Der Herrscher des Waldes - Katharina V. Haderer - E-Book
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Der Herrscher des Waldes E-Book

Katharina V. Haderer

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Beschreibung

Wer wird zum Herrscher über die Toten? In den Wäldern Svonnheims taucht ein Monstrum auf, das die Einheimischen in Furcht versetzt. Alchemistin Mirage und Sergent Zejn sind sich sicher, dass es sich bei diesem Wesen um das verfluchte Kind handelt, das Mirage nicht töten wollte. Das Kind wurde bei der Geburt von der Totengöttin geweiht und ist nun ein gefürchteter Myling – ein Wesen, das dem Tod näher steht als dem Leben. Gemeinsam machen Mirage und Zejn sich auf die Jagd nach dem Herrscher des Waldes und dem verlorenen Schwert der Totengöttin, während sie versuchen, wiederauferstandene Tote, alte Feinde und ihre Vergangenheit abzuschütteln. Der dritte und letzte Teil der »Black Alchemy«-Reihe von Katharina V. Haderer bietet wie schon »Das Schwert der Totengöttin« und »Der Garten der schwarzen Lilien« düstere Spannung, Magie und jede Menge Action in einer farbenprächtigen, mittelalterlich anmutenden Welt. Perfekt für alle Dark-Fantasy-Fans! Alle Bände der »Black Alchemy«-Reihe: Das Schwert der Totengöttin Der Garten der schwarzen Lilien Der Herrscher des Waldes

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Seitenzahl: 592

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Katharina V. Haderer

Der Herrscher des Waldes

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

In den Wäldern Svonnheims taucht ein Monstrum auf, das die Einheimischen in Furcht versetzt. Alchemistin Mirage und Sergent Zejn sind sich sicher, dass es sich bei diesem Wesen um das verfluchte Kind handelt, das Mirage nicht töten wollte. Das Kind wurde bei der Geburt von der Totengöttin geweiht und ist nun ein gefürchteter Myling – ein Wesen, das dem Tod näher steht als dem Leben.

Gemeinsam machen Mirage und Zejn sich auf die Jagd nach dem Herrscher des Waldes und dem verlorenen Schwert der Totengöttin, während sie versuchen, wiederauferstandene Tote, alte Feinde und ihre Vergangenheit abzuschütteln.

Inhaltsübersicht

WidmungIVMIRAGE1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelZEJN13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelMIRAGE16. KapitelZEJN17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelMIRAGE23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. KapitelZEJN27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelVZEJN33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. KapitelMIRAGE38. KapitelZEJN39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelMIRAGE44. Kapitel45. Kapitel46. KapitelZEJN47. Kapitel48. Kapitel49. KapitelMIRAGE50. Kapitel51. Kapitel52. KapitelZEJN53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. KapitelMIRAGE58. Kapitel59. KapitelZEJN60. Kapitel61. KapitelMIRAGE62. Kapitel63. KapitelZEJN64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. KapitelEPILOG78. Kapitel79. Kapitel80. KapitelNachwortLeseprobe »Das Schwert der Totengöttin«
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Dieses Buch widme ich dir, lieber Leser:

Danke, dass du diese Reihe bis zum Ende verfolgst! Deine Treue und Empfehlungen haben dieses Buch erst in den Handel gebracht. Ich kann mich glücklich schätzen, dich zu haben.

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IV

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MIRAGE

1

»Und Sie sind sicher, dass Sie nicht bleiben wollen, Alchemistin DeElephantine?«

»DeBois«, korrigierte Mirage ihn dumpf.

»Verzeihen Sie.« Lieutenant Ahearns Raunen barg die Gewissheit, wie viel Familiennamen bedeuten konnten, wie viel es bedeutete, sie zu tragen – oder abzulegen.

»Es wird eine Ehrung geben«, fuhr der Lieutenant fort. Die Pferde in seinen Stallungen raschelten im Stroh. Ein Tier reckte den Hals aus der Koppel, als es den Besuch bemerkte, und streckte ihr die Nüstern entgegen. Die feinen Härchen kitzelten an ihrer Handfläche. »Sogar das Königshaus wird das Hohe Gericht mit seiner Anwesenheit beehren. Ihr Vater muss gewiss stolz auf Sie sein.«

Mirages Hand erstarrte an der weichen Pferdenase. Sie kontrollierte ihren Atem und konzentrierte sich auf den Duft von Heu und Pferdedung. Die gewärmte Stallluft legte sich in ihre Lunge.

»Madame? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Ahearn konnte es nicht wissen. Sie zwang ihr verkrampftes Gesicht dazu, weicher zu werden, bevor sie sich dem Lieutenant zuwandte und ein gezwungenes Lächeln aufsetzte. »Wir Alchemisten sind ein eigenbrötlerisches Volk. Wir machen uns wenig aus Medaillen.«

Ahearn zuckte mit den breiten Schultern. Er trug legere Kleidung und keines seiner militärischen Abzeichen. Die Stallung, die seine Familie betrieb, schien ihm wie eine zweite Heimat. Mit seiner haarigen Pranke tätschelte er den Gaul, der suchend die Nüstern blähte und ihn gegen die Brust stupste. Er schürzte die Lippen und versuchte, die Gewandfalten zu erhaschen. Vermutlich schmeckte der Stoff vom Schweiß salzig.

»Dann mögen Sie mit einem Ahearnblut entlohnt werden, Alchemistin, wie versprochen. Sie haben es verdient!« Er nickte zu der frechen Stute. »Gefällt sie Ihnen?«

»Ich suche etwas Kleineres, Drahtigeres. Ich trage kaum Gepäck bei mir. Die Garde mag Erfolge feiern, aber die Toten streunen nach wie vor durch die Vorlande. Geben Sie mir ein Pferd, mit dem ich von ihnen nicht in den Morast gezogen werde.«

Ahearns Mund klappte im Protest auf, doch er schloss ihn wieder und strich sich bloß über den silberblonden Bart. »Ich sehe gewisse charakterliche Parallelen zu Ihrem Vater«, brummte er. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Dann kommen Sie.« Er winkte ihr. »Ich habe da einen Apfelschimmel, der gut zu Ihnen passt.«

Der Wallach, zu dem er sie führte, war drahtig, und sein graues Fell besaß eine gefleckte Musterung, als hätte sich Schnee auf seinen Rücken gelegt. Mirage streckte die Hand nach ihm aus und fuhr durch seine dunkelgraue Mähne. Er beäugte sie skeptisch, zuckte mit den Wimpern und warf das Haupt zurück, als ihn Fliegen an den Augenwinkeln kitzelten.

»Ein aufmerksames Tier«, behauptete Ahearn und tätschelte seinen Nacken. Der kraftstrotzende Mann wirkte neben dem Wallach riesig. Mirage hätte es nicht gewundert, wenn seine Füße auf dem Boden geschleift hätten wie bei einem Pony, säße er auf dem Schimmel auf.

Für Mirage sollte er passen. Sie nickte.

»Soll ich ihn zur Villa Ihres Vaters bringen lassen?«

»Dafür ist keine Zeit«, erwiderte sie. »Ich muss aufbrechen. Mein Gepäck wartet im Hof auf mich.«

Der Lieutenant warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Sie verlassen Tradea?«

Ernst nickte sie. »Ich habe anderweitig Verpflichtungen zu erfüllen.«

Wenig später führte Ahearn höchstpersönlich den Apfelschimmel aus dem Stall und befahl einem Knecht, ihn zu satteln.

Mirage suchte währenddessen den Hof ab und entdeckte Ruben dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Er hockte am gemauerten Rand des Brunnens neben einem Gepäckhaufen, der aus Fellschlafsack, Alchemistenkoffer, Feldschertasche, Wassersack und Lebensmitteln bestand. Sie rief Ruben herbei.

Der Junge zwinkerte ins fahle Winterlicht. Lustlos rutschte er von der Mauer und setzte sich in Bewegung.

»Was ist los?«, fragte sie ihn. »Du wolltest doch lernen, wie man ein Pferd sattelt?«

Er verzog das Gesicht. »Aber nicht, wenn Sie damit fortreiten, Ma’am.«

Seine Antwort drückte auf ihre Brust. Sie musste schlucken.

Erwartungsvoll öffnete er den Mund, sodass seine Zahnlücke sichtbar wurde. »Können Sie nicht bleiben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Verpflichtungen dort, wo ich herkomme«, erwiderte sie dumpf. »Ich bin schuld, dass die Menschen unter einem Monstrum leiden müssen.«

»Die Garde ist doch in den Vorlanden stationiert«, sagte Ruben und blinzelte. »Können die Gardisten sich nicht darum kümmern?«

»Plötzlich vertraust du der Garde?«

Er ließ den Kopf hängen.

»Das Monster ist meinetwegen dort. Wer etwas verbockt, der muss es richten.« Vorausgesetzt, das ist noch möglich. »Zumindest muss man es versuchen«, fügte sie an.

Der Junge holte tief Luft und blies sie aus. »Nehmen Sie mich mit!«, bat er plötzlich.

»Wie?«

»Nehmen Sie mich mit, Madame! Ich bin eine gute Hilfe! Sie müssen mich nicht länger bezahlen. Nur hin und wieder eine Mahlzeit wäre fein, damit ich nicht vom Fleisch falle. Ich mache alles, was Sie wollen! Sattle Ihr Pferd, mache Feuer, koche Essen …! Sie können sich auf mich verlassen, das schwöre ich! Bei Holler, ich schwöre es!« Verzweiflung schillerte in seinen Augen.

Mirage streckte die Hand aus. Obwohl sie keinen Handschuh trug, berührte sie seine Wange mit den Metallprothesen. »Das geht nicht«, sagte sie sanft. »Es ist zu gefährlich.«

Seine lumpenumwickelten Finger ballten sich zu Fäusten. »Ich kenne Gefahr! Ich lebe auf der Straße! Ich kann Sie beschützen!«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Locken schwankten. »Es tut mir leid, Ruben«, sagte sie. »Aber dort draußen lauern andere Monster als die auf der Straße.«

Trotzig kniff er die Lippen zusammen. Er trat einen Schritt zurück. »Sie wissen nichts über mich und mit welchen Monstern ich zu ringen habe!«

Sie zog die Hand zurück. »Je suis désolé.«

Er stampfte auf. »Ich bin kein Kind mehr!«

Sie schwieg.

»Sie unterschätzen mich!«

»Im Gegenteil. Aber ich kann es mir nicht leisten, meine eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Wenn dir unter meiner Obhut etwas zustieße, könnte ich es mir nicht verzeihen.« Sie legte den Kopf schief. »Das ist mehr mein Problem als deines.«

Er stieß die Luft durch die Zahnlücke und senkte den Blick. »Das war’s also? Sie gehen einfach fort?«

»Ich komme wieder, ich verspreche es dir.« Sie erschrak vor ihren eigenen Worten. Wie kam sie dazu, diesem Kind ein derartiges Versprechen zu geben? Wer wusste, ob sie tatsächlich zurückkehren konnte? Sie hatte ein Monstrum zu stellen, das sie selbst erschaffen hatte. Einen Myling – ein zum Leben erwecktes Kind – das zu töten sie in fehlgeleiteter Mildtätigkeit unfähig gewesen war. Die Vogelbotin Navis hatte Mirage einen Hilferuf geschickt. Anscheinend war es den Priesterinnen der Nurova-Seelstatt nicht gelungen, die dunkle Magie zu bannen, die in seinem Inneren wucherte, denn ein Monstrum hatte die Seelstatt zerstört und trieb sein Unwesen rund um Svonnheim.

Es war Mirages Versäumnis, dass sie das Kind zu einem Ungeheuer hatte werden lassen. Sie musste es stellen. Sie musste töten, was zu töten sie verabsäumt hatte. Einen Myling wie sie selbst. Ein Totenkind.

Ruben hob die Hand und reckte den kleinen Finger. Sein Nagel starrte vor Dreck. »Versprechen Sie es?«, piepste er – dabei gab er sich sonst derart Mühe, erwachsen zu gelten.

Sie würgte das bittere Gefühl hinab. Wer sollte sie stellen, sollte sie ihr Versprechen nicht halten können? Sie hob die Hand, legte die Prothese ihres kleinen Fingers um den seinen. Fast fühlte es sich an, als wäre er wieder da, ihr verlorener Finger. Sie hakten sich beim jeweils anderen ein und schüttelten. »Versprochen.«

Tapfer nickte er. »Nun gut«, presste er hervor. »Ich bin bereit.«

Sie wies zu dem Apfelschimmel. »Komm mit. Ich zeige dir, wie man Sattel und Halfter anlegt.«

Ahearn kehrte aus den Ställen zurück, als Mirage aufbrechen wollte. Er bot ihr an, ihr auf den Sattel zu helfen, doch Ruben kam ihm zuvor. Vom Kampf im Liliengarten in Mitleidenschaft gezogen, ließ sie sich stützen, als sie sich am Aufsteigriemen emporzog. Als sie endlich oben saß, keuchte sie. Vor ihr zuckten die grauen Pferdeohren.

Kind und Lieutenant blickten zu ihr auf, Letzterer klatschte dem Pferd auf die Flanke und nestelte ein Stück Pergament aus seinem Gürtel. »Die Besitzurkunde des Wallachs«, erklärte Ahearn. »Er hat das Stallwappen in die Flanke gebrannt. Nicht dass man noch glaubt, Sie hätten ihn gestohlen. Sein Name ist Clamorsschneid. Sie können ihn umbenennen, wenn Sie möchten.«

Mirage verstaute das Pergament in den Satteltaschen. Bevor Ahearn seinen Wallach gehen ließ, streichelte er ihm liebevoll den Nacken, ein Lächeln auf den Lippen, als wäre das Tier seine Tochter, die er in die Ehe entließ. »Passen Sie auf ihn auf, Alchemistin DeBois.«

Nebenan schluchzte Ruben.

Das Pferd tänzelte und drängte dazu, aufzubrechen. Mirage sah hinab, die voluminösen Locken fielen ihr in die Stirn. »Können Sie mir noch einen Gefallen tun?«

Fragend sah der Lieutenant hinauf. Ihm war anzusehen, dass Menschen es selten wagten, ihn um Gefallen zu bitten. Dazu stand er zu hoch in den Rängen.

Sie griff in ihre Tasche und zog etwas hervor. »Gardist Rebenglanz unter Lieutenant Uriarte und Stellvertreter Rohoy …« Sie beugte sich im Sattel vor und streckte es ihm entgegen. Verwundert begutachtete Ahearn die seltsame Konstruktion aus Metall und Leder.

»Wozu soll das gut sein?«, brummte er.

Sie hob die Hand mit den eigenen Prothesen. »Wenn Sie ihm begegnen, werden Sie verstehen.« Sie ergriff den Zügel, drückte dem Pferd die Stiefel in die Flanke und trieb es aus den ahearnschen Stallungen.

Rubens Schluchzen verfolgte sie. Er hatte nicht gemerkt, dass sie ihm ein kleines Vermögen in den Lumpenmantel gesteckt hatte.

2

In den Vorlanden stimmte etwas nicht. Dass Untote die Wälder durchstreiften, hatte eine Veränderung in Gang gesetzt. Die Vegetation war nicht mehr jene, die sie bei ihrem Aufbruch hinterlassen hatte. Torfmoos, Rosmarinheide, Moosbeere und Wollgras sprossen in Polstern rund um den ausgestampften Weg.

Mirage hielt an, band das Pferd an einen Haselstrauch, der seine kahlen Zweige in den Weg reckte, und stapfte vom Pfad fort etwas tiefer in den Hain. Der Boden knackte unter ihren Sohlen, die Eisschicht brach wie Glas, und Morast quoll über ihre Stiefelspitzen. Der Grund versumpfte.

Mirage sog den eigenartigen Torfgeruch ein und ließ den Blick zwischen die Baumgerippe schweifen. Svonnheim war kein Sumpfgebiet – war nie eins gewesen, Heimat trockener Nadel- und Mischwälder. Ihr Fuß stieß gegen fleischige, herzförmige Sumpfcalla-Blätter. Der einzige Ort, an dem sie diese bisher gefunden hatte, war nahe Dorfesruh gewesen. Direkt am See. Nicht hier draußen.

Auf ihrem Weg bemerkte sie schimmernde Flecken zwischen den Hainen – Pfützen, die die Himmelsstimmung reflektieren. Dazwischen ragten Bulten aus Gräsern und Moos auf, graugrüne, haarige Buckel, die den Eindruck erweckten, als stiege ein Untoter aus dem Moor.

Als der Abend anbrach, tanzten Lichter durch die unwirkliche Landschaft – Leuchtkäfer, die ihresgleichen suchten, aber auch Feuerblumen, welche die Gase aus dem Torf entzündeten. So mancher Wanderer war durch die Versprechung auf Feuer und Menschen in sein Unglück gelockt worden.

Apfelhaine lagen unerreicht im Morast, die umliegenden Zäune versanken im Boden, die Früchte vermoderten an den Ästen. Ein Kornfeld war nur noch an den Ackerstreifen zu erkennen, zwischen denen Wasserstreifen wie Kanäle glänzten.

Die stillen Betrachtungen erweckten in Mirage eine größere Furcht, als eine Horde Untoter es vermocht hätte. Das Land veränderte sich – ein Anzeichen dafür, dass ein Versprechen gebrochen worden war. Ihr Vater hatte die Wahrheit gesagt. Mirage hatte es auch nicht anders erwartet. Er war vieles, aber kein Lügner. Nifs Rückgrat hatte es nie in die Grabhügel zurückgeschafft. Die Totengöttin forderte dafür ihren Tribut.

Die Erkenntnis über ihre eigenen Schwächen schmeckte Mirage bitter wie ein Alchemikum. Zäh wandelte sich das Gefühl von Abweisung und Scham durch Bhaals Ächtung in … nichts. Von den Gefühlen blieb bloß noch ein dumpfes Pochen zurück. Sie fühlte sich stumpf wie eine rostige Klinge, die mit dem nächsten Schlag zu zerbrechen drohte.

Zu viel Schuld lastete auf ihren Schultern. Ein Mensch allein konnte sie nicht stemmen. Es begann mit ihrer Existenz, um die sie nie gebeten hatte und die ihr doch stets zum Vorwurf gemacht wurde. Ihr folgte der Verrat an Bhaal, und dass sie Nifs Rückgrat zu spät gefunden hatte. Hätte sie es in blindem Vertrauen doch nur nicht Sergent Zejn überlassen!

Mit ihrer Entscheidung, den Myling am Leben zu lassen – oder besser gesagt, ihn nicht zu töten –, hatte sie etwas erschaffen, das die Vorlande in ihrem Kern veränderte. Wasser und Blut tränkten den Boden und schufen rostroten Morast, aus dem fleischfressender Sonnentau die muschelförmigen Köpfe reckte.

Das Pferd schluckte Mirages Lethargie wie der Nebel das Licht. Geduldig trug es sie weiter, während ihr Körper nur noch funktionierte und ihr Kopf die Veränderungen bemaß, die in ihrer Heimat vor sich gingen.

Sie nächtigte in einer halb verfallenen Scheune. Das Rascheln von Vogelfedern und das aufgewühlte Schnauben des Wallachs hielten sie wach. Kälte kroch durch die fauligen Strohreste, auf denen sie sich in ihre Decke wickelte. Am Morgen schluckte sie Nervensalz, um ihr vernarbtes Knie abbiegen zu können. Die wulstigen Narben, die von Nifs Rückgrat stammten, hatten sich zusammengezogen wie Schiffsknoten. Haut riss, als sie sich zurück auf den Sattel schwang. Sie kaute Soldatenkind-Samen und Weidenrinde, um die Schmerzen zu dämpfen.

Ein Pfad bog vom Hauptweg ab, in dessen Räderspuren sich der Frost abgesetzt hatte. Der Weg führte in einen Birken- und Buchenhain, der die Nurova-Seelstatt beherbergte. Hierhin hatte sie den Myling gebracht.

Mirage hielt den Wallach an, der unruhig mit dem Schweif peitschte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie dort erwartete.

Widerstrebend bog der Apfelschimmel ab. Seine Hufe stanzten Löcher in den Morast, Eiskristalle knackten unter seinen Schritten. Die ersten Säulen, die sich am Wegesrand reihten, wirkten unberührt. Bloß Sonnentau, die Mäuler mit klebrigen Bläschen besetzt, deutete auf die Veränderung hin, die diesen Ort einverleibte. Ascheflocken zogen Mirages Aufmerksamkeit auf sich. Wie Schimmelsporen waren sie auf dem Frost festgefroren.

Der Weg sank unter den Hufen ein. Der Wallach stockte und tänzelte. Nervös peitschte er mit dem Schweif. Ein Schmatzen ertönte. Zeitgleich warfen Mirage und Reittier die Häupter herum. Sie lauschten in das Zwielicht. Birken und Buchen verblassten hinter einem Nebelschleier.

Das Schmatzen wiederholte sich. Irgendwo stob ein Vogel auf und machte sich zwischen den laublosen Ästen davon. Mirage und der Wallach sahen ihm nach. Mirage leckte sich über die Lippen, fasste die Zügel fester und zwang das Pferd voran.

Was einst ein weißgoldenes Langhaus gewesen war, lehnte nun als rußiger Kessel in seinen Grundfesten, von einem gewaltigen Brand verwüstet. Rauchgeruch erfüllte die Luft. Das Dach war in sich zusammengebrochen. Rußspuren zogen sich durch die zerstörte Fensterrosette bis zum Dachspitz, an dem das Schilf abgerutscht war. Die einst rostroten Torflügel sanken als Platten blau schimmernder Kohle aneinander. Nur die Steinmauern hielten sich tapfer in ihren Grundfesten.

Mirages Hals verknotete sich, ein Schauer kletterte ihre Arme empor bis in ihren Nacken und blieb dort sitzen wie eine eiskalte Hand. Eine Weile starrte sie die verkohlte Ruine an, bis sie es schaffte, den Sattelrand zu packen und vom Reittier zu gleiten. Mit einem losen Knoten band sie die Zügel in Zweige und näherte sich dem Gebäude.

3

Als Mirage die Stufen emportrat und ihre Stiefel durch den Ruß schmierten, kam ihr alles irgendwie unwirklich vor. Das Tor ächzte unter ihrer Berührung – doch es hielt. Jemand musste es von innen verriegelt haben. Als Schutz vor dem, was draußen gelauert hatte? Oder um drinnen zu halten, was nicht entfliehen durfte?

Die Narben von Nifs Rückgrat zogen sich zusammen. Mit einem dumpfen Laut klatschte sich Mirage gegen den Oberschenkel, drückte den Daumen hinein und versuchte, das verhärtete Gewebe auseinanderzuziehen, um sich Erleichterung zu verschaffen.

Ein Blick zurück verriet ihr, dass der Wallach die dunkelgrauen Nüstern reckte und angestrengt schnupperte. Seine Ohren zuckten, doch er blieb ruhig.

Sie umrundete das Haus und fand eine Stelle, an der das von der Mauer gerutschte Schilfdach eine Rampe bildete. Vorsichtig erklomm sie die Schilfbündel, die unter ihrem Gewicht ächzten. Ein Bein brach durch die geschwärzte Decke. Sie krachte auf, klammerte sich fest und zog sich mit einem Grunzen heraus. Endlich gelangte sie auf die Seitenmauer.

Der Anblick ließ sie erschaudern. Das einstige Labyrinth aus hölzernen Zwischenwänden bestand bloß noch aus verkohlten Resten, unter Dachteilen vergraben, die dem Feuer nicht gänzlich zum Opfer gefallen waren. Trümmer bedeckten den einst sauberen Grund. Ascheflocken stoben auf, als sie ins Innere herabsprang. Keine zwei Schritte weiter stieß sie mit dem Fuß gegen einen Menschenschädel, der vom verbrannten Körper barst und hinfortkullerte.

Mirage öffnete und schloss die kalten Hände. All das hatte sie zu verantworten. Sie spürte nichts.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren.

Eine Krähe hüpfte zwischen den Trümmern umher und riss mit dem Schnabel ein Stück Stoff hervor. Der Fetzen war an einer Stelle unbeschmutzt – weiß. Das Kleid des Avorun-Mädchens, das den Frühling erwartet hatte.

Mirage schluckte. Sie hielt auf den Vogel zu, ihre Schritte verschnellerten sich, Kohle barst unter ihren Absätzen. Die Krähe schenkte ihr kaum Beachtung. Ihre Federn glänzten blauschwarz wie das verkohlte Holztor.

Mit einem Aufschrei trat Mirage nach dem Tier. Unter Gekrächze stob der Vogel hoch und zog von dannen.

Einen Moment lang stand sie nur da. Der Ort besaß ein anderweltliches Eigenleben. Überall knackte und knisterte es; Kohlescheite ächzten unter ihrem eigenen Gewicht, als klagten sie über die Ereignisse.

Mirage sah auf, als die Krähe wieder am Himmel erschien. In einiger Entfernung segelte sie durch das Rosettenfenster an der Tempelrückwand, das bloß noch das Eisengitter hielt. Davor ragte, nahezu unberührt, der Altar der Herrin der Jahreszeiten auf.

Mirages Härchen stellten sich auf, während sie sich dem Steinblock näherte. Das war ein magisch aufgeladener Ort, ein Prickeln glitt über ihre Arme. Wie hatte sie den Myling zurücklassen können? Die Verantwortung über Tod und Leben abgeben?

Wie verdorrte Puppen reckten Brandopfer ihre Glieder aus den Trümmern. Manche trugen Reste der Schwesterntracht, andere gängige Kittel und Hosen. Entweder hatten sich die Avorunspriesterinnen um die erkrankte Bevölkerung gekümmert – oder der Myling hatte Draugar angelockt, die ebenfalls im Feuer umgekommen waren.

Der Rauchgeruch war allgegenwärtig, als wäre der Brand nie erloschen. Mirage hustete, während sie die Stufen zum Altar erklomm. Ihre Zunge fuhr über die Schneidezähne. Sie schmeckte Pech.

Geschmolzenes Fensterglas bedeckte die Zeichen und Runen des Altars und des umliegenden Bodens. Es war schwierig, anhand der Ruine die Ereignisse zu rekonstruieren. Was war zuerst passiert? War ein Feuer ausgebrochen und hatte die Schutzzeichen zerstört? Entkam dadurch der Myling und wurde zum Monstrum? Wie hatte er sich verändert? Wie sah er nun aus? Womit hatte Mirage es hier zu tun?

Sie strich über das erkaltete Glas. Ein Blitz vibrierte ihre Elle empor. Erschrocken zog sie die Finger zurück.

Sie würgte den Teergeschmack herunter und wandte sich ab. Hinter dem Altar lag eine vom Feuer verzehrte Leiche, das Gewand überwiegend zu Asche zerfallen. Mirage bückte sich und strich mit dem Handrücken über das Gesicht, als könne sie noch die Augenlider schließen. Zumindest waren die Schwestern verbrannt. Nach dem Flammentod kehrten sie nicht zu untotem Leben zurück.

Ein Wiehern ließ Mirage hochfahren. Panische Geräusche platzten aus dem Maul ihres Reittiers, lautstark wütete es im Buschwerk.

Mirage fuhr herum und rannte zurück zu dem Mauerstück, über das sie eingestiegen war. Draußen protestierte das Pferd. Sie hörte das Klatschen der Hufe auf Morast. Ihr Herz trabte, während ihre Hände durch den Rußbelag schmierten und sie sich über das oberste Mauerstück wälzte. Sie rollte die Binsen hinab und landete auf Torfmoos.

Mirage drückte sich empor. Der Apfelschimmel tauchte in ihr Blickfeld. Er stieg auf die Hinterbeine und schlug auf eine Gestalt ein, die sich im Morast krümmte. Als seine Hufe den geschwärzten Schädel trafen, knackte es. Der Getroffene knallte auf den Grund und zwang sich erneut empor.

Mirage zog das Langmesser aus dem Gürtel. Sie rannte auf den Wallach zu, der bockte und die Zügel aus den Zweigen riss. Sie duckte sich unter den wirbelnden Hufen durch, stürzte sich auf die Gestalt und hieb zu. Mit dumpfen Lauten drang die Klinge durch verbranntes Gewand und schnitt in rosiges Fleisch. Die Tote musste dem Feuer entkommen und später im Morast verendet sein.

Mirage hackte, bis sich der Schädel spaltete und der Leib erschlaffte. Sollen die Toten in den Grund zurückkehren, aus dem sie sich erhoben hatten!

Der trappelnde Wallach riss sie aus ihrem Wahn. Aufgeregt zog er seine Kreise, seine Mähne tanzte. Es dauerte, bis er sich anlocken und einfangen ließ. Sie inspizierte seine Beine. Kratzspuren furchten seine Flanken, die sie mit Gäga-Salbe behandelte.

Als sie aufsaß, zuckte sein Schweif. Sie musste ihm nicht befehligen, auf den Pfad zurückzukehren – er trat freiwillig die Flucht an. Als sie auf die Güterstraße zurückkehrten, lenkte sie ihn Richtung Norden.

Um den Myling zu finden, musste sie erfahren, was hier passiert war – und mit welchem Feind sie es zu tun hatte. Ein Baby allein konnte diesen Brand kaum gelegt haben. Oder irrte sie sich?

 

Schnee bedeckte Svonnheim mit einem fleckigen Schleier. Wie Reißzähne spießten Baumstämme aus der schwarzen Erde und bildeten einen Schutzwall rund um jene Häuser, die sich in unmittelbarer Nähe zusammendrängten. Die Gebäude und Gehöfte, die außerhalb standen, lagen verlassen, Tore und Fensterläden zerschlagen. Der Geruch von frisch geschlagenem Holz harrte in der Luft. Es war der Duft von Mirages Heimat. Nun tropfte Harz wie Blut von den astlosen Stämmen, die die Schutzpalisade bildeten, manche wie armdicke Speere zugespitzt und vorgelagert, um einem Ansturm standzuhalten.

Die Straße verschwand in den Feldern. Krähenschwärme spurten über die zertrampelte Erde. Ein Vogel hockte auf einer gestürzten Vogelscheuche, ein anderer auf einer abgeknickten Lanze. Sie flatterten vor die Beine des Wallachs und pickten Körnerreste aus den Hufabdrücken, welche die tradeadischen Schlachtrösser hinterlassen hatte.

Mirage zog das Fuchsfell hoch, das ihren Nacken wärmte. Unruhig spitzte das Pferd die Ohren. Rauchschwaden kringelten hinter dem Wall hervor. Als sie sich näherte, ertönte ein Zornesruf. Sie riss am Zügel und zwang das Reittier zum Stehen.

»Halte!«, rief ein Soldat auf Alt-Tradeadisch. Über die Befestigung guckte ein Helmträger, der mit einem Pfeil zwischen den Palisadenspitzen hindurchzielte. »Qui est-ce?«

»Eindeutig kein Wiedergänger – es sei denn, die haben seit meiner Abwesenheit reiten gelernt!«, entgegnete Mirage mit fester Stimme.

Der Soldat zuckte unter dem Nasenschutz seines Helms mit dem Zinken. »Zutritt verboten!«

»Ich habe Freunde in Svonnheim.« Die Worte trugen einen bitteren Beigeschmack. »Navis hat mir geschrieben und mich um Hilfe gebeten!«

Ein Lachen entrang sich der Soldatenkehle. »Bitten kann sie zu den Göttern! Niemand darf rein, zum Schutz der Bevölkerung.«

Angespannt biss sich Mirage in die Wange. »Ich wurde auf dem Weg hierher von einer Brandleiche angegriffen. Sie kam aus Richtung der Nurova-Seelstatt. Öffnen Sie die Tore! Wenn Sie mich hier draußen lassen, weihen Sie mich dem Tod!«

Der Mann verzog den Mund.

»Gehen Sie gefälligst Ihrer Aufgabe nach und schützen Sie mich!«

Der Gardist warf einen Blick über die Schulter, seine Lippen regten sich. Mirage sah nicht, mit wem er sprach. Schließlich nickte er zackig. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir holen unseren Vorgesetzten.«

»Lieutenant Uriarte?«

Seine Augenbrauen verschwanden hinter dem Stahlkappenrand. Trotzdem beharrte er: »Bleiben Sie!«, als wäre sie ein Hund, den man zum Sitzen befehligte.

Mirage presste die Lippen zusammen. Schnee setzte sich auf ihre Kapuze und das Fuchsfell, in das sie ihr Kinn grub. Der Wallach schüttelte die Flocken aus seiner dunkelgrauen Mähne. Er scharrte mit dem Vorderhuf über den gefrorenen Boden, in den Hufeisenabdrücken seiner Vorgänger war Eis zu Halbkreisen erstarrt.

Nach einer Weile kam Bewegung hinter die Palisade. Das Haupttor schwankte. Mit einem Scharrgeräusch wurde es nach außen gedrückt. Dahinter warteten Gardisten mit gezückten Speeren. Auf einer Plattform hockte ein Armbrustschütze, den Bolzen aufgezogen.

Mirages Blick huschte hin und her, während sie heranritt. Sie verbarg die Wangennarben hinter Haar und Fell. Die Gesichter der Soldaten waren ihr fremd, keiner unter ihnen stammte aus der ursprünglichen Svonnheimer Einheit. Allerdings war es nur eine Frage der Zeit, bis einer der Dorfbewohner sie erkennen würde. Svonnheim war Mirage in den Rücken gefallen, als Zejn seine Treue auf die Probe gestellt hatte. Alle bis auf Navis. Ein falsches Wort, und Mirage konnte sich auf einen Bolzen zwischen den Schulterblättern gefasst machen.

Sie trieb den Apfelschimmel durch das Tor. Der Blick eines Soldaten blieb an seinem Brandmal an der Flanke hängen. »Der stammt aus dem ahearnschen Gestüt«, merkte er verblüfft an.

Ein Uniformierter trat heran. Sein Schwert hing griffbereit. »Absitzen! Wir bringen Sie zum Vorsteher. Er wird entscheiden, ob Sie bleiben können.«

»Zum Vorsteher? Wen meinen Sie? Uriarte? Oder den Dorfbüttel?«

Die Erwähnung von Uriartes Namen ließ seine Augenbraue tanzen wie eine haarige Raupe. Er saugte seine bärtige Wange ein, was eine deutliche Narbe unterstrich, die sich von seinem Auge in einem Halbkreis zum Ohr zog. »Der Büttel hat schon lange nichts mehr zu sagen«, brummte er. »Steigen Sie gefälligst ab.« In der Präsenz der Bewaffneten verzog Mirage missmutig die Lippen. Widerwillig folgte sie der Aufforderung. Ihr Bein schmerzte, als sie es vom Sattel schwang.

Der Gardist – zwei Schwalben, an der Metallart als Sergent-Stellvertreter erkennbar – kehrte ihr den Rücken zu und marschierte zackig voran.

 

Vertraute Gesichter spähten aus verrammelten Hütten. Rauchschwaden ließen erkennen, dass sie noch bewohnt waren. Abgehalftertes Vieh tummelte sich auf den Straßen – Federvieh, Rinder, Milchkühe, Ziegen und Schafe. Ihre Haut spannte über den Rippen, Haar und Daunen zerrupft. Verbissen tasteten sie den Grund nach Stroh ab. Hunde mit drahtigem Fell umschlichen Hühner und Gänse, die gackernd Reißaus nahmen.

Sie gelangten zu jener Kreuzung, an der nicht nur das Haus des Dorfbüttels stand, sondern auch das der Vogelbotin Navis. Mirage warf im Vorbeigehen einen Blick an der schiefen Fassade empor. In dem seitlich vorgelagerten Kobel raschelten vereinzelte Tauben mit den Flügeln. Der Rest von ihnen war wohl nach Tradea entsendet worden – oder man hatte ihn gegessen. Aus dem abgeknickten Schornstein kroch kein Rauch.

»Schneller!«

Mirage biss die Zähne zusammen, sodass es in den Ohren knackte. Die Speere in ihrem Rücken wiesen ihr den Weg zum Stützpunkt der Garde.

»Das Pferd bleibt hier.« Der Sergent-Stellvertreter zeigte zu einem Pfosten. Mirage fixierte die Zügel mit einem lösbaren Knoten. »Erfahre ich nun, mit wem ich sprechen werde?«, fragte sie so beherrscht wie möglich.

Eine Antwort blieb der Sergent ihr schuldig, er fuhr sich bloß geistesabwesend durch den braunen Bart. Das Auge, an dem er einst eine Verletzung erlitten haben musste, kniff er unbewusst ein wenig zusammen.

Vor der Garnison hatten Soldaten ihren Posten bezogen. Ein Blick durchs Fenster – eines der wenigen, die nicht verrammelt waren – verknotete Mirages Magen. Leichen stapelten sich in blutbefleckten Laken. Eine davon wartete auf einem Tisch. Eine Frau mit Kopftuch durchtrennte soeben die Kainssehne oberhalb der Ferse. Sie verhinderte, dass die Toten aufstehen konnten.

Die Frau, die Garnisonsköchin, verübte ihre Tätigkeit mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie früher Hühner zerteilt hatte. Die Untoten hatten neue Bedürfnisse geschaffen. Den Menschen blieb keine Wahl, als sie zu erfüllen.

»Kommen Sie.« Der Sergent-Stellvertreter zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wollte ihm zur Wachstube folgen, doch er strebte am Gebäude vorbei. Mirage folgte mit Abstand und schulterte ihr Gepäck.

In einer eingefallenen Scheune regten sich Gestalten. Dreckstarrende Kindergesichter blickten zwischen den lose verzimmerten Brettern hervor und klammerten sich mit lumpenumwickelten Fingern an die Dielen. Mirage vermutete Flüchtlinge aus umliegenden Höfen.

Hinter den Häusern stiegen fettige Schwaden auf. Rauchgeruch verstärkte sich, doch neben Holz trug er noch eine süßliche Note mit sich – er erinnerte Mirage an den Platz der Asche.

Sie näherten sich dem Palisadenzaun auf der Dorfrückseite. Gardisten patrouillierten daran und spähten über die Zacken in die Ferne. Der Sergent-Stellvertreter gab das Zeichen, ein Tor zu öffnen. Zwei Speerträger schoben den Sperrbalken zur Seite.

Wind brauste durch ihr Haar, als sie die Umzäunung verließen. Schneeschwaden verdichteten sich. Knistern ertönte, das Echo von Stimmen, ein schauriger Gesang, der über den Acker hallte. Der Geruch nach verbranntem Lavendel und Weihrauch trieb heran. Mirages Stiefel trugen sie über das zertrampelte Feld hin zu einer Reihe Scheiterhaufen. Manche brannten lichterloh, andere waren bereits erkaltet. Knochen türmten sich auf der Kohle. Um die Brandherde tummelten sich Gestalten, darunter Männer und Frauen in schwarzen Roben. Nifenpriester schwenkten Weihrauch- und Lavendelrauchfässchen und raunten Totenklagen. Ein Priester warf getrocknete Lavendelsträuße ins Feuer. Verrußte Totenschädel glotzten aus den Flammen.

»Sergent Rougeoyer«, rief Mirages Begleiter. Ein Mann mit fellbesetztem Umhang wandte sich ihnen zu, die Schläfen silbrig. Er beobachtete ihr Herannahen mit zusammengekniffenen Augen.

Der Stellvertreter eilte an seinen Sergent heran, der Wind wühlte in seinem braunen Haar. Mirage näherte sich im gemäßigten Tempo. Gardisten, die die Scheiterhaufen mit aufgerichteten Speeren flankierten, begegneten ihr mit misstrauischen Blicken. Sie kannte keinen von ihnen. Die Leichen waren zur Unkenntlichkeit verbrannt, die Haut von den Schädeln gefressen. Unterkiefer fielen herab, als wollten sie schreien. Wer war unter den Toten, den sie gekannt, ja beizeiten verarztet hatte?

Mirage fröstelte es. Krähen spickten den Schnee in unmittelbarer Nähe und warteten, dass die Feuer abkühlten, um die Trümmer nach Fleischresten zu durchsuchen. Sie waren die Einzigen, die der Totenaufmarsch bereicherte.

Der Sergent-Stellvertreter unterhielt sich mit seinem Vorgesetzten und zeigte anschließend zu ihr. Der Sergent, vermutlich in Zejns Alter, verzog die Augenbrauen. Er betrachtete sie argwöhnisch wie die Krähen die Feuer – als wäre sie ein Fleischstück, von dem er überlegte, ob es noch genießbar war.

Er hob das Kinn, als sie sich näherte, und stützte sich auf ein Langschwert mit entblößter Klinge. Seine Fingernägel waren blau geschlagen, die Äderchen auf den Wangen in der Kälte geplatzt.

»Wer hat Ihnen geschrieben?«, sprach er sie an.

Mirage kniff die Augen zusammen und legte sich eine Antwort zurecht. »Ich bekam einen Hilferuf zugetragen.«

Abfällig schnaubte er. Rougeoyer wirkte genauso humorlos wie Zejn zu gewissen Gelegenheiten. Er zog das Schwert von der Erde und versenkte es mit einer fließenden Bewegung in der Lederscheide. Seine Hand blieb am Knauf liegen. »Ich gebe Ihnen genau eine Gelegenheit, mir zu erklären, warum Sie hier mit einem Pferd aus dem ahearnschen Gestüt einreiten und wer in diesem Dorf die Kommunikationssperre missachtet hat.«

Mirage holte Luft. Der Fuchspelz kitzelte Kinn und Wange, als sie die Narbe hineinschmiegte. Das letzte Mal, als sie sich über die Regeln eines Sergents mokiert hatte, war sie am Scheiterhaufen gelandet.

»Das Pferd habe ich von Lieutenant Ahearn. Es diente als Bezahlung für meine Unterstützung bei einem Einsatz in Tradea.«

Der Sergent hob die Augenbraue. »Ein Ahearn-Blut ist eine vermessen hohe Entlohnung für eine simple Hilfestellung an die Garde.«

Mirage stieß die Luft in einer Wolke aus. »Sie wissen nichts über die Natur meiner Hilfestellung, also dulde ich keine Kritik an der Höhe der Entschädigung.« Sie biss sich auf die Zunge. Ihr Blick glitt zu den Scheiterhaufen. Diesmal stand sie direkt daneben – man musste sie nur noch in die Glut stoßen.

»Spucken Sie schon aus«, erwiderte der Sergent brüsk. »Wer hat Sie gerufen?«

»Das ist nicht die Frage, die Sie sich stellen sollten, Sergent«, schnarrte Mirage.

Als sie ihm die Antwort verweigerte, verhärtete sein Gesicht, doch sie setzte sogleich an: »Vielmehr sollten Sie sich fragen, welche Dienste ich anbieten kann, sodass ich ein solches Pferd verdiene. Und sogleich erhalten Sie die Antwort auf die Frage, wieso Sie mich nicht aus Svonnheim werfen sollten.«

Der Sergent verschränkte die Arme vor der Brust. Er schnalzte mit der Zunge, sein Blick glitt an ihr auf und ab. Sie fühlte sich wie ein Tier, an dessen Gliedmaßen er zupfte, um herauszufinden, ob es sich lohnte, sie auszureißen. »Sprechen Sie.«

»Ich bin Alchemistin. Ich kann meine Lizenz vorlegen. Sicherlich wollen Sie niemanden von Ihrer Türschwelle weisen, der in Ihrer momentanen Situation Heilmittel wie auch Sprengmittel besitzt. Mir wurde berichtet, dass sich ein Monstrum zwischen den Toten erhoben hat. Etwas, das schlimmer ist als die Wiedergänger aus Dorfesruh. Es hat die Zerstörung des Nurova-Tempels verursacht. Ich kann helfen, es zu finden. Es ist mein persönliches Anliegen, es unschädlich zu machen.«

Der Mann kniff die Lippen zusammen.

»Fragen Sie Uriarte nach meinem Namen. Er müsste ihr bekannt sein.«

Der Sergent blickte über die Schulter. Einige Soldaten wandten die behelmten Häupter ab.

»Die Hauptfrau ist auf Einsatz ausgeritten. Sie wird eine Weile lang nicht zurückkehren. Momentan habe ich hier das Sagen.«

Mirage biss die Zähne zusammen. »Dann sagen Sie schon, können Sie es sich leisten, mich abzuweisen? Nachdem mit der Nurova-Seelstatt die letzten Heilkundigen gefallen sind?«

Er betrachtete sie auf eine Weise, für die sie am liebsten den Dolch gezückt hätte. Ihre Finger zuckten zu ihrem Gürtel, waren sich des Stahls unter dem Mantel bewusst, doch sie riss sich zusammen.

Rougeoyer merkte die Regung wohl, aber er bedachte sie nur mit einem Lächeln.

»Das Haus des Dorfbüttels steht leer. Sie können dort vorübergehend Quartier beziehen. Bei Abendanbruch speisen wir. Da können Sie mir erzählen, mit welchen Leistungen Sie sich zu brüsten vermögen.«

Mirage wich einen Schritt zurück.

Der Sergent wandte sich ab. Sein Stellvertreter lief an ihre Seite. »Folgen Sie mir«, befahl er dumpf.

Sie gehorchte zögerlich und fühlte sich dabei wie eine Mähre, die nicht nach ihrer Meinung gefragt wurde und stumpf ihrem Bauern folgte.

 

Das Haus des Dorfbüttels musste seit längerer Zeit leer stehen. Der Sergent-Stellvertreter trug den Hausschlüssel bei sich. Wie er dazu gekommen war, verriet er nicht. Auf die Frage, was mit dem Büttel passiert war, erhielt sie bloß eine knappe Antwort: »Tot.«

Im Haus roch es abgestanden. Nach wie vor haftete dem Gebäude der Geruch seines Bewohners an. Der Büttel hatte zu den Ältesten Svonnheims gehört. Sein Alter war ein entscheidender Umstand für seinen Ehrenposten gewesen. Persönlich hatte Mirage wenig von ihm gehalten. Der Feigling war gern mit seiner Meinung in jene Richtung gekippt, zu der die Mehrheit tendierte.

Das Verschwinden des Büttels erfüllte Mirage dennoch mit Unrast, denn es bedeutete, dass das Rechtssystem in Svonnheim nur noch in der Hand des neuen Sergents lag.

Im Hausinneren drehte sie sich um. Die Soldaten postierten sich vor der Haustür. Mirage biss sich auf die Unterlippe. Auch sie war somit der Willkür des neuen Sergents ausgesetzt. Jeder ihrer Schritte würde beobachtet werden.

Langsam ließ sie das Gepäck von der Schulter gleiten. Sie griff nach dem Fuchspelz und lockerte ihn, während sie zur Tür zurücktrat. »Ich brauche Nahrung und Wasser«, erklärte sie.

Einer der Gardisten warf ihr einen überrumpelten Blick zu.

»Was? Ich muss essen und trinken wie jeder andere Mensch.«

»Sie werden mit dem Sergent speisen«, erwiderte der zweite Soldat nasal, der sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ.

Mirages Backenzähne mahlten übereinander. »Und waschen soll ich mich auch vor ihm?«

Der Mann wandte ihr das Profil zu und stieß ein ätzendes Lachen aus. »Waschen? Die Leute hier sind froh, wenn sie etwas zu saufen finden. Die umliegenden Flüsse sind brackig, seitdem sich Dorfesruh aus dem Wasser erhoben hat. Die Gegend versumpft. Freilich können Sie es wie die Säue halten und sich in einer Schlammpfütze suhlen.«

Sie lehnte sich an den Türpfosten und starrte ihn an wie eine Katze in der Nacht. »Mh, das wirkt wenig erstrebenswert auf mich, ist die Möglichkeit doch hoch, Sie dort anzutreffen, Gardist.«

Beide Männer sahen sie an.

»Ich werde in diesem Haus Sprengkörper bauen«, raunte sie, »um das Monstrum zu töten, das diese Gegend in Angst und Schrecken versetzt. Ich habe weder Zeit noch Geduld, um Arbeitsmittel zu betteln und zu flehen.«

Der erste Gardist wandte sich unangenehm berührt ab, doch der zweite blieb standhaft. »Leg dir zwei Schwalben zu, Weib – und ich überlege mir vielleicht, auf dich zu hören.«

Mirage spreizte die Mundwinkel zu einem Lächeln. Manchmal war sie es müde, sich ein ums andere Mal wieder beweisen zu müssen.

Sie blickte zu dem Haus hinauf, das an der T-Kreuzung Navis’ gegenüberlag. Ein Mann starrte angstvoll herab, und als sich ihre Blicke trafen, wurde rasch der Fensterladen zugezogen.

Mirage schloss die Tür hinter sich. Der Soldat glaubte, er hätte sie besiegt. Alle glaubten es. Sie ahnten nicht, mit welch dunklem Feuer sie spielten.

 

Ein Klopfen an der Haustür lockte Mirage zurück ins Erdgeschoss. Von einem Fenster des Oberstocks hatte sie Navis’ Haus beobachtet. Die Fensterläden waren verrammelt, das Gebäude mit Wachposten umstellt. Selbst wenn es ihr gelänge, das Heim des Dorfbüttels zu verlassen, so könnte sie das Botenvogelgebäude nicht ungesehen betreten, um nach ihrer Freundin zu sehen.

In Abständen eilten Dorfbewohner über die Straße, warfen scheue Blicke zu dem Gebäude, in dem sie sich befand. Sie kannte die Gesichter. Und die Gesichter kannten sie. Die Nachricht über ihre Rückkehr verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Das bedeutete auch, dass der Sergent bald erfahren würde, welche Geschichte sie mit Svonnheim verband. Sie musste sich vor einem unangenehmen Gespräch wappnen.

Als sie die Haustür aufzog, warteten dort ihre Wachen. Zwischen ihnen reckte jedoch ein hageres Mädchen einen Weidenkorb empor. Mirage kannte das Kind flüchtig, Großvetterin des Wirts der Gelben Rübe, eines von sieben Töchtern des Müllers, von denen zwei die silvatische Pest dahingerafft hatte. Dem Mädchen standen die Pestfolgen als Narben zu Gesicht. Die Ausgezehrtheit würde sie selbst dann nicht ablegen, lebte sie in Saus und Braus in einer von Tradeas Villen.

»Was bringst du mir?«, fragte Mirage.

»Der Sergent schickt es Ihnen«, knickste das Kind. Sein Blick blieb an Mirages Narben hängen. Rasch blickte es zu Boden.

Die Alchemistin nahm den Korb entgegen und zog das Tuch ab, von dem sie glaubte, dass es seinen Inhalt verdeckte – bloß um festzustellen, dass der Stoff der Inhalt war. Verdattert hielt sie ein Kleid hoch. Darunter kam ein buntes Fläschchen zum Vorschein. Sie entkorkte es, fächerte über den Fläschchenhals und rümpfte die Nase. Das war … Liberiumglöckchen-Parfüm. »Was soll das werden?«, stieß sie hervor.

Das Mädchen knickste. »Der Sergent erwartet Sie beim Vesperschlag.« Damit drehte es sich um und eilte auf umwickelten Füßen davon.

Ihr Lieblingssoldat verzog vor Spott die Mundwinkel. Waschen durfte sie sich nicht, aber parfümieren, bis ihr das Kotzen kam. Mirage wiegte das Fläschchen in den Fingern und überlegte, ob sie dem Gardisten das Gefäß ins Maul schmettern sollte. Stattdessen schloss sie die Tür hinter sich.

4

Mit dem Schrillen von abendlichem Hahnengeschrei betrat Mirage den Stützpunkt. Sie wurde in das Obergeschoss geführt. Der Raum, in den man sie sandte, war von Kerzen erleuchtet, deren Wachs schwerfällig auf einen Esstisch tropfte. Ein Brotkorb stand bereit, ein Glasballon mit Wein, Messingteller, zweizinkige Gabeln, Löffel und Messer. Der Sergent saß etwas abseits an einem Sekretär und wandte ihr den Rücken zu. Er schrieb. »Sie warten«, teilte er mit, ohne sich umzudrehen. Seine Federspitze kratzte über den Untergrund.

»Das tue ich«, erwiderte Mirage. »Auch wenn mir nicht recht bewusst ist, worauf.«

»Das war keine Feststellung, sondern ein Befehl.« Der Sergent legte die Schreibfeder ab und wandte sich im Sitzen um. Er musterte sie unangenehm. Möglicherweise war es notwendig, solcherlei Männer hierherzuschicken. Wer sonst sollte Monstren abschlachten, die früher Menschen gewesen waren?

Er nickte ihr zu. »Legen Sie den Mantel ab.«

Sie tat, wie ihr geheißen, und warf das Kleidungsstück über eine Stuhllehne.

Er presste die Lippen zusammen. »Sie tragen das Kleid nicht, das ich Ihnen gesendet habe. Wie respektlos.«

»Wollen Sie meinen Respekt, müssen Sie ihn sich verdienen.« Sie stellte das Parfümfläschchen ab. »Suchen Sie eine Tüftlerin, den hiesigen Gestank zu überdecken, sind Sie bei mir falsch. Ich bin Alchemistin, keine Parfümeurin.«

In vermeintlicher Lässigkeit hob er ein Bein an und legte die Wade quer über den Oberschenkel des anderen. Mirage kannte genügend Männer in seinen Rängen. Keiner von ihnen war lässig. Es war ein Spiel. Als würde er eine Echse auf einem heißen Stein beobachten, die noch hoffte, entkommen zu können – doch in jeder Richtung erwarteten sie Hände mit dem Ziel, an ihren Gliedmaßen zu reißen.

»Sie waren länger nicht hier, Mirage DeBois.« Er genoss es, die Kenntnis ihres Namens zu eröffnen. »Sie glauben, es gelten noch immer die gleichen Regeln wie damals. Ich muss Sie enttäuschen.«

Sie setzte das Zähnefletschen eines Lächelns auf. »Zweifelsohne haben Sie gehört, dass ich mich mit manchen Ihrer Vorgänger besser und mit anderen schlechter arrangiert habe.«

»Das habe ich. Gelernt scheinen Sie daraus wenig zu haben.«

Sie stieß die Luft zwischen den Zähnen hindurch. Sie hasste es, wie er sie ansah. Es war ein Rätsel, wie ein Mann, der einen ganzen Landstrich vor der Zerstörung retten sollte, immer noch Zeit hatte, sie wie ein Stück Vieh zu beglotzen. »Möglicherweise ist Ihnen das Naturell meines Arrangements mit Sergent Besson nicht bekannt«, bemerkte sie, griff nach der Stuhllehne, zog sie zurück und ließ sich auf die Sitzfläche nieder. »Ich habe ihm Potenzmittel besorgt. Ausprobiert hat er sie mit anderen.«

Rougeoyer riss den Mund auf – und entließ ein hartes Lachen. Mit einem Ruck löste er seine Pose auf und trat nun ebenfalls an den Tisch. »Luke!«, bellte er.

Ein Poltern erklang, als jemand die Treppe hinaufhastete. Die Tür wurde aufgestoßen, der Geruch von Gebratenem wehte herein. Wenig später stellte ein Junge eine Gusseisenpfanne ab, in der sich mehrere knusprige Wachteln drängten. Keine Wachteln, wie Mirage einen Augenblick später erkannte. Tauben, mit Kräutern eingerieben und goldbraun gesotten. Die Vögelchen schmorten in ihrem eigenen Saft. Als sie den Blick löste, bemerkte sie, dass der Sergent zufrieden lächelte. Sie setzte eine Maske auf und lehnte sich zurück, versuchte, Unbeteiligtheit zu mimen, doch sie musste den Speichel schlucken, bevor sie weitersprechen konnte.

Luke, der Junge, der den Kittel eines Clamorjüngers trug, griff nach dem Weinballon und schenkte ein. Rougeoyer legte die Hände übereinander. Sein blau geschlagener Finger tippte auf die zerschundenen Knöchel. Als er schwieg, übernahm Mirage das Gespräch. »Das Monstrum. Ich brauche Informationen über sein Naturell, um passende Alchemika zu brauen.«

»Damit hat Sie Ihr geheimnisvoller Informant nicht bestückt?«, spottete Rougeoyer.

»Wollen Sie nun meine Hilfe oder nicht?«

Er stützte die Wange an die Faust. Nach einer Weile ließ er sich zu einer Stellungnahme herab. »Es existieren verschiedene Aussagen. Nur wenige Dörfler und Händler haben eine Zusammenkunft überlebt. Einig sind sie sich darin, dass es in den Wäldern haust. Angeblich steigt es aus dem Morast, gemeinsam mit einer Armee Untoten, die es befehligt. Es selbst besitzt tausend Gesichter.«

»Sind Sie ihm begegnet?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe es gehört. Zu Beginn haben wir es gejagt. Wir dachten, es wäre ein Wiedergänger wie die anderen. Aber es scheint … mehr zu sein.«

Mirage schluckte. Sie musste an das Baby denken, das sie in ihren Armen getragen hatte. An den schwarzen Handabdruck auf seinem Bauch. Den Abdruck, den sie selbst verzerrt auf ihrem Rücken trug. Wie konnte ein derart kleines Ding Menschen in den Schlamm zerren? Befehligte es tatsächlich eine untote Armee? Sie schlug ein Bein übers andere.

Rougeoyer griff nach dem Becher und wies den Jungen an, ihn mit Wein zu befüllen. Der Knabe hielt den Blick gesenkt, duckte sich zu Rougeoyers Befehlen wie unter Peitschenhieben. Der Sergent war sich der Treue seiner Jünger bewusst. Er beobachtete, wie der Knabe die Tauben servierte, dann entließ er ihn mit einem Wink und prostete Mirage zu. Widerwillig imitierte sie die Bewegung. Es entlockte ihm ein zufriedenes Lächeln.

»Die Überlebenden behaupten, es wäre halb Mensch, halb Tier. Es habe bleiche Augen wie der Tod, liefe aber auf Hufen und Klauen, mit einem Schweif aus Knochen, mit dem er die Reiter von der Straße zerrt. Es trüge Federn und Horn gleichermaßen wie Arme und Finger. Sie nennen es einen Koschtschei, nach einer Legende der Alten. Herrscher über die Wälder – Herrscher über die Wiedergänger.«

Mirage verzog die Stirn.

»Vermutlich ist nicht alles wahr, was sie erzählen«, er nippte an seinem Getränk, »aber gelogen ist es wohl auch nicht. Die Wälder haben sich verändert. Der Sumpf dünstet Gase aus. Und die lebenden Toten sind Wirklichkeit.«

»Hauptfrau Uriarte«, fragte Mirage, »jagt sie das Vieh?«

Seine Augenbraue hob sich. »Hauptfrau Uriarte ritt mit einer Einheit aus, um ein Dorf zu räumen, das den Angriffen der Untoten ausgesetzt war. Seither habe ich nichts von ihr gehört. Ich wundere mich allerdings nicht darüber. Bevor man verhungert, verspeist man die Botenvögel.« Mit der zweizinkigen Gabel stach er demonstrativ durch die Kräuterkruste.

»Wann wird sie zurückkehren?«

Desinteressiert zuckte er mit den Schultern. Möglicherweise hielt er wenig von Frauen in der Garde. »Sie nahm einen Reitertrupp mit; Männer, die ich gut hätte gebrauchen können, diese unglückliche Siedlung zu halten.« Er riss ein Stück Fleisch heraus. Dampf kroch aus dem Brateninneren, er stopfte sich Fleischfasern in den Mund. Fett sammelte sich an seinem Mundwinkel. Er griff nach einem Tuch und wischte sich die Finger. »Wie dem auch sei – schicke ich Leute in den Wald, verschwinden sie. Wir kennen den derzeitigen Aufenthaltsort des Koschtschei nicht, können ihn nur eingrenzen, indem wir die Verschwundenen auf der Karte zählen.« Er nickte hinter sich. Auf dem Sekretär ruhte ein Pergament, auf dem Mirage gezeichnete Umrisse erkannte. Eine Landkarte der Umgebung. »Momentan scheint es sich in dem Mischwald bei Dorfesruh eingenistet zu haben.« Er nahm noch ein Stück, das Essen lenkte sie ab. Ihr Blick flatterte zu der eigenen Taube, die ihr der Junge serviert hatte – samt goldbraunen Schmorapfel. Ihr Magen knurrte lautstark. Sie strich sich über die Lippen.

Ein Knarren der Zimmerdecke ließ sie aufblicken. Über ihnen hielten feiste Balken Deckendielen, die den Blick zum Dach abschirmten. Eine verschlossene Luke verriet, dass man ihn als Dachboden nutzen konnte.

»Tauben und Krähen«, knurrte Rougeoyer verärgert, als er ihren Blick bemerkte. »Die verdammten Viecher kriechen durch die lockeren Dachschindeln. Momentan fehlen die Leute, um sie zu flicken.«

Mirages Blick rastete einen Augenblick lang an der Falltür.

»Sie sind nicht die Einzige, die Geister sehen«, fügte Rougeoyer an. »Man kann sich schließlich nie sicher sein – trügen einen die eigenen Sinne? Oder hat Nif uns ein weiteres Unheil an diesen unheiligen Ort geschickt?«

»Ich bin einer Brandleiche begegnet, als ich den Pfad zur Nurova-Seelstatt passiert habe. Ich ritt zur Seelstatt und fand dort verbrannte Ruinen vor. Was ist geschehen?«

Rougeoyer kaute. Er langte über den Tisch, packte die Gabel, die für sie gerichtet worden war, und schob sie ihr hin. »Essen Sie.«

»Wie ist in der Seelstatt ein Feuer ausgebrochen?«, hakte Mirage nach.

Er schnaubte. »Ich habe der Mutter Oberin die Wahl gegeben, diesem götterverdammten Ort den Rücken zuzukehren und zu uns ins Dorf zu kommen. Sie hatte es mehr Glück als Verstand zu verdanken, dass die Seelstatt nicht früher gefallen ist. Ich habe die Schwestern gewarnt. Sie wollten nicht hören.«

»Das Feuer …«

»Dort drinnen gab es nichts als Holztafeln und Schilf, das eine unbedachte Flamme in Brand setzen konnte. Wundern Sie sich wirklich, dass dieser Ort abgebrannt ist?« Fett rann über sein Kinn, er wischte es mit dem Tuch ab. »Der Koschtschei ist durch ihre Gegend gestreunt, hat nur darauf gewartet, sie in ihre Armee aufzunehmen. Sie hatten die Wahl. Sie haben den Tod gewählt. Nurova weint Schnee um sie.« Er zuckte mit den Schultern. Von Tränen schien er selbst weit entfernt, ja, selbst von Mitleid.

»Das Haupttor war verriegelt.«

Er hob die Augenbraue. »Wären Sie nicht als Weib geboren, hätte man Sie vielleicht in der Stadtgarde gebrauchen können, um ungelöste Morde aufzudecken.« Er lehnte sich zurück, hob den Ellbogen auf die Stuhllehne und schmatzte. »Sie haben meine Soldaten nach Essen gefragt, und jetzt fragen Sie mir Löcher in den Bauch. Greifen Sie zu. Etwas anderes wird es so bald nicht geben.«

Mirage konnte sich gut vorstellen, dass er die Wahrheit sagte. Es gab unterschiedliche Methoden, um Menschen zu kontrollieren. Wer Nahrung rationierte, hielt sich Sklaven.

Sie griff nach dem Messer, säbelte einen Flügel ab und begann, das zarte Fleisch vom Knochen zu lösen. Das Fleisch schien weich zu sein, und Mirage erwartete eine Geschmacksexplosion, als sie es zwischen die Lippen führte. Sie roch Beifuß, Kerbel, Galgant, Betram und eine Spur Honig. Doch als das Stück ihre Zunge berührte, schmeckte sie … nichts. So wie sie kaum etwas schmeckte, seitdem sie in Kontakt mit dem Artefakt gestanden hatte.

Rougeoyer glaubte sich als Sieger. Zufrieden lehnte er sich zurück. Es war ein demütigendes Gefühl, von ihm beim Essen beobachtet zu werden. Mirage aß nur, weil sie wusste, dass ihr Körper es benötigte. Freude bereitete es ihr keine, genauso wenig wie der Wein, von dem sie einen Schluck nahm, bevor sie sich die Finger abwischte. »Sie haben ja Manieren, wenn Sie es wünschen«, stellte Rougeoyer fest.

Mirage verzichtete auf eine Entgegnung.

»Wie schade, dass Sie mit diesen Narben gezeichnet sind. Sie haben ein schönes Gesicht.«

Mirages Hand mit den Metallfortsätzen verkrampfte sich. Plötzlich war sie froh darüber, sich nicht auf das Spiel eingelassen und das Kleid angezogen zu haben. Möglicherweise glaubte Rougeoyer gar nicht, dass sie ihm helfen konnte. Vielleicht war sie für ihn bloß wie das Parfüm neben seinem Teller – eine flüchtige Chance, sich zu erfreuen. Mirage starrte geradeaus und ging die Möglichkeiten für den Fortlauf dieses Gesprächs durch. Keine davon gefiel ihr.

»Wie Sie Ihre Narben«, erwiderte sie schließlich beherrscht, »habe ich die meinen verdient. Ich trage sie mit Stolz.« Es war eine Lüge, doch das musste er nicht wissen.

»Grämen Sie sich nicht, Mademoiselle …« Er tastete nach ihrer Hand.

Rasch entzog sie sich. Sie wollte nicht so angelächelt werden – nicht von ihm, und auch von keinem anderen Mann.

»Sie sind immer noch ein hübsches Ding.«

Mirage verschlug es selten die Sprache. Nun wusste sie nur noch zu blinzeln. Sie hätte ihm am liebsten die Haut vom Gesicht geschält, doch wenn sie den Myling finden und stellen wollte, war sie auf seinen Gutwillen angewiesen – jedoch nicht auf seine Komplimente. Mit einem Ruck erhob sie sich, der Stuhl schlitterte zurück. »Warum sendet Tradea keine Unterstützung?«, fragte sie hart.

Er lehnte sich zurück. »Kennen Sie die Wahrheit nicht, oder wollen Sie sie einfach nicht wahrhaben, Mademoiselle Alchemistin?«, spottete er. Er entfaltete die Hand. »Weil sich niemand für die Leute hier draußen interessiert. Man hat es weder vor dreißig Jahren beim letzten Totenaufstand getan noch tut es heute. Gestern wie heute wartet man ab, dass es vorbeigeht …«, er rümpfte die Nase, »… und wie das Gesocks so ist, vermehrt es sich ohnehin wie die Karnickel, sodass später nie ein Unterschied zu merken sein wird.«

Erbost schob sie das Kinn zurück, konnte nicht fassen, was er aussprach. Er lächelte. In ihrem Mund bewegte sich die Zunge, ohne dass sie einen Ton hervorbrachte.

»Nun«, räusperte sie sich schließlich. »Wenn dem so ist, sehen wir zu, dass Svonnheim Sie so schnell wie möglich loswerden kann, Sergent.«

Er hob die Augenbraue.

»Sie werden in die Geschichte eingehen als jener, der einen Koschtschei getötet hat. Das sollte Ihnen helfen, in den Rängen des tradeadischen Militärs aufzusteigen. Das ist doch der Grund, warum Sie hier sind, nicht wahr?«

Sein Gesicht blieb starr. Er verneinte nicht.

Sie nickte ihm zu. »Sie befragen Ihre Karte und grenzen den Aufenthalt des Monstrums ein, soweit es möglich ist. Ich werde morgen mit einem Trupp Soldaten zu meiner Kate aufbrechen.«

»Werden Sie das?«

»Dort habe ich Equipment, um Explosiva herzustellen, sofern Ihr Vorgänger nicht alles gefunden und zerstört hat.«

»Und Sie gehen davon aus, dass ich Ihnen einfach so Männer überlasse, die ich hier brauche?«

»Das werden Sie. Sie können sich diesem Monstrum gern mit einem Schwert in der Hand nähern, aber wie ich das sehe, hat das bisher nur unzureichend zu Erfolg geführt.«

Er verschränkte die Finger vor der Brust. »Setzen Sie fort, Madame. Erörtern Sie Ihre Vorgänge.«

Sie nickte zu der Landkarte, an der er gearbeitet hatte, als sie eingetreten war. »Wir wissen, was er will. So können wir ihn anlocken. Und dank der Erfindung eines Fachgenossen …« Sie musste an Teravadas mit seinem zuckenden Schnurrbart denken und fragte sich, wo der Bastard untergetaucht war. »… kommt mir auch schon eine Idee, wie wir dem Vieh einen Sprengsatz unterjubeln.«

5

Als sie den Stützpunkt in Begleitung zweier Wachen verließ, zog ein Krächzen ihre Aufmerksamkeit hinauf zum Garnisonsdach. Auf dem First raschelte ein Vogel mit den Flügeln. Im ersten Augenblick hielt sie ihn für eine gewöhnliche Krähe, bis sie seine Größe bemerkte.

Der Rabe riss den Schnabel auf und stieß ein protestierendes Geräusch aus. Es war Sergej, Navis’ Hausrabe.

Mirage presste die Lippen zusammen. Sie reduzierte das Schritttempo, doch die Soldaten drängten zum Weitergehen. Einer folgte ihrem Blick.

»Verdammtes Mistvieh«, kommentierte er. »Sergent Rougeoyer hat veranlasst, ihn einzufangen und auf den Grill zu legen. Keine Chance. Entwischt uns jedes Mal!« Mirage grübelte auf dem Rückweg. Dass Sergej ohne Navis das Dorf unsicher machte, war eine schlechte Nachricht.

Vor dem Haus des Dorfbüttels bezogen ihre Wächter augenblicklich Stellung. Mirage war lediglich ein geduldeter und überwachter Gast – aber wenn man es recht bedachte, dann galt das ebenso für den Rest Svonnheims.

Eine ganze Weile brütete Mirage noch am Fenster im Oberstock vor sich hin und beobachtete Navis’ Haus. Die Wachposten wechselten nahtlos, die Gasse mit Fackeln erleuchtet, was einen Einstieg ins Botenvogelhaus unmöglich machte. Eine Regung am seitlich angebrachten Taubenkobel ließ Mirage aufschrecken. Ein Männergesicht erschien am Gitter, das Kobel und Haus trennte, und warf den übrig gebliebenen Tauben Futter hinein.

Mirage strich sich das Haar aus der Stirn. Schuldgefühle rangen in ihr. Navis hatte sie um Hilfe gerufen. Hatte sie für ihr Vergehen zahlen müssen? Und womit?

Während sie am Fenster saß und über die Häuser Richtung Waldrand blickte, der sich als Scherenschnitt vom Nachthimmel abhob, war es ihr, als fühlte sie die Präsenz des zum Koschtschei gewordenen Mylings jenseits der Bäume; als verbände sie und ihn ein unsichtbares Band wie ein Rauchschleier.

Die Müdigkeit drückte ihr die Lider zu, weswegen sie sich entkleidete und die Narbenwulste mit Salbe massierte. Auf dem Lager des Dorfbüttels rollte sie sich zusammen wie eine Katze und presste die Wange ins Fuchsfell. Sie würde den Myling finden und beenden, was sie damals zu tun versagt hatte. Wer hätte vermutet, dass ausgerechnet der Verräter Teravadas ihr dazu die zündende Idee liefern würde.

 

Vertraute Pfade führten sie in Begleitung zweier Gardisten durch den Winterwald. Gefrorene Zweige splitterten, sobald sie diese im Vorbeireiten streiften. Aus den Nüstern der Pferde krochen Wölkchen, ihre Ohren zuckten aufmerksam. Die Untoten waren bloß ein Knacken entfernt. Als irgendwo Frost rieselte, lösten die Wächter sogleich die Speere.

Auf ihrem Weg kreuzten sie menschliche Fußabdrücke. Ob sie Flüchtlingen oder Wiedergängern gehörten, blieb unbeantwortet. Je näher sie an die Kate gelangten, desto dunkler und weicher wurde der Boden. An zahlreichen Stellen saugte die Feuchtigkeit den Schnee auf. Die Hufabdrücke füllten sich hinter ihnen mit Wasser.

»Der Sumpf friert nicht«, erklärte ihr einer der Soldaten dumpf. »Er ist Koschtschei-Gebiet. Wir sollten uns beeilen.«

Als sie zu dem Bach gelangten, der sich an Mirages Hütte vorbeischlängelte, wuchs ihre Aufregung. In welchem Zustand würde sie ihr Zuhause vorfinden? Sie wappnete sich vor dem Schlimmsten.

Als sie die letzten Büsche zurückließen, die sich während Mirages Abwesenheit über den Pfad gebeugt hatten, war sie überrascht, alles wie in ihrer Erinnerung vorzufinden. Das Häuschen mit dem moosbewachsenen Dach wartete, als wäre hier die Zeit eingefroren. Das Einzige, was sich verändert hatte, waren die Schneeflecken, die das Haus und seine Umgebung sprenkelten. Der Bach gluckste vergnügt und zog seinen Bogen um das Holzgebäude.

Erleichterung trieb Mirage näher. Sie saß vom Wallach ab und eilte zur Tür, berührte sie ehrfürchtig, als hätte sie Angst, sie könnte unter ihrem Händedruck verschwinden. Ihre Finger strichen über Stockschwämme.

Sie fasste nach dem Balken und zog die Tür auf.

Drinnen roch es muffelig und nach Alchemika. Die Fenster waren verrammelt und ließen kein Licht ein. Instinktiv wollte sie die Hintertür aufreißen, doch diesem Wald war nicht zu trauen. Niemand wusste, ob sich Wiedergänger durch das Buschwerk schlugen.

Ein Soldat erschien an der Tür. »Können wir helfen?«, fragte er.

Sie nickte. »Sie halten Wache. Sie da – kommen Sie mit.« Sie fasste einen Stab, der in der Ecke lehnte. Selbst seine Rinde fühlte sich vertraut an, hatte sie diese doch mit Hunderten Berührungen glatt poliert.

Mirage stieß die Dachluke auf und ließ Licht ein. »Wir müssen die Planken vom Boden lösen.«

Unter dem Fußboden fanden sich mehrere eingeschlagene Bündel mit hinterfragenswerten Alchemika. Sie zogen sie aus den staubigen Tiefen. Manches war dem Morast zum Opfer gefallen, sie entsorgte es in der Ecke.

Aus den Regalen sammelte sie Gefäße und Werkzeuge. Sie schlugen Fragiles in Felle und Decken ein und packten diese in die Pferdesatteltaschen.

Bevor sie gingen, verriegelte Mirage die Kate. Keine Wiedergänger sollten ihren Weg hereinfinden. Sie wollte zu einem geeigneten Zeitpunkt zurückkehren. Zurück nach Hause.

Wehmütig bestieg sie den Apfelschimmel. »Vorsicht mit der Ladung«, mahnte sie die Soldaten. »Ihr spielt mit eurem eigenen Leben.« Sie übernahm die Führung und zog an den Zügeln, sodass ihr Reittier durchs Gebüsch brach.

 

Auf der gewaltigen Speisetafel des Dorfbüttels richtete sie das Alchemielabor ein. Hier hatten einst Festgelage und Verhandlungen stattgefunden, manchmal sogar beides. Nun wartete der Tisch einsam in der Düsternis.

Von der Straße fischte Mirage sich Kinder. Sie wagten es nicht, sich dem Befehl der Waldhexe zu verweigern, und gingen in die Gelbe Rübe, um dort um Schnaps zu betteln, den Mirage als Verbindungsmittel benötigte. Mirage beobachtete die beiden mit unbestimmter Wehmut und musste an Ruben denken, auch wenn der wesentlich wohlgenährter war als die beiden Gerippe – er wusste sich seine nächste Mahlzeit zu verdienen. Mirage fütterte sie mit Getreidebrei, deren Zutaten sie in einem Versteck des Büttels fand, und horchte sie über Navis’ Verbleib aus.

»Navis hat Sergej ausgeschickt«, erzählten sie, während sie sich gierig die Löffel in die Münder schoben. »Uomo hat ihn Richtung Tradea fliegen sehen. Dann marschierte die Garde zu ihrem Haus. Marielle hat gesehen, wie sie sie mitgenommen haben. Tvaioness glaubt, dass sie sie in die Garnison gebracht haben. Peter sagt, sie haben sie verstoßen, hinter den Zaun, wo die Toten warten. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Und ihr Haus darf bloß noch die Garde betreten, wenn ein Botenvogel nach Tradea fliegen muss.«

Nachdenklich betrachtete Mirage die beiden, während sie den wässrigen Brei runterschlangen. Hatte die Garde Navis tatsächlich verstoßen? Sprang Sergej deswegen einsam über die Dachfirste – weil seine Herrin längst verblichen war? Sie biss die Zähne zusammen.

Die Tage schleppten sich in zurückgezogener Arbeit dahin. Sergent Rougeoyer ließ Mirage weitgehend in Frieden, abgesehen vom Nachtmahl, zu dem er sie zitierte. Seine Landkarte der Umgebung wuchs mit jedem Tag. Schraffierungen markierten Stellen, an denen das Gebiet versumpfte, Kreuze jene Orte, an denen Menschen verschwunden oder zu Tode gekommen waren. Die Ebene rund um Svonnheim war ein Schlachtfeld aus Kreuzen.

»Sie greifen immer wieder an«, erklärte der Sergent. »Hinter den Attacken liegt Kalkül. Etwas führt sie.«

Zwei Nächte später wurde Mirage von zackigen Rufen aus dem Schlaf gerissen. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sich am Wall Fackeln sammelten. Schatten formierten sich an der Palisade.