Der hungrige Migrant - Aydın Erdinç - E-Book

Der hungrige Migrant E-Book

Aydın Erdinç

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte eines jungen Mannes, der sich Cem nennt und eigentlich Erdinç Aydın ist. Cem liebt zwei Dinge in seinem Leben ganz besonders: Das sind Bücher und Frauen.   Er selber, oder der Leser, wird nicht wissen, was wichtiger und interessanter ist.   Ist es die Bildung und die Begegnung mit Weltmännern?   Ist es eine Frau oder alle Frauen, oder ist Sex wichtig, egal wo und wie?   Wer ist Cem eigentlich?   Cem ist ein Türke, der eigentlich nur ein Türke ist, weil er Cem heißt. Er hat eine große Verbundenheit zu Istanbul, liebt aber Siegburg als seine Heimatstadt, die er niemals verlassen wird.   Berlin ist cool.

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Erdinç Aydın

Der hungrige Migrant

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

Hängen bleiben tun sie...die Bilder der Kindheit und der Jugend.

Manche dieser Bilder

verwelken...verblühen...verschwommen.

Keine der Figuren in der Erzählung ist erfunden. Sie haben alle gelebt...sie hat es wirklich gegeben. Wir haben alle gelebt...uns gab es wirklich.

 

Kein Mensch kann die Zukunft sehen.

 

Nun lebt der Autor irgendwo im Lande der Denker...der Dichter und aber auch der bösen Männer.

 

Er glaubt, dass der Ertrag des Lebens...dass die Früchte des Lebens...schon in der Kindheit und der Jugend sichtbar werden.

 

Die Erzählung ist ein Teil der Jugend des Autors. Und...?

 

Was kann man sich für einen Menschen denken, der die Geschichte schon vor 25 Jahren niedergeschrieben hat, und sie aber eher als ein Mann in doch älteren Jahren veröffentlicht.

 

Es kann nicht darum gehen, sich etwas erzählen zu lassen. Es kann nur darum gehen, etwas wissen zu wollen.

 

Nun...es wird hier eine Geschichte erzählt, wo der Held der Erzählung...nur einigen wenigen Sachen nachgeht.

Wollen Sie ihn denn nicht mal kennen lernen? Und wollen Sie nicht wissen, warum er und wonach er Hunger verspürt?

 

Gelegentlich Opfer bringen müssen wir alle...sollten zumindest wir alle. Das Buch ist die Opfergabe des Autors...für all das...was ihm die Jugend gebracht hat. Und für all das, was ihm die Zukunft bringen wird.

 

Erdinç Aydın

 

Kapitel I -Noch ein Knabe, spielt aber den Mann

 

Im Jahr 1983 besuchte ich die 10. Klasse der Hauptschule in Siegburg und wusste genau, dass ich an der weiterführenden Schule, sprich in die Fachoberschule, dann in Köln an der Fachhochschule studieren wollte.

 

Ich war als Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie nach der 5. Klasse aus Istanbul in die BRD gebracht worden. Obwohl ich in der fünften Klasse ein sehr gutes Zeugnis besaß, wurde ich wegen mangelnder Deutschkenntnissen in die Hauptschule eingeschrieben und in den ersten Jahren, also in der sechsten, siebten und der achten Klasse immer aus pädagogischen Gründen versetzt. Als ich in der neunten Klasse war, sprach ich so viel Deutsch, dass ich mich am Unterricht aktiv beteiligen konnte und dadurch verbesserten sich meine Noten, so, dass ich Typ B der 10. Klasse besuchen konnte. Damit wurde der Weg für den Besuch der weiterführenden Schule frei. Schon zu Beginn der 10. Klasse war ich über den Aufbau der Fachoberschule informiert, genauer gesagt, dass in der 11. Klasse ein einjähriges Praktikum absolviert werden musste, und zwar vier Tage die Woche. Freitags und samstags musste man in die Schule.

Im zweiten Halbjahr der 10. Klasse machten sich alle meiner Kameradinnen und Kameraden auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz. Nur ich suchte einen Praktikumsplatz, hatte aber noch nie eine Bewerbung geschrieben, meine Mitschüler auch nicht. Daher hatte sich das Bewerbungstraining fast zum Hauptziel des Unterrichts entwickelt. Einige bewarben sich als Kfz-Mechaniker, einige als Bäcker, einige als Elektriker, Schlosser, Maler, die anderen als Erzieherin oder Arzthelferin. Nur ich musste mich als Praktikant bewerben und das war doch wieder etwas anderes. Ein entfernter Verwandter väterlicherseits kam ungefähr zu dieser Zeit aus Istanbul, um in der BRD zu studieren. Doch sein türkisches Abitur wurde hier nicht anerkannt und so musste er die Fachoberschule noch einmal besuchen und auch an der Abschlussprüfung teilnehmen. Auch musste er ein einjähriges Praktikum absolvieren, was er in einer Landmaschinenfabrik in Hennef vor zwei Jahren auch gemacht hatte. Der Geschäftsführer der Fabrik war mit ihm äußerst zufrieden gewesen, und würde ich mit meinem Verwandten bei ihm vorsprechen, so würde er mir bestimmt einen Praktikumsplatz zur Verfügung stellen.

In der zweiten Hälfte des Schuljahres rief mein Verwandter, er heißt übrigens Ilker, bei der Landmaschinenfabrik an und fragte für mich nach einem Praktikumsplatz. Der Geschäftsführer hörte ihm aufmerksam zu und sagte ihm, dass ich mal vorbeikommen solle und ein Bewerbungs-schreiben wäre nicht notwendig.

Wir wohnten in Siegburg-Brückberg und hatten vor, in Kürze nach Siegburg-Zentrum umzuziehen. Hennef lag nur ein paar Kilometer von uns entfernt. Ich brauchte für die Strecke von der neuen Wohnung bis zum Praktikumsplatz nicht mehr als eine halbe Stunde. Und dies konnte ich durchaus in Kauf nehmen. Die Fachoberschule war in Troisdorf-Sieglar und lag von uns auch nur ein paar Kilometer entfernt. Ich konnte also problemlos mit dem Bus zum Praktikumsplatz und auch zur Schule kommen.

 

Kurz nachdem Ilker mit seinem ehemaligen Chef gesprochen hatte, sprach ich vor und bekam auch eine Zusage. Der Geschäftsführer erklärte mir, dass er mir für die Arbeit auch Geld geben wolle, dass ich aber dafür fleißig zu sein habe und so wenig wie möglich ausfallen dürfe. Ich sollte von sieben Uhr bis sechzehn Uhr arbeiten, müsste alle anfallenden Arbeiten erledigen, d.h. bohren, schleifen, sägen, fräsen, polieren, drehen, stanzen, etwas schweißen usw., würde dafür 20,- DM pro Tag bekommen und das theoretische Wissen würde ich in der Schule vermittelt bekommen. Der Meister des Betriebes würde für Fragen jederzeit zur Verfügung stehen und an seine Anweisungen hätte ich mich zu halten. Ich würde in diesem einen Jahr einiges lernen und würde das Ganze später, während des Studiums, ganz gut gebrauchen können. Das Geld sollte pro Woche, und zwar jeden Donnerstag, ausbezahlt werden und würde im Monat 320,-DM betragen. Er fragte mich, wie ich zum Betrieb kommen würde. Ich sagte, mit dem Bus und ab und zu, wenn es passte, würde mein Vater, der in der Nähe bei Coca-Cola arbeitete, mich fahren. Das Gespräch dauerte fast eine ganze Stunde und während dieser Zeit lernten wir uns etwas kennen. Zum Schluss des Gesprächs, bevor wir den Vertrag unterzeichneten, zeigte er mir ganz oberflächlich den Betrieb und die Maschinen; beginnen sollte ich nach den Sommerferien am 18. September. Ich verabschiedete mich von ihm, seinem Assistenten, einem circa 35 Jahre alten und sehr dicken Mann, der einen sehr ungepflegten und dreckigen Eindruck auf mich machte und dem Lehrling im Büro, der im Gegensatz zum Assistenten, sehr gepflegt und athletisch gebaut war. Als ich die Firma verließ, war ich sehr erleichtert, denn ich hatte mir bis dahin Sorgen darüber gemacht, ob es mir gelingen würde, einen Praktikumsplatz überhaupt zu finden. Vielleicht handelte ich mit etwas Schwermut und Trübseligkeit. Doch die Erleichterung tat mir sehr gut. Nun konnte ich nach den Sommerferien mit der Vorstufe des Studiums beginnen. Die Firma befand sich in dem neuen Industriegebiet in Hennef. Bis jetzt hatten sich nur vereinzelt Firmen angesiedelt und viele waren noch im Bau. Die Strecke bis zu der Hauptstraße betrug circa 600 Schritte und war frisch geteert. An der Hauptstraße hielt der Bus, mit dem ich bis zum Siegburger Hauptbahnhof fahren konnte. Ich war sehr froh, dass ich in der Klasse nun zu denen gehörte, die das kommende Jahr sinnvoll verbringen würden. Ich ging zu der Hauptstraße und wartete fünfzehn Minuten auf den Bus, stieg ein und fuhr glücklich nach Hause.

Meine Mutter war zu Hause und beschäftigte sich gerade mit dem Kochen. Sie wusste, dass ich ein Vorstellungsgespräch hatte und fragte mich daher, wie es verlaufen war. Sie und mein Vater waren stolz darauf, dass ich innerhalb von ein paar Jahren so viel Deutsch gelernt hatte, dass ich Typ B der Hauptschule und anschließend die Fachoberschule und dann die Fachhochschule besuchen konnte. Mein Vater vor allem, der in der Türkei nur fünf Jahre die Schule besucht hatte, legte viel Wert auf eine gute Ausbildung. Auch war er es, der mir durch intensive Gespräche den Maschinenbau nahe legte. Ich selbst schwebte noch in der Luft und hatte mich durch seine Ratschläge für ein Studium entschieden. Erst in der zehnten Klasse, als die Schwierigkeiten und Probleme mit der deutschen Sprache größtenteils behoben waren, gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich eine weiterführende Schule besuchen könnte. Ich erzählte meiner Mutter kurz und bündig den Verlauf des Vorstellungsgesprächs und erfreute sie, in dem ich ihr sagte, dass ich den Praktikumsplatz bekommen hätte.

Sie sagte lächelnd: „Hoffentlich geht das gut. Jetzt musst Du uns einen Kaffee ausgeben", und rührte die Kohlsuppe auf dem Herd. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich eine sehr schwere Last losgeworden. Mein Bruder, meine Schwester und mein Vater waren außer Haus. Ich ging in mein Zimmer, schlug mein Englischbuch auf und lernte für den morgigen Vokabeltest. Es waren circa dreißig Vokabeln, die gelernt werden sollten. Nach einer halben Stunde verließ ich das Zimmer, welches ich mit meinem Bruder teilte, und unterhielt mich mit meiner Mutter. Sie erzählte, wie schwer sie es hatten, als sie neu in der BRD waren. Nicht einmal ein Kopfkissen hätten sie besessen und mussten dieses von einem Verwandten ausleihen. Sie fragte mich, ob ich einen Teller von der Kohlsuppe essen mochte. Ich bejahte und aß die Suppe. Meine Mutter zündete sich eine Zigarette an und sagte, bevor sie einen Zug davon nahm: „Ich finde es toll, dass Du nicht trinkst und rauchst".

„Wozu trinken und rauchen?”

„Sag das nicht. Nicht alles, was wir tun, hat auch einen Sinn.“

„Mag ja sein. Doch als Nichtraucher und Nichttrinker fühle ich mich ganz wohl. Außerdem kann ich Alkoholgeruch nicht ausstehen und rauchen ist schädlich.“

Wir unterhielten uns noch etwas über die Schule, meine Zukunft, über meinen Bruder, meine Schwester und über unseren diesjährigen Urlaub, der bald kommen sollte.

Die Teekanne war bei uns immer voll und es gab zu fast jeder Stunde frischen Tee. Ich trank noch ein Glas und ging aus der Wohnung, stieg in den Bus und fuhr in die Stadt.

 

Der Marktplatz war von dem Geschrei und Rufen der Gemüse- und Obstverkäufer so erfüllt, dass ich es beinahe schon unangenehm fand. Ich ging direkt in das „Jump". Unseren Treffpunkt. Der Besitzer, Michael, mit langen, lockigen Haaren, blauen Augen und schlankem Körper kannte uns alle. Er sagte auch nichts, wenn wir kein Geld hatten und nichtstrinkend nur dasaßen. Ömer und Hamdi saßen schon da und tranken Cola. Ich grüßte sie und gesellte mich zu ihnen und bestellte ein Glas Wasser. Ömer und Hamdi waren in der neunten Klasse und strebten ebenfalls Typ B der Klasse 10 an. Auch sie waren vor fünf Jahren aus der Türkei, Ömer aus Trabzon und Hamdi aus Kırşehir, in die BRD gekommen und wurden in der Schule drei Jahre lang aus pädagogischen Gründen versetzt. Ich erzählte ihnen, dass ich für die elfte Klasse der Fachoberschule einen Praktikumsplatz gefunden hätte und darüber sehr froh war und fühlte, dass beide mich aus diesem Grund beneideten. Ömer und Hamdi waren Klassenkameraden und ich kannte sie seit meiner Ankunft in Deutschland. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, vor allem hier im „Jump". Ömer klopfte auf meine Schulter und sagte: „Hoffentlich schaffen wir auch Typ B und können später studieren. Ich habe meinen Klassenlehrer darauf angesprochen und ihn gefragt, ob ich Typ B schaffen kann. Er sagte, wenn ich so weiter mache, könnte ich es durchaus schaffen.“

Ich spürte wie Hamdi dabei leicht bedrückt und schwermütig wurde. Schließlich bemerkte er, dass er Schwierigkeiten in Deutsch habe und nur Fünfen schreiben würde. Aber er würde nicht traurig werden, wenn er Typ B nicht schaffen sollte. Wenn er nicht studieren könnte, so wolle er eine Lehre, wie sein Cousin in Australien, als Friseur machen.

Michael ließ in seinem Jugendcafe gute Musik laufen. Ich hatte keine Ahnung von dem, was lief. Aber es gefiel mir sehr. Ich ging gerne ins „Jump". Der Zwang der Umstände trieb uns hierher, und der Zwang der Umstände ließ uns Freundschaften schließen. Ömer war der Meinung, dass wir uns in einer Leidenszeit befanden, doch dass dies in ein paar Jahren beendet sein würde. Unsere Leidenszeit würde sich aus der Pubertät, der Jugend und der Integration zusammensetzen. Nach Ömers Auffassung waren wir alle Leidensgenossen und dies würde uns in gewissem Maße hochherzig, aber auch einfältig machen. Später unterhielten wir uns über Gül, eine Klassenkameradin von Ömer und Hamdi, die vor drei Tagen aus dem Elternhaus weggelaufen war und überlegten, warum sie weggelaufen sein und wo sie sich aufhalten könnte. Der Drang der Neugier veranlasste uns, die ganze Zeit nur über Gül und ihrer Familie zu sprechen. Ömer, der dünnste und magerste von uns dreien lächelte plötzlich auf, als er David zur Tür hereinkommen sah. David war schon über zwanzig Jahre alt und war genau so oft im „Jump" wie wir drei. Er grüßte uns alle, in dem er jedem von uns nacheinander die Hand gab und setzte sich an unseren Tisch.

„Ich habe mir ein Auto gekauft", sagte er, sehr stolz.

„Was für ein Auto?", fragte ich.

„Einen Opel. Opel Ascona. 120 PS. Fährt fast 200 Kilometer die Stunde. Tausend Mark.“

„Toll", sagte Hamdi, und fügte hinzu, „damit müssen wir unbedingt eine Tour machen.“

„Warum nicht" ‚ sagte David, „ für eine Tour bin ich immer zu haben. Am liebsten nach Berlin, denn da wollte ich schon immer hin.“

David stammte aus Ghana und hatte nur noch ein paar Monate bis zu seiner Prüfung als Kfz-Mechaniker. Er war durch und durch ein Afrikaner. Sehr stolz und sehr bemerkenswert und burschikos den Deutschen gegenüber, bis auf Michael. Michael konnte er gut leiden und Vertrauen schenken. Er war sehr belesen und uns gegenüber immer wohlgesinnt. Er legte viel Wert auf freundliche Gesichter. Ömer erzählte ihm von Gül. David hörte aufmerksam zu und sagte leise, kaum hörbar: „Kein Wunder. Statt jeden Abend mit dem Vater Koran lesen, lieber mit dem Freund ausgehen.“

„Hälst Du den Koran für so schlecht?", fragte ihn Hamdi gelassen.

„Nicht schlecht, aber auch nicht originell. Wir wollen doch alle nur das Originelle.“

Ich versuchte mich, am Gespräch zu beteiligen, blieb jedoch still. Ich gehörte zwar dem islamischen Glauben an, aber kannte mich im Islam nicht gut aus, was ich übrigens sehr bedauerte. Wir hatten alle unsere Getränke ausgetrunken. Hamdi, Ömer und David redeten noch eine Weile über den Koran und über den Islam. Das Wissen über den Islam und das Wissen über den Koran war meine verwundbare Stelle. Auch mein Allgemeinwissen war aussichtslos. Meine Mutter las jeden Donnerstag-abend aus dem Koran in arabischer Sprache und kannte sogar einige Suren auswendig. Mein Vater versuchte so oft wie möglich zu beten, blieb jedoch meistens beim Abendgebet und beim Nachtgebet. Meine Schwester Hager fastete im Ramadan und auch ich hatte schon mal im Ramadan gebetet. David bestellte einen Kaffee und sagte Michael, er möchte doch Reggae-Musik auflegen. „Reggae", diesen Begriff hatte ich schon mal gehört, wusste auch, dass dies eine Musikrichtung war, war mir aber nicht im geringsten klar, was für eine Richtung. Michael legte eine Platte auf und sagte: „Bob Marley. Gut so?"

David lächelte ihm zu und nickte bejahend mit dem Kopf. Ich beschloss David zu fragen, was Reggae bedeutete, fasste mich ans Herz und stellte meine Frage: „Hey David, was ist eigentlich Reggae?"

David trank ein Schluck von seinem Kaffee und sah mich erstaunt an.

„Du weißt nicht, was Reggae ist?"

„Schon gehört, könnte es aber nicht beschreiben.“

David drehte sich zu Ömer und Hamdi hin und fragte sie:

„Wisst ihr, was Reggae bedeutet?"

Beide schüttelten verneinend die Köpfe.

„Hab ich mir schon gedacht. Meine türkischen Freunde wissen nicht, wie man Reggae-Musik beschreibt.“

Er setzte einen sehr kenntnisreichen Blick auf und versuchte, kurz gefasst, uns Reggae zu beschreiben: „Also, Reggae ist eine aus Jamaika stammende Stilrichtung der Popmusik, deren Rhythmus durch Hervorhebung unbetonter Taktteile gekennzeichnet ist. Verstanden?"

Ich glaubte, nicht verstanden zu haben, was die unbetonten Taktteile sind. Also fragte ich noch einmal, diesmal aber nach den unbetonten Taktteilen. David war kein Musiker, doch Reggae war seine Lieblingsmusik. Er überlegte eine kurze Weile und trank noch ein Schluck von seinem Kaffee und versuchte, vor allem mir, die unbetonten Taktteile zu erklären: „Takt ist der Ton-abstand und es gibt fast ein Dutzend Takte. Zweiachteltakt, Zweihalbetakt, Vierachte-ltakt, Dreivierteltakt usw. Und Tonabstand ist ein Intervall zwischen zwei Tönen. Auch da gibt es ein Dutzend Möglich-keiten.“

Mir hatte es gereicht. Nun wusste ich, dass Reggae eine Musikrichtung aus Jamaika war und sie durch die Hervorhebung der unbetonten Taktteile gekennzeichnet war. Ich fühlte mich in Sachen Wissen so wüst und so leer. Gerne hätte ich das geändert, wusste aber nicht wie. Lesen wäre wohl sehr wichtig und auch Unterhaltungen mit Weltmännern. Doch welche Bücher sollte ich lesen und wo finde ich die Weltmänner? Ich hörte auch gern Reggae und war nun froh, den Namen des Sängers zu kennen und auch die Musik beschreiben zu können.

Zu Hause hatte ich einen kleinen Kassettenspieler und hörte türkische Musik. Doch, obwohl ich erst vor fünf Jahren aus der Türkei gekommen war, erschien mir die türkische Musik von Tag zu Tag einfach, banal und arm. Wenn ich türkische Musik hören wollte, so hörte ich Volksmusik oder Arabesk. Sie zerriss mir aber nicht das Herz und ich wurde das Gefühl nicht los, als fehlte der türkischen Musik, die ich hörte, die Einsicht in die Zusammenhänge. Meine Musik musste mir die Seele streicheln. Reggae hörte ich im „Jump" zwar gerne, aber sie zerriss mir weder das Herz, noch streichelte sie mir die Seele. Musik müsste ein Zündstoff sein, mit dem man die Mauern um das Herz und um die Seele sprengen kann. Kurz, ich hörte zwar gerne Musik, wusste aber nicht, welche Musik und welche Gruppen meine waren. Wir hörten Bob Marley und unterhielten uns über die verschiedensten Themen. Vor allem aber über Gül, die Beweggründe ihres Weglaufens und ihren eventuellen momentanen Aufenthaltsort. Inzwischen wurde innerhalb kurzer Zeit das Jugendcafe proppenvoll.

Die Altersgenossen drängten und zwängten sich in das Cafe. Einige setzten sich auf die Hocker, die sich um die Theke befanden und einige setzten sich auf die Stühle um die Tische. Es war jetzt aussichtslos, einen freien Platz zu finden. Auch Martin, mein Klassenkamerad, war gekommen. Er gehörte zu den wenigen, die im Mai schon eine Lehrstelle gefunden hatten. Ich empfand das „Jump" als sehr gemütlich. Der Sinn unseres Beisammenseins war nicht das Trinken, sondern die Unterhaltung. Bei guter Musik, einer gemütlichen und bescheidenen Atmosphäre, konnte man sich nur wohl fühlen.

David sah uns drei an und schlug vor, bald eine Tour nach Berlin zu machen. Wir waren überrascht und schwiegen eine Weile. Nach kurzer Zeit brach Ömer das Schweigen und fragte: „Wann denn?"

„Wann ihr wollt. Vielleicht in den Sommerferien?"

Ich redete dazwischen und sagte: „Ich habe kein Geld.“

David beruhigte mich, in dem er sagte, dass wir fast gar kein Geld brauchen würden. Er würde die Benzinkosten übernehmen, übernachten würden wir im Auto und essen und trinken müssten wir ja nicht im Hilton oder in einem Luxusrestaurant. Wir würden am Freitag losfahren und wären am Sonntagabend wieder zurück. Hamdi sagte, dass er erst mit seinen Eltern sprechen müsse. Ömer und ich schlossen uns Hamdi an.

„Ihr müsst es wissen. Das wäre mal was anderes als immer nur im „Jump.“

„Und wir könnten die Mauer sehen", sagte David, „ich muss weg. Habe noch einen Termin beim Zahnarzt", und erhob sich von seinem Stuhl.

Ich sah auf meine Uhr und sagte: „Wir haben fast sechzehn Uhr.“

„Macht nichts. Die Praxis hat bis neunzehn Uhr geöffnet.“

Er ging auf Michael zu, der hinter der Theke stand, bezahlte die Getränke und winkte uns zu, als er aus der Tür ging. Wir drei schwiegen eine Weile. Die Gespräche der Altersgenossen schwebten im Raum. Ab und zu konnte ich in dem Chaos Martins raue Stimme wahrnehmen.

„Wieso sagte er, der Koran wäre nicht originell?", fragte Ömer arglos und brach das Schweigen.

„Für einen Christen oder Juden ist der Koran eben nicht originell", antwortete ich.

„Für mich schon.“

„Du bist ja auch ein Muslim. Hast Du den Koran schon gelesen?"

„Nein"› sagte Ömer, „wir haben einen Koran zu Hause, der ist aber in arabische Schrift, daher kann ich ihn nicht lesen."

„Wir auch", fügte Hamdi hinzu, „wenn ich noch einmal in die Türkei fahre, werde ich die türkische Übersetzung kaufen."

„Ich auch", sagte ich, bestätigend.

Keiner von uns dreien hatte Zweifel daran, dass der Islam die einzig richtige Religion war. Das wurde uns durch unsere Eltern und die Älteren in der Verwandtschaft beigebracht. Es wäre fatal anzunehmen, dass der Islam nicht die richtige Religion wäre. Aber irgendwo hatte David mit seiner These auch Recht, als er sagte, dass der Koran nicht originell sei. Denn das Buch war immerhin fast fünfzehnhundert Jahre alt. Uns war auch klar, dass wir zwar Muslime waren, aber kompetent waren wir mit Sicherheit nicht. Es war zwingend notwendig, dass wir von unserem Glauben überzeugter sein mussten.

„Wir müssen mehr lesen", sagte Ömer, „denn des Menschen Wille ist sein Himmelreich."

„Ja, sicher. Du hast Recht. Wir müssen mehr lesen", bemerkte Hamdi und lächelte unergründlich, ja sogar rätselhaft.

„Aber was?", fragte ich etwas oberflächlich.

Dann fiel mir ein, dass mein Vater einige Bücher besaß, die sich gescheit mit dem Islam beschäftigten.

„Ich weiß schon. Mein Vater hat ein Buch von Ghasali. Kennt ihr Ghasali?"

Beide schüttelten verneinend ihre Köpfe.

„Ich kenne ihn auch nicht, aber mein Vater ist der Meinung, dass es ein wertvolles Buch ist. Ich werde es lesen."

Hamdi lächelte anspruchsvoll und sagte: „Mein Bruder hat über zwanzig Playboy-Zeitschriften zu Hause. Ich sehe mir lieber die Bilder dort an."

Ömer und ich lachten aus vollem Halse.

In der Tat, die Bilder in den Playboy-Zeitschriften dienten als gute Vorlagen bei der Masturbation. Wir alle drei waren dem Irdischen verfallen, das war uns klar. Aber ich glaubte, dass wir die Einzigen waren. Und da das Irdische von ausnehmender Schönheit war, fiel es uns umso schwerer, davon abzulassen, was wir, so glaube ich heute noch, auch gar nicht wollten. Zugleich wollten wir aber auch nicht in Gottes Ungnade fallen.

Hamdi kratzte mit seinen dünnen Fingern in seinem wirren und krausen Haar und erzählte von den Büchern seines älteren Bruders, der in Bonn Turkologie studierte und sich inzwischen zum Atheismus bekannte. Sein Bruder war der Meinung, dass nicht Gott uns erschaffen, sondern wir ihn erschaffen hätten und mit rituellen Praktiken hätte er nichts am Hut. Wir kannten Hamdis Bruder, wussten aber auch, dass er sich zum Atheismus bekannte. Für mich war der Atheismus die größte Sünde, die ein Muslim je begehen könnte. Auch Hamdi empfand seinen Bruder als ein verlorenes Kind, das in der Welt nur herumirrte und es peinigte ihn sogar, dass sein Bruder verloren war. Für Hamdi musste das irdische Dasein überwunden werden.

Plötzlich bemerkte ich hinter mir Martin. Er hatte sich uns lautlos genährt und beobachtete uns, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war sehr lang, sehr dünn und hatte wie ein Südländer braune Haare und braune Augen. Wir nannten ihn daher manchmal den „Hobbytürken". Es bereitete ihm anscheinend einen enormen Spaß, manchmal seine eigene Landsleute mit türkischen Sitten, Gebräuchen und Redensarten anzusprechen, so dass leicht der Eindruck entstand, er wäre ein Türke, der nur nicht Türkisch sprechen konnte. Er kam an den Tisch, grüßte uns mit einer Heiterkeit, ja, Herzlichkeit und erzählte uns eine Neuigkeit, die ich aber schon kannte, nämlich, dass er nach den Sommerferien als Elektriker bei einem Meisterbetrieb in Siegburg seine Ausbildung beginnen werde. Martin, der Typ B nicht schaffte, war darüber auch nicht besonders besorgt, denn er wollte ja nicht wie Ömer, Hamdi und ich eine weiterführende Schule besuchen. Bis zu der neunten Klasse waren wir Klassenkameraden, dann aber trennten sich die Wege. Ich sah in ihm einen sehr einsichtigen und guten Freund, dessen Freundschaft behütet und gepflegt werden musste. Er war etwas autistisch und hatte einen sehr aufrichtigen Gesichtsausdruck. Es gab allerdings an unserem Tisch keinen freien Stuhl mehr, überhaupt gab es im ganzen Jugendcafe keine freien Stühle mehr. Er fragte, was wir trinken wollten. Wir drehten uns alle nach ihm um und fragten: „Wieso?"

Er lächelte sehr sanft: „Ich möchte euch einen ausgeben."

Ömer bedankte sich und fügte hinzu, dass er gern ein Tee trinken würde; ich wollte auch ein Tee und Hamdi wollte ein O-Saft. Martin ging an die Theke, gab bei Michael die Bestellung auf, stand neben unserem Tisch bis die Getränke kamen, klopfte mir auf die Schulter und entfernte sich von uns. Hamdi nahm einen Schluck von seinem O-Saft und sprach leise: „Man kann sich nicht vorstellen, dass Martin ein Deutscher ist."

„Ja", sagte Ömer, „so entgegenkommend und so frei von Vorurteilen."

„Das Verhalten ist ihm angeboren", fügte ich hinzu. Hamdi kam dazwischen, öffnete nachdenklich seine Lippen, schwieg eine Weile und sagte einfühlend: „Eitel ist er nicht, eingebildet und anmaßend auch nicht. Ich finde ihn in Ordnung. Woher ihm das Verhalten angeboren ist, ist mir egal. Er ist so und das finde ich gut."

„Hast ja Recht", bemerkte Ömer, „ ich finde ihn auch in Ordnung. Er hat nichts gegen Ausländer."

Wir saßen direkt am Fenster und beobachteten die Passanten, die draußen vorbei gingen. Es war Mai und im Garten des Gymnasiums trugen die Bäume zarte grüne Blätter. Trotz des guten Frühlingswetters waren wir alle drei trübselig. Wir hatten nur die Schule im Kopf und natürlich auch die Mädels. Wir wollten alle drei etwas Vernünftiges lernen und uns bilden. Keiner von uns rauchte und keiner von uns trank einen Schluck Alkohol. Übrigens, auch Martin trank keinen Alkohol und rauchte auch nicht. Trotz unserer Trübseligkeit glaubten wir, aus hartem Holz geschnitzt zu sein.

Wir tranken wortkarg unsere Getränke und beobachteten noch eine Weile die vorüber gehenden Passanten und sprachen dabei etwas über sie. Ich sah aus dem Fenster und entfernte mich meilenweit, tage - und nächtelang vom Jugendcafe: Ich war an meinem Praktikumsplatz und bohrte schon an der Universalbohrmaschine Teile für einen Streuer. Der Bohrer brach und der Meister kam völlig genervt auf mich zu und beschimpfte mich auf das Äußerste. Ich wollte ihm meine Unerfahrenheit beichten, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. Schließlich stellte ich fest, dass er die Knauserigkeit in Person war. Ich dachte aber an mein Studium und schwieg. Nach kurzer Zeit brachte er mir einen neuen Bohrer und ich konnte weiter bohren. Ich bekam das Gefühl, dass der Meister gegenüber Praktikanten sehr hochnäsig war. Es half auch keine Höflichkeit. Ich fürchtete ihn sehr und vertraute ihm daher nicht. Dann war ich in der Schule im Englischunterricht und sah mich mit meiner kleinen Portion Englisch als Außenseiter in der Klasse herumsitzen. Der Englischlehrer kam auf mich zu und sagte trostlos, dass ich lieber nach Hause gehen solle, da ich doch weit hinter der Klasse liege. Ich begann zu schwitzen und sah meine Welt zusammenbrechen. Ich lief so schnell ich konnte und sah den Englischlehrer und den Meister mit einem Henkersbeil hinter mir herlaufen. Plötzlich befand ich mich im Wartesaal an unserem Bahnhof, stieg in die Bahn und wollte zum Studium fahren. Nach zwei Haltestellen kamen zwei Kontrolleure und fragten mich nach meiner Fahrkarte. Und als sie feststellten, dass ich gar keine Fahrkarte besaß, legten sie mit aller Gewalt Handschellen an und fesselten mich an die Brüstung an der Sieg am Promenadenweg. Und die Passanten sahen mich verächtlich an. Ich schämte mich so sehr und bekam das Gefühl, versagt zu haben.

Plötzlich fühlte ich, wie Ömer mich am Arm zog. Und ich war wieder in der Realität. Ich wusste nicht, ob ich viel Angst vor der weiterführenden Schule hatte. Für einen Augenblick dachte ich, dass mein Wissen hierfür nicht ausreichen würde.

„Wo warst Du?”, fragte mich Ömer.

„Ach, nirgends", sagte ich, „habe eine kurze Reise an die FOS und an meinen Praktikumsplatz und dort einige Bekanntschaften gemacht."

„Sei nicht so schnell. Wer zu schnell läuft, wird auch schnell müde", fügte Hamdi hinzu und klopfte mir auf die Schulter.

Manchmal überkamen mich solche Ängste, wenn ich vor einer neuen Herausforderung stand. Das letzte Mal, als ich in die 10. Klasse kam. Ein Taumel der Angst überkam mich. Wieder schwiegen wir eine Weile.

Kurze Zeit später brach Hamdi das Schweigen: „Ich habe letzte Woche hier ein tolles Mädchen kennengelernt. Sie heißt Monika und ist schon zweiundzwanzig."

„Na und?", fragte ich.

„Wie, na und?", antwortete Hamdi, „vielleicht wird was mit ihr."

Ömer lächelte sehr listig.

„Du bist doch erst fünfzehn. Oder willst Du das Loch sehen, aus dem Du herausgekommen bist?"

„Warum nicht? Wenn sie auf Jüngere steht", bemerkte er widerwärtig.

„Sie und Hamdi. Hamdi hat noch nicht einmal eine Frau geküsst und sie ist bestimmt schon sehr geübt", erklärte Ömer.

Hamdi wurde einen Moment lang still und machte uns deutlich, dass er Hoffnungen hegte, mit Monika etwas anzufangen. Ich war nicht auf der Jagd nach Mädchen. Ich wollte die Bekanntschaft mit Weltmännern machen und mir viel Wissen aneignen. Teilweise teilten auch Hamdi und Ömer diese Wünsche, doch spielten Frauen bei beiden eine wichtigere Rolle als bei mir. Michael hatte an der Theke viel zu tun. Doch kam er zwischendurch an unseren Tisch und fragte, ob wir etwas haben wollen.

Wir sagten „nein" und bedankten uns.

„Was wollt ihr denn für Musik hören?", fragte er diesmal.

Ich wusste nicht einmal, was ich hören wollte, da ich außer ABBA, Boney M und einigen anderen keine Gruppen kannte. Selbst die, die ich kannte, kannte ich nur durch meine Klassenkameraden. Tanja aus meiner Klasse hörte sie gern und schwärmte gelegentlich von ihnen. Hamdi kannte durch seinen älteren Bruder die Platten einiger Gruppen und sprang ein: „Santana. Leg Santana auf.“

„Santana? Höre ich auch gern", reagierte Michael und entfernte sich von uns. Ich hatte Santana noch nie bewusst gehört und war daher neugierig darauf, was für eine Musik jetzt wohl laufen würde. Vielmehr interessierte mich auch was Santana bedeutete und welcher Musikrichtung sie wohl angehörten. Kurze Zeit später hatte Michael Santana aufgelegt und ich fand, dass diese Musik mir sehr gefiel, ohne zu wissen, ob sie Rock oder Pop war. Ich zählte in der Schule zu den Schülern, die gute Noten hatten, doch mein Allgemeinwissen ließ zu wünschen übrig.

Ich sah Hamdi an und fragte ihn:

„Was ist das für eine Musikrichtung?"

„Latinrock", sagte Hamdi, prompt und unüberlegt.

„Latinrock. Das hört man doch", bemerkte Ömer, „ einen südamerikanischen Touch hat die Musik doch."

„Hast ja Recht", bestätigte ich, „hätte ich mir denken können."

Santana gefiel mir sehr gut. Nun hatte ich innerhalb von nur ein paar Stunden Bob Marley, Reggae, Santana und Latinrock kennen gelernt. Ich überlegte mir, wie ich meinen Horizont erweitern konnte. Lesen und die Unterhaltung mit Weltmännern, das hatte ich nötig. Lesen werde ich ab heute, nahm ich mir vor, doch wo finde ich die Weltmänner? Hamdi, Ömer, David, Michael, Martin waren keine Weltmänner, sondern Durchschnittsbürger wie ich und meine Altersgenossen in diesem Jugendcafe und wie die meisten Passanten, die am „Jump" vorbeigingen; denn Merkmal großer Menschen war, dass sie an andere weit geringere Anforderungen stellten, als an sich selbst. Ich war arm an Wissen; denn arm war nicht der, der wenig hat, sondern der, der nicht genug bekommen kann. Die Schule brachte uns gewiss Vieles bei, doch das Meiste von diesem Vielen war in den Alltagsgesprächen nicht gefragt. Ich beschloss, das Buch „Die göttliche Ordnung" von Ghasali zu lesen und mit dem wenigen Geld, das ich besaß, mir Bücher und Platten zu kaufen. Doch zuvor musste ich herausfinden, was mein Geschmack war. Das würde ich am besten durch Ausprobieren finden können. Also hieß es ausprobieren bis zur Feststellung der eigenen Interesse und des eigenen Geschmacks. Ich strebte nicht danach, der Protagonist der Unterhaltungen zu sein; doch legte ich viel Wert darauf, mitreden zu können, um nicht den Eindruck zu erwecken, ein Windbeutel zu sein. Das Allgemeinwissen musste sehr umfassend sein. Breites Wissen. Ich betrachtete die Unterhaltungen als das Zerrbild des Wissens und des Tiefsinns. Ich spürte, dass ich der brillanten Unterhaltung und den Weltmännern ergeben war.

 

Am späten Abend leerte sich das Jugendcafe wieder. Ömer, Hamdi und ich saßen noch dort, hörten gute Musik, unterhielten uns über die Schule, über die Mädchen und sahen durch das Fenster den Passanten nach. Die Kerze brannte flackernd auf dem Tisch. Ich spürte seit einiger Zeit, wie ich in einem Enthusiasmus des Wissens verfiel; wie Ehrfurcht und Ehrerbietung dem Wissen gegenüber sich in mir entwickelten. Ich spürte, wie mein Gesicht durch die Unwissenheit, durch diese große Lücke, ganz zerschunden wurde. Doch ich war nicht pessimistisch, denn ich hatte mir das Ziel gesetzt, innerhalb von kürzester Zeit, so viel Wissen wie nur möglich anzueignen. Würde es nicht fließen, so würde es doch tropfen. Ich musste aber alles selber erlernen; denn es war mir klar, dass nur derjenige, der von Gift Heilung erwartet, von Fremden Treue erwarten konnte. Ich musste aber trotzdem die Nähe der Weltmänner suchen, denn schlechte Beispiele würden die guten Sitten verderben.

Hamdi erzählte von Monika. Wie hübsch sie doch war, wie gebildet, wie nett und wie ausländerfreundlich. Ömer und ich wurden neugierig auf sie und am liebsten hätten wir sie so schnell wie möglich kennen gelernt.

Als das „Jump" ganz leer geworden war, sahen auch wir ein, dass wir schon seit dem Nachmittag hier saßen und endlich nach Hause mussten. Also entschlossen wir uns aufzubrechen, verabschiedeten uns von Michael und gingen raus. Das Wetter war angenehm und die Luft frisch. Eine leichte Brise des Wohlbefindens schwebte in der Luft.

 

Vater, Mutter, Geschwister; alle waren sie zu Hause. Ich ging in die Küche, aß etwas von der Suppe, nahm Ghasalis „Die göttliche Ordnung" aus dem Wohnzimmer und ging in mein Zimmer. Mein Bruder malte wieder seine Bilder. Ich legte mich auf den Diwan und schlug das Buch auf. Das Buch, ein sehr dickes Buch, bestand aus drei Dutzend Kapiteln. Jedes Kapitel beinhaltete eine Thematik. So war man nicht gezwungen, das Buch von der ersten bis zu der letzten Seite zu lesen, sondern konnte das Kapitel lesen, das einem am Herzen lag. Ich las die Überschrift der Kapitel und entschied mich für „Das Trinken von alkoholischen Getränken". Nach ein paar Seiten stellte ich fest, dass ich zwar wusste, dass ein Muslim keinen Alkohol zu sich nehmen darf, aber nicht die Geschichte des Verbots kannte. Also las ich dieses Kapitel mit Interesse zu Ende. Dann las ich das Kapitel „Über das irdische Leben", Ghasali bearbeitete viele Themen eines überzeugten Muslims. Er war der Meinung, dass wir die Zeit nach dem Jenseits viel ernster nehmen sollten, als das irdische Dasein, was mir nicht gefiel. Man lebt nur einmal dachte ich und daher soll man dieses „irdische Leben" so angenehm wie möglich gestalten. Ich las ihn trotzdem mit einer großen Bereitschaft zur Aufnahme. Ich spürte, wie mir das Lesen Spaß und Vergnügen bereitete. Kurz, ich war richtig hungrig und aß von diesem Essen so viel, wie ich in mich hineinstopfe konnte. Schnell las ich noch die Kapitel "Ehebruch", „Liebe", „Unterhaltung", „Sinnesänderung", „Die Angst vor Gott" und stellte mit Erstaunen fest, dass die Zeit sehr rasch vorüberging. Es war bald Mitternacht und alle hatten sich schon schlafen gelegt. Auch mein Bruder, der vor dem Ins Bett Gehen mir immer eine gute Nacht wünschte, schlief fest auf seinem Diwan. Ich klappte das Buch zu, legte es unter meinen Diwan, zog meinen Pyjama an, ging ins Badezimmer, putzte mir die Zähne, legte mich auf den Diwan und wartete auf den Schlaf. Ich spürte eine Freude in mir. Eine Freude darüber, dass ich den ersten Schritt getan hatte einzusehen, dass Ghasali in Ordnung war.

 

Die Schule befand sich ganz in der Nähe vom „Jump". Und fast jeden Nachmittag trafen wir uns dort. David, Martin, Ömer, Hamdi und ich redeten über den Urlaub, der ja bald beginnen sollte. Auch Monika gesellte sich ab und zu zu uns. Sie machte einen sehr kenntnisreichen und wissenden Eindruck, was mich faszinierte. Auch ver-strömte sie einen Moschusduft gemischt mit Amber, was mich sehr reizte. Sie studierte Jura in Bonn und war ebenfalls eine Schülerin unserer ehemaligen Schule. Jedoch redete sie wenig. Oft erweckte sie den Eindruck, als würde sie sinnieren. Ich hielt sie für sehr lernfähig und sehr intelligent.

 

Es war an einem Junitag und die Luft war so sanft wie eine Jungfrau. Ömer, Hamdi, David und ich saßen im „Jump" am Fenster, unterhielten uns über den Urlaub und über die Schule nach den Ferien. Hamdis Klassenlehrerin hatte ihn schon davon unterrichtet, dass er den Typ B der Klasse 10 nicht schaffen würde, da er in Deutsch noch nicht so fit war. „Ömer wird es schaffen", so die Klassenlehrerin. Hamdi aber war von dieser Nachricht gar nicht betrübt oder bedrückt. Es machte ihm überhaupt nichts aus, nach der 10. Klasse eine Lehre als Friseur zu beginnen, worauf er sich übrigens sehr freute. Ömer, Hamdi und ich versuchten im Beisein von David, Monika oder Martin immer deutsch zu sprechen, doch bereitete uns dies hier und da Schwierigkeiten. Die Muttersprache kam aus dem Unterbewussten ins Bewusstsein und führte dazu, dass wir uns immer wieder unbewusst in türkischer Sprache unterhielten, worauf wir die Aufmerksamkeit der anderen auf uns zogen.

Wir redeten von der Häresie im Islam und versuchten herauszufinden, was das alles sein könnte und von der Ketzerei, die ja den garantierten Aufenthalt in der Hölle bedeutete. Ich spürte, dass ich, nachdem ich Ghasali gelesen hatte, nicht mehr so schweigsam da saß, sondern mitreden konnte, was mich sehr erleichterte. Hoffnung beflügelte mich, eines Tages doch ein Weltmann sein zu können, was ich tief in mir doch anstrebte. Und immer wenn ich mitredete, überkam mich ein starker Taumel des Glücks und ich spürte, dass ich nicht mehr so unsicher, verwirrt und ängstlich war.

David unterbrach die Unterhaltung, in dem er fragte: „Wann fahren wir denn nach Berlin?"

Hamdi und Ömer sahen sich unbeteiligt an und mir wurde klar, dass beide die Erlaubnis von ihren Eltern nicht bekommen hatten. Ich aber hatte meine Eltern noch nicht darauf angesprochen, weil ich diesen Vorschlag von David noch für weit weg hielt. Ich glaubte aber, dass meine Eltern nichts dagegen haben würden. Kurze Zeit später holte David uns aus dem Schweigen heraus, indem er uns drei ansah und leise sagte:

„Ich weiß schon. Ihr könnt nicht."

„Ich habe meine Eltern darauf noch nicht ange-sprochen",bemerkte ich, „doch werde ich dies heute Abend noch tun."

„Monika wird auch mitkommen", erklärte David und sah Hamdi genauer an.

„Monika auch?", gab Hamdi mit zittriger Stimme von sich und machte dabei einen sehr mitgenommenen und trübseli-gen Eindruck.

„Du Tölpel", sagte ich zu ihm, „hättest deinen Eltern doch sagen können, dass Du das Wochenende bei mir verbringst."

„Nein, das wollte ich auch nicht", antwortete Hamdi in Gedanken versunken.

Ömer blieb während dessen sehr ruhig und sagte lange Zeit nichts. David wandte sich zu mir und lächelte mit seinen dicken Lippen an und fragte:

„Wie ist es mit Dir? Was werden wohl Deine Eltern sagen?"

„Das kann ich noch nicht sagen, aber ich glaube, dass sie nichts dagegen haben werden. Werde sie heute Abend noch danach fragen.”

David sah mich an und fügte hinzu: „Vielleicht fängst Du ja was mit der Monika an. Oder?"

Ich wurde leicht rot im Gesicht, was Hamdi nicht entging.

„Du bist schon von Anfang an dafür zu haben. Du findest sie nämlich auch klasse oder irre ich mich?" fragte mich Hamdi.

Ich traute mich nicht, darauf aufrichtig zu reagieren, überhörte Hamdi und sah David streng an.

„Warum fängst Du denn nicht etwas mit ihr an?"

„Na, warum wohl nicht, Cem ? Weil ich schon eine Freundin habe und außerdem sucht sie einen Apoll im Bett."

Das überraschte mich, denn davon, dass David eine Freundin hatte, wusste ich auch nichts.

Hamdi fragte: „Wer fährt denn alles mit?"

David nahm ein Schluck von seinem Kaffee und sah mich an. Ich machte ihm mit meinen Augen klar, dass ich nicht wusste, wer mitfuhr. Er lachte wieder sehr gutmütig und fragte nur: „Wer will, der kann mit. Wir können zu fünft, zu viert oder zu dritt fahren."

Hamdi war in eine Lethargie verfallen, konnte kaum noch sprechen und verlor das Interesse am Gespräch. Er sah sehr müde aus. Man konnte meinen, er flehte innerlich, was uns dreien nicht entgangen war.

„Nun komm wieder zu Dir. Wir nehmen Dir die Monika nicht weg", sagte ich.

David lachte wieder und klopfte Hamdi auf die Schulter:

„Wer nimmt hier wem wen weg? Da läuft doch gar nichts. Sie weiß nicht einmal, dass Du in sie verknallt bist", sagte David.

„Trotzdem", brüllte Hamdi aus vollem Halse, als hätte man ihm auf seine empfindlichste Stelle getreten.