Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße - Maxim Leo - E-Book
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Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße E-Book

Maxim Leo

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Beschreibung

Plötzlich ein Held. SPIEGEL-Bestseller-Autor Maxim Leo erzählt von einem erfolglosen Berliner Videothekenbesitzer, der ungewollt zum Helden wird. Ein Mann, der den ungewohnten Ruhm genießt, bis die Liebe ins Spiel kommt und er sich entscheiden muss. Eine rasante, anrührende und ungemein vergnügliche Hochstaplergeschichte. Im September 2019 bekommt Michael Hartung Besuch von einem Journalisten. Der recherchiert über eine spektakuläre Massenflucht aus der DDR, bei der 127 Menschen in einem S-Bahnzug am Bahnhof Friedrichstraße in den Westen gelangten. Der Journalist hat Stasiakten entdeckt, aus denen hervorgeht, dass Hartung, der früher als Stellwerksmeister am Bahnhof Friedrichstraße gearbeitet hatte, die Flucht eingefädelt haben soll. Hartung dementiert zunächst, ist aber nach Zahlung eines ordentlichen Honorars und ein paar Bieren bereit, die Geschichte zu bestätigen. Schließlich war er noch nie bedeutend, noch nie ein Held, und wenn es nun mal so in den Akten steht … Nur wenig später reißen sich die Medien um ihn, Hartung wird vom Bundespräsidenten empfangen, seine Geschichte soll Vorlage für ein Buch und einen Kinofilm werden. Hartungs Leben fühlt sich plötzlich traumhaft und leicht an.  Doch dann trifft er Paula, sie war als Kind in jenem S-Bahnzug, der in den Westen umgeleitet wurde. Die beiden verlieben sich – und Hartung spürt, dass er einen Ausweg aus dem Dickicht der Lügen finden muss. Obwohl es dafür eigentlich schon zu spät ist.

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Seitenzahl: 323

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Maxim Leo

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Maxim Leo

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Inhaltsverzeichnis

Eine Fliege landete auf Hartungs Arm und riss ihn aus seinen Gedanken. Na ja, Gedanken. Es war eher so eine Art Wachkoma, in das er manchmal fiel, wenn er hinter dem Tresen saß und wartete. Na ja, warten. Als würde er ernsthaft damit rechnen, dass heute noch irgendwas in seinem Laden passierte. Die Wahrheit war, dass er mit gar nichts rechnete. Hartung konnte stundenlang so dasitzen, umgeben vom herrlichen Nichts.

Beate, die im Haus gegenüber wohnte und sich einmal die Woche einen romantischen Liebesfilm auslieh, hatte ihm neulich von ihrem Meditationskurs erzählt. Wenn er das richtig verstanden hatte, dann ging es bei der Meditation darum, seine Gedanken loszulassen, ihnen nachzuschauen wie einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Offenbar gaben die Leute eine Menge Geld aus für dieses Straßenbahn-Gefühl. Und die meisten schaffen es nie, sagte Beate, weil es so verdammt schwer ist.

Ich sollte Meditations-Guru werden, dachte Hartung. Gedanken loslassen, das konnte er. Vermutlich war es sogar eine der Sachen, die er am allerbesten konnte. Er hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, wie er das anstellte, es passierte einfach. Und, ganz ehrlich, bisher hatte ihm das nur Probleme gebracht.

Die Fliege schimmerte blau und grün, er spürte ihre Beine auf der Haut. Hartung schaute auf die Uhr, es war zehn nach sechs, draußen war es schon dunkel. Im Laden standen zwei alte Stehlampen, die den kleinen Raum in ein schummriges Licht tauchten. Das mit den Lampen war eine Idee von Beate gewesen, sie meinte, so eine Videothek müsse wie ein Wohnzimmer aussehen, gemütlich und ein bisschen verkramt. Nun, verkramt war es, ob es allerdings auch gemütlich war, das wagte Hartung zu bezweifeln. Sein Blick fiel auf den welligen Linoleumboden, auf die Ikea-Regale, von denen sich das Furnier löste.

»Zeit für den angenehmen Teil des Tages«, murmelte Hartung und ging zum Kinderfilm-Regal. »Der Schatz im Silbersee« oder »Die Olsenbande stellt die Weichen«? Nach einigem Nachdenken entschied er sich für »Der Gendarm von Saint-Tropez«, schob die DVD in den Laptop und machte ein Bier auf.

Hartung liebte Filme, mit denen er durch die Zeit reisen konnte. Er sah sich dann wieder auf dem braunen Sofa sitzen, links der Vater, rechts die Mutter, gegenüber der Schwarz-Weiß-Fernseher, der nach dem Einschalten nach verbranntem Staub roch. Hartung fand es wahnsinnig beruhigend, dass es Dinge gab, die schon damals da gewesen und noch immer nicht verschwunden waren. Diese Filme waren wie Paketschnüre, die sein Leben zusammenhielten.

Winnetou, Egon Olsen und Louis de Funès waren die Retter, die er manchmal rief. Gute Freunde, die kamen, wenn es nötig war. Keine Ahnung, was ihn gerade mehr runterzog, das beschissene Herbstwetter oder Karin, die mit ihm Schluss gemacht hatte. Oder dieser Brief, in dem die Immobilienverwaltung mitteilte, dass die Mietschulden für die Videothek bis Ende des Monats zu begleichen seien. Ja, wovon sollte er denn die blöde Miete bezahlen? Kam doch keiner mehr, außer die Leute aus dem Haus und Beate von gegenüber und noch ein paar andere Typen aus dem Viertel, die es irgendwie schick fanden, weiterhin eine alte Kulturtechnik wie die DVD zu benutzen. Klar war Hartung froh, dass es diese treuen Kunden gab, aber ein bisschen seltsam fand er sie schon. Wenn er nicht zufällig diese Videothek besäße, er hätte sich längst ein Netflix-Abo geholt.

So etwas dürfte er natürlich nie laut sagen, offiziell war er nämlich ein großer Freund des Arthouse-Kinos. Jim Jarmusch, Fellini, Lars von Trier, Chabrol, Michael Haneke, dieses Zeug. Auch das war eine Idee von Beate gewesen, die fand, man müsse den Leuten etwas Besonderes bieten. Hartung hatte die Arthouse-Kollektion vor fünf Jahren sehr günstig aus der Insolvenzmasse einer anderen Videothek erworben. Mehrmals hatte er versucht, sich einen von diesen Filmen anzugucken, aber er fand sie langatmig und auch total deprimierend. Deshalb hatte er sich nur die kurzen Inhaltsbeschreibungen auf den DVD-Packungen durchgelesen, hatte sich ein, zwei Details zu den Regisseuren gemerkt und war so in der Lage, einem Kunden, der sich zum Beispiel für Almodóvars »Zerrissene Umarmungen« interessierte, aufmunternd zuzurufen: »Hervorragende Wahl! Dieser Film ist eine wunderbare Mischung aus Melodram und Film Noir. Ein Leckerbissen für jeden Liebhaber cinematografischer Reminiszenzen.« Das funktionierte eigentlich ganz gut, wobei Hartung eine Weile gebraucht hatte, um unfallfrei »cinematografische Reminiszenzen« sagen zu können.

Oh Mann, wenn er das alles gewusst hätte, als Markus ihm damals angeboten hatte, den »Moviestar« zu übernehmen. »Eine bombensichere Sache«, hatte Markus gesagt. Als Hartung zögerte, war Markus sogar richtig sauer geworden. »Ich habe dich als Ersten gefragt, weil du hier schon so lange arbeitest. Weil du damit bis zur Rente Ruhe hast«, hatte er gesagt. Hartung solle ihm doch einen einzigen Grund nennen, warum die Menschheit irgendwann darauf verzichten würde, zu Hause Filme zu gucken. Als auch Hartung nach längerem Nachdenken kein Grund einfiel, rief Markus triumphierend: »Alter, das ist eine Goldmine, du wirst mir dein Leben lang dankbar sein!«

Dann war Markus mit seiner neuen Freundin nach Portugal verschwunden, nachdem Hartung diesen Vertrag unterschrieben hatte, der vorsah, dass er fünf Jahre lang die Hälfte des Gewinns an Markus ablieferte, quasi als Abstandszahlung für die Filme und die Stammkunden-Kartei.

Und die ersten Jahre liefen ja nicht mal schlecht, der »Moviestar« war zwar keine Goldgrube, aber für das, was Hartung so brauchte, reichte es. Bis irgendwann die Streamingdienste kamen und Hartung kapierte, dass er es wohl doch nicht in Ruhe bis zur Rente schaffen würde. Dass er sich im Gegenteil ziemlich anstrengen müsste. Und Anstrengung war noch nie sein Ding gewesen.

So war Hartung zum Opfer des technologischen Fortschritts geworden. Wieder mal, musste man sagen. Denn Hartung und der technologische Fortschritt, das war von Anfang an eine eher unglückliche Beziehung gewesen. Es begann 1976, Hartung hatte gerade seine Lehrausbildung zum Schranken- und Weichenwärter bei der Deutschen Reichsbahn mit der Gesamtnote Befriedigend abgeschlossen und blickte voller Optimismus in die Zukunft. Da wurde, nur Monate später, die neue Relais-Stellwerkstechnik aus der Sowjetunion in der DDR eingeführt, eine Revolution für das ostdeutsche Schienenwesen, die so ziemlich alles, was Hartung bis dahin über Weichen und Schranken gelernt hatte, nutzlos werden ließ.

Wegen mangelnder Arbeitsdisziplin (Schlafen und Biertrinken im Dienst) wurde er bei der Bahn entlassen und zur Bewährung in die Lausitzer Kohlegrube Bärwalde geschickt. Dort wurde Hartung zum Baggerfahrer umgeschult. Ein paar Jahre danach fiel die Mauer und die Freiheit begann, was für viele Ostdeutsche bedeutete, dass sie von nun an lieber mit sauberem Erdgas als mit stinkenden Briketts heizen wollten, weshalb die Braunkohlegrube schließen musste.

Hartungs anschließende Karriere als freier Vertriebsmitarbeiter bei einer TV-Satellitenschüssel-Firma in Berlin-Hellersdorf endete jäh, als das Kabelfernsehen seinen Siegeszug in den neuen Bundesländern begann. Sein nächster Versuch, endlich den beruflichen Durchbruch zu schaffen, wirkte da schon vielversprechender: Mit Hilfe seines Schulkumpels Mike Fischer gelang es Hartung, in den Handel mit tragbaren C-Netz-Telefonen einzusteigen. Das waren koffergroße Apparate, die Anfang der 90er Jahre vor allem von westdeutschen Aufbauhelfern im Osten und von der russischen Mafia benutzt wurden. Hartung verkaufte ganze Lkw-Ladungen davon, hatte Visitenkarten, auf denen »zweiter Geschäftsführer« stand, und fuhr einen dunkelblauen BMW Coupé. Endlich, dachte er, meint es das Schicksal gut mit mir, als wenige Jahre später die ersten Handys auf den Markt kamen und sein Geschäftsmodell restlos zerstörten.

So kam es, dass Hartung in all den Jahren ein eher fatalistisches Verhältnis zum Fortschritt entwickelte, weshalb er erst einmal ablehnte, als Markus (den er noch vom C-Netz-Telefon-Business kannte) ihm im Sommer 1997 anbot, im »Moviestar« mitzuarbeiten. Hartung wollte um jeden Preis verhindern, noch einmal von einer technischen Revolution heimgesucht zu werden. »Bist du sicher, dass VHS-Videokassetten für die Zukunft gemacht sind?«, fragte er Markus. Der verstand die Frage nicht, brauchte aber dringend Leute, und bot Hartung die unfassbare Summe von 2000 D-Mark monatlich für eine Vollzeitstelle.

Seitdem saß Hartung hinter diesem Tresen, in diesem Laden, der sich kaum verändert hatte. Bis auf den Umstand, dass in den Regalen schon bald keine VHS-Kassetten mehr standen, sondern DVDs und Blu-Rays, was aber kein Problem war, weil Markus mit dem »Moviestar« so fett verdient hatte, dass er sich die Umstellung locker leisten konnte. In gewisser Weise hatte dieser erfolgreiche Sprung ins digitale Videozeitalter sogar ein wenig Hartungs Technologie-Trauma entschärft und seinen Glauben an die Zukunft wachsen lassen – zu Unrecht, wie er heute wusste.

Vor zwei Jahren hatte es dann noch eine weitere Veränderung gegeben, die allerdings weniger mit der technischen Entwicklung als mit Hartungs Finanzlage zu tun hatte. Diese zwang ihn dazu, den hinteren Raum (in dem die Horror- und Pornofilme standen) auszuräumen, um Platz für ein Bett, einen Kleiderschrank und eine Duschkabine mit Plastikvorhang zu schaffen. Das ersparte ihm nicht nur die Miete für seine Wohnung, sondern brachte ihm wegen des verkürzten Arbeitswegs jeden Morgen mindestens eine halbe Stunde mehr Schlaf, was für Hartung ein gewichtiges Argument war. Alles in allem also nur Vorteile, weshalb er sich später immer wieder fragte, warum er nicht schon viel eher darauf gekommen war.

Hartung nahm einen Schluck aus der Bierflasche und versuchte, sich auf den Film zu konzentrieren. Gerade fuhr Louis de Funès in seinem offenen Citroën die Strandpromenade von Saint-Tropez entlang. Gleich würde eine seiner Lieblingsszenen kommen, wenn der Gendarm Cruchot zusammen mit seinen Kollegen die Nudisten vom Strand vertrieb. Hartung lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Fliege flog von seinem Arm davon.

Inhaltsverzeichnis

Die Tür des »Moviestar« sprang auf. Ein Mann, den Hartung noch nie gesehen hatte, betrat den Laden. »Mein Name ist Landmann, ich arbeite für das Nachrichtenmagazin ›Fakt‹ und würde gerne ein Interview mit Ihnen machen.«

Hartung blickte auf den Laptop, wo der Gendarm Cruchot, begleitet von einer jauchzenden Nonne, eine herrliche Verfolgungsjagd absolvierte. »Ich bin sehr beschäftigt, worum geht es denn?«

»Wie Sie sicher wissen, jährt sich in sechs Wochen zum dreißigsten Mal der Tag des Mauerfalls.«

»Mmhh.«

»Wir bereiten gerade eine Sonderausgabe vor, und ich habe ein paar Fragen. Es geht um die Flucht am Bahnhof Friedrichstraße am 12. Juli 1983. Der S-Bahn-Zug, der in den Westen verschwand. Die Massenflucht. Sie wissen schon.«

»Ja und?«

»Nun, ich habe mir die Stasi-Akten angesehen, Sie wurden damals als Hauptverdächtiger festgenommen, als Strippenzieher, der alles organisiert hat.«

Hartung drückte die Pause-Taste, Louis de Funès erstarrte mitten in einem Wutausbruch. Hartungs Blick wanderte zu dem Journalisten, der mit einem breiten Lächeln vor ihm stand. »Strippenzieher? Ich?«

»Sie waren doch damals Stellwerksmeister bei der Reichsbahn am Bahnhof Friedrichstraße?«

»Stellvertretender Stellwerksmeister.«

»Ja, meinetwegen. In den Akten steht …«

»Interessieren Sie sich für Filme?«

»Klar, warum?«

»Weil das hier eine Videothek ist und kein Auskunftsbüro.«

»Ich möchte Ihnen doch nur ein paar Fragen stellen.«

»Und ich bin gerade ziemlich im Stress. Sind Sie bereits Kunde bei uns?«

»Nein, ich wollte doch nur …«

»Dann füllen Sie erst mal dieses Formular aus, die Aufnahmegebühr beträgt 80 Euro.«

»Warum soll ich denn … 80 Euro??«

»Damit ich während meiner Arbeitszeit mit Ihnen reden kann. Sie können auch die Premium-Mitgliedschaft für 120 Euro wählen. Dann kann ich länger mit Ihnen reden.«

Der Journalist sah Hartung genervt an, begann aber folgsam, das Formular auszufüllen. »Hier steht nichts von einer Aufnahmegebühr.«

»Wurde auch erst vor Kurzem eingeführt, irgendwie muss ich den Kundenansturm ja in den Griff bekommen.«

Der Journalist blickte sich in dem leeren Laden um, versuchte, seinen Ärger hinunterzuschlucken. »Okay. Wo muss ich unterschreiben?«

Hartung nahm zufrieden das ausgefüllte Formular entgegen und quittierte den Empfang von 120 Euro. »So, jetzt können wir reden.«

»In den Akten steht, Sie hätten für eine Fluchthelfer-Organisation gearbeitet, aber man konnte Ihnen nichts nachweisen.«

»Blödsinn.«

»Was ist damals passiert? Im Gefängnis, in Hohenschönhausen?«

In Hartungs Kopf begann es zu arbeiten, Bilder tauchten auf. Der helle Resopal-Tisch mit den abgestoßenen Kanten. Die Glasbausteine in den Fensteröffnungen, die den Blick nach draußen verschwimmen ließen. Das breite, nicht unsympathische Gesicht des Vernehmers. Hartung schüttelte den Kopf. »Das ist ewig her.«

»Erzählen Sie.«

»Was weiß ich, die haben mich abgeführt, ich saß im Knast, musste dämliche Fragen beantworten, war nach ein paar Tagen wieder draußen. Keine große Sache.«

»In den Akten steht, Sie hätten eine Weiche manipuliert, deshalb sei die S-Bahn mit den 127 DDR-Bürgern in den Westen gefahren.«

»Na, wenn das da so steht …«

»Herr Hartung, ich bin jetzt Premium-Kunde, schon vergessen? Es muss doch einen Grund gegeben haben, warum Sie festgenommen wurden.«

»Keine Ahnung, irgendwas war mit der bescheuerten Weiche.« Hartung hatte auf einmal wieder diesen Geruch in der Nase, diese Mischung aus Maschinenöl, Teer, Staub und von der Sonne erhitztem Metall. Er spürte wieder, wie die Schienen unter den schweren S-Bahn-Rädern bebten. Er hörte das Knurren der Radlager, das Kreischen der Bremsen, die verrauschten Stimmen aus dem Funkgerät. Es war plötzlich alles wieder da, so als gäbe es einen Raum in seinem Kopf, der nur mit diesen Erinnerungen gefüllt war. Ein Raum, den er lange nicht betreten hatte. Die Erinnerungen fühlten sich seltsam an, wie aus einem anderen Leben, und zugleich so klar und deutlich, als hätte er noch gestern im Schotter des Bahnhofs Friedrichstraße gestanden, in der dunkelblauen Reichsbahner-Kluft, die Signallampe in der Hand.

»Hallo, Herr Hartung! Was war mit der Weiche?«

Hartung löste sich aus seinen Gedanken, sah den Journalisten an, der ihn neugierig betrachtete. »Ich weiß es nicht mehr. Es ist so, als wenn ich Sie fragen würde, ob das Mädchen, mit dem Sie zum ersten Mal geknutscht haben, ein rotes oder ein blaues Kleid trug.«

»Was für ein bescheuerter Vergleich!«

»Finde ich nicht«, sagte Hartung.

»Sie trug eine Hose.«

»Braves Küsschen oder mit Zunge?«

»Was geht Sie das an?«

»Sehen Sie, genau das frage ich mich auch schon die ganze Zeit.«

»Okay, Herr Hartung, ich verstehe, glaube ich, worum es geht. Ich würde gerne der erste Platin-Kunde Ihrer Videothek werden. Ich zahle 400 Euro, wenn Sie mir dann endlich Ihre Geschichte erzählen.«

»800.«

»600.«

»Okay.« Hartung holte noch ein Bier aus dem Kühlschrank, stellte auch dem Journalisten eine Flasche hin. Er versuchte, sich zu erinnern, das versprochene Geld beschwingte ihn ungemein. Wer hätte gedacht, dass er mal 600 Euro, also umgerechnet 1200 D-Mark, was ja quasi 6000 Ostmark waren, nur dafür bekommen würde, ein paar alte Reichsbahn-Geschichten zu erzählen.

»Es gab einen Sicherheitsbolzen, der musste von Hand gelöst werden, bevor man die Weiche elektrisch stellen konnte. Es war die Weiche am Gleis 6, Signalkasten 38.« Hartung hörte sich sprechen, er war erstaunt, was er alles noch wusste. Signalkasten 38, leck mich am Arsch! Immer mehr Bilder wirbelten durch seinen Kopf. Die Werkstatt unten im Stellwerk. Der Schraubstock, die Metallspäne. Wie oft hatte er in dieser Werkstatt gesessen, auf dem Holzschemel neben dem Werkzeugschrank. Hartung sah das Telefon mit dem grünen und dem roten Knopf. Das Kofferradio mit der abgebrochenen Antenne. Den gusseisernen Ofen, in dem sie im Winter die morschen Bahnschwellen verheizt hatten.

»Was war so wichtig an dieser Weiche?«

»Über diese Weiche konnten S-Bahn-Züge, die im Osten repariert worden waren, zurück nach Westberlin gebracht werden.«

Der Journalist zog einen Schreibblock und einen Stift aus der Tasche und begann, Notizen zu machen. »Ich dachte, das Ostberliner S-Bahn-Netz sei komplett vom Westberliner S-Bahn-Netz getrennt gewesen.«

»War es auch«, sagte Hartung. »Aber es gab diese eine Weiche am Bahnhof Friedrichstraße, da, wo die Ost-S-Bahnen ankamen. Normalerweise war die Weiche so gestellt, dass die Züge am Ost-Bahnsteig einfuhren. Wurde die Weiche umgestellt, dann fuhr der Zug über das Ferngleis 2 Richtung Westen.«

»Deshalb gab es diese Sicherung an der Weiche?«

»Ja, den Bolzen.«

»Und was genau ist nun in dieser Nacht zum 12. Juli 1983 passiert?«

»Ich hatte Dienst, habe erst einmal ein bisschen in der Werkstatt gepennt. Dann kam irgendwann der Anruf vom Stellwerk, dass die Weiche am Gleis 6 entsichert werden soll. Das kam wirklich selten vor und meistens wurde es vorher angekündigt. Also war ich schon verwundert, bin raus zum Gleis, habe versucht, den Bolzen zu lösen, aber der saß fest. Habe es dann mit der Rohrzange versucht, dabei ist der Bolzen abgebrochen.«

»Und dann?«

»Normalerweise hätte ich das sofort melden müssen, aber dann hätte ich auch gleich einen neuen Bolzen besorgen müssen, was morgens um drei nicht ganz einfach gewesen wäre. Ich dachte, ich erledige das in Ruhe am nächsten Tag, immerhin konnte man die Weiche jetzt stellen, das war doch das Wichtigste.«

»Haben Sie die Weiche gestellt?«

»Nein, das waren elektrische Weichen, die wurden vom Stellwerk aus gesteuert. Ich habe den Kollegen Bescheid gesagt, dass die Sicherung entfernt ist. Dann bin ich in die Werkstatt zurückgegangen und habe mich wieder hingelegt.«

»Aber Sie hatten doch Dienst.«

Hartung lachte. »Na und? Nachtdienst war bei der Reichsbahn immer mehr Nacht als Dienst. Und wenn es nicht nötig war, dann wurde da auch keiner geweckt. Um sieben Uhr wurde ich abgelöst, bin nach Hause gefahren, habe mich da noch mal hingelegt, und am Nachmittag standen dann die Jungs von der Stasi vor meiner Tür.«

Der Journalist ging unruhig im Laden hin und her. »Das heißt, Sie hatten bis zum Nachmittag gar nichts mitbekommen von der Massenflucht?«

»Ja wie denn? Ich habe doch geschlafen. Die Stasi-Leute haben mir das später erzählt. Die waren alle sehr aufgeregt, kann man ja verstehen, wenn auf einmal so ein voller S-Bahn-Zug über die streng gesicherte Staatsgrenze schaukelt. Und dann sollte ich auch noch schuld an der ganzen Sache sein.«

»Aber waren Sie das nicht? In den Akten steht, der abgebrochene Sicherheitsbolzen habe sich in der Weiche verkeilt. Deshalb blockierte die Weiche später, als sie wieder zurückgestellt werden sollte, was von Ihren Kollegen im Stellwerk offenbar nicht bemerkt wurde.«

»Das konnten die auch nicht bemerken, die Kollegen im Stellwerk drückten eine Taste und das war’s. Das hat ja eigentlich auch immer funktioniert.«

»Außer in dieser Nacht, was dazu führte, dass die erste reguläre S-Bahn, die um 4.06 Uhr vom Marx-Engels-Platz kommend am Bahnhof Friedrichstraße eintraf, in den Westen durchfahren konnte.«

»Tja, blöd gelaufen.«

»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?«

»Klar habe ich in dieser Nacht nicht ganz vorschriftsmäßig gehandelt. Aber das war ein dummes Versehen, eine Verkettung widriger Umstände, wie man so sagt. Keine geplante Sache. Das haben die Stasi-Leute ja auch irgendwann kapiert, sonst hätten sie mich doch nicht wieder freigelassen.«

Hartung nahm noch zwei Bier aus dem Kühlschrank, das viele Reden machte durstig. Er stieß mit dem Jornalisten an. »Auf die Reichsbahn!«, rief Hartung, dessen Laune immer besser wurde.

»Herr Hartung«, sagte der Reporter und schaute ihm direkt in die Augen, »ich verstehe, dass man ein Geheimnis, das man lange gehütet hat, nicht einfach so preisgibt. Ich habe in den Akten gelesen, was die Stasi Ihnen angetan hat. Und wenn Sie damals trotz der Folter geschwiegen haben, warum sollten Sie heute reden, nicht wahr?«

»Folter?«

»Steht alles hier drin«, sagte der Reporter und tippte auf einen Stapel Papier, der vor ihm lag. »Ich zitiere: ›Der Beschuldigte blieb trotz zweimonatiger verschärfter Sonderbehandlung beharrlich bei seiner Darstellung, er habe keine Komplizen oder Auftraggeber gehabt.‹« Der Journalist atmete tief ein. »Ich weiß, was ›verschärfte Sonderbehandlung‹ bedeutet«, sagte er und nickte bedeutungsvoll. »Mir müssen Sie nichts vormachen, Herr Hartung, ich habe großen Respekt vor Ihrem eisernen Willen, vor Ihrem Mut.«

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was Sie meinen«, sagte Hartung.

»Im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen bedeutete das: systematischer Schlafentzug, psychische Zermürbung, Isolation, Essenentzug. Das alles über zwei Monate, das hält kein Mensch aus. Aber Sie haben es offenbar ausgehalten, Sie sind für mich, wenn ich das sagen darf, ein Held.«

Nun war Hartung völlig verblüfft. Isolation? Psychische Zermürbung? Klar, er war in einer Einzelzelle untergebracht gewesen und war in den Tagen dort niemandem außer seinem Vernehmer begegnet. Er erinnerte sich an die langen Gänge, in denen die Schritte hallten, an die schweren Metalltüren, die krachend ins Schloss fielen. Und natürlich hatte er Schiss gehabt, Riesenschiss. Er war noch nie in einem Gefängnis gewesen, er hatte keine Ahnung, was die von ihm wollten. Und nach der zweiten Nacht dort hatte er gedacht, die würden ihn nie wieder rauslassen.

Aber genug zu essen hatte es auf jeden Fall gegeben. Und schlafen konnte er sowieso überall. Der Vernehmer hatte ihm sogar Zigaretten geschenkt, sie hatten viel über Lokomotiven und Signaltechnik gesprochen, der Typ war ein richtiger Eisenbahn-Fan gewesen. Das war so ziemlich alles, woran er sich erinnern konnte. Oder hatte er da was vergessen? Hartung wusste, dass er dazu neigte, Unangenehmes zu verdrängen, sich die Dinge schönzugucken, sein Leben im Nachhinein zu einer Art Best-of-Version zu gestalten. Aber eine zweimonatige Folterung zu vergessen, das würde wohl nicht mal er hinkriegen.

In diesen ganzen Jahren hatte er fast nie daran zurückgedacht. Eigentlich nur, wenn zu irgendeinem dieser Mauerfall-Jubiläen mal wieder von den spektakulärsten Fluchtaktionen erzählt wurde. Wenn im Fernsehen die Bilder liefen, von den Leuten, die im Sommer 1983 so überraschend mit der S-Bahn in den Westen gekommen waren. Seltsamerweise hatte ihn das nie besonders interessiert. Es kam ihm so unwirklich vor, wie ein Märchen aus einer fernen Zeit.

Einmal hatte es einen Aufruf im Radio gegeben, weil Zeitzeugen zur S-Bahn-Flucht gesucht wurden. Aber Hartung wäre nicht auf die Idee gekommen, sich zu melden. Das alles war Geschichte geworden, es bedeutete nichts für ihn. Vielleicht hatte es mit dem »harten Schnitt« zu tun, wie sein Vernehmer immer gesagt hatte. Hartung hatte jetzt wieder seine Stimme im Ohr, ruhig, fast freundschaftlich, aber auch bedrohlich. Er hatte dicht vor ihm gestanden, Hartung hatte seinen Atem gerochen, hatte die Haare in seiner Nase gesehen, die Warze über seiner Oberlippe. »Hören Sie mir jetzt sehr genau zu, Herr Hartung«, hatte der Vernehmer gesagt. »Sie werden ab sofort ein neues Leben führen, Sie werden nie darüber sprechen, was in dieser Nacht am Bahnhof Friedrichstraße passiert ist. Sie werden nie darüber sprechen, was hier in Hohenschönhausen passiert ist. Nie! Zu niemandem!«

Zwei Tage nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte ein grauer Barkas vor seiner Tür gehalten. Der Fahrer trug mit ihm zusammen die Sachen aus der Wohnung, dann fuhren sie los, nach Bärwalde, diesem sächsischen Dorf am Ufer der Spree, das nur wenige Hundert Meter vom Tagebau entfernt lag, seinem neuen Arbeitsplatz. Hartung wusste nicht mehr, was er damals gefühlt hatte, was in ihm vorgegangen war. Er wusste nur noch, dass dann ziemlich bald etwas viel Wichtigeres passiert war. Etwas, das er nie vergessen würde, das bis heute alles überstrahlte: Er hatte Tanja kennengelernt.

Er war sofort verknallt, von der ersten Sekunde an, als er sie im Büro des Brigadiers sah. Dieser spöttische Blick, diese langen, blonden Haare. Sie sagte: »Sieh mal an, ein Neuer.« Und als ihm auf die Schnelle keine Antwort einfiel, da lachte sie laut. Ach, dieses Lachen. Als würde man einer Ziege die Hufe kitzeln, sagte der Brigadier. Und Tanja war es egal. Denn wenn sie lachte, dann lachte sie eben. Und wenn sie fluchte, dann fluchte sie. Und wenn sie liebte, dann liebte sie. Sie war furchtlos und ehrlich, wie ein Kind, das noch nichts Böses kennt. Sie machte keine Kompromisse, sie konnte genießen, ohne nachzudenken. Neben ihr hatte Hartung oft das Gefühl, ein Feigling zu sein.

Nach drei Monaten war er bei ihr eingezogen, in die Zweiraum-Neubauwohnung mit Balkon und Müllschlucker. Ein Jahr später wurde Natalie geboren, die Brigade spendierte einen Kinderwagen und eine Waschmaschine. Am Wochenende aßen sie Rühreier, badeten im Baggersee, tranken selbst gebrannten Pflaumenschnaps und hörten tragische Liebeslieder, die ein singender Baggerfahrer aus Hoyerswerda geschrieben hatte. Wie oft war Hartung nachts aufgewacht, hatte neben Tanja im Bett gelegen, ihren ruhigen Atem gehört und sich gefragt, wann sie wohl merken würde, dass er nicht gut genug für sie war.

Der Journalist räusperte sich. Er war ein kräftiger Typ mit Glatze und stark behaarten Händen, die wie zwei tote Tiere vor ihm auf dem Tresen lagen. »Lassen Sie sich Zeit, Herr Hartung, es muss schwer sein, sich an all das zu erinnern. Wenn Sie wollen, machen wir eine Pause.«

»Ist schon in Ordnung. Aber Sie sollten wissen, dass mir nichts Furchtbares passiert ist. Klar, dieses Gefängnis war kein Ferienlager, aber die Behandlung war okay. Und ich war auch nicht zwei Monate dort, sondern höchstens vier Tage.«

Der Journalist nickte. »Ich weiß, Herr Hartung, das sind die posttraumatischen Effekte. Vielen Opfern geht es so, man schützt sich vor dem Erlebten, indem man es negiert.«

Die demonstrative Betroffenheit des Journalisten ging Hartung zunehmend auf die Nerven. Was laberte der denn da? Und dann noch mit dieser Sonderpädagogen-Stimme, als hätte er einen geistig Zurückgebliebenen vor sich. Wenn das Geld nicht gewesen wäre, er hätte ihn längst rausgeschmissen. Der Reporter hörte jetzt auch gar nicht mehr auf zu reden, sagte, er habe die Verschwiegenheitserklärung gelesen, die Hartung damals unterschreiben musste. »Ich weiß, dass Ihnen eingebläut wurde, kein Wort über Ihre Haftzeit zu sagen. Aber Sie sind jetzt in Freiheit, in Sicherheit! Es ist vorbei, Herr Hartung, die Stasi kann Ihnen nichts mehr tun! Sie dürfen reden!«

»Also ehrlich gesagt habe ich jetzt so ziemlich alles gesagt. Haben Sie das Geld dabei?«

»Herr Hartung, Sie sehen das vielleicht selbst nicht, aber Ihre Geschichte ist etwas ganz Besonderes. Ihr Mut hat 127 Menschen, die hinter Mauer und Stacheldraht lebten, die Freiheit geschenkt. Und niemand weiß davon, das ist eine riesige Sache! Eine großartige Story! Die deutsche Öffentlichkeit muss davon erfahren, Ihre Lebensgeschichte ist ein historisches Vermächtnis!«

Hartung überlegte, wann er den Begriff »historisches Vermächtnis« zum letzten Mal gehört hatte. Wahrscheinlich im Staatsbürgerkunde-Unterricht, in der zehnten Klasse. Das historische Vermächtnis von Marx, Engels und Lenin. Hartung hatte als Abschlussnote in Staatsbürgerkunde eine glatte Fünf bekommen. Nicht etwa, weil er das historische Vermächtnis von Marx, Engels oder Lenin infrage gestellt hätte. Nein, er hatte seiner Banknachbarin, Nadine Sommer, Juckpulver ins T-Shirt gestreut, woraufhin sie schreiend aus dem Klassenraum gerannt war, was alle sehr lustig gefunden hatten. Alle, außer Frau Sommer, die nicht nur Nadines Mutter, sondern auch die Staatsbürgerkunde-Lehrerin war. Sie schrieb eine Beurteilung auf sein Abschlusszeugnis, die ihn fast die Lehrstelle bei der Reichsbahn gekostet hätte. »Michael hat noch immer große Probleme, sich ins Klassenkollektiv einzufügen«, stand in der Beurteilung. »Er ist für seine Mitschüler alles andere als ein Vorbild.« Was Frau Sommer wohl davon halten würde, dass keine 45 Jahre später das Leben des Michael Hartung zum historischen Vermächtnis erklärt wurde?

»Verstehen Sie doch, ich kann Ihre Geschichte nur aufschreiben, wenn Sie mir vertrauen.«

»Meinetwegen müssen Sie die Geschichte gar nicht aufschreiben. Oder Sie kriegen heraus, wer wirklich hinter der Flucht steckte, das würde mich auch interessieren.«

»Herr Hartung, warum machen Sie uns die Sache so schwer?« Der Journalist blickte ihn ratlos und auch ein wenig tadelnd an. Dann entspannten sich plötzlich seine Gesichtszüge. »Es ist wegen des Geldes, oder? Sie haben völlig recht, eine solche Geschichte, zumal exklusiv, ist natürlich viel mehr wert. Ich müsste kurz mit der Redaktion telefonieren, aber ich denke, ein Informations-Honorar von 2000 Euro sollte möglich sein.«

Hartung horchte auf, 2000 Euro, das war fast so viel, wie ihm gerade für die Ladenmiete fehlte. Aber was sollte er dem Mann denn erzählen? Er konnte sich ja nicht einfach irgendwas ausdenken. Welchen Grund hätte er haben sollen, eine S-Bahn in den Westen fahren zu lassen? Irgendwelche Fluchthelfer, also Leute, die am Leid der anderen verdienen, hätte er bestimmt nicht unterstützt. Zumal er ja selbst noch nicht mal in dem Zug gewesen wäre. Wer, zum Henker, war denn bescheuert genug, seinen Arsch für eine Flucht in den Westen zu riskieren und selbst im Osten zu bleiben?

Da musste er an Caroline denken, die schönste Frau, mit der er je zusammen gewesen war. Wobei, so richtig zusammen waren sie eigentlich nicht gewesen. Sie hatte es gemocht, von ihm umworben zu werden, ihn im Unklaren zu lassen, ihm manchmal ein wenig von sich zu geben, um dann gleich wieder verschwunden zu sein. Er dachte damals, so sei das eben, wenn man sich in eine solche Frau verliebte, in eine solche Klassefrau. Er hatte es genossen, mit ihr die Straße entlangzugehen und von den anderen Typen beneidet zu werden.

Sie war Balletttänzerin, sie lief nicht, sie schwebte. Ihre Haut war fast durchsichtig und ihr Körper so schmal und zart, dass Hartung manchmal Angst hatte, sie könnte vom Wind davongetragen werden. Sie hatten sich im Prater kennengelernt, in einer warmen Septembernacht. Er forderte sie zum Tanzen auf, irgendeine Rock’n’Roll-Nummer. Hartung konnte Rock’n’Roll tanzen, er hatte das von seiner älteren Schwester gelernt. Im Prater war er schon ein bisschen betrunken, er ging auf Caroline zu, verbeugte sich vor ihr und zog sie auf die Tanzfläche.

Caroline war damals gerade mit der berühmten Dresdner Ballettschule fertig geworden, und sie hatte nur einen Traum: in New York in einem Broadway-Musical zu tanzen. Deshalb hatte sie das Angebot der Berliner Staatsoper ausgeschlagen und stattdessen mit gerade mal 18 Jahren einen Ausreiseantrag gestellt. Nachdem der Antrag abgelehnt worden war und sie auch sonst keine Engagements mehr bekam, war sie nach Berlin gezogen, wo sie privaten Tanzunterricht gab und darauf wartete, dass irgendwas passierte.

Hartung hatte ein Jahr zuvor im Stellwerk am Bahnhof Friedrichstraße angefangen, und einmal fragte sie ihn so halb im Spaß und halb im Ernst, ob er nicht zufällig einen kleinen Eisenbahntunnel wüsste, der in den Westen führte. Er sprach sogar mit Ronny darüber, einem erfahrenen Kollegen, der manchmal Züge in den Westen brachte. Ronny sagte: »Lass es sein, Micha, die knallen dich ab.« Und er ließ es sein, woraufhin Caroline ihn verschmähte und ein Jahr später einen Westberliner heiratete, der sie endlich nach New York brachte.

Klar, Caroline wäre ein Grund gewesen. Er hatte noch ewig an sie gedacht, hatte immer mal wieder im Internet nach ihrem Namen gesucht und irgendwann erfahren, dass sie es wirklich an den Broadway geschafft hatte, aber ein paar Jahre später bei einem Autounfall gestorben war.

Er sah den Journalisten draußen auf der Straße telefonieren. Hartung murmelte: »Lass es sein, Micha.« Irgendwie würde er das Geld für die Miete schon zusammenbekommen. Der Journalist kam in den Laden zurück. »Gute Nachrichten, Herr Hartung, die Redaktion will die Geschichte unbedingt, das mit den 2000 Euro geht klar. Wir respektieren auch, dass Sie im Moment nicht ausführlich über die Hintergründe sprechen möchten. Eine Sache aber müssen wir wissen: Haben Sie in dieser Nacht jemandem zur Flucht verholfen? Sagen Sie mir nur Ja oder Nein.«

Hartung dachte an die 2000 Euro, er dachte an Caroline. Er sagte: »Ja.«

Inhaltsverzeichnis

Alexander Landmann saß im großen Konferenzraum der »Fakt«-Redaktion, in der 13. Etage des Verlagshauses in Hamburg. Durch die bodentiefen Fenster waren in der Ferne die Elbbrücken zu sehen, die Kräne am Containerhafen warfen lange Schatten in der fahlen Oktobersonne. Es war acht Minuten vor zehn, außer Landmann war noch niemand da. Er wippte nervös mit dem rechten Knie, ging im Kopf noch mal die Geschichte durch, die er gleich dem Herausgeber präsentieren würde. Im Grunde hatte er die ganze Zeit an nichts anderes gedacht, seit er vor zwei Tagen aus Berlin wiedergekommen war. Er hatte auch schon eine erste Fassung geschrieben, Arbeitstitel: »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße«.

Landmann wusste, dass die Geschichte gut war, sie hatte alles, was man sich nur wünschen konnte: zunächst die historische und politische Relevanz, die der Story die nötige Fallhöhe gab. Dann dieser großartige Handlungsort, der Bahnhof Friedrichstraße, die Nahtstelle zwischen Ost und West, ein Ort der Trennung und der Tränen, aber auch der Hoffnung und Träume. Dann dieser Hartung, ein wortkarger, bescheidener Typ, ein einfacher Mann aus dem Volk, der völlig uneigennützig seine Existenz riskiert hatte, für die Freiheit der anderen. Dann die Stasi-Akten, ein unverstellter Blick hinter die Kulissen des mörderischen Systems. Die Akten, die er, Landmann, nach ewiger Recherche endlich gefunden hatte. Nach Aussagen der Bearbeiterin in der Stasi-Unterlagenbehörde waren die Akten in keiner Registratur verzeichnet gewesen, sie waren eher zufällig bei einer Neuordnung der Bestände gefunden worden. Und da die Bearbeiterin wusste, wie lange Landmann schon an dieser Geschichte dran war, hatte er die Unterlagen als Erster sehen dürfen.

Was hatte sich Landmann für hämische Kommentare von den Kollegen anhören müssen, als er immer wieder in dieses Archiv rannte, weil er gespürt hatte, dass er dort eines Tages fündig werden würde. »Na, Landmann, wieder mal im dunklen Stasi-Reich unterwegs gewesen?«, hatten sie lächelnd gefragt. Die Kollegen, die fast alle aus dem Westen kamen, fanden den Osten wahnsinnig langweilig. Immer wenn wieder eines dieser Mauerfall-Jubiläen anstand, ging ein Gähnen durch die Redaktion. Schon wieder Wendeherbst, Ostler, Trabis, die in die Freiheit fuhren. Hörte denn das nie auf? Seit dreißig Jahren schrieben sie die immer gleichen Storys: über die friedliche Revolution, Schabowskis Pressekonferenz, das ostdeutsche Nacktbaden, die vergessenen Bürgerrechtler und die Frage, ob es an den hässlichen Klamotten und der schlechten Musik lag, dass die Ostler solche Rassisten geworden waren. Die DDR galt, da waren sich hier alle einig, als »auserzählt«.

Landmann jedoch mochte die Geschichten, die aus diesem noch immer seltsamen, noch immer sehr fernen Osten kamen. Viele Kollegen dachten deshalb, er selbst sei auch aus dem Osten, was zwar grundsätzlich richtig war, aber eben doch nicht stimmte. Landmann war Anfang der 70er Jahre als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern von Kasachstan nach Deutschland gekommen. Damals hatte man sie Spätaussiedler genannt. Oder Russlanddeutsche, obwohl Kasachstan ja nie zu Russland gehört hatte. Aber so etwas war, zum Beispiel von der 13. Etage eines Hamburger Verlagshauses aus gesehen, eher ein Detail.

Als Landmanns Familie in Deutschland ankam, hatten sie fast nichts. Vier Jahre lang wohnten sie in einem Aufnahmelager, erst als der Vater die Stelle in der Reifenfabrik bekam und die Mutter in der Wäscherei anfing, konnten sie sich eine eigene Wohnung leisten, zu sechst in drei Zimmern. Er war der Einzige gewesen, der aufs Gymnasium durfte, der studierte, er hatte sich hochgearbeitet. Egal wohin er kam, er war immer der Erste seiner Art. Er fiel auf, weil er ein wenig anders sprach, weil er ein wenig anders dachte. Vor allem aber fiel er vermutlich auf, weil er selbst fürchtete, er könnte auffallen.

Er wurde beobachtet, gefördert und gelobt. Von außen sah sein Leben wie ein Beleg dafür aus, dass man es schaffen konnte, komplett in diesem Land anzukommen. Manchmal hatte er das sogar selbst so gesehen, aber meistens nicht. Er hatte eher das Gefühl, sich große Mühe geben zu müssen, um so zu sein, wie man es von ihm erwartete. Waren die anderen mit ihm zufrieden, erkannte er sich selbst nicht wieder. Er freute sich, wenn er gelobt wurde – und ahnte zugleich, dass er gar nicht gemeint war.

Auf die Ostdeutschen war Landmann lange sauer gewesen. Sie bekamen, so fand er, all das, was die Russlanddeutschen nie bekommen hatten. Vor allem Aufmerksamkeit. Nach dem Mauerfall redeten alle nur noch über die armen Ostdeutschen. Über ihr Leiden, ihren Kampf, ihren Mut. Kein Wort mehr über die Russlanddeutschen, die doch noch viel tiefer im Osten hatten leben müssen.

Aber dann wendete sich die Sache, die Westler fanden die Ostler undankbar und nervend, und schon bald war Landmann nicht mehr sauer auf die Ostdeutschen, weil er begriff, dass sie es auch nicht besser hatten als er selbst.

Der Konferenzraum füllte sich langsam. An den Tischen, die zu einem großen Rechteck aufgestellt waren, saßen die Ressortleiter, die Blattmacher, die leitenden Redakteure, der diensthabende Herausgeber und die Mitglieder der Chefredaktion. In einem Ring, hinter der Führungsgarde, saßen die stellvertretenden Ressortleiter, die einfachen Redakteure und freien Mitarbeiter. Landmann saß ganz hinten, neben der Tür. So ein Mist, dachte er, warum habe ich mich nicht zumindest heute mal auf einen besseren Platz gesetzt? Aber dafür war es nun zu spät, der Herausgeber betrat den Raum, schlagartig setzte Ruhe ein.

»Meine Damen, meine Herren«, sagte der Herausgeber, »bevor wir zum Tagesgeschäft kommen, lassen Sie uns die Sonderausgabe zum 9. November besprechen. Dreißig Jahre Mauerfall. Was haben wir?« Er schaute die zwei einzigen Redakteure mit Ost-Biografie an, die DDR-Experten der Redaktion sozusagen. Die machten routiniert ein paar Vorschläge. »Langweilig«, sagte der Herausgeber.

Dann meldete sich Landmann. »Also, ich hätte da was …« Er erzählte kurz die Geschichte, in spannenden Häppchen, mit einem Hauch philosophischer Tiefe, eingestreutem Witz, einer Prise Emotion und einem verheißungsvollen Ende. Seine tiefe Stimme füllte den Raum. Er spürte, wie die eben noch gelangweilten Kollegen ihm gebannt zuhörten. »Es war eine der größten und spektakulärsten Fluchten in der Geschichte der DDR. Bisher kannte niemand die Akteure und die Hintergründe. Jetzt habe ich den Mann gefunden, der alles geplant und durchgeführt hat.«

Der Herausgeber nickte anerkennend. »Sehr gut! Landmann, das ist ein Knaller!«

Landmann lehnte sich erleichtert zurück, er wusste, dass er unbedingt mal wieder einen Knaller brauchte. Dem Magazin ging es nicht gut, demnächst sollte es sogar Kündigungen geben. Verdammte Medienkrise. Da half so ein Erfolg natürlich ungemein.

»Was ist das für ein Typ, dieser Held vom Bahnhof Friedrichstraße? Warum hat er das gemacht?«, fragte der Herausgeber.

Landmann zögerte, genau das war leider die noch immer offene, aber nicht unentscheidende Frage. Hartung hatte sich da weiterhin sehr bedeckt gehalten, obwohl Landmann ihn noch zwei Mal angerufen hatte. Sein Gefühl war, dass Hartung einfach noch ein bisschen Zeit brauchte, um Vertrauen zu fassen. Es war ja logisch, dass man nicht jedem dahergelaufenen Reporter sofort alles erzählte. Im Grunde sprach das sogar für Hartungs Seriosität, dass er nicht gleich mit allem herausplatzte. Und bis zur Sonderausgabe waren ja noch sechs Wochen Zeit, bis dahin musste er mehr aus Hartung rausbekommen. Landmann räusperte sich. »Freiheit, darum ging es ihm. Dafür war er sogar bereit, selbst in der Unfreiheit zu bleiben.«

Ein anerkenndes Murmeln ging durch den Konferenzraum.

Eine leitende Redakteurin vom Kulturteil meldete sich zu Wort: »Dieser Hartung hat nach christlichen Werten gehandelt. War es vielleicht die Tat eines Gottesfürchtigen gegenüber einem gottlosen Staat?«

Landmann atmete tief ein. »Ich würde das zumindest nicht ausschließen«, sagte er.

Erneut ging ein Murmeln und Tuscheln durch den Raum.

»Macht der Held optisch was her? Kann man ihn mit Foto auf den Titel nehmen?«, fragte der Herausgeber.

»Auf jeden Fall«, sagte Landmann.

»Wie viele Leute hat er gerettet?«

»127 Menschen auf einen Schlag!«

Der Herausgeber nickte erneut. »Das klingt für mich wie … na ja, also gewissermaßen die Geschichte vom ostdeutschen Oskar Schindler.« Der Herausgeber überlegte. »Ich denke, wir sollten die Geschichte sofort bringen. Das ist zu groß, um damit noch sechs Wochen zu warten. Ist das für Sie okay, Landmann?«

Landmann erstarrte. Eigentlich hätte er jetzt sagen müssen, dass die Recherchen noch gar nicht abgeschlossen waren. Dass ihm die Hintergründe noch unklar erschienen. Aber sein Hals war wie zugeschnürt. Deshalb nickte er nur.

»Dann machen wir das so. Und noch einmal mein Kompliment, Landmann. Von solchen Recherchen lebt der Journalismus. Die große Geschichte, die das kleine