfnisse zu sehen – sie sind in unserem Körper fest verankert. Biologische Bedürfnisse basieren nicht auf Nachahmung. Wenn ich in der Wüste zu verdursten drohe, muss mir niemand zeigen, dass Wasser begehrenswert ist.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide ist zu ordentlich. Nachdem ein Mensch seine grundlegenden Bedürfnisse gestillt hat, betritt er ein Universum von Begierden, in dem es keine stabile Hierarchie mehr gibt.

Sobald unsere grundlegenden Bedürfnisse als biologische Wesen allerdings erfüllt sind, betreten wir das menschliche Universum des Begehrens. Und zu wissen, was man will, ist wesentlich schwieriger als zu wissen, was man braucht.

Girard interessierte sich dafür, wie es dazu kommt, dass wir Dinge begehren, für die es keine klare Instinktgrundlage gibt.3 Wie kommt es, dass Menschen aus den Milliarden potenzieller Objekte der Begierde – von Freunden über Karriere bis hin zu einem bestimmten Lebensstil – manche Dinge mehr begehren als andere? Und warum sind die Objekte und die Intensität unseres Begehrens einer ständigen Fluktuation unterworfen und entbehren jeglicher Stabilität?

Im Universum des Begehrens gibt es keine eindeutige Hierarchie. Menschen wählen Objekte der Begierde nicht so wie einen Mantel aus, den sie im Winter anziehen. Statt innerer biologischer Signale kommen hier externe Faktoren zum Tragen, die unsere Entscheidungen motivieren: Vorbilder. Vorbilder sind Menschen oder Dinge, die uns zeigen, was begehrenswert ist. Es sind Vorbilder und keine „objektive“ Analyse oder unser zentrales Nervensystem, die unsere Begierden formen. Mit diesen Vorbildern gehen wir eine geheimnisvolle und komplexe Form der Nachahmung ein, die Girard als Mimesis bezeichnet, abgeleitet vom griechischen Wort mimesthai, was so viel bedeutet wie „imitieren“, es jemandem gleichtun.

Vorbilder sind die Gravitationszentren, um die unser soziales Leben kreist. Heutzutage ist es noch wichtiger, das zu verstehen, als dies zu jeder anderen Zeit in der Geschichte der Fall war.

Im Zuge der Evolution haben Menschen immer weniger Zeit damit verbracht, sich über das nackte Überleben Gedanken zu machen und immer mehr damit, Dinge anzustreben. Sie verbrachten immer weniger Zeit in der Welt der Bedürfnisse und mehr in der des Begehrens.

Selbst Wasser ist von der Welt der Bedürfnisse in die Welt des Begehrens gewandert. Stellen Sie sich einmal vor, Sie kämen von einem anderen Planeten, der sich immer noch im Stadium vor dem Abfüllen von Wasser in Flaschen befände (ein kritisches Stadium), und ich fragte Sie, ob Sie Aquafina, Voss oder San Pellegrino möchten. Welches Wasser würden Sie wählen? Natürlich könnte ich Ihnen den Mineraliengehalt und den pH-Wert von allen Marken aufzählen, aber wir würden uns etwas vormachen, wenn wir glaubten, das würde Ihre Wahl entscheiden. Ich sage Ihnen, dass ich San Pellegrino trinke. Und wenn Sie ein nachahmendes Wesen sind, wie ich oder vielleicht sogar meinen, ich sei eine höher entwickelte Spezies als Sie – weil Sie von einem Planeten im Vor-Pellegrino-Stadium stammen – dann werden Sie San Pellegrino wählen.

Wenn Sie sich genau genug umschauen, werden Sie ein Vorbild (oder eine Reihe davon) für nahezu alles finden – Ihren persönlichen Stil, die Art, wie Sie sich ausdrücken, das Aussehen und die Atmosphäre Ihres Zuhauses. Aber die Vorbilder, die die meisten von uns übersehen, sind Vorbilder für das Begehren. Es ist verdammt schwierig herauszufinden, warum wir bestimmte Sachen gekauft haben. Es ist außerordentlich schwer zu verstehen, warum wir bestimmte Ziele und Errungenschaften anstreben. So schwer, dass nur wenige Menschen sich trauen, zu fragen, warum.

Mimetisches Begehren zieht Menschen zu bestimmten Dingen.4 „Dieser Zug“, schreibt der Girard-Schüler James Alison, „diese Bewegung… [ist] mimetisches Begehren. Es ist in der Psychologie das, was die Schwerkraft für die Physik ist.“5

Schwerkraft bewirkt im physischen Sinn, dass Menschen auf den Boden fallen. Mimetisches Begehren bewirkt, dass Menschen sich ver- oder entlieben, Schulden machen oder Geschäftspartnerschaften eingehen. Es kann sie sogar in die sklavenähnliche Situation bringen, ein reines Produkt ihres Umfelds zu sein.

Die Evolution des Begehrens

Zurück zu meinem Treffen mit Peter Thiel. Er erzählt mir, dass er anfälliger für mimetisches Verhalten als die meisten anderen Menschen ist. Obwohl viele ihn heute als nonkonformistischen Denker kennen, war er nicht immer so.

Wie viele Schulabgänger wollte er an einer renommierten Universität aufgenommen werden (in seinem Fall Stanford), ohne zu hinterfragen, warum er eigentlich dorthin wollte. Es war einfach das, was Menschen mit seinem Hintergrund taten.

Einmal dort angekommen, ging die Jagd weiter – nach guten Noten, Praktika und anderen Zeichen des Erfolgs. Er stellte fest, dass es zu Beginn des Studiums bei den Berufswünschen der Studienanfänger durchaus eine gewisse Bandbreite gab. Im Laufe der folgenden Jahre nahm diese allerdings rapide ab und am Ende blieben Finanzwesen, Jura, Medizin und Unternehmensberatung übrig. Thiel hatte das dumpfe Gefühl, dass irgendetwas verloren gegangen war.

Er erhielt etwas mehr Einblick in das Problem, als er über eine kleine Gruppe von Studenten, die vom Denken des Professors fasziniert waren, von René Girard erfuhr. Er begann, an Essen und Veranstaltungen teilzunehmen, von denen er wusste, dass der Professor anwesend sein würde.

Girard forderte die Studenten auf, sowohl das Wie als auch das Warum aktueller Ereignisse zu ergründen. Er konnte systematisch durch die Geschichte wandern und unterschiedlichste Bedeutungsebenen aufdecken. Dabei zitierte er manchmal auswendig ganze Passagen aus Werken von Shakespeare, um seinen Punkt zu verdeutlichen.

Seine Besprechungen alter Texte und klassischer Literatur enthielten derart bestechende Erkenntnisse, dass seine Studenten in einen wahren Adrenalinrausch verfielen – ganz so, als hätten sie ein neues Universum betreten. Einer seiner früheren Studenten, Sandor Goodhart, mittlerweile Professor an der Purdue University, erinnert sich, dass Girard die allererste Stunde seines Kurses über Literatur, Mythen und Prophezeiungen mit folgenden Worten eröffnete: „Menschen kämpfen nicht, weil sie unterschiedlich sind, sondern weil sie gleich sind, und in ihrem Versuch sich zu unterscheiden, haben sie sich zu feindlichen Zwillingen gemacht, menschlichen Ebenbildern in gegenseitiger Gewalt.“6 Ein ganzes Stück weit entfernt vom typischen „Willkommen zu diesem Kurs, lassen Sie uns einen Blick auf den Ablauf werfen“.

Nachdem er im Zweiten Weltkrieg in Frankreich unter deutscher Besatzung gelebt hatte, kam Girard im September 1947 in die USA, um Französisch zu lehren und seinen Doktor in Geschichte an der Indiana University zu machen. Auf dem Campus in Bloomington stach er heraus, denn er hatte einen großen Kopf und große Ideen und konnte einschüchternd auf diejenigen wirken, die ihn nicht kannten.

Girard lernte dort seine zukünftige Frau kennen, eine Amerikanerin aus Indiana namens Martha McCullough. Beim Durchgehen der Anwesenheitsliste konnte er ihren Namen nicht aussprechen. Etwa ein Jahr später trafen sie erneut aufeinander, als sie nicht mehr seine Studentin war. Eine Weile später heirateten sie.7

Girard bekam keine Anstellung in Indiana, weil er nicht genügend seiner Arbeiten veröffentlich hatte. Er wurde entlassen. Anschließend lehrte er an der Duke University, dem Bryn Mawr College, der Johns Hopkins University und der SUNY in Buffalo. Im Jahr 1981 erhielt er schließlich die Andrew B. Hammond-Professur für französische Literatur an der Stanford University, wo er den Rest seiner akademischen Karriere bis zu seiner offiziellen Emeritierung im Jahr 1995 verbrachte.8

Für viele Studenten und Lehrende der Stanford University strahlte Girard den Charme der alten Welt aus. Cynthia Haven, eine Schriftstellerin und Gelehrte, die der Universität lange angehörte, erinnert sich an einen bemerkenswert aussehenden Mann mit einem „totemartigen“ Kopf, der über den Campus spazierte, und der ihr auffiel, noch bevor sie wusste, wer er war. Sie wurden schließlich Freunde und sie schrieb eine Biografie mit dem Titel Evolution of Desire: A Life of René Girard über ihn. „Er hatte die Art von Gesicht, die ein Filmregisseur auswählen würde, um einen der größten Denker aller Zeiten darzustellen“, schrieb sie. „Einen Plato oder einen Kopernikus.“9

Girard war ein Autodidakt mit breitem Wissen. Er studierte Anthropologie, Philosophie, Theologie und Literatur und verband alle Lehren zu einer eigenständigen und hochkomplexen Sicht der Welt. Er stellte fest, dass mimetisches Begehren eng verknüpft war mit Gewalt, vor allem der Vorstellung von Opferriten. Die biblische Geschichte von Kain und Abel handelt davon, dass Kain seinen Bruder tötet, nachdem sein rituelles Opfer Gott weniger gefiel als Abels. Beide wollten das Gleiche – die Gunst Gottes gewinnen – was sie in direkten Konflikt miteinander brachte. Aus Girards Sicht ist mimetisches Begehren die häufigste Wurzel von Gewalt.

In einer französischen Fernsehsendung aus den 1970ern erklärte Girard die mimetische Theorie einer Gruppe von Moderatoren. Lässig die Asche seiner Zigarette abklopfend sagte er: „Mich fasziniert schon seit langem das Konzept des Opfers – die Tatsache, dass Menschen in nahezu allen Kulturen aus religiösen Gründen Tiere, und oft auch Menschen, getötet haben.“10 Er brannte darauf, das Problem der Gewalt zu verstehen und die religiöse Faszination für das Opfer, die nahezu in alle Bereiche menschlicher Kultur hineinreicht.

(Tatsächlich ist eine seiner kontroversesten Behauptungen, dass die Domestizierung von Katzen und Hunden keine Absicht war. Menschen hätten nie vorgehabt, so wie heute üblich, mit Katzen und Hunden zusammenzuleben und sie ihr ganzes Leben lang in ihre Familien zu integrieren. Ein solcher Vorgang hätte Generationen koordinierten Einsatzes erfordert. Der Grund, warum wir Tiere domestizierten, war aus seiner Sicht rein praktischer Natur: Gemeinschaften nahmen Tiere in ihre Mitte auf, um sie zu opfern. Opfergaben sind wesentlich effektiver, wenn sie aus der Mitte einer Gemeinschaft stammen – wenn das Opfer etwas mit den Opfernden gemein hat. Warum das so ist, erfahren Sie in Kapitel 4.11)

Die Auswirkungen mimetischen Begehrens gehen seltsame Wege durch viele verschiedene Bereiche. Die meisten Dramen spielen sich dabei hinter den Kulissen ab.

Peter Thiels Zusammentreffen mit Girard brachte ihn nicht unmittelbar von seinem Kurs ab. Er ergriff einen Job im Finanzwesen und studierte Jura. Aber er fühlte sich verloren. „Ich geriet in diese tiefe Lebenskrise, als mir bewusst wurde, dass all diese wahnsinnig wettbewerbsorientierten Dinge, die ich tat, auf schlechten sozialen Gründen beruhten“, erzählte er mir.

René Girard bei einem Treffen der Philosophischen Fakultät an der SUNY Buffalo im Juli 1977 (Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Bruce Jackson.)

Girard bei der Eröffnung seines Seminars im Frühjahr 1971, das die Grundlage für sein Buch Das Heilige und die Gewalt bilden würde.

Girard im Gespräch mit Diane Christian, langjährige Professorin für Englisch an der University of Buffalo.

Girard im Frühjahr 1971 mit dem französischen Literaturwissenschaftler Gérard Bucher.

Durch das Zusammentreffen mit Girard in Stanford hatte Thiel die Idee der Mimesis kennengelernt, aber das rein intellektuelle Verstehen führte nicht zwangsläufig zu einer Verhaltensänderung. „Man steckt fest in all diesen schlechten mimetischen Kreisläufen. Und ich hatte viel inneren Widerstand – doktrinären libertären Widerstand. Die mimetische Theorie geht ja genau dagegen an, dass wir alle Individuen seien.“ Schmeichelhafter ist es da schon, sich als eigenständig und frei zu sehen. „Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um das zu überwinden“, erzählt Thiel.

Er beschreibt eine Transformation, die sowohl intellektuell als auch existenziell war. Nachdem er von der Theorie des mimetischen Begehrens erfahren hatte, konnte er es erkennen, wenn er es sah – in allen anderen, aber nicht bei sich selbst. „Die intellektuelle Veränderung ging schnell vonstatten, denn das war etwas, woran mir gelegen war“, beschreibt er. Dennoch hatte er nach dem Uniabschluss zu kämpfen, weil ihm nicht bewusst war, wie sehr er selbst in all die Dinge involviert war, die Girard beschrieben hatte. „Diese Dimension zu erkennen, dauerte eine ganze Weile länger.“

Im Jahr 1998 verließ Thiel die Geschäftswelt und gründete zusammen mit Max Levchin Confinity (Software-Firma im Silicon Valley, Anm. d. Verlags). Er begann, sein Wissen über die mimetische Theorie zu nutzen, um sowohl sein Business als auch sein Leben zu managen. Wenn es in seinem Unternehmen zu Rivalitäten unter den Mitarbeitern kam, gab er den Beteiligten klar definierte, unabhängige Aufgaben, damit sie nicht um Verantwortlichkeiten konkurrieren mussten. Das ist gerade in Start-ups wichtig, bei denen die Rollen oft fließend sind. Ein Unternehmen, dessen Mitarbeitende auf der Basis klarer Leistungsziele beurteilt werden – und nicht aufgrund ihres Abschneidens im Vergleich zu anderen – minimiert mimetisches Wettbewerbsverhalten.

Als das Risiko eines brutalen Konkurrenzkampfes mit dem Unternehmen von Elon Musk, X.com, im Raum stand, tat Thiel sich mit ihm zusammen und sie gründeten gemeinsam PayPal. Thiel wusste aus Girards Theorien eines: Wenn zwei Menschen (oder Unternehmen) sich gegenseitig zum mimetischen Vorbild nehmen, dann geraten sie in eine Rivalität, die am Ende nur in Zerstörung enden kann – es sei denn, sie schaffen es, den Konkurrenzkampf hinter sich zu lassen.12

Auch beim Treffen von Investitionsentscheidungen bezog Thiel mimetische Überlegungen mit ein. Reid Hoffman, Gründer von LinkedIn, stellte ihm Mark Zuckerberg vor. Thiel erkannte sofort, dass Facebook etwas ganz anderes war als MySpace oder SocialNet (Hoffmans erstes Start-up), denn es basierte auf Identitäten, also Begehren. Facebook hilft Menschen zu sehen, was andere haben und begehren. Es ist eine Plattform, die darauf gründet, Vorbilder zu finden, ihnen zu folgen und sich von ihnen zu unterscheiden.

Vorbilder des Begehrens sind das, was Facebook zu solch einer starken Droge macht. Vor Facebook war die Menge an Vorbildern für uns überschaubar: Freunde, Familie und Kollegen und vielleicht noch Menschen aus Magazinen oder dem Fernsehen. Seitdem es Facebook gibt, ist jeder Mensch weltweit ein potenzielles Vorbild.

Auf Facebook tummeln sich nicht nur Vorbilder jeglicher Art – die meisten Menschen, denen wir folgen, sind keine Filmstars, Spitzensportler oder Promis. Facebook steckt voller Vorbilder, die sich auf sozialer Ebene innerhalb unserer Welt befinden. Sie sind uns nah genug, damit wir uns mit ihnen vergleichen können. Das sind die einflussreichsten Vorbilder von allen, und es gibt Milliarden von ihnen.

Thiel erfasste das Potenzial von Facebook sofort und wurde der erste Fremdinvestor des Unternehmens. „Ich habe auf die Mimesis gesetzt“, sagte er. Seine Investition von 500 000 US-Dollar brachte ihm am Ende mehr als eine Milliarde ein.

Was auf dem Spiel steht

Mimetisches Begehren ist sozial und breitet sich daher von Person zu Person und innerhalb einer Kultur aus. Es führt zu zwei unterschiedlichen Bewegungen – zwei Kreisläufen – des Begehrens. Der erste Kreislauf führt zu Spannung, Konflikt und Unbeständigkeit. Beziehungen zerbrechen und es kommt zu Instabilität und Verwirrung, wenn konkurrierende Bedürfnisse auf unberechenbare Art und Weise miteinander interagieren. Das ist der Standardkreislauf, der in der menschlichen Geschichte am häufigsten vorkommt. In unserer heutigen Zeit hat er sich beschleunigt.

Es ist jedoch möglich, diesen Standardkreislauf zu überwinden und einen anderen in Gang zu setzen, der Energie in kreative und produktive Aktivitäten lenkt, die dem allgemeinen Wohl dienen.

In diesem Buch werde ich diese beiden Kreisläufe betrachten. Sie sind fundamental für menschliches Verhalten. Weil sie uns so nahe sind, weil sie in uns arbeiten, neigen wir dazu, sie zu übersehen. Dennoch sind diese Kreisläufe ständig aktiv.

Bewegungen des Begehrens definieren unsere Welt. Volkswirtschaftler messen sie, Politiker stellen sie anhand von Umfragen fest und Unternehmen nähren sie. Die Geschichte ist die Geschichte menschlichen Begehrens. Dennoch sind der Ursprung und die Entwicklung des Begehrens rätselhaft. Girard gab seinem Hauptwerk aus dem Jahr 1978 den Titel Das Ende der Gewalt: Analyse des Menschheitsverhängnisses. Es widmet sich den Mühen, die Menschen auf sich zu nehmen bereit sind, um die wahre Natur ihrer Begierden und deren Konsequenzen zu verbergen. Im vorliegenden Buch geht es um genau diese verborgenen Dinge und wie sie in der Welt von heute wirken. Wir können es uns nicht leisten, sie zu ignorieren, denn:

1.Mimesis kann unsere edelsten Ambitionen untergraben.Wir leben in einer Zeit der Hyperimitation. Die Faszination für Trends und Dinge, die viral gehen, ist symptomatisch für unser Dilemma, ebenso wie politische Polarisierung. Letztere erklärt sich in Teilen durch mimetisches Verhalten, das Nuancen zerstört und selbst unsere edelsten Ziele vergiftet: Freundschaften einzugehen, für wichtige Dinge zu kämpfen, gesunde Gemeinschaften aufzubauen. Sobald die Mimesis am Ruder ist, sind wir besessen davon, ein Anderes zu besiegen und wir messen uns an diesem Anderen. Wenn die Identität einer Person vollständig an ein mimetisches Vorbild gebunden ist, kann sie diesem Vorbild niemals ganz entkommen, weil sie sonst den Grund für ihr eigenes Dasein zerstören würde.13

2.Homogenisierende Kräfte erzeugen eine Krise des Begehrens.Gleichberechtigung ist gut. Gleichheit allerdings in der Regel nicht – es sei denn wir sprechen von Autos vom Fließband oder der gleichbleibenden Qualität unseres Lieblingskaffees. Je stärker Menschen dazu gezwungen werden, gleich zu sein – je mehr Druck sie verspüren, das Gleiche zu denken, zu fühlen und zu wollen – umso stärker werden sie darum kämpfen, sich zu unterscheiden. Und das ist gefährlich. In vielen Kulturen gibt es einen Mythos, bei dem Zwillinge mit Gewalt aufeinander losgehen. Allein im Buch Genesis gibt es mindestens fünf unterschiedliche Geschichten über die Rivalität unter Geschwistern: Kain und Abel, Ismael und Isaak, Esau und Jakob, Lea und Rachel, Joseph und seine Brüder. Geschichten von Geschwisterrivalität sind universell, weil sie wahr sind – je ähnlicher sich Menschen sind, umso eher fühlen sie sich bedroht. Die moderne Technologie bringt zwar die Welt einander näher (Facebooks erklärte Mission), aber sie bringt auch unsere Begierden näher zusammen und sich verstärkende Konflikte. Wir haben die Freiheit, zu widerstehen, aber die mimetischen Kräfte beschleunigen sich so schnell, dass wir nahe daran sind, in Fesseln zu liegen.

3.Nachhaltigkeit ist eine Frage von Begehrlichkeiten.Jahrzehntelang hat die Konsumkultur nicht nachhaltige Bedürfnisse gefördert. Vom Kopf her wissen viele Menschen, dass sie mehr für unseren Planeten tun könnten. Aber solange eine nachhaltigere Ernährung oder das Fahren kraftstoffsparender Autos für den Durchschnittsverbraucher nicht wesentlich attraktiver als die Alternativen sind, werden die nachhaltigeren Optionen sich nicht großflächig durchsetzen. Es reicht nicht aus, zu wissen, was gut und richtig ist. Gutsein und Wahrheit müssen attraktiv sein oder, anders gesagt, begehrenswert.

4.Wenn Menschen keine positiven Wege zur Erfüllung ihrer Begierden finden, wählen sie destruktive.Die Tage vor den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 verbrachten der Flugzeugentführer Mohammed Atta und seine Kumpane damit, durch Bars in Florida zu ziehen und stundenlang Videospiele zu spielen. „Wer macht sich Gedanken über die Seelen dieser Männer?“, fragte sich Girard in seinem letzten Buch, Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken.14 Die manichäische Unterteilung der Welt in „schlechte“ und „nicht schlechte“ Menschen stellte ihn nie zufrieden. Er sah in zunehmendem Terrorismus und Klassenkonflikten die Dynamiken mimetischer Rivalität am Werk. Menschen kämpfen nicht, weil sie andere Dinge wollen – sie kämpfen, weil mimetisches Begehren sie dazu bringt, die gleichen Dinge zu wollen. Die Terroristen hätten sich nicht berufen gefühlt, Symbole westlicher Kultur und westlichen Reichtums zu zerstören, wenn sie nicht auf einer tieferen Ebene einige der gleichen Dinge begehrt hätten. Deshalb sind die Barbesuche in Florida und die Videospiele ein wichtiges Teil des Puzzles. Das Mysterium iniquitatis, das Geheimnis des Bösen, bleibt geheimnisvoll. Aber die mimetische Theorie offenbart etwas Wichtiges darüber. Je stärker Menschen kämpfen, umso ähnlicher werden sie einander. Wir sollten unsere Feinde weise wählen, weil wir wie sie werden.

Aber es steht noch weit mehr auf dem Spiel. Wir alle sind verantwortlich für die Bildung von Begehrlichkeiten bei anderen, ebenso wie andere unsere Begehrlichkeiten formen. Jedes Zusammentreffen mit anderen ermöglicht es ihnen, mehr zu wollen oder weniger zu wollen oder etwas anderes zu wollen.

Letzten Endes gilt es zwei wichtige Fragen zu beantworten: Was wollen Sie? Was haben Sie andere wollen lassen? Eine Frage hilft, die andere zu beantworten.

Sollten Sie mit den Antworten nicht zufrieden sein, die Sie heute finden, dann ist das in Ordnung. Die wichtigsten Fragen drehen sich darum, was wir in Zukunft wollen werden.

Was werden Sie in Zukunft wollen?

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie ein neues Verständnis von Begehren gewonnen haben – davon, was Sie wollen, was andere wollen und wie man aus einem Modell heraus lebt und führt, bei dem Begehren ein Ausdruck der Liebe ist. Damit Sie dorthin gelangen, ist dieses Buch in zwei Abschnitte unterteilt.

In Teil I, „Die Macht mimetischen Begehrens“, geht es um die verborgenen Kräfte, die beeinflussen, warum Menschen die Dinge wollen, die sie wollen. Es geht also um die Grundlagen der mimetischen Theorie. In Kapitel 1 erkläre ich zunächst die Ursachen mimetischen Begehrens im Säuglingsalter und, wie es sich zu einer fortgeschrittenen Form erwachsener Nachahmung entwickelt. Kapitel 2 beschreibt, wie mimetisches Begehren in Abhängigkeit von der Beziehung einer Person zu einem Vorbild auf unterschiedliche Weise wirken kann. Ab Kapitel 3 erläutere ich, wie mimetisches Begehren in Gruppen funktioniert – der Schlüssel zum Verständnis einiger unserer hartnäckigsten und verwirrendsten gesellschaftlichen Konflikte. In Kapitel 4 kommen wir zum Höhepunkt des mimetischen Konflikts, dem Sündenbock-Mechanismus. Die erste Hälfte des Buchs konzentriert sich somit auf den destruktiven oder Standard-Kreislauf des Begehrens: Kreislauf 1.

Teil II, „Die Transformation des Begehrens“, beschreibt einen Prozess, mit dem man aus Kreislauf 1 ausbrechen kann, um auf gesündere Weise mit seinen Begierden umzugehen. Die zweite Hälfte des Buchs zeigt, wie wir zu der Freiheit gelangen können, einen kreativen Kreislauf des Begehrens in Gang zu setzen: Kreislauf 2. In Kapitel 5 treffen wir einen 3-Sterne-Koch, der sich von dem System des Begehrens frei machte, in das er hineingeboren worden war, und so seine schöpferische Freiheit zurückgewann. Kapitel 6 zeigt, wie Empathie die Fesseln zerstört, die die meisten von uns davon abhalten, stabile Wünsche zu entwickeln, die uns ein gutes Leben führen lassen. Kapitel 7 wendet die Gesetze des Begehrens auf Führung an und in Kapitel 8 geht es abschließend um die Zukunft des Begehrens.

Teil I fühlt sich wie ein Abstieg an. Es ist notwendig, die Hölle zu besuchen, damit wir nie zu ihren ständigen Bewohnern werden. Teil II zeigt den Weg heraus aus dem Teufelskreis.

Im Laufe des Buches werde ich fünfzehn Taktiken aufzeigen, die ich entwickelt habe, um auf positive Weise mit mimetischem Begehren umzugehen. Mein Ziel ist, dass Sie sich diese ansehen und sie austesten, um am Ende Ihre eigenen Taktiken zu entwickeln, die sich von meinen durchaus grundlegend unterscheiden können.

Mimetisches Begehren ist Teil des Menschseins. Es kann unter der Oberfläche unseres Lebens lauern und uns unbewusst lenken. Doch es gibt Möglichkeiten, es zu erkennen, sich damit auseinanderzusetzen und bewusstere Entscheidungen zu treffen, die zu einem erfüllteren Leben führen – einem Leben, das uns stärker zufrieden stellt als eines, in dem wir vollständig von mimetischem Begehren gesteuert sind, ohne dass es uns überhaupt bewusst ist.

Am Ende dieses Buches haben Sie ein Gerüst zur Hand, das Ihnen hilft zu verstehen, wie Begehren in Ihrem Leben und in unserer Kultur wirkt. Ihnen wird stärker bewusst sein, was Sie nachahmen und wie Sie es nachahmen. Das Wissen darüber, ob Sie in einer bestimmten Situation oder Beziehung stärker oder weniger stark mimetisch reagieren, ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Selbstkontrolle.

Uns wird bewusster, wie fragil und untereinander verbunden die weltweiten Systeme sind. Politische und wirtschaftliche Systeme, die einstmals stabil schienen, sind ins Wanken geraten. Das Gesundheitswesen sieht sich Herausforderungen gegenüber, weil selbst die besten Konzepte immer wieder mit Gruppen von Menschen fertigwerden müssen, die andere Dinge wollen. Die Armut, die immer noch neben enormem Reichtum existiert, ist ein Skandal. All diese Dinge haben ihre Grundlage in einem System des Begehrens, das ich zu beschreiben versuche. Dieses System des Begehrens ist für die Organe der Welt das, was der Kreislauf für den Körper ist. Wenn das Herz-Kreislauf-System nicht richtig funktioniert, leiden die Organe und versagen am Ende. Das Gleiche trifft auf das Begehren zu.

Unsere zerrüttete Beziehung zu anderen Menschen und dem gesamten Ökosystem zeigt deutlich, dass das, was wir als Einzelne und als Kollektiv begehren, massive Auswirkungen hat. Wenn wir die mimetische Natur des Begehrens verstehen, können wir unseren Teil dazu beitragen, eine bessere Welt zu schaffen. Die größten Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit resultierten daraus, dass jemand etwas wollte, das es bislang noch nicht gab, und anderen dazu verhalf, mehr zu wollen, als sie zuvor für möglich gehalten hatten.

Ihr neues oder vertieftes Bewusstsein für mimetisches Begehren wird Ihnen die Welt in einem anderen Licht erscheinen lassen. Wenn Sie mir ähnlich sind, wird es Sie bis zu dem Punkt verfolgen, an dem Sie es überall sehen – auch in Ihrem eigenen Leben. Was Sie damit anfangen werden, bleibt Ihnen überlassen.

KAPITEL 1

VERBORGENE VORBILDER – ROMANTISCHE LÜGEN, KINDERWAHRHEITEN

Caesars Selbsttäuschung … Liebe aus fremder Sicht … Die Erfindung von Propaganda und PR … Warum sich zieren wirkt

Wir können nie wissen, was wir wollen sollen, denn da wir nur ein Leben leben, können wir es weder mit unseren vorherigen Leben vergleichen noch es in zukünftigen perfektionieren.

Milan Kundera

Wenn Menschen Ihnen erzählen, was sie wollen, dann erzählen sie eine Version der romantischen Lüge. Das klingt dann in etwa so:

Mir ist gerade klar geworden, dass ich gerne einen Marathon laufen möchte. (Wie alle meine Freunde, wenn sie 35 Jahre alt geworden sind)

Weil ich einen Tiger gesehen habe, verstehe ich es nun … (Text aus dem Song „I Saw a Tiger“, den Vince Johnson für Joe Exotic schrieb. Für Joe Exotic, Star der Netflix-Serie „Tiger King“, war das Sehen eines Tigers offenbar eine mystische Erfahrung, die ihn dazu bewegte, einen privaten Raubtierzoo zu gründen.)

Ich will Christian Grey. Ich will ihn unbedingt. So einfach ist das. (Aus Fifty Shades of Grey, das voll mit einfältigen Aussagen dieser Art ist.)

Julius Caesar war ein exzellenter romantischer Lügner. Nach seinem Sieg in der Schlacht von Zela verkündete er: „Veni, vidi, vici“ (Ich kam, sah und siegte). Der Satz wurde tausendfach von Menschen zitiert, die Caesar beim Wort nahmen und somit glaubten, dass er den Ort sah und beschloss, ihn zu erobern. Der Magier James Warren schlägt vor, dass wir Caesars Worte in die Sprache des Begehrens umformulieren, um zu sehen, was seine eigentliche Aussage ist: Ich kam, ich sah und ich begehrte. Und aus diesem Grund eroberte er.1



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