Der Horoskop-Killer - Angela L. Forster - E-Book

Der Horoskop-Killer E-Book

Angela L. Forster

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Beschreibung

Hochspannung zwischen München und dem Alten Land bei Hamburg! Als die kurdische Dilan Yasar von ihrer Hochzeit verschwindet, stehen im Alten Land die Zeichen auf Sturm. Kaum jemand weiß die aufgebrachten Familien der Brautleute zu bändigen. Ungewollt wird Petra Taler, eine Münchner Kommissarin, in die Streitigkeiten verwickelt. Unterdessen erschüttert die Bevölkerung von München eine dämonische Mordserie. Laut polizeilichem Profil treibt ein scheinbar jahrhundertealter Killer sein Unwesen. Jeweils zum Ende eines Sternzeichens stirbt ein Mensch auf grausame Weise. Petra pendelt von Hamburg nach München und muss den bizarrsten Fall ihrer Karriere lösen. Wie findet man einen Killer, der keine Spuren hinterlässt? Kann der Astrologe vom Boulevardblatt Münchner Kreisel Petra bei den Ermittlungen helfen? Petra ahnt nicht, dass sie mit der hartnäckigen Art ihrer Nachforschungen dem Täter gefährlich nahe kommt und schon bald selbst in Lebensgefahr schwebt. "Der Horoskop-Killer" ist Petra Talers letzter Fall in München vor ihrer Versetzung in den hohen Norden. Dort erwartet sie - neben diversen Problemen mit Platt schnackenden Handwerkern - spannende Ermittlungen in einer Harburger Tierarztpraxis in "Schuldlos tot. Ein Hamburg-Harburg-Krimi".

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Angela L. Forster

DER HOROSKOP-KILLER

Forster, Angela L.: Der Horoskop-Killer. Ein Krimi zwischen München und Altem Land, Hamburg, acabus Verlag 2015

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-359-8

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-360-4

Print: ISBN 978-3-86282-358-1

Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag Umschlagmotiv: © Limbourg brothers [Public domain], via Wikimedia Commons

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2015

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Prolog

Ein Tanz auf dem Dach

1

Ängstlich suchte Dilan nach Alberts Hand. Ihr Herzschlag hämmerte in der Brust und das Blut rauschte ihr in den Ohren, während sie die Treppe im Hofladen erreichten und auf allen Vieren in den Spitzboden krochen. Sie konnten weder stehen noch gerade sitzen. Und trotz der spätsommerlichen Temperaturen lief beiden eine Gänsehaut über den Rücken.

Es roch nach Staub und irgendetwas Süßem und Herbem. Stimmengewirr drang zu ihnen nach oben. Sie hörten Lachen, Hundegebell, das Klingen der Münzen in der Kasse, wenn Hilda Dammann ihren Laufkunden im Hofladen Äpfel und Birnen verkaufte. In der Ferne schlug eine Autotür zu.

Dilan zitterte und schmiegte sich an Albert. Was hatten sie nur getan? Wenn man sie erwischte, war alles aus. Ihre Familie würde in Schande leben, sie selbst in den Osten der Türkei in ein abgeschottetes Bergdorf schicken, vielleicht töten, oder mit Glück, mit einem drei- oder viermal so alten Mann verheiraten. Der sie auf immer und ewig einsperre, schlüge und vergewaltigte. Was zählte das Wort einer Siebzehnjährigen bei kurdischen Familiengesetzen?

Und Albert? Ismail, Turhan und Mehmet, ihre Brüder, ließen Albert keine Ruhe, würden ihn jagen, verprügeln, vielleicht käme er mit dem Leben davon.

Albert knipste die Taschenlampe seines Handys an und ließ den kargen Lichtstrahl über den Spitzboden gleiten. Links ein Dreibeintischchen, kniehoch, etliche staubbedeckte Kartons und zwei zusammengerollte alte Teppiche, ihre vergilbten Fransen verknotet wie Lichterketten für den Weihnachtsbaum.

Hier suchte sie so schnell niemand. Die Bahn war frei.

Um zwei oder drei in der Nacht, wenn alles schlief, würden sie sich vom Dach schleichen und bei Dilans Oma Johanna, in Jork, unterschlüpfen. Denn auch, wenn Johanna nicht Dilans richtige Oma war, so teilten die Frauen, die aus Kulturen stammten, die unterschiedlicher nicht sein konnten, ein und dasselbe Schicksal.

Dilan öffnete die blumenbedruckte Reisetasche; vor Tagen schon hatte Albert diese auf dem Kriechboden im Haus seiner Eltern versteckt. Sie zog das Brautkleid aus und schlüpfte in Jeans, weißes T-Shirt und Strickjacke.

Ein Wahnsinn, dachte sie. Das ist alles ein Wahnsinn.

Ein halbes Jahr hatten sie geplant. Ein halbes Jahr voller Angst etwas zu sagen, zu tun, was sie verriet. Ihre Liebe verriet. Und jetzt, jetzt kam alles anders, war ihr Plan dahin. Musste alles schnell gehen.

Vor zwei Jahren lernte sie Albert in der Jorker Bücherei kennen. Sie recherchierte für ein Referat in der Schule über den Abwurf der Atombombe der USA am 06.08.1945 über Hiroshima. Albert suchte Karteninformationen aus Kolumbien. Irgendwann würde er nach Südamerika, nach Cali, auswandern, Tabak anbauen wie seine Tante oder eine Strandbar am Golfo Tortugas eröffnen.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Eine Liebe ohne Hoffnung, Zukunft, für sie, die kurdische Dilan Yasar und Albert Dammann, den deutschen Hofsohn. Ich gehe zu unseren Vätern, hatte er gesagt. Ich werde sie von unserer Liebe überzeugen. Dilan hatte ihm den Zeigefinger auf den Mund gelegt und traurig den Kopf geschüttelt.

Doch jetzt war es soweit. Es dauerte nicht mehr lange und sie waren frei. Vogelfrei.

Dilan kuschelte sich enger an Albert. Sie erschraken, als die Stimmen von unten lauter wurden und die Luke der Spitzbodendecke sich einen Spalt öffnete, einen Lichtstrahl und einen Luftzug auf ihre Gesichter warf. Mit Schwung rollten sich Dilan und Albert hinter die Kartons, legten sich auf den Bauch und hielten die Luft an. Dilan brach der Schweiß aus. Rinnsale bildeten sich an ihrem Hals, unter den Achselhöhlen, zwischen ihren Brüsten, während sie darauf warteten, dass Alberts Mutter ihre Körperfülle in die Dachluke schob und sie entdeckte.

Es war ein Wahnsinn, was sie hier taten. Ja, ein wirklicher Wahnsinn.

»Nein, Gerda, das ist doch gar kein Problem. Ich habe sie nur hier auf den Kriechboden geschoben, weil sonst mein Mann eine nach der anderen aufpafft. Er kann es nicht lassen, dabei hat der Arzt ihm dringend geraten, mit der Qualmerei aufzuhören. Aber hat man eine Schwester in Kolumbien, die ebenso unvernünftig ist, kann ich ja reden und reden. Ständig schickt sie ihm neue Stinker. Und immer kann ich ja auch nicht sagen, dass ein Paket verloren gegangen ist. Wie viel brauchst du?«

Ein nackter fleischiger Arm streckte sich vor, Finger tasteten über Teppiche, die staubbedeckte Holzdecke. »Verdammt, wo ist er denn hin? Ich hab ihn doch nach vorne … Ah, da haben wir sie ja.« Ein Karton wurde an den Spalt gezogen, geöffnet, Papier knisterte, süßherber Duft erfüllte verstärkt den Bodenraum. Reifer Pfirsich und Leder.

»Halte mal die Leiter, Gerda, wenn ich da reinkrieche, bleibe ich noch stecken. Also, wie viel?«

»Gib mir zehn Stück. Am Wochenende kommen mein Bruder und mein Schwager. Die qualmen was weg.«

»Das Stück kostet heute sieben Euro. Nur, dass du Bescheid weißt.«

»Schließt du dich schon den Weihnachtspreisen an?«

»Weihnachten ist in drei Monaten, Gerda. Willst du jetzt quaken oder Zigarren kaufen? Wenn dir meine Preise nicht schmecken, kauf dir welche beim Lottoheini an der Ecke. Aber ich sage dir, meine Qualität ist allerfeinste Chiamocha.«

»Ja, schon gut. Komm wieder runter, ich brauche noch zwei Kilo Zwetschgen. Wie geht es eigentlich Albert? Ich habe ihn lange nicht gesehen.«

»Albert geht es gut. Er macht sein Abitur und muss viel lernen.« Die Dachluke schloss sich. Die Stimmen wurden leiser.

»Und ist er jetzt …? Hat er was gesagt …? Na, du weißt schon. Wir sprachen doch neulich …«

»Gerda, was unser Albert ist oder nicht ist, geht dich feuchten Jorker Fleetschlamm an.«

»Ich mein’ ja nur. Weil doch bei uns, im Alten Land, der Hof meist von einer Generation in die nächste wechselt und wenn er …«

»Gerda, ich verspreche dir, schwule Pflaumen schmecken dreimal so gut. Hier, deine Zwetschgen, etwas sauer, aber garantiert hetero angebaut.«

Dilan und Albert kicherten mit vorgehaltener Hand, um nicht laut loszuprusten.

»Dieses blöde Dorfgequatsche«, flüsterte Albert. »Wenn die wüssten.«

»Besser nicht«, sagte Dilan, bevor Albert ihr Gesicht mit Küssen bedeckte. »Es gäbe einen Tanz auf dem Dach.«

2

»Wo bleibt mein Kaffee?« Peter Kellberg röhrte durchs Glaskastenbüro als spucke er eine Ladung Schrot aus der Kehle.

»Morgen, Rita. Wo willst du deine Postkiste hinhaben?«, fragte Frank Schubert seine Kollegin.

Rita wechselte das übergeschlagene Bein und wippte mit dem Fuß. »Morgen, mein Lieber. Treibt dich Peterlein wieder?«

»Er muss warten. Welches Sandwich willst du vom Wagen? Salami, Käse oder Thunfisch?«

»Selbstversorger«, flötete Rita und deutete auf eine kleine Tupperdose mit Salat.

Sie waren Freunde. Peter und Frank. Absolvierten an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Studien in Kommunikationswissenschaft. Dann büffelte Frank zwei weitere Jahre vor dem Dachverband der Astrologen, während Peter auf seine Karriere als Sportredakteur beim Boulevardblatt Münchner Kreisel zuraste. Sportberichte aus aller Welt folgten aus seiner Feder. Seine Arbeit wurde hochgelobt und seine Zukunft schien ein lässiger Spaziergang zu werden.

Frank gestand sich ein, dass er den ›rasenden Peter‹, wie ihn Kollegen nannten, bewunderte, zu ihm aufschaute, während er seinem Traum nachjagte und seine Familie mit Nebenjobs über Wasser hielt. Das Letzte, was Frank nach dem Studium von Peter gehört hatte, war, dass er auf den Philippinen geheiratet und in Münchens Innenstadt eine Penthousewohnung gekauft hätte. Dann verloren sie sich aus den Augen. Und fast hätte Frank den alten Freund nicht erkannt, als der zufällig eines Tages in der Bank in der Schlange am Schalter vor ihm stand.

Ohne Lausbubenlächeln, vierzig Kilo mehr, aschfahl und obwohl mit fünfunddreißig gleich alt, gebückt wie ein alter Mann. Den Springerjob im Verlag, den Peter ihm drei Wochen später vermittelte, war, wie sich schnell herausstellte, keine einsilbige Wohltätigkeit. Eher der Versuch, die eigene lichtlose Misere zu vergessen und schlechte Laune an Rangniederen auszulassen.

»Hey, Franky-Boy. Beweg dich und bring mir endlich meinen Kaffee, ich verdurste hier in dem Laden«, grölte er zum zweiten Mal.

Frank warf einen letzten Blick auf seidiges Perlon, schob den Postwagen mit Peters Kaffeebecher zur nächsten Tür und dann passierte es.

Der Anfang, das Ende und alles von vorn.

3

Die Wintersonne stand gen Süden, als Chefredakteur Arnold zu Lichtenstein Frank in sein Büro zitierte. Frank war sich sicher, sein letztes Stündlein würde schlagen. Lichtensteins Heiligtum zu betreten, glich dem Gang zum Schafott. Verdammte Scheiße. Warum war ihm das nur passiert, und wie sollte er das Susanne erklären?

Frank trat in den Paternoster, schloss die Augen, hörte ächzendes Holz. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr aus der Gegenwart auszubrechen, nichts, was er sagte oder täte, änderte diesen Moment. Er stöhnte leise, ließ die Augen geschlossen. Es war angenehm, hell und dunkel zugleich. Er lehnte sich an die Kabinenwand, spürte leichtes Vibrieren, Ruckeln an jedem seiner Wirbel, aufsteigende Wärme. So könnte es bleiben: weiterfahren, hoch, runter, im Kreis, immer weiter. Er atmete tief ein und aus, öffnete die Augen, orientierte sich, wartete noch ein Stockwerk und noch eins und stieg dann aus.

Nachdenklich und schwitzend betrat er den langen Gang. Eine Tür nach der anderen, messingfarbene Namensschilder an schwarzbraunem Holz, links, rechts, kein Mensch. In seinen Schläfen klopfte es und der Gang vor ihm flimmerte wie das Bild auf einem defekten Fernseher. Er atmete ein und wusste, er atmete erst aus, wenn er angekommen war. Noch drei, vier, fünf Schritte. Er streckte die Hand aus, schnaufte, klopfte ans Holz. Zu zaghaft, leise, vielleicht zu leise, um drinnen im großen Raum gehört zu werden, und wenn, dann … Er zog die Hand zurück, sich weigernd es ein weiteres Mal zu versuchen. Susanne und die Kinder fielen ihm ein. Scheiß Kaffee.

Er könnte … zu spät.

Ein Windzug jagte über sein Gesicht. Dann stand er vor ihm, mürrisch und groß, ein unüberwindbarer Berg ohne Halt über Eis und Gestein. Wie aus weiter Ferne, umschlingend, einnehmend, hörte er Worte, die ihn anzuklagen schienen.

»Schubert, da sind Sie ja endlich.« Lichtenstein drückte Frank die Hand als quetschte er einen hartnäckigen Pickel aus, griff mit der anderen seinen Oberarm und zog ihn ins Büro. »Ein bisschen Medizin?« Sein Atem feuerte ein undefinierbares Konglomerat in den Raum. Frank mutmaßte Nelkenöl, Desinfektionsmittel und der abklingende Dunst einer Lokalanästhesie. Ein Brodem, der seine Nase bestieg und seinen Würgereiz verstärkte. Was wollte er von ihm? Wollte er ihn betäuben, bevor er ihm den Todesstoß verpasste?

4

»Üble Sache heute Morgen.« Lichtenstein blinzelte aus zusammengekniffenen Brauen und grapschte gezielt in die Zweierreihe Flaschen, die drei Schritte weiter akkurat nebeneinanderplatziert an Soldaten beim Appell erinnerten.

Also doch, dachte Frank. Peter hatte sich über die Ladung Kaffee auf seiner Wampe bei seinem Saufkumpan Arni ausgeheult.

Trotz der Ernsthaftigkeit der Lage, in der er sich befand, schmunzelte er, vermied jedoch Lichtensteins Blick. Peter, als Lacher der Abteilung. Ein übergewichtiger, gekochter, zum Leben erwachter Hummer, der auf dem Flur an den Kollegen wie ein Pfeil vorbeischoss. Ein Bild, das im Verlag Wochen für Gesprächsstoff sorgen würde.

Lichtenstein füllte zwei Stumpengläser mit ölig gelblicher Flüssigkeit, schob Frank eins in die Hand.

»Schwamm drüber. Peter kläfft wie’n Bluthund, dem man das Karnickel klaut, aber der beruhigt sich wieder.« Mit absterbendem Lächeln kippte er das Hochprozentige, das einer Tinktur zum Hühneraugenentfernen glich, in seinen Schlund. »Das Teufelszeug ist von meinem Vierundfünfzigsten übrig geblieben.« Er schmatzte, um den Geschmack des Alkohols einen Augenblick zu verlängern. Dann schnappte er nach der Flasche und schwenkte sie durch die Luft. »Frank, ich nenn’ Sie Frank«, setzte er erneut an, »wir Zeitungsleute sind doch eine Familie.«

Lichtenstein füllte sein Glas erneut, setzte es an den Mund, entfernte es, leckte sich die Lippen ohne getrunken zu haben und zögerte. »Nun, was soll ich sagen?« Als wolle er seiner Rede mehr Ausdruck verleihen, schob er den birnenförmigen Bauch vor, lachte wieder, nur dünn und nicht bayrisch, eher hanseatisch kühl. Frank kannte das Lachen. Ein Onkel aus Hamburg-Blankenese, seit fünfzehn Jahren hatte er ihn nicht mehr gesehen, doch sein Lachen war ihm noch in Erinnerung. Die Knopfreihe in Lichtensteins gestreifter Baumwolle wehrte sich gegen die Erschütterung. Und Frank fragte sich, ob ihm gleich siebzehn Perlmuttknöpfe wie Katapultgeschosse um die Ohren sausten.

»Margarete, das alte Mädchen … stellen Sie sich vor«, begann Lichtenstein, »schmeißt die mir heute Morgen den Job vor die Füße.« Unvorsichtiger, als es Glas auf Glas zuließ, landete die Flasche auf dem Tisch und Lichtensteins Masse im rostbraunen Polster der Sitzecke.

Frank rutschte in den Sessel gegenüber, unsicher, was folgte.

Der Todesstoß oder die Auferstehung.

»Sagt, sie habe einen Lottogewinn eingefahren, und ich solle mir die lausigen Kröten für die Sterndeuterei in die Haare schmieren. Und für Ersatz dürfte ich in den unteren Reihen wühlen. Alleine wühlen, als wüsste ich nicht über meine Leute …« Ein Schnauben kroch aus Lichtensteins Kehle, während er mit der Rechten über die teigig glänzende Stirn wischte. Dieser Mann schwitzte und schnaufte ständig. Im Sitzen wie im Stehen. Wobei seine aufsteigende Hitze möglicherweise vom zweiten gefüllten Glas herrührte, das er sich wie Orangenlimonade in den Rachen kippte.

Lichtenstein war ein großer, sehr schwerer Mann, der etwas von einer Galionsfigur besaß. Die runden, starr blickenden Augen, buschig nach oben geschwungenen Augenbrauen, die breiten wulstigen Lippen und eine Nase, die mittig knollenförmig auswucherte, gaben dem Gesicht die Courage, die es brauchte, um durchs Leben zu gehen.

Doch Frank wusste, Lichtenstein war nicht zu unterschätzen. Nächstenliebe war für ihn ein Fremdwort; die Auflage des Münchner Kreisels Muttermilch. Bei jedem seiner Worte bot sich Vorsicht an. Im Verlag galt er als Täuscher mit messerscharfem Verstand und einer Entschlossenheit, die ihn rasant in den Chefsessel katapultiert hatte. Lichtenstein tat nichts ohne Gegenleistung. Er drehte das Rad und wer nicht mitdrehte, landete in der Sackgasse. Kollegen verliehen ihm den Beinamen Kameltreiber.

»In jedem Schlechten steckt auch Kapital«, sagte Lichtenstein rau. »Und in Ihrer Personalakte … Noch zwei Jahre Astrologie nachgesetzt. Vorbildlich, vorbildlich.« Sein Mund verzog sich zu einem anerkennenden Grinsen. Dann schlug er Frank so kräftig auf die Schulter, dass der fast vornüber vom Sofa gefallen wäre. Wie ein Routinier, der keine Widerworte duldete, schnaufte er: »Eine Zeitung ohne Horoskop, was ist das schon? Sagen wir’s mal so, das ist ja nur die halbe Miete, was?« Er gönnte Frank den Versuch eines schmallippigen Lächelns. »Sollten Sie jedoch … Aber ich denke, wir verstehen uns.«

5

Franks Begeisterungsstürme, den Posten des Astrologen im größten bayrischen Verlag, dem Münchner Kreisel, zu erhalten, erstickten, als er die mit Bücherbergen bepackten Pappkartons in Margaretes verlassenes Büro schob.

Wie abgeschoben lag das Büro neben dem Paternoster, der hölzerne Kabinen in knarrenden Stößen von Etage zu Etage trieb. Ein Raum mit einem kleinen runden Erkerfenster, aus dem man nichts weiter sah, als die graue halbseitige Hofeinfahrt.

Ein Acht-Quadratmeter-Loch mit einem Schreibtisch aus Teakholz und vorstoßenden Krallenfüßen, bei denen unweigerlich der Gedanke auftauchte, sie erwachten jeden Moment zum Leben, um der engen Tristesse zu entfliehen.

Von Auferstehung war dies weit entfernt.

6

Firat Eken lehnte mit dem Rücken am Wagen von Heitmanns Fischbrötchenstand und starrte auf Annemarie, die im Hafen der Borsteler Binnenelbe hin- und herschaukelte.

Der Festsaal in Buxtehude, wo viele türkische und kurdische Hochzeiten stattfanden, war an diesem Wochenende belegt und so hatte sein zukünftiger Schwiegervater aus Zeitmangel das Schiff Annemarie gebucht und zusätzlich ein einhundert Meter langes Festzelt auf dem Steg aufgebaut. 234 Gäste fanden sich ein und feierten Hochzeit.

Die zehn Mann starke Musikband spielte seit drei Stunden. Sänger Orut sang von Liebe, Schmerz und Hoffnung. Paare tanzten zu der Musik der Darbuka, Saz, der Ud und Tef-Trommel. Zu 18 Uhr hatte sich der Hodscha aus der Moschee angekündigt, um die Zeremonie abzuhalten. Doch wo war Dilan, seine zukünftige Frau? Seit einer Stunde hatte sie niemand mehr gesehen. Mir ist übel, hatte sie ihm gesagt. Ich werde mich ein wenig zurückziehen.

Er hatte genickt, ihr den Mantel um die Schultern gelegt, sie um den kleinen Gemeindesportplatz gehen und dann in den mit roten Rosen geschmückten Van einsteigen sehen. Vielleicht eine Viertelstunde, Frauen brauchen ab und zu eine kleine Auszeit. Er gönnte es ihr. Er war kein strenger Kurde, nicht allzu religiös wie sein Schwiegervater und Dilans drei Brüder. Dennoch folgte er den Familiengesetzen und den Heiratsversprechen der Familien Yasar und Eken. Da änderte es auch nichts, dass er Asli, die Tochter seines Arbeitskollegen, liebte. Ein ehrenhafter Mann stand zu seinem Wort.

Aber dass Dilan ihn hier stehen ließ, wie einen ausrangierten Besen, gehörte sich nicht für eine zukünftige kurdische Ehefrau, es gehörte sich überhaupt nicht. Und eine Stunde Auszeit war, wie er fand, mehr als genug.

Firat ging zum Parkplatz und öffnete die Tür des Vans. Dilan war verschwunden. Er fand sie nicht in einem der anderen Hochzeitsautos, nicht auf der Annemarie, nicht unter den Gästen, nicht bei den Frauen, die Schokolade, Nüsse, Bonbons und Baklava auf das opulent gefüllte Buffet nachlegten, das im Festzelt aufgebaut war. Was er fand, war die rote Schleife, die Dilan an ihrem Gürtel trug, die ihre Jungfräulichkeit symbolisierte, und die jetzt in seiner zusammengekrampften Faust verschwand. Er wusste, was das bedeutete und er musste Dilan finden, bevor …

Firat rannte um den kleinen Gemeindefußballplatz, hinein ins Naturschutzgebiet, vorbei an der Apfelplantage und weiter ans Elbufer. Schweiß klebte sein weißes gesmoktes Hemd an seine Brust. Er riss sich die Fliege vom Hals, öffnete die schwarz glänzende Weste. Sein zwanzigjähriges Herz hämmerte und kalte Abendluft legte sich brennend auf seine Bronchien. Er sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann kam der Hodscha, um mit ihnen und den Trauzeugen die Gebetswaschungen vorzunehmen, aus dem Koran zu lesen und dem Brautpaar Glück zu wünschen. Doch wie das alles ohne Braut?

Ich habe keine Wahl, dachte Firat, ich muss es den Eltern sagen.

7

»Oh, Allah! Statt dass ich ein Mädchen geboren habe, hätte ich lieber einen Stein geboren! Oh, Allah! Oh, Allah! Was werden nur unsere Gäste denken?«

»Hör auf zu klagen, benim Hanum«, befahl Hasan Yasar. »Ihre Brüder werden die Schande, die sie über uns gebracht hat, sühnen. Bizi ayleme rezil ettin öldürecem seni. Wir werden sie suchen und finden.«

Hasan Yasars Miene verdunkelte sich. Seine Augen unter den buschigen steingrauen Brauen verengten sich, seine Kiefer mahlten bedrohlich, und sein Atem schwang tief und schwer, hob seinen Brustkorb an wie einen aufsteigenden Ballon.

Mit festen Schritten erreichte er den Sänger Orut, als der gerade ein neues Lied anstimmen wollte.

Hasan Yasar riss ihm das Mikrofon aus der Hand, umklammerte es mit beiden Händen, als hielte er sich daran fest, räusperte sich einmal, verbeugte sich tief und verkündete: »Geehrter Hodscha, Ismail, Turhan, Mehmet, meine lieben Söhne, liebe Familie, Freunde und Gäste. Wir feiern heute die Hochzeit von meinem Schwiegersohn Firat Eken und meiner Tochter Dilan Yasar.« Hasan Yasar wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Doch unsere Tochter hat Schande über unsere Familie und die Familie der Ekens gebracht. Sie ist seit einer Stunde verschwunden. Hier«, sagte er, »seht her.« Er hielt die rote Schleife in die Höhe.

Ein Raunen, Stöhnen und Aufschreien ging durch die Menge. Frauen hielten sich die Hände vor den Mund, andere brachen in Tränen aus, wieder andere verkniffen sich ein Schmunzeln. Einige Männer rotteten sich zusammen wie wild gewordene Stiere, ballten die Fäuste und stießen heftige Flüche aus. »Meine Brüder und ich werden sie finden«, sagte Ismail zu seinem Vater. »Wir bringen sie dir zurück.«

»Wenn ihr sie findet, behaltet sie. Ich habe keine Tochter mehr.«

Ismail nickte und schlug die rechte geballte Faust in die linke Hand. Er und alle anderen Anwesenden hatten verstanden.

Erster Teil

Mord um Mord

1

Montag, 22. Dezember 2008

Petra Taler schob eine kastanienbraune Strähne aus der Stirn. Um ihre Mähne in einen Zopf zu verwandeln, war sie zu spät aufgestanden. Und um in der morgendlichen Hektik, die bei ihr regelmäßig in Trödelei überging, Zeit zu sparen, verlegte sie den Rest der Morgentoilette ins Büro. Sie wühlte in der Schreibtischschublade zwischen Papieren, abgebrochenen Bleistiften und Schokoladenriegeln nach einem Haargummi oder Vergleichbarem, das ihre Locken in Zaum halten konnte.

»Wer bringt denn einen Menschen mit Pfeil und Bogen um?« In ihrer vierjährigen Laufbahn als Kommissarin hatte sie nie von einer solch außergewöhnlichen Tat gehört. »Das ist tiefstes Mittelalter«, murmelte sie. Ein schwarzes Samtband hing ihr wie eine Lakritzstange aus dem Mund, stank aufdringlich zitronig und schmeckte zudem seifig. Sie spürte mit Zeigefinger und Daumen nach einem Fussel im Mund, verzog das Gesicht, sammelte ihr Haar im Nacken und band es mit dem Band stramm auf dem Hinterkopf zusammen. »Und, fällt dem Herrn Kollegen auch etwas zu unserem Fall ein?«

Hauptkommissar Christoph Eichberger nickte stumm auf eine skizzierte Handzeichnung in einem Stapel Polizeifotos.

»Was? Was willst du mir sagen? Spuck es aus.« Die beharrliche Ruhe, die ihr Kollege an den Tag legte, machte sie unruhig. Möglich, dass es an der Presse lag, die die Münchner Polizei seit Monaten als unfähig darstellte. Oder an Klaus, ihrem Verlobten, der seine Sesamcracker nicht fand und ihr die Schuld gab. Oder auch daran, dass sie in den Mordfällen keinen Deut vorankamen, ihr keine brauchbaren Ideen einfielen, obwohl sie bis spät in die Nacht und jedes Wochenende arbeiteten.

Die ausbleibenden Erfolge und der Schlafmangel machten sich bemerkbar und versprühten eine demoralisierende Wirkung auf das gesamte Team.

Die Stimmung näherte sich dem Nullpunkt.

»Der kurze Bogen, den der Pfeil nach dem Lösen der Sehne nahm, um sein Ziel zu erreichen, beweist uns, dass aus höchstens zwei bis vier Metern Entfernung geschossen wurde«, sagte Eichberger.

»Ist nichts Neues. Steht im Bericht der KTU-ler.« Mit den Fingernägeln trommelte Petra auf der Schreibtischplatte.

»Weißt du.« Eichberger faltete die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich ins Polster. Sein dichtes Haar glich hellem poliertem Holz und lockte in weicher Welle über die Stirn. »Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, es bleibt dir nichts anderes übrig, als in die Fußstapfen des Opfers zu treten und an der Isar rückwärts zu joggen.«

»Ich? Warum denn ich? Meinst du …?« Ihr kritischer Blick streifte ihre Hüftregion. Klaus’ unschuldiges Lächeln fiel ihr ein. Sein Bio-Körnermüsli mit Magerjoghurt, zufälligerweise an ihrem Platz des Küchentisches gestellt.

»Quatsch, alles topp«, sagte Eichberger und manövrierte seine Beine unter den Schreibtisch. »Du weißt, wie ich das meine. Ich denke nur, wir denken nicht wie der Täter. Wie tickt der Kerl? Warum jeden Monat ein Mord? Wo ist der Baustein, der uns fehlt?«

2

Petra nickte, nahm die Akte, rutschte mit einer Hinterteilhälfte auf Eichbergers Schreibtisch. »Karin Bertram, fünfunddreißig, Bankangestellte«, las sie. »Das Tatwerkzeug, der Pfeil, mit einer aus Pappelholz gefertigten Spitze, lässt darauf schließen, dass dieser von einem traditionellen englischen Langbogen abgeschossen wurde. Die Spitze durchbohrte ihr Herz und trat rückseitig aus dem Torso. Karin Bertram wurde heute Morgen um 7 Uhr am Isarufer gefunden. Sie wurde beim Joggen ermordet. Ihr Tod lag bereits zwei Tage zurück.« Die achte Tote in neun Monaten. Christophs Vermutung stimmte, sie dachten nicht wie der Täter, verstanden nicht die Folge. Seine Folge.

»Wir müssen rauskriegen, ob die Bertram allein lebte. Wie war ihr privates oder berufliches Verhältnis zu irgendwem? Was tat sie den Tag über? War sie in einem Bogenschützenverein? Meinetwegen auch was ihre Lieblingsspeise war.« Mit Eichbergers anfänglicher Ruhe war es vorbei. Angespannt rutschte er auf dem Stuhl hin und her, fischte aus einer hühnereigroßen Metalldose Pfefferminzdragees und warf sie sich in den Mund.

»Und noch was, Christoph. Ich wette, auch die Bertram wird in keinerlei Zusammenhang mit allen anderen Opfern stehen. Wir haben acht unbescholtene tote Bürger. Nicht den geringsten Hinweis. Eine Presse, die immer fordernder wird und bald ihre Zelte bei uns auf der Wache aufschlägt. Doch das Sahnehäubchen ist der Täter, der sich für unbesiegbar hält. Zudem schieben wir eine Überstunde nach der anderen, nur um am Ende des Tages festzustellen, dass unser Geisterpatron schlauer war als unsereins. Und jetzt mach ich mich vom Acker«, sagte sie. »Wenn mich jemand sucht …«

»Wäre es schön, wenn du dein Handy anstellst.«

Sie nickte, zog die Jacke von der Stuhllehne und huschte mit dem Blick über die aufgeschlagene Seite einer Frauenzeitschrift.

Es war ein Bruchteil einer Sekunde, die ihr Gehirn brauchte, um von Ahnungslosigkeit auf Wissen zu wechseln.

3

»Sport ist Mord, ich sag’s euch.« Peter Kellberg schleuderte das Tagesblatt des Kreisels, das in breiten Lettern vom Mord einer Joggerin am Isarstrand berichtete, auf den Schreibtisch.

»Und dieser schlaue Spruch fällt gerade dir als ehemaligem Sportjournalisten ein«, spottete Achim Fender.

»Na und«, setzte der tönend nach, »muss ich bei jedem Heimspiel in erster Reihe sitzen? Schuster laufen auch nicht alle mit geraden Absätzen herum. Außerdem, was heißt hier ehemaliger Sportjournalist?« Kellberg zog die Augen zu Schlitzen.

Außer Kellberg selbst, der seine Ausweglosigkeit verdrängte, wusste jeder im Verlag, dass er die erste Reihe längst verlassen hatte. Der anfängliche Ruhm brach ihm das Genick. Er machte ein Vermögen mit seinen kolossalen Sportberichten, verprasste alles Geld für Frauen, Reisen und Glücksspiele, später für Rennpferde. Die Suche nach Sponsoren für seine Wettleidenschaft machte vor keinem Halunken halt. Umso brenzliger wurde es für ihn, errang der Gaul, auf den er setzte, nicht den Sieg. Wie letzten Sonntag, als Cutty Sark kurz vor Ziel anfing zu lahmen. Fender und Schimmelpfennig hatten ihn ausgelacht, er sei selbst schuld, wenn er seine letzten Kröten auf einen schottischen Klepper setzt, der Kurzes Hemd heißt.

Peter war buchstäblich am Ende und schuldete den Leuten, die ihm Geld vorgestreckt hatten, fünfstellige Summen. Und damit er wieder ruhig schlafen und sich auf der Straße frei bewegen konnte, ohne sich ständig schweißnass umzudrehen, brauchte er eine neue lukrative Einnahmequelle. Denn wie die Dinge lagen, riss seinen Gläubigern der Geduldsfaden.

»Vielleicht hat einer Robin Hood gespielt«, warf Frank in die Runde.

»Klar, beklau die Reichen und schenk es den Armen. Also wirklich, Sterntaler, was stiehlt man einer Joggerin?«, höhnte Achim.

»Das Leben, Achim, das Leben.« Frank zischte »Arschloch« durch die Zähne und verließ den Raum. In der Abteilungsküche erwischte er vor Jens Martens aus der Werbung den letzten Becher Kaffee. Seitdem er Peters Wampe markiert hatte, lautete obrige Anweisung, sich den Muntermacher selbst zu besorgen. Für den neuen Laufburschen eine Erleichterung.

Mit dem Becher in der Hand rutschte Frank hinter den Schreibtisch. Seine Frau Susanne, Julius, sein Sohn, und Baby Sophie lächelten aus goldfarbenem Bilderrahmen. Die Aufnahme zeigte alle drei in eine Wolldecke gewickelt in einem blauweiß gestreiften Strandkorb an der Nordseeküste Dänemarks. Ein Gefühl des Glückes legte ein Lächeln über sein Gesicht. Er nippte am Kaffee, sah der kleinen Spinne nach, die sich an der Wand nach oben ihrem Netz näherte, und lenkte seine Aufmerksamkeit dann auf seine gestrigen Aufzeichnungen.

Frank hatte gerade eine Stunde gearbeitet, als es an der Tür klopfte.

»Herein«, sagte er, doch nichts rührte sich. Er warf noch ein »Ja, bitte« hinterher, doch die Tür blieb geschlossen.

Dann eben nicht, dachte er und vertiefte sich wieder in die vor ihm liegenden Zeichnungen, deren Striche und Kreise einem verworrenen Schnittmuster glichen. Und eine Weile blieb es ruhig, bis fordernder, dumpf klingend, erneut ein Pochen den kleinen Raum einfing.

Frank stand auf, öffnete die Tür und trat auf den Gang. In Ritas Büro hielt Kevin, der neue Bürobote, ein angeregtes Schwätzchen, während seine Kollegen in Arbeit versunken über ihren Schreibtischen hingen. Selbst Lichtenstein, der ab und an wie ein hungriges Raubtier kontrollierend über den Flur schlich, blieb verschwunden.

Ich hör die Flöhe husten, dachte Frank und kehrte in sein Büro zurück.

Dann standen sie da. Zeilen, fett gedruckt, wie die Reklametafeln vom Würstchenstand, blinkten ihm von seinem Computerschirm entgegen:

Robin Hood! Dass ich nicht lache! Was ihr Menschen euch für Fantasiegestalten ausdenkt, um etwas zum Träumen zu haben!

4

Franks Lachen verdunkelte sich. Sein Gesicht mit der wohlgeformten Nase und dem festen Kinn wirkte angespannt. Er, als wissenschaftlicher Astrologe, wechselte nicht die Straßenseite, wenn eine schwarze Katze seinen Weg kreuzte, oder erwartete sieben Jahre Unglück bei einem zerbrochenen Spiegel. Das konnte nur ein neuer Streich seiner Kollegen sein. Verärgert legte er die Finger auf die Tastatur.

»Also gut«, sagte er, »lasst uns spielen.« Dann schrieb er: »Wer bist du?«

»Dein Freund«, erschien sekundengleich.

Frank lachte auf. »Hey, Peter, altes Haus. Toller Trick, musst du mir unbedingt verraten.«

»Peter war dein Freund.«

»Ach, hör auf. Komm rüber, lass uns Kaffee trinken. Hast einen gut bei mir.« Franks Finger flogen über die Tastatur, wie eine aufgescheuchte Vogelschar.

»Noch einmal. Peter war dein Freund.«

»Also gut, Achim, Daniel oder wer auch immer. Ihr könnt aufhören. Ich hab keine Lust Ringelreigen zu spielen.« Frank griff nach der Packung Zigaretten und spürte ein unergründliches Gefühl in seiner Magengegend. Ein Gefühl, dass hier was ablief, was er nicht einzuordnen vermochte.

»Ringelreigen?«

»Ein Kinderspiel. Kennst du das nicht? Hat dich der Esel im Galopp verloren oder warum fragst du so blöd?«

»Zügle deine Worte, Frank. Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast.«

Frank hieb die Faust auf den Tisch. Kaffee schwappte in der Tasse und Ascheflocken stoben über Unterlagen. »Achim Fender, ich als wissenschaftlicher Astrologe und … Verdammt! Sag, was du willst. Für infantile Albernheiten ist meine Zeit zu schade.«

Eine Sekunde nach der anderen verging. Wie gebannt starrte Frank auf den Schirm, bis er seine Antwort erhielt.

»Einzig dir Macht, Ruhm und Reichtum verschaffen.«

»Ha. Wusste ich’s doch!« Frank sprang vom Stuhl auf, drehte sich im Kreis und suchte mit den Augen im Raum. Seine Kollegen waren noch nie ideenlos, ging es darum, ihm eins auszuwischen und ihn hinterher in der Kantine zum Gespött des Verlages zu machen. Aber das hier ging zu weit.

Er sah unter den Tisch, in alle Ecken, schraubte das Telefon auseinander, stieg auf den Stuhl und betastete die Deckenleuchte. Die Spinne hangelte aufgeschreckt, schneller als zuvor, in ihr Netz, verschwand in einer Wandfuge. Nichts.

»Diesmal habt ihr euch tüchtig Mühe gegeben«, sagte er. Er klopfte den Staub von den Fingern, rutschte auf den Stuhl, legte die Finger auf die Tastatur und schrieb: »Schluss jetzt! Lang genug war ich der Trottel vom Dienst. Sucht euch für eure Scherze einen anderen.«

»Beruhige dich, mein Freund. Denke an die Zukunft deiner Familie. Überlege, was du alles für sie tun könntest. Das Häuschen im Grünen. Die Privatschule für die Kinder. Keine offene Rechnung beim Metzger.«

Frank schüttelte den Kopf. Woher wusste Peter oder Achim von seinen Hausträumen? Hatte er das erwähnt? Die offene Rechnung beim Metzger? Niemand im Verlag, Freunde oder Verwandte, wussten, wie sich seine Familie über den Monat quälte. Die finanziellen Einbußen während des Studiums, die zwei mageren Jahre, als er vor dem Dachverband der Astrologen büffelte. Selbst heute, mit ein paar Kröten mehr in der Tasche, war es schwer über die Runden zu kommen. Doch sollte jetzt …

Der Cursor blinkte im Sekundentakt, gleichmäßig, als wolle er ihn hypnotisieren. Quatsch, rief er sich zurück, lachte, wischte sich über die Stirn. Welch absurder Gedanke vernebelte ihm den Sinn? Seine Kollegen suchten wieder einen Narren, über den sie Possen rissen. Nichts weiter. Nur diesmal kamen sie nicht davon. Diesmal drehte er den Spieß um. Diesmal war er derjenige, der am Ende lachte.

Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, als er die Finger über die Tastatur jagte. »Los, pack aus, warum dein übersinnliches Ich-bin-der-Geist-aus-der-Flasche-Geschwafel gerade mir gebühren soll? Woher du von meiner Familie, meiner Not und dem Gespräch von Robin Hood weißt? Oder …«

»Oder? Du bist nicht in der Position mir zu drohen, Frank.« Der Bildschirm schwärzte sich. Die Versuche, ein Bild auf den Schirm zu bekommen, blieben erfolglos. Franks Aufzeichnungen hingen gespeichert im Computer fest. Und Lichtenstein, der mit finsterer Miene auf seine Uhr tippte, erinnerte ihn an den heraneilenden Redaktionsschluss.

5

Christoph Eichberger füllte Kaffee in seinen Lieblingsbecher. Robert, sein siebenjähriger Sohn, hatte diesen im Kindergarten mit dicken gelben Sonnen und Strichmännchen bemalt.

»Ich glaub es nicht«, sagte der, drehte den Kopf und lächelte. »Du als eingefleischte Atheistin, des bayrisch katholischen Glaubens Abtrünnige, liest das Horoskop? Sag nur, du glaubst solch okkultistischen Schmarrn?«

»Agnostikerin«, murmelte Petra, »und jetzt komm her und sieh dir das an.«

Mit den Händen auf den Schreibtisch gestützt blickte Eichberger über die Schulter seiner Kollegin, auf eine Seite, die ausgeschmückt mit nachtblauem Wolkenhimmel, goldenen Sternen, verheißend auf Hoffnungen und Sehnsüchte des nächsten Jahres hinwies. »Und?« Sein Atem roch nach Kaffee, der sich mit dem Hauch einer Zitrus-Note seines Aftershave mischte.

»Und?« Petra klang vorwurfsvoll. »Verdammt, erkennst du das nicht?«

Kopfschütteln.

»Pfeil und Bogen.« Nachdrücklich tippte sie auf das Tierkreiszeichen des Schützen.

»Du meinst …?« Eichberger runzelte die Stirn, löste sich vom Holz und wühlte in den Unterlagen. »Karin Bertram, Bertram. Wo … hier. Geboren am 27.11.1975, das heißt, sie ist, war, Sternzeichen Schütze. Schön und gut, nur was beweist uns das?«

Petra zog die Akte aus Eichbergers Händen und las laut. »Der vierundfünfzigjährige Oberarzt Wolfgang Vogler war Skorpion und starb am 20.11.2008 an Zyankalivergiftung, mit einer Kanüle in seine Halsschlagader injiziert.«

Eichberger zuckte die Achseln. »Kein Zusammenhang zwischen den letzten beiden Toten. Kein Verwandtschaftsverhältnis, weder Freunde noch Bekannte. Auch war sie in keinem Bogenschützenverein gemeldet. Geschweige jemals Patientin in der Uni-Klinik. Alles abgeklärt.«

Hektisch winkte Petra ab. »Hör zu. Vogler wurde im Sternzeichen Skorpion geboren, warte … Geboren am 19.11.1956.«

»Schalt ’nen Gang runter«, sagte Eichberger. »Er ist zwar zeitnah geboren und gestorben, aber die Erfahrung zeigt, das soll vorkommen. Und dass wir einen Täter suchen, den immer am letzten Tag des Sternzeichens ein Durchdreher erwischt, ist eine Tatsache, mit der sich das Team seit Monaten rumschlägt. Warum veranstaltest du jetzt so einen Wirbel?«

»Christoph, das ist … Verdammt, wir sind solche Idioten.« Sie schlug die Fingerspitzen an die Stirn und warf einen Blick aus dem Fenster. Weißgraue Wolken trieben durch kahle Birkenstämme, Eichen und Blutbuchen, die den Bürgersteig mit bronzenen und tiefroten Blättern wie einen Teppich bedeckten. Sie holte tief Luft. »Verstehst du nicht?«, sagte sie und blickte Eichberger ins Gesicht. Die zwei Zentimeter lange Narbe, die auf linker Stirnseite waagerecht verlief, hielt sie für einen Wimpernschlag gefangen. »Monatelang suchen wir nach Übereinstimmungen, wälzen uns Seite für Seite durch Papiere, wühlen an Tatorten herum und übersehen das Wesentliche.«

Eichberger nickte. Langsam dämmerte ihm, was seine Kollegin versuchte, zu erklären. »Willst du mir sagen, wir haben es mit einem …«

»… psychopathischen Horoskop-Killer, der jeden Monat am letzten Tag des aktuellen Sternzeichens mordet, zu tun.« Sie lehnte sich zurück, spürte beschwörendes Magenknurren, zündete eine Zigarette an.

Oma Johannas Worte erklangen widerhallend: »Kind, wenn du schon dieses Kraut rauchst, dann nicht auf nüchternen Magen.«

Oma hatte recht. Jedes Mal wurde ihr kotzübel. Doch sie hatte die Wahl. Großmutter Johannas Rat beherzigen oder aufhören mit der Qualmerei. Eine gesunde, leider auch anstrengende Alternative, die als guter Vorsatz fürs nahende neue Jahr sich gedanklich in die Liste der mehr oder weniger durchführbaren Vorsätze einreihte.

Wie gern wäre sie Weihnachten zu Oma Johanna ins Alte Land nach Jork gefahren. Sie könnte mit ihr über die Weide laufen, soweit Omas zweiundneunzig Jahre dies zuließen. Geschichten aus Kindertagen hören. Ihre Nähe genießen und sich beim Knistern im Kamin und leckerem Walnusskuchen an sie schmiegen. »Kind, dass wäre schön, dann wären wir eine nette Runde«, sagte Oma letzte Woche, als sie sie anrief. Sie hatte ihre Worte nicht verstanden. Hatte Oma Besuch? Wen hatte sie eingeladen? Hoffentlich nicht ihre Eltern und ihren Bruder.

Petra stöhnte hörbar auf. Aber ihr Schnaufen vertrieb nicht die Präsenz der vermaledeiten Mordserie, die einen Urlaub, zählte man zur kinderlosen Singlegruppe, unmöglich machte. Bereits daran zu denken erübrigte sich, fiel der Blick auf den Bereitschaftsplan, der an jeder Bürotür mahnte.

»Horoskop-Killer«, brummte Eichberger. Nachdenklich knetete er sein Kinn, als kontrolliere er seinen akkuraten Kinnbart und dessen Wuchs.

Seit April dieses Jahres geschah jeden Monat ein Mord, und außer der Datumsthese hielten sie nichts in der Hand. Der Täter schien ein Superhirn zu sein, dass ihnen ständig eine Nasenlänge voraus war und jegliche Spur verwischte.

6

Eichberger blätterte in den Unterlagen, nickte, schwieg weiter. Stimmte die Theorie seiner Kollegin, dann … Maren Gerberle, Widder, Prostituierte, gefunden am 18. April 2008, inmitten einer Schafsweide, Tod durch Stromschlag. Sengelmann, Stier, ein Millionentier aus der Baubranche, aufgespießt am 19. Mai 2008, von Truckhörnern an einer Kreuzung in Hamburg. Gedärme hingen wie Wäsche an der Leine über Parkuhren. Eigenartigen Humor haben diese Nordlichter, dachte Eichberger, griff nach der Dose Pfefferminzpastillen, warf erneut Drops in den Mund, vertiefte sich weiter in die Unterlagen.

Ernst Hansen, Hamburger Frachterkapitän ade, der Zwilling, erhängt am 20. Juni 2008, mit doppeltem Palstekknoten am Mast seiner Jolle im Rambecker Yachthafen am Starnberger See aufgefunden. Friedhofsgärtner Karl Gruber, Krebs. Mit einer Gartenschere wurden seine Gliedmaßen abgetrennt und am 21. Juli 2008 auf dem St. Georg Friedhof gefunden.

Viktor Kaiser, das Jungfrauzeichen, gefunden am 21. September 2008. »Viktor, den Roten Baron, hat es tüchtig erwischt«, sagte Eichberger, als spräche er zu sich selbst.

»Ich weiß noch, als Walter dem die Kappe vom Hirn kratzte, glaubte er, der lebt wieder. Was Käfer und Maden für Appetit entwickeln. Mir läge so eine Drecksau selbst als Schabe quer im Magen. Und ich sag dir was, Christoph, hätte der auf meiner Abschussliste gestanden, hätte ich ihn blind durchs Minenfeld gejagt und einen Freudentanz veranstaltet.«

»Wir als Polizisten …«

»Spar dir die Predigt, Christoph«, unterbrach sie schroff. Lebende Kinderschänder lagen ihr ebenso quer im Magen wie die, die im Müllcontainer verfaulten. »Weißt du nicht mehr«, setzte sie angriffslustig nach, »monatelang klebten wir dem Kerl am Arsch. Gerade, wenn wir dachten, ein Indiz in Händen zu halten, verschwanden diese wie von Geisterhand.«

Die blutjungen verängstigten Mädchen, acht bis zehn Jahre alt, meist aus ostasiatischen Ländern, die sie eingesperrt in Containern, abgestellt auf einer Müllhalde oder Kieskuhle fanden, konnten sich glücklich schätzen, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Viktor Kaiser, genannt der Rote Baron, war nicht zimperlich. Dennoch bewegte er sich am Rande der Legalität, wie immer er das anstellte oder wer immer ihm half.

Die Mappe in der Hand stand Eichberger auf und kippte das Fenster. Bald würde es schneien. Vielleicht in zwei Tagen zum Weihnachtsfest. Er dachte an seine Frau Erika, seinen Sohn Robert, die fünfjährige Katharina und den bevorstehenden Skiurlaub in Tirol. Im Geiste beim Familienurlaub blickte er in die Unterlagen.

Paula Böhme und Maria Zacherl, die beiden jungen Waagefrauen, gefunden am 22. Oktober 2008, blieb dieses Glück von Familie, Urlaub und Leben versagt. Festgebunden hingen sie an der Brücke am Deininger Weiher. Blickten aus aschfahlen Gesichtern mit geweiteten Augen trübe wie alter Fisch. Ihre Gelenke verdreht, als wären sie vom Hochhaus gestürzt, der Mund zum Schrei aufgerissen.

»Tja, Kollegin«, sagte er, warf einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster zum Straßenfeger, der versuchte dem Laub Herr zu werden. »Ich denke, du hast recht. Wir suchen einen Täter, der seine Opfer nach Sternzeichen auswählt und spezifisch für sie einen Mordplan erstellt.«

»Und warum fallen uns die Zusammenhänge erst jetzt auf? Sind wir mit Blindheit geschlagen?« Petra klopfte die Zigarette halbgeraucht in den Aschenbecher.

»Weil wir uns am gesunden Menschenverstand und nicht an windigen Horoskoptexten orientierten? Das ist Freizeitbelustigung. Obwohl …« Eichberger stockte, kaute Pastillenreste und setzte mit dem Kugelschreiber einen Kringel um ein Tierkreiszeichen.

»Herrschaftszeiten«, fluchte Petra. »Er hat …«

Weiter kam sie nicht. »Warte«, sagte Eichberger, »ich weiß, was du sagen willst. Aber das Zeichen des Löwen hat das Schwein absichtlich vergessen.«

»Absichtlich?«

Nicken. »Bei der Beständigkeit seiner Vorgehensweise, die er an den Tag legt, muss ihm aufgefallen sein einen Monat zu überspringen. Ich bin sicher, unser Serientäter verfolgt ein Ziel. Und der irrsinnige Fanatismus, immer am letzten Tag des laufenden Sternzeichens zu morden, hat für ihn einen besonderen Grund.«

»Einen Grund, Christoph? Wofür braucht dieser Psychopath einen Grund, Lebewesen brutal zu ermorden?« Petra stieß den Stuhl nach hinten und ging mit festen Schritten zum Stadtplan, der neben der Tür aufgehängt mit roten, blauen und grünen Pinstiften gespickt die Fundorte der Opfer kennzeichnete. »Sieh her«, knallend landete ihre Hand am Rand der Karte, »überhaupt keine Logik. Alles Wohngegenden, die nicht zueinanderpassen. Starnberger See, Grünwald, Bogenhausen, Schwabing, Hasenberg, Stiglmaierplatz bis nach Hamburg hin ist alles von Villa bis Plattenbau vertreten. Ganz zu schweigen von einem Motiv für die Morde. Keins der Opfer stand, wie wir feststellten, untereinander in Kontakt. Selbst Schorsch fand weder Übereinstimmung noch Grund für den männlichen weißen Einzeltäter. Er spekuliert sogar, unser Täter sei seinen vorläufigen psychologischen Ausarbeitungen nach über hunderte von Jahren alt. Zumindest bleibt er bei der Meinung, bis wir ihm klärende Fakten liefern, mit denen er logisch arbeiten könne. Und ich bitte dich, Christoph, wer glaubt diese schwachsinnige Theorie?«

»Schorsch«, sagte Eichberger und zuckte die Achseln. »Und in Anbetracht, dass unser Täter kein normaler Mensch ist, es schwierig wird, eine Geistererscheinung hinter Gitter zu kriegen, und wir keine vernünftigen Erklärungen haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als geduldig zu warten. Irgendwann wird unserem Unsichtbaren die Tarnkappe verrutschen und dann ist er dran.«

»Irgendwann, Christoph? Wann irgendwann? Deine Ruhe möchte ich haben.«

7

Petra griff zur Mineralwasserflasche, die auf dem Fenstersims hinter ockergelber Übergardine stand, und setzte den Flaschenhals an den Mund. Sie unterließ es, im Büro ein Glas zu benutzen. Eine Angewohnheit, die zu Hause Klaus’ Etikette nicht akzeptierte. Für ihren Verlobten gehörten ein Getränk in ein Glas und der Löffel nach dem Abschmecken der Soße in den Abwasch. Sie war frei von hypochondrischen Krankheiten, die sie durch einen abgelutschten Löffel befallen könnten, zumal dies in enger Beziehung stattfand.

»Es stehen nur noch drei Zeichen auf des Hokis Liste. Und das auch nur, bleibt er der Reihenfolge treu und präsentiert uns nicht den Löwen zwischendurch. Und du verklickerst unserem Direks dann: Sorry, aber wir wissen nach neun Morden, wie unser angeblich jahrhundertealter Täter tickt. Und wir sind der guten Hoffnung, dass er sich aufs Altenteil zurückzieht, sobald er Steinbock, Wassermann und Fisch abgemurkst hat. Gibt Anton das an die Presse, drehen die ihn durch den Fleischwolf und uns hinterher.«

Sie zog die Jacke aus, warf sie über die Lehne, schloss das Fenster, stellte die Heizung auf drei und klemmte sich wieder hinter den Schreibtisch.

»Verdammt, Petra, soll ich mir den Täter … wie nennst du ihn, den Hoki, aus den Rippen schneiden? Wir suchen nach der Stecknadel in neun Scheißhaufen. Was sollen wir also machen? Sag’s mir.« Wütend landete Eichbergers Faust auf dem Tisch, dann stand er auf, rutschte in den schwarzen, mit Lammfell gefütterten Lederjanker und warf einen herbstfarbenen Schal zweimal um den Hals. Er ging zur Tür, öffnete sie einen spaltbreit und schob den Fuß in den Rahmen.

Petra zuckte die Achseln. »In Amerika …« Sie ließ den Satz abreißen, kaute nachdenklich auf der Oberlippe und begann neu: »Wir könnten den Hoki auspendeln. Ein Hellseher könnte …«

Eichbergers Miene verfinsterte sich. »Machst du Witze? Soll der uns an die Hand nehmen und in ein jahrhundertealtes Schloss führen, wo der Kerl verquirlte Scheiße a la Frankenstein in dunklen Kellerlaboren ausheckt? Also, weißt du …«, sagte Eichberger kopfschüttelnd. »Mich wundert’s, dass gerade du, die nicht an solch damisches Zeug glaubt, auf solchen Schmarrn kommt.«

Petra schwieg und zog den Rest der Selbstgedrehten aus der Kerbe vom Aschenbecher. Sie stimmte Christoph zu, nur gingen ihr die Ideen aus. Und vielleicht sollten sie wirklich abwarten, bis der Hoki einen Fehler machte. Sie drehte den Stummel zwischen Zeigefinger und Daumen und klemmte ihn zwischen die Lippen.

»Tut mir leid«, sagte Eichberger. Er entließ die Tür und eilte auf seine Kollegin zu. Eine kleine Flammensäule erhob sich.

»Nein. Du hast recht«, sagte sie, ihre Hand schützend über Eichbergers legend, als fegte gleich ein Schneesturm durchs Büro. »Fangen wir mit solch Hokuspokus an, können wir drei uns bei Anton gleich von der Gehaltsliste nehmen lassen.«

»Apropos Dritter. Wo steckt der eigentlich?« Eichbergers gereizte Frage bezüglich des Kollegen ließ sich nicht überhören.

»Ist beim Anwalt. Geht um die Klärung, wer die Möbel und wer das Auto behält. Irgendein Wäschekrieg wie beim letzten Mal, als es um Jacob ging.«

»Falls du ihn siehst, sag ihm, er hat gefälligst Bescheid zu geben, wo er sich während der Dienstzeit rumtreibt. Wenn wir kurz vor Weihnachten Dienst schieben, darf er sich uns gerne anschließen. Und noch was. Rückt er die hackende krakeelende Bestie von Nymphensittich nicht endlich raus und gibt sie Anja zurück, zieh ich ihm eine Woche Urlaub ab.«

Bernhard Kramer war in letzter Zeit öfters allein auf Achse. Denkbar wäre, er erledigte einen Sondereinsatz für Direktor Anton Neuhäusler. Doch kam es ebenso häufig vor, dass er krankheitsbedingt fehlte. Mal hier zwei, dann wieder drei Tage. Mal ein grippaler Infekt, dann Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden. Kleinigkeiten, die Eichberger als Leiter der Abteilung ärgerten und besprochen werden mussten.

»Wartest du auf ihn?« Die Spannung über die acht ungeklärten Fälle, sein Kollege, der irgendwo steckte, nur nicht am Arbeitsplatz, machten sich bemerkbar.

»Ja, wir fahren in die Stadt und klopfen die Kollegen der Bertram aus der Bank ab.«