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Der finale Kampf zwischen Gut und Böse beginnt In »Die unmögliche Tochter«, dem dritten Band der Urban-Fantasy-Trilogie »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät«, stellen sich Englands Hexen Luzifer höchstpersönlich entgegen, um die drohende Apokalypse zu verhindern. Der Hexenzirkel ist wieder vereint – aber gebrochen. Niamh ist von den Toten auferstanden, doch sie ist nicht allein zurückgekehrt. Elle trauert um einen Sohn, den sie nie hatte. Ciara sitzt in einem Gefängnis für Hexen fest und Leonie wird von einer unerwarteten Überraschung erschüttert. Währenddessen bietet der gefährlich charmante Luzifer Theo einen Deal an: Wenn sie ihn bei seinen düsteren Plänen unterstützt, wird ihr Hexenzirkel – ihre Familie – verschont. Doch die Magie, die er von ihr fordert, hat einen unvorstellbaren Preis ... Fünf unterschiedliche Hexen, die eines gemeinsam haben: Sie alle wurden vom Dämonenkönig der Begierde auserwählt, um die dunkle Prophezeiung zu erfüllen und das Ende der Welt einzuläuten – Satan wird sich erheben und die Töchter Gaias werden fallen. Der spektakuläre Abschluss der Saga um den Hexenzirkel Ihrer Majestät Die britische Own-Voice- und Nummer-1-Sunday-Times-Bestseller-Autorin Juno Dawson entführt ein letztes Mal in die magische und faszinierende Welt des Hexenzirkels Ihrer Majestät. Perfekt für Fans von »Good Omens« und »Mr Parnassus' Heim für Magisch Begabte«. Die Serie ist in folgender Reihenfolge erschienen: - »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Das begabte Kind« - »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Die falsche Schwester« - »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Die unmögliche Tochter«
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Seitenzahl: 674
Veröffentlichungsjahr: 2025
Juno Dawson
Die unmögliche Tochter
Roman
Aus dem Englischen von Constanze Weise
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Der Hexenzirkel ist wieder vereint – aber gebrochen. Niamh ist von den Toten auferstanden, doch sie ist nicht allein zurückgekehrt. Elle trauert um einen Sohn, den sie nie hatte. Ciara sitzt in einem Gefängnis für Hexen fest und Leonie wird von einer unerwarteten Überraschung erschüttert. Währenddessen bietet der gefährlich charmante Luzifer Theo einen Deal an: Wenn sie ihn bei seinen düsteren Plänen unterstützt, wird ihr Hexenzirkel – ihre Familie – verschont. Doch die Magie, die er von ihr fordert, hat einen unvorstellbaren Preis ...
Fünf unterschiedliche Hexen, die eines gemeinsam haben: Sie alle wurden vom Dämonenkönig der Begierde auserwählt, um die dunkle Prophezeiung zu erfüllen und das Ende der Welt einzuläuten – Satan wird sich erheben und die Töchter Gaias werden fallen.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Motto
WER IST WER UND WAS IST WAS
25 JAHRE ZUVOR
KAPITEL EINS
TEIL EINS – JETZT
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
TEIL ZWEI
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
KAPITEL VIERZIG
KAPITEL EINUNDVIERZIG
KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
KAPITEL DREIUNDVIERZIG
KAPITEL VIERUNDVIERZIG
KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
KAPITEL FÜNFZIG
KAPITEL EINUNDFÜNFZIG
KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG
KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG
KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG
KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG
KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG
KAPITEL ACHTUNDFÜNFZIG
KAPITEL NEUNUNDFÜNFZIG
KAPITEL SECHZIG
KAPITEL EINUNDSECHZIG
KAPITEL ZWEIUNDSECHZIG
KAPITEL DREIUNDSECHZIG
KAPITEL VIERUNDSECHZIG
KAPITEL FÜNFUNDSECHZIG
KAPITEL SECHSUNDSECHZIG
KAPITEL SIEBENUNDSECHZIG
KAPITEL ACHTUNDSECHZIG
KAPITEL NEUNUNDSECHZIG
KAPITEL SIEBZIG
TEIL DREI
KAPITEL EINUNDSIEBZIG
KAPITEL ZWEIUNDSIEBZIG
KAPITEL DREIUNDSIEBZIG
KAPITEL VIERUNDSIEBZIG
VIVA FOREVER
DANKSAGUNG
GLOSSAR
Für Natasha, Nidhi und Nicola
Eine Hexe muss sich selbst im dunkelsten Wald nicht fürchten, denn im Grunde ihres Herzens sollte sie wissen, dass sie selbst das schrecklichste Geschöpf des Waldes ist.
Terry Pratchett – Der Winterschmied
Seit seiner Gründung im Jahre 1869 ist der HIM der offizielle, von der Regierung anerkannte Zirkel des Vereinigten Königreichs. Die jungen Hexen, die ihm beitreten, werden gemäß ihrer übernatürlichen Gaben eingestuft.
Feinfühlerinnen verfügen über die Macht der Telepathie und Telekinese.
Heilerinnen sind in der Lage, lebende Materie wiederzubeleben.
Elementarinnen können ihre unmittelbare, natürliche Umgebung manipulieren.
Orakel besitzen die Gabe, entlang einer linearen Zeitachse vor und zurück zu sehen.
Rar gesäte Adeptinnen verfügen über zwei oder mehr der oben genannten Gaben.
Sobald eine Hexe die Volljährigkeit erreicht, wird sie einer Prüfung unterzogen und auf einer Skala von 1 bis 7 bewertet, wobei 1 die niedrigste und 7 die höchste Stufe darstellt. Männliche Hexen, Hexer genannt, werden bei der Hexer-Kabale registriert und in einem vergleichbaren System eingestuft.
Anmerkung: der Gebrauch von Nekromantie, auch Todesmagie genannt, ist beim HIM nicht anerkannt.
Ciara Kelly – Adeptin Stufe 5
Nachdem die abtrünnige Hexe Ciara nach Jahren aus dem Koma erwacht war, ermordete sie ihre Schwester Niamh und stahl ihre Identität. Ihr Leben als Niamh ermöglichte ihr jedoch eine neue Sichtweise, sodass sie schließlich ihren ehemaligen Verbündeten und Anführer der Hexerrebellion Dabney Hale tötete. Dadurch kam sie in den Besitz von Salomos Siegel, einer allmächtigen Waffe, und entschied sich, es zu zerstören, damit es Satan nicht in die Hände fallen konnte.
Leonie Jackman – Feinfühlerin Stufe 6
Leonie ist die Gründerin und Anführerin des Zirkels Diaspora, der sich vom HIM abgesplittert hat. Nur knapp überlebte sie Dabney Hales Überfall auf die sagenumwobene griechische Hexeninsel Aiaia.
Chinara Okafor – Elementarin Stufe 6
Leonies Partnerin arbeitet als Anwältin in einer gemeinnützigen Organisation. Das Paar lebt im Londoner Stadtteil Camberwell. Chinara wünscht sich eine Familie mit Leonie.
Elle Pearson – Heilerin Stufe 4
Die Pflegerin fand erst kürzlich heraus, dass ihr »Sohn« Milo in Wahrheit der Dämon Luzifer war, der eine menschliche Form angenommen hatte. Elle versteinerte versehentlich ihren untreuen Ehemann, was darauf hinweist, dass ihre wahren Kräfte deutlich größer sind, als ihre offizielle Einstufung vermuten lässt.
Holly Pearson – Feinfühlerin (Stufe noch unbekannt)
Elles Tochter ist Schülerin an der St-Augustus-Highschool in Hebden Bridge und eine begeisterte Zeichnerin.
Theo Wells – Adeptin (Stufe noch unbekannt)
Die mysteriöse Waise war von der ehemaligen Hohepriesterin Helena Vance Niamh Kelly zugewiesen worden, bei der sie fortan lebte. Indem sie Niamhs Lebenskraft in sich aufnahm, durchlief sie eine magische Transformation zu einer jungen Frau. Einige Zirkelmitglieder halten sie für den geheimnisvollen Vorboten Satans, das sogenannte »Gezeichnete Kind«. Theo wurde von Luzifer in Gestalt von Milo getäuscht und versuchte sich in Nekromantie, um Niamh aus ihrem Grab zu heben …
Snow Vance-Morrill – Elementarin Stufe 5
Helenas Tochter verließ nach der Hinrichtung ihrer Mutter gemeinsam mit ihren Großeltern Hebden Bridge. Sie schwor, sich an Niamh zu rächen, die sie für das Schicksal ihrer Mutter verantwortlich macht.
Senait – Adeptin (Stufe noch unbekannt)
Die rätselhafte, junge inter Hexe wurde durch Leonie von einer Menschenhändlerin befreit und begleitete sie anschließend nach Aiaia. Dort scheint sie die Hexen an Dabney Hale verraten zu haben. Sie floh von der Insel, ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.
Madame Celestine – Nekromantin Stufe 3
Ihr eingetragener Name lautet Dolores Umba. Sie lebt in London, ist eine Rivalin von Leonie und hat einst die siebenjährige Ciara einem dämonischen »Exorzismus« unterzogen.
Sandhya Kaur – Feinfühlerin Stufe 3
Assistentin der Hohepriesterin des Hexenzirkels Ihrer Majestät.
Selina Fay – Feinfühlerin Stufe 4
Als Verbindungsglied zum Schattenkabinett ist es ihre Aufgabe, zwischen dem Zirkel und der Regierung des Vereinigten Königreichs zu vermitteln.
Kane Dior Sanchez – Feinfühler*in Stufe 3
Mit Leonie befreundet und Mitglied bei Diaspora.
Emma Benwell – Orakel Stufe 4
Oberorakel beim HIM.
Calista
Hüterin von Aiaia, der legendären Hexeninsel. Bei Hales Überfall auf ihre Gemeinschaft verlor sie eine Hand.
Luke Sawyer – (Stufe noch unbekannt)
Ehemals bekannt unter den Namen Luke Watts und Luke Ridge. Lukes Vater war Anführer der Hexenjägerzelle des Working Men’s Club und führte auch seinen Sohn in diese Gruppe ein. Lukes Mutter war eine Hexe. Im Verborgenen hat Luke die Arbeit der Hexenjäger sabotiert. Er verliebte sich in Niamh, bemerkte allerdings nicht, dass Ciara nach Niamhs Tod in deren Körper wohnte. Luke hielt Ciara davon ab, Salomos Siegel zu benutzen und die Welt zu zerstören, und sie verschonte sein Leben. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.
Radley Jackman – Heiler Stufe 3
Leonies Bruder ist Hohepriester der Hexer-Kabale. Er wurde beinahe von Dabney Hale getötet.
PROFANE
Jez Pearson
Elles Ehemann betrog sie über einen langen Zeitraum hinweg, was Ciara Elle schließlich erzählte.
Conrad Chen
Niamhs Verlobter wurde augenscheinlich im ersten Krieg von Ciara grausam ermordet. Nachdem Ciara jedoch ihr Gedächtnis wiedererlangte, erinnerte sie sich, dass sie ihn verschont hatte. Zehn Jahre zuvor hatte sie all seine Erinnerungen ausgelöscht und ihn an einem Strand in Südwales ausgesetzt.
Gaia – die große Mutter
Die große, weibliche Schöpferin wird von allen Hexen verehrt. Sie trägt viele Namen, doch die Hexen des globalen Westens nennen sie für gewöhnlich Gaia. Sie sehen in ihr eine allmächtige Göttin, die alles erschuf, den Hexen ihre Gaben schenkte und sie zu Beschützerinnen der Erde machte. Als Gaia die Erde schuf, verfingen sich zahllose Wesen in ihrer neuen Realität. Hexen bezeichnen diese Wesen als »Dämonen«.
Satan – der Dämonenkönig
Auch Satanis genannt. Er ist der mächtigste Dämon, der sich in Gaias Welt verfing. Er will sich aus seinem Gefängnis befreien und Gaias Schöpfung zerstören. Vor Beginn der Aufzeichnungen spalteten Hexen den mächtigen Dämon in drei schwächere Einheiten: Luzifer, Belial und Leviathan. Sie wurden getrennt voneinander eingekerkert, doch wo geriet schon vor langer Zeit in Vergessenheit.
Luzifer – der Dämonenkönig der Begierde
Luzifer manipuliert die Hexen seit Jahrzehnten und tritt immer wieder in verschiedenen Gestalten in Erscheinung, unter anderem als Milo Pearson und als Ciaras angeblicher Geliebter Jude Kavanaugh.
Belial – der Dämonenkönig des Hasses
Er erscheint Menschen als gewaltiger Stier. Belial nutzte Helena Vance’ latente Transfeindlichkeit aus, um den Niedergang des HIM zu beschleunigen.
Leviathan – der Dämonenkönig der Furcht
Die Rückkehr des Tieres wurde von Orakeln vorhergesehen. Man sagt, das Gezeichnete Kind werde ihn aus seinem Gefängnis und in diese Realität führen und damit die Endzeit einläuten. Leviathan hat keine Form auf Erden, stattdessen manifestiert er sich als die größte Furcht einer Hexe.
Niamh Kelly – Adeptin Stufe 5
Nachdem Ciara einen Seelentransfer vorgenommen hatte, tötete sie ihren eigenen Körper mit Niamhs Seele darin. Sie wurde in den Hardcastle Crags in Hebden Bridge beerdigt.
Annie Device – Orakel Stufe 5
Elles Großmutter und ehemaliges Oberorakel wurde von Helena Vance ermordet, damit sie die anderen Hexen nicht warnen konnte, nachdem sie von Helenas Plan, Theo zu töten, erfahren hatte.
Helena Vance – Elementarin Stufe 5
Die in Ungnade gefallene Hohepriesterin wurde von Belial benutzt und schließlich nach Hexenrecht in den Orgelpfeifen im Grierlings-Gefängnis hingerichtet.
Pastorin Sheila Henry – Feinfühlerin Stufe 3
Die Gründerin des Pride-Komitees im HIM wurde von Hexenjägern ermordet. Luke gab ihre Identität preis, in der Hoffnung, damit die Aufmerksamkeit der Hexenjäger von Niamh und Theo abzulenken.
Moira Roberts – Feinfühlerin Stufe 4
Die oberste Cailleach von Schottland wurde von Dabney Hale während des Sturms auf Haus Hekate ermordet.
Julia Collins – Adeptin Stufe 4
Die ehemalige Hohepriesterin des HIM fiel während Hales erstem Aufstand 2011 einem Mordanschlag durch Ciara zum Opfer.
Zehra Darga – Feinfühlerin Stufe 2
Die Archäologin wurde während Hales Überfall auf Aiaia getötet.
Dabney Hale – Adept Stufe 6
Ehemaliger Geliebter von Ciara und Helena. Um die weibliche Vorherrschaft der Hexen zu beenden, verbündete sich der arrogante Hexer mit den Mächten Satans. Ciara brach ihm das Genick.
Leisureland – Galway, Irland
Eine Hexe hockte über dem Eingang zur Geisterbahn und lockte mit ihrem langen knochigen Finger arglose Kinder in ihr Versteck. Ihre Haut hatte die Farbe von zerdrückten Erbsen, und auf der Spitze ihrer Hakennase saß eine Warze. Sie trug einen Spitzhut und hatte strähnige schwarze Haare.
Niamh Kelly tat sie leid.
Es war die zweite Ferienwoche, und an September war noch nicht zu denken. Für die Rotschöpfe Niamh und Ciara war es einer dieser Sonnenschutzfaktor-50-Tage mit strahlend türkisblauem Himmel. Ein Dance-Remix von »The Boy is Mine« wummerte von der Wilden Maus herüber, und die Luft schien klebrig vom Duft nach Zuckerwatte und Liebesäpfeln.
Aber wo war ihr Dad? Niamh konnte das Grellgelb ihrer Panik nicht ganz aus ihrer Aura verbannen. Das ergab doch keinen Sinn. Er hatte auf sie warten wollen, während sie auf Toilette gingen, aber als sie wieder herauskamen, war er nirgendwo zu sehen. Andererseits hatten sie hier eigentlich nichts zu befürchten; sie kannten das Leisureland schon ihr ganzes Leben lang – es lag in Salthill, nur zwanzig Minuten von ihrem Zuhause in Galway entfernt.
»Er kann ja nicht weit weg sein«, sagte Ciara scharf und verriet damit ihre eigene aufkeimende Angst. Sie nahm ihre Schwester bei der Hand. »Komm. Wir warten am Eingang.«
»Vielleicht ist er ja auch auf Toilette gegangen«, sagte Niamh. »Wir sollten hierbleiben.«
Ciara zerrte an Niamhs Arm. »Nein. Er hat gesagt, wenn wir uns verlaufen, sollen wir zum Ausgang gehen.«
Die Mädchen machten sich auf den Weg, vorbei am Kettenkarussell, wo die anderen Kinder nur so über ihre Köpfe hinweg flogen. Die freudigen Schreie und das Gelächter hatten sie ausgeblendet. Ein Vergnügungspark war für eine Feinfühlerin eine besonders laute Angelegenheit; eine Kakofonie aus Nervosität, Angeberei und viel zu spätem Ich-hab’s-mir-anders-überlegt, ganz oben am höchsten Punkt der Achterbahn. Die kleinen Telepathinnen hatten nie bewusst lernen müssen, solche Hintergrundgeräusche auszublenden. Es war für sie so normal wie Atmen.
»Wann hat er das gesagt?«, fragte Niamh.
»Vor Jahren schon, als wir noch klein waren.«
Sie waren immer noch ziemlich klein, aber natürlich nicht mehr so klein wie damals. »Heute hat er das aber nicht gesagt.«
Niamh, dieses zögerliche Vögelchen, würde sie noch einmal umbringen. »Niamh, jetzt sei kein Baby.«
»Kann ich euch helfen, Mädchen? Habt ihr euch verlaufen?«
Die Zwillinge drehten sich um und sahen sich einer elegant gekleideten Frau gegenüber, die im grellen Gegenlicht hoch über ihnen aufragte. Sie war älter als ihre Mutter – so alt, dass sie einen Trenchcoat und ein dazu passendes Barett aus Wolle in knalligem Barbierosa trug, und das in dieser drückenden Julihitze. »Braucht ihr Mädchen Hilfe?«, fragte sie erneut, und ihr Akzent klang, als sei sie aus dieser Gegend. Ihr fuchsiafarbener Lippenstift hatte wächserne Flecken auf ihren spitzen, ungleichmäßigen Zähnen hinterlassen.
»Wir können unseren Dad nicht finden«, sagte Ciara.
Ciara! Du hast doch keine Ahnung, wer das ist.
»Gute Güte, Niamh Kelly«, sagte die Frau. »Vor mir braucht ihr doch keine Angst zu haben.«
Die Mädchen begriffen nicht sofort, dass die Frau eine Nachricht gehört hatte, die nur für Ciara bestimmt gewesen war.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte Niamh. Sie waren umgeben von Kindern, die zwischen den Attraktionen hin und her wuselten, die Eltern immer hinterdrein. Irgendeine dieser Mums oder einer dieser Dads könnte ihnen schon helfen. Niamh redete sich ein, dass sie nichts zu befürchten hatten.
»Was glaubst du?« Die Frau zwinkerte ihnen übertrieben zu. Sie hatte eine große Nase; Niamh gab sich Mühe, sie nicht allzu unverhohlen anzustarren.
Sie sind eine Hexe, dachte Ciara.
»Ganz genau«, antwortete die Frau laut. »Ich habe eure Mammy auf Inishmaan kennengelernt, bevor ihr beide geboren wurdet.« Sie lächelte abermals, und dabei kam sie den Mädchen vage bekannt vor. »Ich habe ihr damals alles über euch beide erzählt.«
»Können Sie uns helfen, unseren Dad zu finden?«, fragte Niamh.
»Aber sicher doch. Kommt mit«, sagte die Frau.
Ciara zuckte mit den Schultern und folgte ihr zwischen den Karussells und Buden hindurch. Ihre Mam hatte immer gesagt, sie sollten sich eine freundliche Frau suchen, wenn sie jemals Hilfe brauchten. Niamh überlegte, ob diese Frau Mitglied in dem kleinen örtlichen Zirkel war, aber eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen. Da sie Adeptinnen waren, hatten sämtliche Hexen aus Galway die Zwillinge betüddelt, seit sie noch Kleinkinder gewesen waren, doch diese Frau hatten sie nie kennengelernt.
Ciara, warte.
Ihre Schwester blieb stehen.
»Kommt schon, Mädchen. Er wartet auf euch.«
»Dad?«, fragte Ciara.
»Genau. Hier entlang. Ich bringe euch zu ihm.«
Wer ist sie?, fragte Niamh Ciara.
Ich kann sie nicht lesen, erwiderte Ciara. Sie standen nebeneinander, Schulter an Schulter, und konzentrierten sich.
Die Hexe drehte sich zu ihnen um, ihre Gesichtszüge verhärteten sich. »Wirklich, Mädchen. Es ist sehr unhöflich, ohne Erlaubnis im Kopf einer anderen Person herumzuschnüffeln«, sagte sie scharf. Ihre Fingernägel waren lang und spitz zugefeilt und hatten denselben grellen Pinkton wie ihre Lippen. »Da werden wir euch wohl ein paar Manieren beibringen müssen.«
»Wer sind Sie? Wie heißen Sie?«, fragte Ciara. »Wir dürfen nicht mit Fremden sprechen.«
»Aber ihr kennt mich doch …«
Die Zwillinge waren so geübt darin, die Geräusche des profanen Lebens um sie herum auszublenden, dass ihnen nicht gleich auffiel, dass das Leisureland verstummt war. Die Sitze des Kettenkarussells schienen schräg in der Luft zu stehen. Die Achterbahn hing kopfüber in einem Looping. Ein Clown blies gigantische Seifenblasen, die jetzt zwischen freudestrahlenden, zu Statuen gefrorenen Kindern starr in der Luft schwebten.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Niamh. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
»Ich kann tun und lassen, was ich will, ich bin ein Gott«, sagte die Frau. »Und jetzt hört auf, Fragen zu stellen, und kommt mit, ihr altklugen kleinen Miststücke.«
Sie packte beide Mädchen an den Handgelenken und zerrte sie in Richtung Ausgang. Sie stemmten sich dagegen, aber die Frau war stärker, als sie aussah.
Niamh und Ciara Kelly hatten immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Bisher hatten sie ihre beträchtlichen Gaben immer nur eingesetzt, um zu heilen, zu kommunizieren und zu lernen. Jetzt würden sie sie nutzen müssen, um zu kämpfen. Die Zwillinge mussten sich gar nicht absprechen, so oft hatten sie schon über diesen Augenblick nachgedacht.
Niamh verdrehte der Frau die Knochen. Und Ciara versetzte ihr einen kraftvollen, telekinetischen Stoß.
Die Frau geriet nicht einmal ins Schwanken, doch sie ließ ihre Handgelenke los. Die Mädchen fassten sich an den Händen und rannten in Richtung der Walzerbahn davon. »Ihr miesen Fotzen, das hat wehgetan!«
Ciara und Niamh hielten sich umklammert und bedienten sich eines Tricks, den sie schon mit fünf oder sechs Jahren perfektioniert hatten. Er hieß Nein. Sie hüllten sich in einen Schutzschild ein. Zu Hause funktionierte das hervorragend, wenn Mam oder Dad versuchten, sie gewaltsam in die Badewanne zu verfrachten.
Die Frau prallte gegen ihren Schild und blieb stehen. »Lasst mich durch.«
»Fick dich«, sagte Ciara.
Niamh sah sie entsetzt an. Oh, Ciara würde richtig Ärger kriegen, wenn sie Mam erzählte, dass sie dieses Wort benutzt hatte.
»Kommt jetzt mit, und ich mache es kurz und schmerzlos«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang jetzt sehr tief, tiefer als die eines Mannes. Ihre Haut nahm eine schmutzige, olivgrüne Farbe an, und ihr wuchs dünnes, kohlrabenschwarzes Haar aus dem Schädel, das ihr schon bald über Schultern und Rücken hing. Warzen schossen aus der Haut auf ihrer Hakennase.
Keines der Kelly-Mädchen sagte ein Wort.
»Eines Tages werde ich wieder eins sein, und ihr werdet euch wünschen, ihr hättet euch hier und heute für einen schnellen Tod entschieden. Ihr habt ja keine Ahnung, was noch auf euch zukommt; die Qualen, die ihr euch gegenseitig zufügen werdet.« Ihr schrilles Keckern bohrte sich in ihre Schädel. »Macht’s gut!«
Die Mädchen zuckten zusammen, als die Wagen der Walzerbahn plötzlich an ihnen vorbeiratterten und laute Musik aus den Lautsprechern dröhnte.
Brendan Kelly kam mit schnellen Schritten auf sie zu, er sah besorgt aus. »Mädchen! Ihr könnt doch nicht einfach abhauen! Ihr habt mich zu Tode erschreckt!«
Die Zwillinge sahen ihn mit leerem Blick an. Sie konnten sich gar nicht erinnern, wie sie hier zur Walzerbahn gekommen waren, schließlich waren sie doch gerade erst auf dem Klo gewesen. Sie entschuldigten sich kleinlaut. Die magentafarbene Frau war nirgendwo zu sehen.
Und weder Ciara noch Niamh würde sich auch nur an eine Sekunde dieser Begegnung erinnern.
25JAHRE SPÄTER …
Wer bist du? Wer bist du wirklich?«, fragte Theo den Jungen, den sie bisher als Milo Pearson gekannt hatte. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.
Hinter seinem Gesicht lag noch ein anderes, und noch eines und noch eines und noch eines, und keines davon kam ihr vertraut vor. Männer, Frauen, Kinder. Eine Aura wie seine hatte sie noch nie gespürt. Sie konnte ihn nicht länger lesen, sein Geist war zu einem Spiegel geworden, in dem sie nur sich selbst sah.
Seite an Seite folgten sie dem Wanderweg durch die Hardcastle Crags. Es war spät und kalt, so bitterkalt. Die Dunkelheit drängte sich an sie, und Theo konnte kaum sehen, wohin sie ihre Füße setzte.
»Ich bin Milo.«
Theo blieb stehen. »Bist du nicht. Wie machst du das?«
Seine Augen glitzerten wie Quecksilber im spärlichen Mondlicht, das durchs Blätterdach fiel. »Willst du Niamh wiedersehen oder nicht?« Er klang nicht einmal mehr wie Milo, seine Stimme schien älter als dieses Tal zu sein. »Folge mir. Wir sind jetzt ganz nah.«
Theo hätte den Weg zur Glockenblumenwiese auch allein und in vollkommener Finsternis gefunden. Selbst nach all der Zeit nahm sie Niamh wahr, als schwebe da ein schwermütiger Klagegesang zwischen den Bäumen. Die Nacht war seltsam stumm; keine Eulen oder Dachse waren zu hören. Selbst der Wind schien erwartungsvoll den Atem anzuhalten.
»Spürst du sie?«, fragte der Junge, der wie Milo aussah. »Sie ist noch immer hier. Gerade noch.«
Theo schlang die Arme um ihre Brust, schützend wie einen Schild. »Und?«
»Tu nicht so unschuldig, Theodora. Du weißt, warum wir hier sind.«
»Nein«, sagte sie abwehrend. »Das mache ich nicht. Das kann ich nicht.«
Mit einer fließenden Bewegung nahm Milo ihre Hände in seine und drückte sie fest. »Es ist an der Zeit, dass du deine Rolle in all dem begreifst. Du bist nicht wie die anderen Hexen.«
Theo lachte auf, halb sarkastisch, halb peinlich berührt. Du bist nicht wie die anderen Mädchen – die Mutter aller Red Flags.
»Das weißt du«, sagte Milo schlicht. »Du verfügst über unermessliche Macht. Das ist deine Bestimmung. Du bist ein Tiger, kein Schaf, also hör endlich auf, dich in einen Schafspelz zu hüllen. Der steht dir nicht.«
Angestrengt versuchte Theo, ihm zu folgen und sich von der merkwürdigen Wachsamkeit des nächtlichen Waldes nicht zusetzen zu lassen. Wovon sprach er? Sie selbst hatte keine Ahnung von ihrer Kindheit und wusste nicht, wo sie herkam. Sie musste einfach fragen. »Was weißt du über mich?«
Milo lächelte und ging weiter, tiefer und tiefer in den Wald hinein. »Also dann. Märchenstunde. Vor langer Zeit haben die Hexen versucht, uns zu vernichten, aber sie haben versagt. Sie haben uns aufgespalten, und seit jenem Tag sprechen sie von dem, der uns wieder vereinigen wird.«
»Das Gezeichnete Kind.« Darüber wusste Theo bereits bestens Bescheid, vielen Dank auch. Leider bestätigte er damit aber auch ihre schlimmsten Ängste. »Bin das ich?«
Selbst in der Finsternis blitzten seine Zähne auf wie die eines großen Weißen Hais. »Alles zu seiner Zeit. Erst einmal wartet Arbeit auf dich.«
Trotzig blieb Theo stehen. Sie wusste genau, wovon er sprach. »Ich sagte doch schon, ich mache das nicht. Es ist verboten! Und gegen die Natur.«
Milos Augen blitzten verärgert auf. »Schwachsinn. Du bist eine Hexe! Du selbst bist die Natur.«
Sie schüttelte den Kopf.
Er schlug einen etwas seidigeren Ton an. »Willst du sie denn nicht wiederhaben? Sie wurde dir genommen, von irgendeiner durchgeknallten Frau. Alle, die du jemals geliebt hast, wurden dir gestohlen, Theo. Das ist doch nicht gerecht.«
Theo setzte sich wieder in Bewegung und dachte zum ersten Mal ernsthaft darüber nach. »Aber was, wenn … wenn sie falsch zurückkommt?«
Er tat ihre Sorge mit einem Schulterzucken ab. »Unsinn. Altweibergeschwätz. Du wirst das schon schaffen.«
Nekromantie. Die unaussprechliche Kunst. Die so tabu war, dass niemand wirklich wissen konnte, was passieren würde, weil niemand es wagte, Beweise für diese dunklen Machenschaften zurückzulassen. Theo wusste jedoch, und da war sie sich hundertprozentig sicher, dass sie lieber gar keine Niamh gehabt hätte als einen schlurfenden Zombie. Der Körper lag jetzt seit Wochen in diesem Grab. Doch es war der Verlust der echten Niamh, ihrer Seele, der Theo das Herz zerriss. Und die Vorstellung, dass Niamhs Bewusstsein noch hier war, zwischen den Brombeersträuchern und Stechpalmen, und mitansehen konnte, was sich hier abspielte, war einfach unerträglich.
Die Bäume lichteten sich, und sie erreichten die abgeschiedene Lichtung. Sie wateten durch stachliges, taillenhohes Gestrüpp, bis Theo auf ihrem Grab stand. Ein glatter Kiesel war der einzige Hinweis auf ihre letzte Ruhestätte. Darauf waren zwei Buchstaben eingraviert: CK für Ciara Kelly, die Frau, die ihre Zwillingsschwester getötet und ihre Identität gestohlen hatte. »Das hier war nicht mal ihr Körper«, sagte Theo. »Sondern Ciaras.«
Doch das schien ihren Begleiter nicht weiter zu beunruhigen. »Reine Detailfragen. Der Seelentransfer wird der gleichzeitigen Präsenz von Ciara und Niamh auf dieser Erde nicht standhalten können. Innerhalb kürzester Zeit werden sie wieder in ihre ursprünglichen Körper zurückkehren. Die Natur wird sich selbst wiederherstellen.«
Das klang einleuchtend. Mit welch dunklem Zauber auch immer Ciara den Körper ihrer Schwester an sich gerissen hatte, er war zweifellos widernatürlich – jeder Topf hat einen Deckel, und Ciara hatte die Deckel getauscht. Vielleicht würde sie einfach für Gerechtigkeit sorgen.
Doch all diese Überlegungen waren müßig, denn diese Magie überstieg Theos Fähigkeiten bei Weitem.
»Hier«, sagte Milo, und Das Lied von Osiris schwebte aus seinen Händen zu ihr hinüber. »Diese Aufgabe ist für dich bestimmt.«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wie«, sagte Theo verzweifelt und hoffte, dass er dieses Geständnis nicht als Einverständnis deutete.
»Lass dich vom Buch leiten, und lass Liebe deine Hand führen.« Er breitete beide Hände aus wie ein Priester. »Denn geliebt hast du sie. Du kannst sie zurückbringen.«
Theo sah vom Buch, das vor ihr in der Luft schwebte, hinunter auf das Grab. »Wo ist sie?«
»Im Dazwischen«, sagte Milo. »Wenn der Körper stirbt, verlässt die Seele unsere Realität.«
»Und dann?«
»Nichts und dann. Sie geht nirgendwohin. Was willst du hören? Dass Gaia eine Art himmlische VIP-Lounge erschaffen hat? Das hier ist alles, mehr hat es nie gegeben. Das hier ist Gaias Schöpfung, der Rest ist Fiktion. Jeder bekommt eine Chance, und Niamhs Chance wurde ihr gestohlen. Außer, du rettest sie.«
Theo betrachtete wieder das Buch. Das Lied von Osiris öffnete sich von selbst, die Seiten wurden wie von Geisterhand umgeblättert. Das bibeldünne Papier war mit roter, geschwungener Schrift bedeckt. Sie hatte versucht, sie zu entziffern, doch kaum einen Sinn herauslesen können.
»Ich will das nicht«, brachte Theo schluchzend heraus. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Warum lügst du?«
Er hatte recht, das war gelogen. Sie wollte Niamh zurück, mehr als alles andere. So sehr hatte sie nicht einmal ein Mädchen werden wollen.
»Lass es zu«, sagte Milo.
Und Theo lenkte all ihre Feinfühlung auf das Buch. Es schien zu ihr zu sprechen. Zahllose Stimmen waren in diesen Seiten gefangen, und alle flüsterten durcheinander, sodass sie keine einzelne Nachricht heraushören konnte. Aufhören, befahl sie, ich kann nichts verstehen.
Das Geflüster verstummte für eine Sekunde, und dann löste sich die rote Tinte – das Blut – aus den Buchseiten und erhob sich in die Nacht. Es bildete einen wirbelnden Nebel aus scharlachroten Tentakeln, die einen Moment innehielten und dann auf Theo zuschwirrten, als würden sie durch die Luft schwimmen. Das Wesen, das Lied, streckte seine neugierigen Fühler nach ihr aus. Theo schickte ihren Geist aus und stellte eine Verbindung her, versuchte zu verstehen.
Der rote Nebel schlüpfte über ihre Lippen, in ihre Augen und Ohren.
Und plötzlich ergab alles einen Sinn. Auf einmal wusste Theo ganz genau, wie sie Niamhs Seele aus dem Schattenreich und zurück in Ciaras Leichnam in der Erde führen konnte. Die Andeutung eines Lächelns huschte über Milos Gesicht, während er gefasst und siegessicher zusah.
Die Macht der Hardcastle Crags hob Theo von den Füßen. Etwa einen Meter über dem Boden brachte sie sich wieder ins Gleichgewicht und spürte einen Tsunami aus Vitalis – aus Licht – durch ihren Körper jagen. So etwas hatte sie noch nie empfunden – zumindest nicht seit jener Nacht am Bachufer. Ihre Haare schlugen ihr ins Gesicht und blieben an ihren Lippen kleben.
Dies war der erste Schritt. Sie brauchte viel Macht, also nahm sie die Lebenskraft des Waldes in sich auf, schlürfte sie auf wie Seelennektar.
Sie musste ihre Feinfühlung um ein Vielfaches verstärken, damit sie sie weit über Hebden Bridge hinaus auswerfen konnte. Sie musste mehr als nur die Lebewesen erspüren; auch die Toten musste sie finden.
Plötzlich kam es Theo vor, als sei die Welt in Schwarzlicht getaucht. Da waren nicht mehr nur die verräterischen Anzeichen von Leben, sondern so viel mehr. Eine neue Sichtebene. Vier oder fünf phosphoreszierende, sich unablässig wandelnde Wesen schwebten heran; Gespenster in Wolkenform. Nicht greifbar und kaum als humanoid zu erkennen, nur geisterhafte, dahinschwebende Fetzen, die ziellos durch den Wald streiften.
Seelen. Seelen oder Geister? Geister. Sie konnte Geister sehen.
Sie waren überall; sie hingen oben in den Bäumen oder trieben über den Boden der Lichtung. Einige waren weniger klar umrissen als andere, als verblassten sie. Theo schluckte schwer. Das passierte also, wenn man starb.
Können sie etwas fühlen?, fragte Theo Milo.
Nichts Irdisches, antwortete er.
Es dauerte nicht lange, da hatte Theo Niamh zwischen den vielen Geistern ausgemacht. Am Äußerlichen hätte sie sie nicht erkannt, aber sie fühlte sich so sehr nach Niamh an. Theo erkannte ihre Güte, ihre sich überschlagenden Gedanken, ihren scharfsinnigen Humor. Das war einfach Niamh. Theo stellte fest, dass sie diese eigenartige Materie manipulieren konnte wie jede Materie. Sie griff nach Niamhs Essenz – ihr Licht war es jedenfalls nicht – und leitete die Energie in Richtung Grab.
Das reicht noch nicht, bemerkte Milo. Wenn es so einfach wäre, könnte das ja jeder.
Aus den jetzt leeren Seiten von Das Lied von Osiris erhob sich ein Dolch, dessen schmale Schneide sie an eine Nadel erinnerte.
Du weißt, was du zu tun hast. Denk an das Opfer, das sie für dich gebracht hat.
Oh. Natürlich gab es einen Haken. Musste ja so kommen.
Ein Leben für ein Leben. Klang fair. Auch wenn es ihr vorkam wie ein halbes Leben, war es erst ein paar chaotische Monate her, dass Niamh sich hier, in genau diesem Wald, Theo ganz und gar dargeboten hatte. Ohne sie würde sie gar nicht existieren, und erst recht nicht in ihrer jetzigen Gestalt. Dann war es also an der Zeit, sich zu revanchieren. Vielleicht, überlegte Theo, war das ja immer schon von Gaia so vorbestimmt gewesen. Der Grund für alles. Darum hatte Niamh ihr an jenem Tag in Manchester so leichtfertig ein Zuhause angeboten.
Aber hat er nicht gerade gesagt, dass ich das Gezeichnete Kind bin? Braucht er mich nicht noch? Die Stimme ihrer Vernunft wurde von den Abertausenden Stimmen aus dem Jenseits übertönt, die noch immer in ihrem Schädel herumgeisterten.
Theo stimmte mit ein. Ihre Lippen bewegten sich und stießen Worte in einer seltsamen Sprache aus, die sie nicht kannte. Es klang kaum menschlich, die vollkommen fremd klingenden Laute kratzten an ihrem Rachen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und glänzten wie schwarze Saphire.
Sie packte das Heft des Dolches und fuhr mit der Schneide quer über ihren blassen Unterarm. Sie schrie auf vor Schmerz, doch über das Klingen in ihren Ohren konnte sie sich selbst kaum hören.
Blut quoll aus der Wunde und bildete eine eigene, nebulös wabernde Wolke, genau wie die, die aus dem Buch gekommen war. Einen Moment ballte sie sich über der Grabstätte zusammen, dann wurde sie zu einem wirbelnden Strudel, der sich immer weiter in die Länge zog, bis er in den Boden stieß und darin versank.
Der Schmerz in ihrem Arm ebbte ab, doch sofort spürte Theo, wie sie schwächer wurde. Das Grab zerrte an ihr und verschlang gierig ihr Opfer. Es sog nicht nur ihr Blut auf, sondern auch ihr Licht. Die Überreste unter der Erde brauchten eine lebendige Quelle.
Theos Kinn fiel ihr auf die Brust, der Boden raste auf sie zu. Noch immer saugte Niamh an ihr. Es fühlte sich an wie eine magnetische Kraft, die sie nach unten zog, immer weiter in die Tiefe, und jetzt, da es begonnen hatte, konnte sie es auch nicht mehr aufhalten. Ihre Knie trafen schmerzhaft auf den Boden, und dann sackte sie auf dem Grab in sich zusammen.
Die kühle Erde fühlte sich gut an auf ihrem Gesicht. Ihr Sichtfeld wurde grau und körnig, einen Moment sah sie nur Bildrauschen, bis Schwärze sich über alles senkte wie ein Vorhang ganz zum Schluss.
Ganz plötzlich versank die Sonne hinter der Caldera. Sie waren für den Sonnenuntergang hierhergekommen und waren nicht enttäuscht worden. Der Himmel verfärbte sich indigoblau und fliederfarben, das Meer glitzerte wie flüssiges Gold, und die Sonne schien wie eine Kugel Eiscreme auf einem Kuchen zu schmelzen. Gaia war hier ganz nah, Niamh konnte sie spüren. Mutter. Ohne Vorwarnung stachen ihr Tränen in die Augen. Conrad streckte die Hand über den Tisch und drückte ihre. Keiner der beiden sagte etwas, schweigend beobachteten sie, wie die Sonne versank. Dafür gab es ohnehin keine Worte.
Irgendwann wagte sie es, kurz den Blick von dem Lichtspektakel abzuwenden. Sie wollte Conrads Gesicht sehen. Er hatte wohl dieselbe Idee gehabt, und sie sahen sich an. Er lächelte, und sie spürte körperlich, wie die Liebe in ihrer Brust anschwoll. Sie konnten sich diesen Urlaub eigentlich gar nicht leisten, aber jetzt, hoch über den Klippen auf der Terrasse einer Cocktailbar in Fira sitzend, stellte sie fest, dass alle Sorgen von ihr abgefallen waren. Unter den vielen Milliarden Menschen auf dieser Welt hatten sie einander gefunden. Welch Glück sie doch hatten. Welch unheimliches Glück.
»Wir sollten es einfach tun«, sagte er.
»Was tun?«
»Du weißt schon, was! Worauf warten wir denn noch?«
Niamh lächelte, wollte ihn noch ein wenig ärgern. »Was? Hier und jetzt in Griechenland? In einer Bar?«
»Bald meine ich natürlich. Ich mein’s ernst.«
Sie würde nirgendwohin gehen, und er genauso wenig. Wozu also die Eile? Sie war vierundzwanzig, er war nur zwei Jahre älter. Ehefrau, das klang so furchtbar erwachsen. Sie hatten doch alle Zeit der Welt.
Ganz plötzlich versank die Sonne hinter der Caldera. Sie waren für den Sonnenuntergang hierhergekommen und waren nicht enttäuscht worden. Der Himmel verfärbte sich indigoblau und fliederfarben, das Meer glitzerte wie flüssiges Gold, und die Sonne schien wie eine Kugel Eiscreme auf einem Kuchen zu schmelzen. Gaia war hier ganz nah, Niamh konnte sie spüren. Mutter. Ohne Vorwarnung stachen ihr Tränen in die Augen. Conrad streckte die Hand über den Tisch und drückte ihre. Keiner der beiden sagte etwas, schweigend beobachteten sie, wie die Sonne versank. Dafür gab es ohnehin keine Worte.
Moment mal.
Irgendwas stimmte hier nicht. Hatte sie das nicht eben schon …?
Ganz plötzlich versank die Sonne hinter der Caldera. Sie waren für den Sonnenuntergang hierhergekommen und waren nicht enttäuscht worden. Der Himmel verfärbte sich indigoblau und fliederfarben, das Meer glitzerte wie flüssiges Gold, und die Sonne schien wie eine Kugel Eiscreme auf einem Kuchen zu schmelzen.
Niamh sah Conrad an, aber da saß Luke Watts und hielt ihre Hand über den Tisch. Luke lächelte, und sie spürte körperlich, wie die Schuldgefühle in ihrer Brust anschwollen. Nach allem, was passiert war; eine zweite Chance. Welch Glück sie doch hatte. Welch unheimliches Glück.
»Luke?«, fragte Niamh.
»Zeit, nach Hause zu gehen«, antwortete er. »Bis bald, Niamh.«
Die Sonne versank endgültig hinter dem schlafenden Vulkan, und die Bar, die Bucht, die ganze Insel wurde schwarz.
»Nein!«, stieß sie aus, aber es war schon zu spät.
Sehr schwarz. Vollkommen schwarz.
Die Luft war kalt und feucht in ihrer Nase. Irgendwie erdig. Torfig.
Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie hatte keinen Mund, keine Zunge. Hallo?, nutzte sie stattdessen ihre Kräfte, um in die endlose Finsternis zu sprechen. Da war nur ausgedehnte Schwärze, undurchdringlich und glatt wie Leder. Niamh lauschte.
Sie war nicht allein in diesem Abgrund. Das erkannte sie auch mit ihrem begrenzten Bewusstsein. Da war etwas hinter ihr, über ihr. Etwas, das ihr in den Nacken atmete – nicht, dass sie einen Nacken gehabt hätte, in den ihr irgendjemand hätte atmen können. Wer ist da?, versuchte sie es noch einmal. Es war groß, was auch immer es war. Kühl und glatt wie ein Aal. Irgendetwas regte sich direkt neben ihr.
Sie wünschte es fort, dieses lauernde Ding.
Und dann war sie in Annie Device’ Garten. Schon besser. Viel besser.
Hier duftete es nach Knoblauch, Minze und Geranien. Hier war sie in Sicherheit. Endlich wieder Licht. Ihre Augen waren wund und geschwollen vom Heuschnupfen. Selbst Hexen hatten Heuschnupfen. Der Frühlingshimmel war kornblumenblau und gepudert mit Wolken wie aus einem Comic. Die zwitschernden Stare waren klug genug, sich in diesen katzenverpesteten Gefilden vom Boden fernzuhalten.
Am Brunnen hockte Theo. Sie hatte noch ihren alten Körper mit den spitzen Ellbogen und hielt sich ganz geduckt, wie sie es damals immer gemacht hatte. Sie spielte mit einem von Annies Kätzchen. Niamh sollte sie wirklich vor diesem Brunnen warnen – das war nicht nur ein Brunnen. Neben ihr auf der Bank saß Annie und tätschelte ihre Hand. »Du solltest nicht hier sein, süße Niamh.«
»Aber das bin ich doch«, sagte Niamh verständnislos.
»Nein«, erwiderte die alte Frau sanft. Ihre Hände waren so weich wie abgetragene Seide. »Nein, bist du nicht. Keine von uns ist wirklich hier. Das hier ist nur das Nachglühen.«
»Das Nachglühen?«
»Gaia ist gütig. Dies ist ihr Abschiedsgeschenk an ihre Töchter. Eine Erinnerung, in der man noch einmal baden kann, für eine Weile.«
Als Niamh den Blick hob und Theo abermals ansah, war diese sie selbst – in ihrer weiblichen Gestalt. Sie schwebte etwa einen Meter über dem Boden und war von Kopf bis Fuß mit Blut und Schlamm besudelt. Sie starrte Niamh mit wildem Blick an, ihre Augen waren weit aufgerissen und ganz schwarz geworden, ähnlich denen eines Pferdes. Tiefdunkle Magie durchströmte das Mädchen. Niamh keuchte auf. »Was passiert hier? Annie? Was ist das?«
»Du bist noch nicht fertig, meine Liebe. Das warst du nie. Deine Zeit war noch nicht gekommen. Und ich muss es schließlich wissen.« Das Orakel tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe.
Da war dieses Gefühl. Zu wissen, dass man träumt. Einen Traum, aus dem man aber nicht aufwachen will, weil es auf der anderen Seite des Schlafes weniger angenehm ist.
Aber das hier war nie passiert. Sie erinnerte sich an den Tag in Annies Garten, aber so war der Tag nicht verlaufen. Und da verstand Niamh.
Sie war nicht auf Santorini und auch nicht im Garten der Wassermühle. Sie wusste nicht, wie, warum oder wann es passiert war, aber sie war tot. Das hier war der Tod.
Sie sah ihre Freundin an, deren blinde Augen auf einen Punkt hinter ihr gerichtet waren. »Annie, hast du das gewusst? Dass all das passieren würde?«
»Leviathan wird sich erheben.« Mehr sagte sie nicht.
Und dann stürzte Niamh wieder ins Nichts.
Endlose, grenzenlose, undurchdringliche Schwärze.
Endlich erkannte sie, warum dieser Ort so schlimm war: Es war die vollkommene Abwesenheit von Leben. Seit dem Moment ihrer Geburt war Niamh von Gaias Hülle und Fülle umfangen gewesen. Meeresgischt, Zitronensaft, schnarchende Hunde. Frisch gemähtes Gras, die Kälte des ersten Frosts, Regenbögen. Und jetzt war sie fort. Weg. Leer.
Doch das bedeutete nicht, dass sie allein war in diesem Abgrund. Sie hatte keine Augen zum Sehen und keine Haut zum Fühlen, doch sie konnte immer noch erspüren.
Das Ding umkreiste sie noch einmal, wie ein Hai in diesen schwarzen Wassern. Was bist du?, fragte sie es.
Der Schatten erwiderte nichts. Das musste er auch gar nicht. Sie kannte die Antwort.
Und plötzlich fühlte sie wieder.
Und entschwand von diesem ortlosen Ort. Ein Glück, sie glaubte zwar nicht an die Hölle, aber …
Kalt. Sehr kalt. Feucht. Ein Zeh. Ein Daumen. Ohren. Es war so furchtbar kalt. Warum war der Tod so verfickt eisig? Eine Kehle, so trocken, so kratzig, dass es wehtat.
Ihr Körper schmerzte, war merkwürdig wund. Wie eine überreife, angestoßene Frucht. Sie lag rücklings, und obwohl sie sich gar nicht bewegte, schmerzten ihr Rücken, ihre Schenkel, ihr Po. Ihre Hüfte und Wirbelsäule knirschten widerwillig. Sie war so schrecklich müde. Sie war noch nicht ganz wach, aber sie nahm den Tag außerhalb des Schlafes wahr. Niamh wusste, dass sie jetzt aufwachen musste, so ungern sie auch wollte. Der Wecker schrillte laut.
Sie konnte ihre Gliedmaßen bewegen. Das tat weh. In ihren Gelenken knackte und klackte es. Ihre Muskeln waren steif. Dann bemerkte Niamh jedoch, dass sie sich nicht besonders weit bewegen konnte. Kaum mehr als einen Zentimeter zu beiden Seiten ihrer Schultern und Füße. Sie steckte fest. Kein Wunder, dass die Luft so abgestanden und faulig war. Irgendetwas befand sich direkt vor ihrem Gesicht. Sie presste die steifen Finger gegen etwas Nasses, Hölzernes, das nur Zentimeter von ihrer Nase entfernt war.
Das war keine Bettdecke, und sie lag auch nicht auf einer Matratze.
Sie befand sich in einer Kiste.
Es gab einen Namen für Kisten, in die man Menschen legte.
Oh, Fuck.
Scheiße, nein.
Sie wollte rufen, aber sie hatte Erde oder Staub, irgendetwas Grobkörniges im Mund. Sie hustete und prustete und spuckte es aus, so gut sie konnte. Ihre Zunge fühlte sich an wie sprödes Wildleder.
Panik schwoll in ihrer Brust an. Sie konnte nicht atmen. Doch, das ging, aber nicht sehr gut. Wer würde ihr das antun, sie in einen …
O Göttin.
So fest sie konnte, drückte sie gegen das feuchte Holz und versuchte, sich umzudrehen. Ihre Knie stießen gegen dieselbe, hölzerne Fläche. Sie versuchte, ihre Kräfte anzuwenden, doch sie war schwach. Ihr Bauch und Kopf fühlten sich an wie ausgehöhlt.
Dann spürte sie das samtene Lila-Schwarz von Theos Aura. Theo war in der Nähe. Theo … Theo hilf mir …
Sie schob und trat, doch jede ihrer Bewegungen wurde von ihrer durchnässten Kleidung eingeschränkt.
Hör auf, befahl sie sich selbst. Panik war nicht zielführend. Panik würde alles nur noch schlimmer machen. Sie konnte hier rauskommen. Sie spürte Wurzeln, pflanzliches Leben. Es wimmelte von Würmern und Tausendfüßlern und Ohrenkneifern. Sie war unter der Erde. Sie war vergraben. Denk nach, benutz deinen Verstand, Niamh. In den alten Tagen schliefen Hexen unter der Erde, um mit Gaia zu kommunizieren, denn das war sehr belebend.
Und das konnte Niamh sich zunutze machen.
Sie kniff die Augen zusammen und atmete, atmete so viel Licht ein, wie sie konnte. Hier unten, selbst in der Dunkelheit, fand sie eine Fülle an Energie vor, die sie in sich aufnehmen konnte. Sie sog alles ein. Das war Gaia.
Besser. Schon bald spürte Niamh, wie dieser Körper vor Macht zu summen begann. Dieser Körper, denn er fühlte sich nicht ganz richtig an. Es kam ihr vor, als habe sie ihn wie ein Kleidungsstück falsch herum angezogen, oder als hätte sie beide Arme in einen Ärmel gesteckt. Irgendetwas stimmte nicht – abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass man sie vergraben hatte. Sie regte sich nicht und konzentrierte sich auf die fest getretene Erde über ihr. Das war Materie, und die konnte sie bewegen.
Beweg dich.
Mit aller Geisteskraft stemmte sie sich dagegen, ließ erst die feuchten Holzlatten zersplittern und trieb dann Erde und Steine Richtung Himmel. Sie biss die Zähne zusammen und machte weiter, bis sie endlich einen Hauch frischer, kalter Nachtluft auf den Lippen spürte. Sie schlug die Augen auf. Und sie konnte etwas sehen. Mondlicht.
Mit letzter Anstrengung zerschmetterte Niamh, was noch vom Holzdeckel übrig war, Splitter wurden in den Himmel gesprengt. Schließlich ließ sie diesen Körper aus dem Grab schweben. Ihrem Grab! Verdammte Scheiße. Was zum Teufel habe ich verpasst? Panisch, wie sie war, konnte sie keinen besonders eleganten Aufstieg hinlegen. Sie schwankte wie eine Marionette an ungleichen Fäden.
Ihre bloßen Füße landeten auf kühlem Gras, ziemlich ungelenk, sie stolperte und musste sich abfangen. Sie war schwach, aber der Boden fühlte sich echt an, stabil und vertrauenerweckend. Noch immer sog sie Kraft aus dem Boden. Diese Füße, diese Beine mussten sie jetzt weitertragen.
Niamh sah hinunter auf ihre Hände, ihre Fingernägel und Arme. Sie war dreckig, ein dicker, gräulicher Schmutzfilm überzog ihre Haut. Sie trug ein schlichtes, weißes Baumwollkleid, doch auch das war völlig erdverkrustet und von Regenwasser durchweicht.
Sie richtete sich auf, obwohl ihre Wirbelsäule protestierte, und machte einen unsicheren Schritt. Es fühlte sich an, als hätte sie Sand in den Gelenken, und Niamh zog noch ein wenig mehr Vitalis aus dem Wald. Sie befand sich auf der Glockenblumenwiese, tief in den Hardcastle Crags, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Hier, im Wald, war sie auch gewesen … als sie mit Helena gekämpft hatte. Beinahe hätte sie Helena getötet, mit Bienen. Und alles, um … um Theo zu retten.
Theo. Wo war sie? Sie hatte sie doch in der Nähe wahrgenommen.
Wie aufs Stichwort sah Niamh das Mädchen zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung verschwinden. Sie wollte noch einmal nach ihr rufen, aber ihre Kehle war ausgedörrt. Sie hustete und humpelte Theo hinterher.
Jeder Schritt war mühsam und erforderte höchste Konzentration, wie bei einem Kleinkind. Ein Fuß ganz bewusst vor den anderen gesetzt. Verwirrt und erschöpft, wie sie war, stahl sich ein leiser Schluchzer aus ihrem Mund. Sie brauchte Hilfe. Irgendjemand musste ihr erklären, was hier los war.
Sie hörte entfernte Stimmen und stolperte darauf zu. Fuck, Göttin sei Dank. Sie hoffte einfach, dass diese Leute ihr freundlich gesonnen waren, wer auch immer sie waren. Sie konnte nicht viel weiter gehen. Immer wieder musste sie sich an einem Baum festhalten. »Hilfe«, krächzte sie.
Sie schluchzte noch einmal. Wenn sie jetzt aufgab, wenn sie hier zusammenbrach, dann würde es Stunden dauern, bis jemand sie fand, vielleicht sogar Tage. Sie streckte das Bisschen getrübter Feinfühlung, das sie hatte, nach einer Aura aus, und erspürte gleich mehrere, die ihr vertraut waren. Elle, Leonie und … noch jemand. »Bitte …«
Die Bäume lichteten sich wieder, eine weitere Lichtung tat sich vor ihr auf, das Mondlicht übergoss sie mit flüssigem Silber. Niamh zog ein wenig Kraft aus einer uralten Ulme, gerade genug, um weiterzugehen.
Eine vertraute, eine geradezu unheimlich vertraute Stimme sprach: »Theo, was hast du getan?«
Trotz des unebenen Bodens trat Niamh strauchelnd auf die Lichtung. Und sah sich … sich selbst gegenüber. Diese andere Niamh trug ihren mauvefarbenen Wollwintermantel, ihre Röhrenjeans und ihre ausgelatschten Converse. Aber die Haare der anderen Niamh waren kürzer, und sie hatte vorn eine weiße Strähne.
Hinter Theo und der anderen Niamh standen Leonie, Chinara und Elle. Alle starrten sie an, wie vom Donner gerührt und mit offenen Mündern.
»Hilfe«, flüsterte sie. »Helft mir.«
»Niamh?«, fragte ihre Doppelgängerin. »Wie ist das möglich?«
Niamh hatte noch genug Kraft in ihrem Tank, um diese Frau als ihre Schwester zu erkennen. Diese schillernde Aura hätte sie überall wiedererkannt. Ciara war hier. Wie das? Sie sollte doch eigentlich in einem Krankenhausbett verrotten. Sie so auf den Beinen zu sehen, zum ersten Mal seit fast zehn Jahren, fühlte sich an, als habe jemand in ihrem Kopf ein Feuerwerk entzündet. Eine Menge Gefühle, viele Farben und lautes Geknalle, aber … gut. Ja, das war gut.
Ihre Schwester war am Leben. Ihre Schwester war hier.
Und dann erinnerte Niamh sich an etwas, das sie für einen Traum gehalten hatte: ihr Besuch im Safehouse in Manchester. Der Edelstein, den sie in Ciaras schlaffer Hand gespürt hatte, und dann …
Und dann Griechenland. Seitdem Griechenland. Wie lange hatte sie diesen kostbaren Moment durchlebt, wieder und wieder? Wie hatte Annie es genannt? Das Nachglühen.
Ergab irgendwie Sinn, auf eine traurige Art. Ihre Schwester hatte … ihr etwas angetan. Und jetzt standen sie sich hier gegenüber.
Niamh wusste aus Erfahrung, was als Nächstes passieren würde: Ihre Schwester würde fliehen. Sie würde wegrennen und sich irgendwo verstecken, sie würde alles tun, damit sie nur nicht die Verantwortung übernehmen musste, für was auch immer hier passiert war. Und Niamh konnte sie unmöglich aufhalten. Sie konnte nur hoffen, dass Leonie oder Chinara sie kriegen würden. Jetzt, da sie bei ihren Freundinnen war, durfte Niamh endlich loslassen. Ihre Beine wurden zu Wackelpudding. Sie konnte sich ausruhen, denn ihre Freundinnen würden sich um sie kümmern.
Niamh schwankte, doch noch immer rannte Ciara nicht los. Stattdessen kam sie auf sie zu. Niamh stürzte, und Ciara streckte die Arme nach ihr aus. Niamh fiel ihr in die Arme, und Ciara ließ sie vorsichtig auf das Gras sinken.
»Du lebst«, hauchte ihre Schwester in ihre schlammverkrusteten Haare. »Wie kann das sein?«
Niamh war zu schwach, um zu antworten. Sie hörte Leonie, die Theo mit Fragen bestürmte, doch es kam ihr vor, als seien sie Millionen Meilen entfernt. Sie klammerte sich an Ciara, legte ihren Kopf an ihre Schulter.
Wärme breitete sich in ihr aus. Ciara heilte sie, leitete Lebenslicht durch ihre Haut bis in ihre Knochen.
Aber das war nicht alles. Niamh spürte, wie ihr eigenes Lebenslicht zum anderen Körper hindrängte, sich langsam verlagerte. Das war neu. Sie hatte beinahe das Gefühl, flüssig zu werden; zu menschlichem Honig. Aber es fühlte sich gut an, richtig.
Ciara hielt sie ganz fest, ihre stummen Tränen tropften ihr in die Haare, sie wiegte sie wie ein Baby. Weinend drückte sie ihr einen Kuss auf die Stirn. Niamh schloss die Arme fest um ihren Körper.
Der Zauber brach. Die Kelly-Schwestern gingen nach Hause.
Als das eigenartige Gefühl langsam nachließ, öffnete Niamh die Augen. Eine zerbrechliche, schmutzige Frau, die genauso aussah wie sie, lag in ihren Armen. Das erbärmliche Ding in ihrem Schoß blinzelte zu ihr hoch. Ihre Lippen waren spröde und aufgesprungen. »Was jetzt?«, krächzte sie.
LEVIATHAN ERWACHT
Beschämt stand Satan, und fühlte,
Wie ehrwürdig und furchtbar die reine Güte des Herzens,
Und wie liebenswürdig die Tugend in eigener Gestalt ist;
Sah es, und beklagte seinen Verlust.
Milton – Das Verlohrne Paradies
DAS STRANDHAUS
Snow wartete auf der Terrasse. Weit unter ihr klatschte weiße Gischt gegen die Klippen. Das Meer war heute Abend geradezu zornig, aufgewühlt wogte es hin und her. Ein dunkler Regenschatten fegte über den Horizont hinweg, ein Sturm steuerte auf Boscastle Bay zu. Sie musste es wissen, schließlich hatte sie ihn heraufbeschworen. Snow runzelte die Stirn und konzentrierte sich, brachte die atlantische Front von ihrem Kurs ab und in Richtung Binnenland. Sie wollte, dass der Sturm auf die Küste traf.
Sie wollte ihrem Besuch zeigen, wozu Snow Vance-Morrill fähig war.
Sie würde nicht mehr lange warten müssen. Der Besuch kam jeden Abend ungefähr zur selben Zeit. Ein paar Lampen leuchteten im Strandhaus, eine Lichterkette schaukelte im Wind von der Pergola über ihr.
Schon bald öffnete sich knarzend die Terrassentür, und Helena kam mit einem Glas Rotwein und geschäftig auf den Steinfliesen klackernden Absätzen zu ihr an den Tisch neben der Hot Tub. Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf den Scheitel und strich ihr das weißblonde Haar glatt. »Guten Abend, mein Liebling. Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Du weißt ja, wie es ist, ich wurde im Büro aufgehalten.«
Snow sah in diese vertrauten, vollmilchschokoladenbraunen Augen, doch sie ließ sich nicht eine Sekunde täuschen. »Ich weiß, dass du nicht sie bist«, sagte Snow.
»Ist das denn so wichtig? Ich könnte sie sein.«
»Bist du aber nicht. Das hier ist nicht echt.«
Die Mundwinkel ihrer Mutter kräuselten sich. »Warum wartest du dann jeden Abend hier draußen auf mich?«
Das wusste Snow selbst nicht so richtig. Vielleicht weil es immer noch besser war als das Nichts, das sie hatte?
Helena nahm Snows Hände und überprüfte – genau wie früher –, ob Snow auch nicht an den Nägeln gekaut hatte. »Ach, Snow, hör doch auf. Immer dieses Gejammer. Deine Dior-Tasche ist auch fake, aber du gehst trotzdem damit an den Strand.«
Das stimmte. Was auch immer dieses Ding war, es klang wie ihre Mutter, sah aus wie ihre Mutter, es roch sogar wie ihre Mutter – nach Pomegranate Noir und Haselnuss-Latte. Sie hatten diese gefälschte Dior-Tasche zusammen gekauft, in ihrem letzten Urlaub in Tulum. Wie konnte sie das wissen, wenn sie nicht wirklich Helena Vance war?
»Wie war’s in der Schule heute?«
»Als ob das wichtig wäre.«
Helena seufzte. »Nein, wahrscheinlich ist es das nicht, aber ich habe mich nie mit dem Zweitbesten zufriedengegeben, und das solltest du auch nicht.«
Snow rasselte überall durch. Nachdem sie Hebden Bridge hatten verlassen müssen, war sie im vergangenen September auf eine Mädchenschule in Truro gewechselt. Abgesehen von der Uniform war alles genauso wie auf ihrer alten Schule in Manchester, allerdings hatte sie sich durch das komplette erste Halbjahr geschlafwandelt. Sie hatte keine richtigen, neuen Freundschaften geschlossen. Die Mädchen hassten sie, weil sie hübscher war, und sie hatte absolut kein Interesse an irgendwelchen Flirts mit pickligen, weißen Profanen, die sich für Drill-Rapper hielten, weil sie eine Balaklava trugen, nur um ihnen dann einen runterholen zu dürfen. Der Unterricht spülte über sie hinweg, eine wässrige Suppe aus abgetrennten Flussarmen, kovalenten Bindungen und jambischen Fünfhebern. Es war einfach sehr schwer, sich für solche Dinge zu interessieren, wo sie doch eine viel größere Aufgabe hatte als ihre GCSE-Abschlussprüfungen.
Sie war jetzt eine Elementarin der Stufe 5. Das war die einzige Note, die ihr wichtig war.
Jeden Nachmittag, sobald die Schulglocke läutete, traf sie sich entweder zum Training mit Diana Bell, einer Hexe aus dem örtlichen Zirkel, oder sie ging an den Strand, um allein zu üben. Unter einer schützenden Wolkendecke versteckt zog sie gigantische, wirbelnde Wassersäulen in den Himmel, steuerte und lenkte sie. Und zur großen Verwunderung der Ortsansässigen und des Wetterdienstes erleuchtete sie den Himmel mit pulsierenden, weit verzweigten Blitzen. Sie lernte, die Blitzschläge zu absorbieren und den Strom durch ihre Hände zu leiten.
Genau wie ihre Mutter es getan hatte.
»Ich bin so unheimlich stolz auf dich«, sagte Helena jetzt. »Das weißt du, oder?«
Snow schloss fest die Augen und zwang die Tränen zurück. Sie war so müde, sie hatte das Gefühl, als sei ihr Kopf mit Zement ausgegossen. »Aber du bist nicht wirklich sie«, sagte sie noch einmal.
»Wäre es dir lieber, wenn ich so aussähe?«, zwitscherte eine Stimme mit irischem Akzent.
Snow öffnete die Augen wieder, und jetzt saß ihr Niamh Kelly gegenüber. Die Frau, die ihre Mutter ermordet hatte, ein liebenswürdiges Lächeln auf den Lippen, die Haare rot, alles wie immer, der ganze samtene Hippie-Scheiß. Unter dem Tisch ballte sie die Hände zu Fäusten. »Nein, ganz sicher nicht.«
Das Terrassenlicht flackerte kurz, und dann war ihre Mutter wieder da. »Ich spreche mit ihr, weißt du? Im Jenseits.«
Snow richtete sich auf. »Wie das? Kann ich sie sehen?«
»Nein. Aber sei versichert, sie wünscht sich nichts mehr auf dieser Welt, als dass du die mächtigste Hexe deiner Generation wirst.«
Das glaubte Snow ihr, trotzdem zog sie eine Grimasse. »Theo ist stärker«, sagte sie leidenschaftslos. »Leonie auch. Und Chinara. Und Niamh.«
Helena grinste schief und nahm einen Schluck von ihrem Merlot. »Nun denn. Wie können wir das ändern?«
BELLA
Im Film New Moon – Biss zur Mittagsstunde gibt es eine Szene, in der eine ziemlich weggetretene Kristen Stewart in einem Erkerfenster sitzt und zusieht, wie der Herbst in den Winter übergeht, begleitet von Lykke Lis klagendem Gesang. Niamh konnte an nichts anderes denken, während es unter ihrer Bettdecke immer wärmer und klebriger wurde. Wäre zum Schreien gewesen – wenn sie nur aufstehen könnte.
Reiß dich zusammen, Niamh!
Doch das klappte nicht. Vor ihrem beschlagenen Fenster lag ein weißgrauer Novemberhimmel. Diese sterbliche Welt war so furchtbar monochrom im Vergleich zu ihren Technicolor-Träumen auf der anderen Seite.
Sie krümmte die Finger, um zu überprüfen, ob das noch ging. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass Menschen im Prinzip genau wie Obst ständig und unmerklich vor sich hin faulten. Wie die flaumig weiche Pfirsichhaut Runzeln bekam und das Fleisch immer weicher wurde. Diese Vorstellung plagte ihre wachen Stunden.
Also ballerte sie ihren Kopf mit Friends zu. Zehn Staffeln, zweihundertsechsunddreißig Episoden. Ja, die Homofeindlichkeit war beinahe unerträglich, aber das war nun mal das Fahrwasser der Kinder der Neunziger gewesen. Ihr Laptop stand auf der Bettdecke, der Bildschirm nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Alle paar Episoden fragte die besorgte Streamingplattform nach, ob sie noch am Leben war und weiter bingen wollte. Und sie war sich wirklich nicht ganz sicher, wie sie darauf antworten sollte. Die Serie wirkte wie ein Beruhigungsmittel auf ihren Geist, und die immer gleich ablaufenden Geschichten sorgten dafür, dass sie nicht auf die gefährliche Seite der Hysterie abrutschte. Die Stille der Nacht erinnerte sie jedes Mal an diesen entsetzlichen Abgrund; Schlaf war dem Tod einfach ein kleines bisschen zu ähnlich. Es war kein willkommenes Gefühl, und so ließ sie die Episoden immer weiterlaufen, während sie schlief.
Nach jener Nacht im Wald vor beinahe zwei Wochen hatte sie sich gleich ins Bett gelegt. Seitdem war sie nur bis zur Toilette gegangen und hatte sich einmal die Haare gewaschen, als ihr vom langen Liegen auf dem Kissen schon die Haarwurzeln schmerzten. Niamh wusste, an sich war mit ihrem Körper alles in Ordnung, aber die Welt da draußen vor ihrem Cottage war viel zu groß. Sie spürte ihr Gewicht und wie erdrückend echt sie war. All das Gerummse und Gekrache. Ein Blechkonzert aus Mülleimerdeckeln. Die weichgezeichneten Erinnerungen des Nachglühens schwanden schnell, aber die waren ja auch überhaupt nicht real gewesen, nicht das echte Leben – Schmerz, Verdauung, Gähnen, Jucken, Rülpsen. Solch harte Kanten hatte es in ihrem sanften Santorinitraum nicht gegeben, nur das weiche Glühen der Liebe.
Sah so der Himmel aus? Ein Schaumbad der schönsten Erinnerungen? Doch auch darüber konnte Niamh nicht nachdenken, denn was, wenn sie den Himmel gefunden und wieder verloren hätte …? Ein unerträglicher Gedanke.
Sie wusste nur, dass Monster – wirkliche und andere – draußen auf sie lauerten. Da war es viel sicherer, zum viertausendsten Mal »Eile mit Weile« laufen zu lassen.
Vor ihrer Schlafzimmertür wartete so vieles, was bedacht werden wollte. Doch sie konnte sich dem nicht stellen. Sie war gestorben, und jetzt war sie wieder zurück. Und das war einfach zu viel.
Eines Morgens, der siebzehnte nach ihrer bizarren Wiederbelebung, erschnupperte Niamh etwas, das sie schon seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr gerochen hatte.
War das Speck? Aß Theo jetzt etwa Fleisch? Es duftete herrlich. Vielleicht sollte Niamh einfach das Handtuch werfen und auch wieder Fleisch essen. Scheiß auf die Moral, was hatte die ihr jemals gebracht? Den Tod, so nämlich.
Sie war gerade neugierig genug, um sich die Treppe hinunterzuwagen. Das erschien ihr an diesem Tag nicht ganz so gruselig.
Sie schlug die mittlerweile ziemlich räudige Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Im blassen, grauen Morgenlicht suchte sie nach ihren Ugg-Stiefeln. Sie fand einen, dann den anderen, und überprüfte, ob ihr auch keine Titte aus dem Nachthemd hing, ehe sie das Schlafzimmer verließ. Schon auf dem Flur war die Luft frischer. Ja, es war wirklich an der Zeit, diese Blase zu verlassen, diesen Katzenfutteratem-Mief. Es war ihr jetzt schon ein wenig peinlich, dass sie sich so lange dort oben verkrochen hatte. Irgendetwas hatte sich an diesem Morgen verändert.
Niamh tapste die schmale Treppe hinunter und zog den Kopf ein, um sich nicht zu stoßen. Theo hatte das Cottage makellos sauber gehalten. Natürlich zeigte sie sich von ihrer allerbesten Seite, schließlich hatte die kleine Hexe gerade erst die Toten wiedererweckt, Fuck noch mal. Ihre Hausgästin hatte ihr dreimal am Tag Essen ins Schlafzimmer gebracht und sich dabei wie auf Eierschalen bewegt. Niamh war bewusst, dass sie nicht gerade einladend auf sie gewirkt haben konnte – weder körperlich noch geistig.
Bei diesen Essenslieferungen hatte Theo ihr zögerlich und in mundgerechten, veganen Nuggets auch alles beigebracht, was sie verpasst hatte. Ciara hatte sich fast drei Monate lang als Niamh ausgegeben, und was waren das für aufregende drei Monate gewesen! Dabney Hale war tot. Das war wahrscheinlich gut so. Luke wurde vermisst und – überraschende Wendung! – war ein Hexenjäger. Das war natürlich weniger gut, erschien aber fast schon unbedeutend, wenn man bedachte, dass Milo Pearson die ganze verdammte Zeit in Wahrheit Luzifer gewesen war.
Niamh nahm diese Botschaften auf wie Folgen einer Serie, die sie im Urlaub verpasst hatte. Ungerührt, teilnahmslos. Sie kamen ihr nicht echt vor. Wann würde dieses merkwürdige Betäubungsgefühl abklingen? Das hier war echt. Nicht Santorini.
Niamh blieb am Fuß der Treppe stehen und spähte durch die Küchentür. Theo stand tatsächlich vor einer Pfanne am Herd. »Brätst du da Bacon?«
Theo zuckte zusammen, verständlicherweise ziemlich überrascht, sie wieder in der Senkrechten zu sehen. »Fakon«, sagte sie, nachdem sie sich einen Moment gesammelt hatte. »Veganer Bacon.«
»Aber … Das riecht …«
»Genau wie echter Bacon.« Theo zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich Hexerei. Willst du was?«
Plötzlich war Niamh so hungrig wie noch niemals zuvor. Eine willkommene Überraschung. Das zumindest fühlte sich echt an. »Unbedingt.«
Theo machte Sandwiches mit dicken Tigerbrotscheiben und HP-Soße und kochte dazu zwei Tassen dampfenden Tee. Sie aßen schweigend, und Niamh hatte ihr Sandwich schon verschlungen, ehe sie darüber nachdenken konnte, wie sie es überhaupt ohne einen Nervenzusammenbruch bis ins Wohnzimmer geschafft hatte. Tiger zumindest ging es gut, das hatte sie schnell überprüft. Er war noch immer bei Mike, der den Hügel hinunter wohnte. Ihr früherer Partner in der Tierarztpraxis hatte den Hund schon immer total verwöhnt, und Niamh bezweifelte nicht, dass Tiger seinen Aufenthalt dort in vollen Zügen genoss.
Sie bemerkte Theos Wissbegierde. Wie es schien, funktionierten Niamhs Kräfte völlig normal, sie hatte sich nur einfach keine große Mühe gemacht, sie einzusetzen. Dem Mädchen brannte eine Frage unter den Nägeln. »Na los«, sagte Niamh.
»Was?«
»Theo, du wirst noch explodieren, wenn du nicht endlich fragst.«
Theo sah sie zum ersten Mal richtig an. Und dann platzte es aus ihr heraus: »Bist du ein Zombie?«