Der Ideen-Entzünder - Ulrich Eggers - E-Book

Der Ideen-Entzünder E-Book

Ulrich Eggers

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Beschreibung

... Ideenmensch, Glaubender, Suchender, Schreibender, Papa, Gründer, Netzwerker, Verleger, Drähtezieher – Uli Eggers prägt die letzten Jahrzehnte das geistliche Geschehen in unserem Land entscheidend mit. Er startet neue Aufbrüche, bringt geistliche Ideen zum Fliegen, fordert und fördert Menschen – immer mit dem Ziel, mutig vor sich, anderen und Gott ehrlich zu sein. Mit seinem Freund und Weggefährten Thomas Härry, erläuft sich Uli nun die wichtigen Lebensthemen: Sie reden über Ulis Biografie, Berufung und Charakter, schmerzliche Erlebnisse wie den Verlust des ersten Kindes, die Sehnsucht nach Aufbruch, die Spannung zwischen im Kleinen und im Großen treu zu sein, darüber, wie Glaube echt wird und bleiben kann.

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ULRICH EGGERSMIT THOMAS HÄRRY

DerIdeen-Entzünder

Von der Treue im Großen, mutigen Entscheidungen und dem Glauben am Montag

EINE BIOGRAFIE IM DIALOG

SCM R. Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-27037-2 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26902-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2022 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Fotocredits:

S. 15, 18, 45, 48, 49, 83, 108, 109, 117, 123, 131, 195, 198, 208, 221, 250, 299, 302, 308, 322, 342, 351, 369, 377, 385, 393, 395, 398

© 2020 Tom Pingel Fotografie, www.tompingel.de

Außerdem:

S. 105: Hartmut Tobies

S. 128: Laura Steevens

S. 141, 144, 145, 191 (r.): Manfred Pagel

S. 155-157, 247: WdL Dünenhof

S. 164, 226, 236, 258, 296, 301, 306, 314, 338: SCM Bundes-Verlag

S. 217: Ina Dinnebier

S. 288, 347: Willow Creek Deutschland

S. 317: Friedhelm Loh Group / Rittal

S. 329: Till Eggers

S. 396: Thomas Härry

Alle weiteren Fotografien entstammen dem Privatarchiv von Christel und Ulrich Eggers.

S. 3: Manfred Hausmann, Kleiner Vorspruch.

Aus: ders., Nachtwache. Alte Musik. Füreinander. Gedichte aus den Jahren 1922-1946.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1983.

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.

Lektorat: Silke Gabrisch, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Titelbild: © 2020 Tom Pingel Fotografie, www.tompingel.de

Innengestaltung: Erik Pabst, www.erikpabst.de

Denn oft sind Worte wie Papierlaternen, wohlfeiler Tand nur, bis ein Licht sie sacht erhellt und immer durchsichtiger macht.

Manfred Hausmann

Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.

2. Korinther 3,6

Ich liebe Biografien und habe immer gern von ihnen gelernt. Eigentlich geht es darin weniger um die Menschen, die dort beschrieben werden, als um das gute Leben und um unseren liebevollen Gott, der in ihnen wirkt.Mögen die Wortlaternen dieses Buchprojektes vom Geist Gottes durchleuchtet werden und Menschen segnen.

Ulrich EggersS. D. G.

INHALT

ÜBER DIE AUTOREN

STIMMEN VON WEGGEFÄHRTEN

MEHR ALS EIN GEÖFFNETES FENSTER — EINLEITUNG VON THOMAS HÄRRY

\ PROLOG»WENN DU EINMAL UNTER VERDACHT BIST … « — ULRICH EGGERS – EIN GEFÄHRLICHER?

Nicht von allen geliebt

Von Lob und Kritik

\ 1»IM GRUNDE WAREN WIR EINE UNTERNEHMERFAMILIE« — ELTERN, GESCHWISTER UND FRÜHE KINDHEIT

Das Erbe der Eltern

Frühe Lesebegeisterung

Bei Eggers am Mittagstisch

Kinderglaube

Der Außenseiter

Von Weite und dem Leben am Rand

\ 2»IRGENDWIE WAREN WIR IMMER SEHR ENGAGIERT« — TEENAGER- UND JUGENDJAHRE

Die Brüder als Wegbereiter

Erste Liebe

Freundeskreis

Der erste große Konflikt

Vorbilder

Erste Zeitschriftenerfahrung

Spannungsthema Sexualität

Lebensstränge

\ 3»MEIN LEBENSVOLLTREFFER!« — LEBEN ALS JUNGER ERWACHSENER

Ehrenamtliches Engagement

Christel

Herausforderung Studium

Auseinandersetzungen mit dem frommen Establishment

Spannungen mit dem Bund

Weitungen des Glaubens

\ 4»HIER IST MEIN AUFTANKORT« — LEBENSORT CUXHAVEN

Küste, Meer, Gezeiten

Von Lieblingsorten und Gotteserfahrungen

Wo Heimat ist

\ 5»WIR WOLLTEN CHRISTUS HINTERHER« — LEBEN IN GEMEINSCHAFT

Auf den Spuren Eberhard Arnolds und der Bruderhöfe

Die WegGemeinschaft

Von Spannungen und Reibungen

Der Dünenhof

Ein Ort, wo Gott wirken kann

\ 6»VON DER WIEGE BIS ZUR BAHRE« — DER ZEITSCHRIFTENMACHER

Die Insolvenz

Lebensfragen als Ausgangspunkt

\ 7»EIN ECHTER LEUCHTTURM FÜR NEUES« — WIE ZEITSCHRIFTEN ENTSTEHEN

Der Start von Family

Aufbruch in ein neues Miteinander

Gründung des Spring-Festivals

Und dann kam AUFATMEN

Ehrlich glauben

\ 8»LIEBE ÜBER ALLES ANDERE« — FAMILIE, KINDER, EHE – GESPRÄCH MIT CHRISTEL UND ULI

Julie, unser erstes Kind

Die Familie wächst

Erziehung

Geschichten einer Ehe

Von Baustellen und Heraus-forderungen

\ 9»WO EINE NOT IST, IST EIN MARKT« — UND NOCH MEHR ZEITSCHRIFTEN

Für Frauen: JOYCE

Für Bibelmüde und Bibel-begeisterte: Faszination Bibel

Für Gemeindebauer: 3E

Für Zukunftssucher: andersLEBEN

\ 10»ALS MENSCH IST ER SICH TREU GEBLIEBEN« — CHRISTEL EGGERS ÜBER IHREN MANN

Mehr Ideen als ein Hund Flöhe

Ein gutes Team

Von Lebenshunger und Sparsamkeit

\ 11»OHNE AUGENHÖHE UND WEITES HERZ FUNKTIONIERT ES NICHT« — EINHEIT: EVANGELIKALE, CHARISMATIKER, KATHOLIKEN

Die Spannung zwischen Evangelikalen und Charismatikern

Ein Herz für Ökumene

Das Ziel im Blick halten

\ 12»JEDES MAL WAR WIEDER ETWAS GANZ NEU« — INTERNATIONALE ERFAHRUNGEN

Rom, Vatikan

Manila, Lausanne II

Portland, Billy Graham

Chicago, Willow Creek

\ 13»WENN ICH WAS ENTDECKE, MUSS ICH ES ANDEREN ERZÄHLEN« — IMMER NEUE PROJEKTE

Astrid Eichler und EmwAg

Jahr der Stille

Glaube am Montag

\ 14»ERFOLG IST IMMER TEAMLEISTUNG« — WACHSENDE LEITUNGSROLLEN

Leiter des Bundes-Verlags

Vom Jonglieren mit anderen Lebensbereichen

Es wird noch komplexer

Friedhelm Loh

Der Schüchterne

\ 15»FREUNDE SIND ETWAS GENIALES!« — FREUNDSCHAFTEN, NETZWERKE, BEZIEHUNGEN

Auf Augenhöhe

Gordon MacDonald

Beziehungen zur Schweiz

… und Österreich

\ 16»DIE HABEN EINE KLARE VISION« — WILLOW CREEK – UND DIE EREIGNISSE RUND UM BILL HYBELS

Was die Faszination ausmacht

Und dann die Krise

\ 17»WAS ERWARTET MICH?« — ENDLICHKEIT, TOD UND STERBEN

Tod der Eltern

Das eigene Lebensende

Ein viel zu früher Abschied

\ 18»ERST MAL IST ES EINE SUPERFREUDE!« — FAMILIE, ERWACHSENE, KINDER, ENKELKINDER

Familie mit größeren Kindern

Loslöseprozesse

Unterschiedliche Sichtweisen

Die nächste Generation

\ 19UNSER »BONUS-TRACK«, DIE ZUGABE: »DAS BIN JA ICH!« — LEIDENSCHAFT LESEN

Mit Literatur das Leben erobern

Hans Fallada und Erwin Strittmatter

Parallelen zu Leben und Glauben

DANK DER AUTOREN

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ÜBER DIE AUTOREN

ULRICH EGGERS

(Jg. 1955) gründete Zeitschriften wie family, AUFATMEN, JOYCE oder andersLEBEN und verantwortet AUFATMEN als Redaktionsleiter. Bis zum Herbst 2021 war er Verleger und Geschäftsführer der SCM Verlagsgruppe. Ehrenamtlich ist er 1. Vorsitzender von »Willow Creek Deutschland« und Leiter der Lebensgemeinschaft »WegGemeinschaft e.V.«. Er lebt mit seiner Frau Christel in Cuxhaven. Die beiden haben vier erwachsene Kinder.

THOMAS HÄRRY

(Jg. 1965) wohnt mit seiner Frau in der Schweiz und hat drei erwachsene Töchter. Er ist Dozent am »TDS Aarau – Höhere Fachschule für Theologie, Diakonie und Soziales« sowie Autor und Berater von Fü hrungskräften.

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STIMMEN VON WEGGEFÄHRTEN

»Gott beruft Menschen. Sie alle sind wie Briefe, in denen wir lesen können. Ein solcher Brief ist diese inspirierende Gesprächsbiografie. Thomas Härry bringt den zuweilen moderaten und beobachtenden Uli Eggers mit seinen Fragen zum Leuchten. Da blitzen die ganzen Höhen und Tiefen einer Lebensgeschichte auf, die Gottes Handschrift zeigt. Es geht nicht darum, den bekannten christlichen Verleger, Vernetzer und Journalisten in ein gutes Licht zu bringen. Vielmehr bringen die ehrlichen Antworten und die wegweisenden Fragen von Uli Eggers eines zum Ausdruck: Jesus hat einen Menschen entzündet mit dem Feuer des Evangeliums! Man kann wohl kaum dieses Buch lesen, ohne nicht selbst von der feurigen Leidenschaft Christi entzündet zu werden.«

Dr. theol. Heinrich Christian Rust, Dozent und Autor

»Was für ein Vorrecht, wenn Menschen uns auf so differenzierte, reflektierte und ehrliche Weise Einblick in ihr Leben gewähren! Bei aller Einmaligkeit – hier liegen auch für mein Leben viele Kostbarkeiten, Denkanstöße und Wachstumshilfen bereit.«

Tamara Hinz,Autorin

»Nachfragen, verstehen wollen, tiefer bohren, authentisch leben, Gemeinde lieben und an ihren Defiziten leiden, echt sein – hier gewährt ein Wortakrobat, der mit der Tastatur Welt und Herzen bewegt hat, tiefschürfende Einblicke in die vielfältigen Facetten seines unermüdlich initiativen Lebens. Ein echter Lesegewinn!«

Ekkehart Vetter, Vorsitzender der Evangelischen Allianz Deutschland

»So sehr ich mich auch auf die Biografie von Ulrich Eggers gefreut habe, als ich hörte, dass sie ein anderer schreibt und nicht er selbst, war ich zunächst enttäuscht. Aber das hat sich beim Lesen total geändert. Noch nie habe ich eine Lebensgeschichte gelesen, die so tiefgründig reflektierent ist. Das zu schreiben, setzt eine hohe Sensibilität und auch ein Vertrauen voraus, wie das wohl nur zwischen Freunden möglich ist. Hier schreibt auch nicht Thomas Härry über Ulrich Eggers, sondern das Buch entsteht im gemeinsamen Gespräch. Das Ergebnis ist ein tiefer Einblick in die Geschichte geistlicher Aufbrüche, Entwicklungen und Bewegungen in den letzten fünf Jahrzehnten. Und das alles so persönlich und offen, wie ich es bisher kaum für möglich hielt.«

Peter Strauch, Autor und Liedermacher, ehem. Präses im Bund FeG und ehem. Vorsitzender der Ev. Allianz Deutschland

»Wie, jetzt schon? Biografien über Weggefährten aus meiner Generation? Biografien können vieles sein: Rückblick, Bilanz, Ertrag. All das findet sich in diesem Buch: Der Blick zurück eines Zeitzeugen der missionarischen Bewegung, der an fast allen spannenden Entwicklungen der letzten Jahrzehnte beteiligt war. Die Bilanz eines Leiters, der nicht spalten, sondern versöhnen will. Und spannende Einsichten, was Gemeinden und missionarische Bewegungen zukunftsfähig machen kann. Wenn es so ist: meinetwegen auch Biografien über Menschen meiner Generation!«

Prof. Dr. Michael Herbst, Direktor des IEEG der Universität Greifswald

»Eine außergewöhnliche Biografie, die eine großartige Person und Persönlichkeit vorstellt. Einen ehrlichen Visionär mit rebellischen Zügen, glaubensmutig, leidenschaftlich missionarisch, zweifelnd. Das Besondere: Die Autoren schaffen durch gute Fragen Raum, dass der Leser viele persönliche Entdeckungen machen kann. Entstanden ist eine eindrückliche Biografie, die nicht nur beim Autor bleibt, sondern dem Leser ermöglicht, über sich selbst nachzudenken. Hier sitze ich als Leser mit am Gesprächstisch, staune über Offenheit, Klarheit, Transparenz und Mut der Autoren und beginne dabei eine persönliche Reise zu mir selbst. Selten bin ich durch eine Biografie einer Person so nah gekommen. Außergewöhnlich!«

Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM Deutschland

»Sehr persönlich, zutiefst ehrlich, wohltuend anspruchsvoll. Überraschende Innensicht eines Jesusnachfolgers, Brückenbauers, Ermutigers, Bewegers, Wahrheit-Sagers, Familienmenschen und Ehemannes, getrieben von der Sehnsucht nach dem Echten und dem Willen, sich dafür stark zu machen. Ein spannender biografischer Austausch über zentrale Lebensfragen.«

Bianka Bleier, Autorin

»1987 las Ulrich Eggers einen kleinen Text von mir, bat mich ein Buch zu schreiben und bei der Zeitschrift Punkt mitzumachen. Mich, ein frisch bekehrter suchtkranker Schulabbrecher. Endlich erzählt er seine eigene Geschichte: davon, wie man ein Mensch wird, der gelernt hat, andere Menschen mit Gottes Augen zu sehen.«

Uwe Heimowski, politischer Beauftragter der Ev. Allianz Deutschland

»In diesem sehr persönlichen Rückblick auf das Leben eines Pioniers und Gestalters, eines Ideen-Entzünders, bricht sich das Licht der Liebe Gottes zu seiner Gemeinde wie in einem Prisma. An der Spitze des Dreiecks steht Gott, unten sind Ulrich und Christel auf Augenhöhe. In den Brüchen und Aufbrüchen ihres Lebens wird in diesem Prisma aus dem Licht Gottes eine Vielzahl an Ideen und Initiativen. Hier gibt es kein Schwarz-weiß, auch kein Schönfärben. Das in diesem Lebensprisma gebrochene Licht, strahlt in allen Initiativen von Vernetzung, von Lebensgemeinschaft, in den Zeitschriften und den Impulsen zur missionarischen Arbeit auf. Dasselbe Licht blitzt auch in den Fragen und Kommentaren von Thomas Härry, der die aufgezeichneten Gespräche lenkt, bewertet und mit eigenen Erfahrungen ergänzt. Ein Licht, viele Farben!«

Elke Werner, Theologin, Referentin, Autorin

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MEHR ALS EIN GEÖFFNETES FENSTER — EINLEITUNG VON THOMAS HÄRRY

Wir kennen uns gut zwanzig Jahre. In Kontakt kamen wir kurz nach der Jahrtausendwende. Aus Ulrich Eggers’ Büro in Cuxhaven erreichte mich eine Artikelanfrage für die Zeitschrift AUFATMEN. Es folgten weitere und so wurden wir vertraut miteinander. Bald entdeckten wir gemeinsame Interessen, die über Texte und Themen des Glaubens hinausgingen. Mails, Sprachnachrichten, Buch- und Filmtipps verschiedenster Genres gingen und gehen bis heute hin und her.

Darunter vor Jahren der Hinweis auf einen Gesprächsband von Jana Simon, der Enkelin von Christa und Gerhard Wolf, zwei großen Gestalten im Kulturbetrieb der DDR. Darin führt Simon ein ungezwungenes, aber gehaltvolles Gespräch mit ihren Großeltern über deren Leben, über Politik, über Literatur, über ihr weites Beziehungsnetz. Inspiriert von dieser Mischung aus starken Themen und persönlichem Erleben, dargeboten in anregender Gesprächsform, entstand die Idee eines ähnlich gearteten Gesprächs mit Uli.

Zu Beginn nicht mehr als ein spontaner Gedankenballon, begannen wir ernsthaft darüber zu reden. Schon früher hatten wir bei Redaktionsgesprächen für AUFATMEN ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen und gemerkt, wie viel Gutes uns im Dialog zufloss. So nahm die Idee Form an. Bei diesem Lebensbild sollten sich nicht zwei Freunde gegenseitig auf die Schulter klopfen und ein Bild von Uli zusammenschustern, das einseitig und geschönt war. Wir wollten eine ehrliche Rückschau ohne Überhöhungen.

Ein Zweites: Wir wollten mehr als klassische Interviews, wir wollten ein Gespräch auf Augenhöhe – so, wie wir es so oft bei verschiedenen Themen miteinander pflegen. Trotz des klaren Fokus auf die Biografie von Uli wollten wir uns beide einbringen, wollten seinen Weg und Wirken im Dialog entwickeln.

Im Sommer 2020 fing unsere Arbeit in Cuxhaven hoch oben an der Nordsee an. An vier Tagen führten wir elf intensive Gespräche über die ersten Jahrzehnte in Ulis Leben. Unterbrochen nur von Essen, Schlafen und einem Termin mit dem Fotografen Tom Pingel, der unsere Zusammenarbeit während einiger Stunden begleitete und dokumentierte.

Zwei Monate später folgten zehn weitere Gespräche in Fleeth, einem verschlafenen Dorf im Süden von Mecklenburg-Vorpommern. Dieser Ort war uns wichtig, denn er verkörpert vieles, was uns beide interessiert und verbindet: die mecklenburgische Seenlandschaft mit ihrer intensiven Ausstrahlung – Wäldern, Wasser, Natur, Badestellen, Schleusen, Gutshäusern und viel DDR-Geschichte in Reichweite. Unweit zudem die Wirkungsstätten der Schriftsteller Hans Fallada sowie Erwin und Eva Strittmatter, über deren Leben und Schreiben wir uns seit Jahren austauschen.

Ich bin davon überzeugt, dass jede Umgebung auf unser menschliches Empfinden einwirkt. Dass sie unser Denken und Reden färbt und formt. Wenn es also einen solchen Einfluss auf unsere Gespräche geben sollte, dann aus diesen beiden Richtungen: von Ulis Heimat mit Strand und Hafen und Nordseeküste und von der Kultur und unberührten Natur der mecklenburgischen Seenlandschaft.

Das Ergebnis dieser Gespräche halten Sie nun in Ihren Händen. Es ist keine Schlussbilanz, eher ein Zwischenhalt. Es gibt Einblick in das aktive Leben eines Menschen, der sich Gott zur Verfügung stellt und eines will: hinter Jesus her in Bewegung bleiben und etwas für ihn tun! Dies eingebettet in das vorauseilende Wirken Gottes und in die Dynamik seines Reichs auf dieser Welt. Uli will dem spezifischen Ruf treu bleiben, den er für sich erkannt hat: Glauben erneuern, Brücken bauen, Menschen zusammenbringen, Gemeinde beleben, Menschen das Evangelium bringen, Führungsverantwortung übernehmen. Dabei eng verwoben bleiben mit der bunten Vielfalt des Lebens. Im gleichzeitigen Wissen nicht nur um großartige Möglichkeiten, sondern auch um Begrenzung, Verlust und Momente des Kampfes mit sich selbst. Berührt und betroffen von den Themen, die unser Menschsein da und dort begleiten: von schönen und schweren Kindheitserfahrungen, Krankheit, Sexualität, Lebensfreude, Begrenzung, Verunsicherung, Verlust, Konflikten. In allem gehalten und getragen von Gott, dem Vater, und dem Wagemut des Vertrauens in ihn, der alles zusammenhält.

Dieses Buch ist mehr als ein zu einem Menschenherzen hin geöffnetes Fenster. Es beinhaltet Inspiration und Ermutigung für uns alle.

Prolog »Wenn du einmal unter Verdacht bist … « ULRICH EGGERS –EIN GEFÄHRLICHER?

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Wenige Tage vor unserem ersten Gespräch stoße ich bei meinen Recherchen im Internet auf Verstörendes. In einigen Blogs und YouTube-Vorträgen wird mächtig über Uli hergezogen und vor ihm gewarnt. Für manche konservativen Repräsentanten der christlichen Szene scheint er etwas zu verkörpern, vor dem dringend gewarnt werden muss. Darüber müssen wir sprechen, und ich entscheide mich, damit zu beginnen.

Nicht von allen geliebt

Thomas: Uli, gestern habe ich auf YouTube einen offensichtlich bei einigen deutschen Christen bekannten Redner gesehen, der seine Zuhörer vor der Gefahr warnte, die von dir ausgeht. Schon vor vielen Jahren, als er dir das erste Mal begegnet sei, sei bei ihm eine innere Warnlampe aufgeleuchtet und er habe gemerkt: »Bei diesem Mann musst du vorsichtig sein!« Er hält dich unter anderem aufgrund deiner Einheitsbemühungen über Denominationsgrenzen hinweg für einen der ganz gefährlichen Exponenten der christlichen Szene in Deutschland. Sitze ich hier einem gefährlichen Mann gegenüber?

Uli: Das wirst du dann ja feststellen … Solche Kritik begleitet mich seit vierzig Jahren besonders von sehr konservativer Seite. Ich frage mich, ob dieser Mann von mir wirklich je mehr als eine Momentaufnahme wahrgenommen hat. Oder trägt er vielleicht diese einmal aufgesetzte Brille, die danach nur noch Bestätigung für die eigene Sicht sucht? Wirklich geredet miteinander haben solche Kritiker und ich jedenfalls meist nie. Ich stehe wohl bei denen für eine Reihe von Themen, die Gegnerschaft hervorruft: Einheit und Zusammenarbeit zwischen Charismatikern und traditionellen Evangelikalen oder seit einiger Zeit vermehrt auch mit missionarischen Katholiken. In meinen frühen Jahren war ich stark in der Rüstungs- und Friedensthematik, in Richtung auf einen alternativen Lebensstil oder ganzheitlichen Glauben aktiv – das hat heute in dem Magazin andersLEBEN noch einmal eine Neuauflage gefunden. Ich bin von der Ganzheitlichkeit der Lausanner Bewegung geprägt – Evangelisation und diakonische Hilfe gehen Hand in Hand. Da hat es immer auch einen Widerstand der Besorgten gegeben, der mir fremd geblieben ist, weil ich mich selbst einfach nur als gutwilligen Inspirator und begeisterungsfähigen Menschen sehe, der auf den Spuren von Jesus Gutes will.

Thomas: Du suchst Gutes – und man unterstellt dir Böses?

Uli: Vielleicht wirkt gerade diese Absicht, Gutes weiterzugeben, für manche gefährlich: Da ist einer mit einer Mission unterwegs! Aber das ist ja eine reine Binnendiskussion unter Christen. Wenn wirklich irgendwo Gefahr für den Glauben besteht, dann doch eher draußen – und nicht drinnen. Solche Menschen sehen mich vermutlich als Wolf im Schafspelz: Da ist einer, der fromm redet und auf den ersten Blick fromm scheint – also ist der Typ besonders gefährlich! Natürlich befremdet mich das, weil ich tatsächlich in all meinen Aussagen Jesus-motiviert bin und voranbringen will, was von ihm her dran ist.

Ich kann nur staunen über die Schärfe und Fremdheit, mit der ich manchmal konfrontiert bin. Ich habe aber nach einigem Auf und Ab gelernt, mich bei solchen Angriffen nicht öffentlich zu rechtfertigen – obwohl es mich manchmal juckt. Vor zwanzig Jahren hätte ich noch große Leserbriefe geschrieben, das war mir eine Zeit lang wichtig. Was ich aber immer wieder versuche, gerade wo ich Kritik selbst besser verstehen will oder Hoffnung auf einen fruchtbaren Dialog habe, das ist der Kontakt mit den Kritikern selbst. Oft entsteht da etwas. Es gibt ja in jedem Menschen eine tiefe Sehnsucht, verstanden zu werden, erkannt zu werden in dem, was man wirklich will.

Zugleich merke ich: Bei bestimmten Leuten und in bestimmten Kreisen ist der Versuch, verstanden zu werden, ein Fass ohne Boden. Wenn du einmal unter Verdacht bist, kommst du da nicht mehr heraus. Du wirst nur als Warnfigur und Symbol für Sorgen oder Alarm benutzt.

Thomas: Weshalb lässt du solche Dinge stehen, auch wenn sie dir grundfalsch oder gar verleumderisch erscheinen?

Uli: Ich habe versucht zu lernen, geistlich gut damit umzugehen. Von einem Evangelisten habe ich mal gehört, er habe gelernt, sich nicht mehr öffentlich zu verteidigen, wenn er angegriffen wird. Das hat mir imponiert, weil ich damals gedacht habe: »Ja, aber es drängt mich doch, mich zu verteidigen, es drängt mich doch, mich zu erklären, ich nehme den Kampf auf! Ich werde jeden überzeugen, ich habe doch Argumente, ich muss das zurechtrücken!«

Ich habe dann aber gemerkt, wann immer ich Meldungen oder Vorwürfe, Leserbriefe oder Antworten geschrieben habe: Das bindet enorme Kraft und fesselt mich – ich fokussiere mich auf das Falsche! Ich fange an, aus der Reaktion zu leben, werde unfrei und binde mich an ein falsches Spielfeld. Heute gelingt es mir eher, in Ruhe weiterzugehen, es auch mal an Gott abzugeben im Sinne von: »Herr, das musst du entscheiden, das ist deine Sache – du kennst meine Motive, dein Urteil zählt.«

Thomas: Mir hat an dieser Stelle der Satz des Schweizer Hochschulrektors Ruedi Nützi geholfen, der einmal sagte: »Der Normalfall ist das Missverständnis!« Es ist der Normalfall, nicht die Ausnahme. Und ich würde ergänzen: Manche verstehen dich falsch, ohne es zu wollen. Andere tun es mit Absicht, weil es sie bestätigt.

Uli: Ja, das ist wohl so. Auf der anderen Seite ist schon ein starkes Gen in mir, Menschen, die Dinge missverstehen oder kritisch hinterfragen, zu gewinnen. Persönliche Begegnung zu wagen, mutig und offen zu reden – unter vier Augen, nicht öffentlich. Und das habe ich oft getan und habe supergute Erfahrungen damit gemacht. Ich bin ja selbst ein kritischer Typ und schreibe schon mal sehr offen. Darin liegt die Chance, dass ein Gespräch entsteht, bei dem man sich besser zu verstehen beginnt.

Einige meiner besten Mitarbeiter und Freunde habe ich dadurch gewonnen, dass ich in ihrer Kritik Herzblut bemerkt habe. Ich habe einladend und gewinnend reagiert – und auf einmal kam man zueinander und hat gemerkt: Viel besser als Gleichgültigkeit ist eigentlich Reaktion – selbst wenn sie kritisch ist, denn das ist Beziehungsaufnahme. Kritik ist ja im Grunde ein Hoffnungssignal: Es lohnt sich, die Kritik anzubringen, mal gucken, was der andere sagt! David Neufeld, mein heutiger Verlegerfreund hier an meinem Heimatort Cuxhaven, war mal als junger Mann Autor eines kritischen Leserbriefs an unser Jugendmagazin. Wir begannen einen Dialog – und daraus ist eine schöne Beziehung gewachsen.

Thomas: Und dann gibt es ja auch immer wieder Lob ...

Uli: Ja, natürlich. Es ist schön, wenn du hörst, dass du hier oder da Türen öffnen konntest mit Ideen, die dich selbst begeistert haben. Das ist im Grunde mein Lebensmuster: Ich multipliziere Dinge, die mich selbst begeistern! Bei dem, was mich beeindruckt oder berührt, sitzt oft ein tiefer Impuls in mir: Das muss irgendwie auch zu anderen – ich kann nicht davon schweigen! Davon lebe ich ein Stück weit. Ich bin zutiefst ein Multiplikator, ein Antwortsucher, ein Finder und Verbreiter. Es bringt mir große Freude, gedankliche Bälle gegen die Wand zu werfen und zu hören: Wie kommt das zurück? Was macht das mit anderen? Geht es ihnen auch so, geht es ihnen ganz anders? Das ist spannendes Leben, Beziehung!

Thomas: Ich will noch mal auf die Kritiker zurückkommen. Es ist das eine, Kritiker zu haben. Aber darunter sind eben auch solche wie der eingangs erwähnte Mann, der dich für einen Verführer der christlichen Gemeinden hält. Mir erscheint deine erste Reaktion darauf zu abgeklärt. Ganz ehrlich: Lässt dich das kalt? Ist es nicht ein wenig einfach zu sagen: »Ich beschäftige mich nicht groß damit!«?

Uli: Na ja, du triffst ja jetzt hier auf den Mittsechziger. Meine Reaktion heute ist: Ich kann und will mich von solchen Leuten nicht abhängig machen. Kritik ist etwas, das mir als Journalist und Ideengeber im Grunde mein ganzes erwachsenes Leben vertraut ist. Ein Horizont von Verantwortung und auch von Gewicht, der ständig mitläuft bei allem, was ich tue. Ich musste lernen, damit umzugehen.

Aber ich bin wohl auch ein Typ, der eine hohe Selbstdistanz hat, der sich selbst ständig reflektiert und beobachtend neben sich steht. Meine Frau sagt, ich kann extrem schnell reagieren und verarbeiten, sehr spontan den Punkt treffen und ein Bild entwerfen. Im Grunde läuft bei mir parallel zu allem Reden und Handeln immer eine Reflexionsebene mit: Was könnten Kritiker dazu sagen? Wie nehme ich möglicher Kritik Wind aus den Segeln? Wie baue ich Vertrauensbrücken? Wie sichere ich mich gegen Missverständnisse ab? Ganz klar: Ein Multiplikator und Medienmensch wie ich, der will vor allem verstanden werden! Ich möchte, dass das, was ich sage, richtig ankommt. Man muss mir nicht zustimmen – aber man sollte zumindest verstehen, was ich meine oder will! Und deswegen rede ich oft schon so, dass ich nach links und rechts absichernd Gedanken einflechte.

Für die wirklichen Hardcore-Kritiker reicht das natürlich nicht aus. Zugleich: Wir reden hier über eine zugespitzte Binnenkritik in der frommen Szene. Vielen in der großen evangelischen und katholischen Welt bin ich kaum bekannt. Wir reden über diese evangelikale-charismatische-pietistische Blase von vielleicht ein, zwei Millionen Christen. Diese Jesusbewegung, das ist meine Welt, in der ich mich bewege. Und die ich extrem schätze, weil sie enorm engagiert ist, vieles bewegt, es wirklich ernst meint mit der Nachfolge von Jesus.

In dieser Jesusbewegung gibt es einen sehr konservativen Flügel, den ich wohl irritiere mit meiner offensichtlich vorhandenen Frömmigkeit, die man mir nicht absprechen kann – und doch einer unberechenbaren Fähigkeit, Dinge gegen den Strich zu bürsten und an überraschenden Stellen offen zu sein. Ich glaube, das macht für manche diese Gefahr aus, dieses Gefühl: »Der Typ ist kein ganz offensichtlich Böser – und deswegen muss man besonders vor ihm warnen.«

Ich denke dann manchmal: »Probiert es doch mal mit der Arbeitsthese, dass das vielleicht gar kein Böser ist, sondern dass der Gutes will und vorher nachgedacht hat!« Aber es ist wohl so: Wer einmal auf dem Misstrauenstrip ist, der deutet alles durch diese Brille. Man dringt bei manchen dieser Leute, die auf dem kritischen Rechtsaußenflügel sind, nicht durch ein einmal gefasstes Bild. Das geht mir und anderen mit anderen Brillen wahrscheinlich genauso. Viele Konservative erleben sich heute in einer Kampfsituation gegen liberale Tendenzen – und da zählt nur, wer hilft. Bist du Freund oder Feind? Differenzierte Töne haben es schwer. Ich sage heute: »Ja, ich weiß, dass es Kritik gibt. Ich will sie hören, speise sie ein, möchte gewinnen, gute Argumente bringen, Brücken bauen, die beiden Seiten einander erklären – möchte mich aber auch nicht in einem Binnenkampf verbeißen.

Von Lob und Kritik

Thomas: Was ist charakterlich und geistlich für dich schwieriger zu verarbeiten: wenn man dich mit Lob überhäuft oder wenn man dich in die Ecke der Verführer stellt?

Uli: Beides hat ganz eigene Gefahren ...

Thomas: Die da sind?

Uli: Bei Lob gibt es natürlich immer die Gefahr, dass du eingebildet wirst, dich davon abhängig machst, dafür arbeitest. Oder dich manipulieren lässt. Es gibt ein funktionalisierendes, instrumentalisierendes Lob, das dich für ein Anliegen öffnen soll. Da wirst du natürlich sehr schnell vorsichtig. Wenn Lob einen dankbaren Charakter hat, dann merkst du: »Das ist echt, das tut gut.« Das kostbarste Lob kommt für mich von Leuten, die mir einigermaßen nahe sind, die es beurteilen können und mir irgendwann zusprechen: »Das kannst du gut!«, oder: »Da bist du besonders!« Die mir aber auch kritische Sachen sagen.

Rückblickend wundere ich mich zum Beispiel, dass ich erst so spät gemerkt habe, dass ich manche Dinge außergewöhnlich gut kann: Situationen erklären, Unausgesprochenes verbalisieren, Begeisterung wecken, eine treffsichere Analyse machen, Brücken bauen und gegensätzliche Sichten einander verständlich machen. Oder auch diese Fülle an Ideen, die da ständig in mir sprudeln, diese »Da müsste man was machen«-Gedanken. Meine persönliche Selbstunterstellung war lange Zeit: »Das, was ich bin und kann, das kann jeder! Ich mach’s halt nur – aber eigentlich könnte es jeder!«

Im Nachhinein sehe ich, dass es gut gewesen wäre, wenn mir jemand früher zugesprochen hätte, dass ich da besondere Gaben habe. Ich habe gar nicht verstanden, wer ich bin, weil ich intuitiv dachte, dass jeder so ist! Und das führte sowohl dazu, dass ich mein Potenzial nicht voll nutzte, als auch dazu, dass ich Leute überforderte, weil ich in meiner Selbstunterstellung zu viel von ihnen erwartet habe. Und zugleich ist das ja sowieso eine der ganz großen Lebensfragen: Wer bin ich eigentlich?

Thomas: Interessant, dass du das sagst. Ich beobachte dasselbe bei jungen Menschen, die ich begleite. Einige verfügen über herausragende und augenfällige Stärken. Sie selbst nehmen das aber oft nicht wahr. Sie schauen sich verwundert um und sagen: »Das ist doch nichts Besonderes!« Man muss jungen Menschen zusprechen: »Nein, diese Stärke ist außergewöhnlich, das musst du ernst nehmen.«

Heute verstehe ich: Die betroffene Person nimmt es selbst oft nicht wahr. Sie kennt nichts anderes; sie kann es ja einfach. Das ist wie beim Fisch im Wasser, für den Schwimmen eine Selbstverständlichkeit ist. Logisch kann er es und macht er es. Für alle anderen aber ist es das nicht ...

Uli: Das ist wohl eines der vielen Lebensgeheimnisse: Menschen zu helfen, sich selbst zu entdecken in ihrer Besonderheit, in ihrer Einzigartigkeit. Das ist ein Dienst, den wir füreinander tun können: die oder den anderen ansehen und herausheben, was besonders ist. »Du, mach da was draus! Das hat nicht jeder! Du musst das entwickeln!« Und ich frage mich: Wer nimmt diesen Dienst wahr? Eltern können das oft gar nicht. Da ist häufig eine zu große Nähe, eine Überlagerung und Sichtbehinderung durch den Alltag. Ein Kind, das besonders ist, aber nie sein Zimmer aufräumt, für das finde ich vielleicht nicht den richtigen Ton und die richtige Botschaft. Wo ist die Person mit einer gewissen Halbdistanz, die so reinblicken kann, dass sie dir etwas zuspricht? Wäre eine spannende Aufgabe für Gemeinde, Freunde, Jugendgruppen.

Thomas: Ja, ich glaube auch, das gehört dorthin.

Uli: Es ist die Frage, ob es dort gemacht wird. Ob es überhaupt als Aufgabe wahrgenommen wird, einander etwas zuzusprechen – letztlich Gutes und Kritisches. Beides ist ein Liebesdienst, eine Fürsorge.

Thomas: Und die Kritik?

Uli: Kritik tut immer weh – aber das ist sicher nicht die große Gefahr. Sie hat ja auch einen reinigenden Charakter, sie läutert. Jeder braucht Kritik, muss sie an sich heranlassen, muss lernen, sie nicht einfach nur abzuwehren oder erhaben darüber zu sein. Dieses Unterscheidungsvermögen muss wachsen. Wenn Kritik gut ist, dann hält sie dir einen Spiegel vor und lädt dich zur Veränderung ein. Es heißt ja, Kritik ist kostenlose Beratung – und wer etwas tut, der kriegt zu Recht natürlich auch Rückmeldungen und sehr viel »Beratung« ...

Ganz oft ist Kritik ja berechtigt und lässt uns lernen. Am leichtesten hören wir sie, wenn sie aus reinem, freundschaftlichen Herzen kommt. Unberechtigte Kritik dagegen tut besonders weh – dieses Gefühl, verkannt zu werden. Auch wenn die Motive nicht sauber sind, ist es schmerzhaft. Und klar: Kritik kann defensiv machen, gerade wenn man sich davon abhängig macht oder überfordert ist. Du lebst dann nur noch in ängstlicher Reaktion oder mit einem »Ich werde es euch beweisen!«. Das Wichtigste ist wohl, sich nicht zu verhärten, nicht defensiv zu werden oder verbittert.

Mir hat ein Lied von Greg Ferguson von Willow Creek sehr geholfen, eine gute Einstellung zu bekommen, von der ich mich immer wieder hinterfragen und motivieren lassen will. In »Audience of One« geht es darum, was am Ende wirklich zählt, wenn der Applaus oder eben auch die Kritik verhallt ist. Wirklich wichtig ist mir, was Jesus über mich denkt: »Es ist eine so große Versuchung, für den Applaus der Menschen zu leben. Ich aber will zufrieden sein damit, einem Einzigen zu dienen – nur seine Anerkennung und Zustimmung zählt, wenn einmal alles gesagt und getan ist«, singt Greg. Ein superschönes, nahegehendes Lied. Das ist wirklich auch mein Gebet und erinnert mich immer wieder daran, was entscheidend ist.

Ich muss an den Apostel Paulus denken. Er spricht davon, dass er sich weder dem Urteil anderer noch seinem eigenen unterwerfen will (1. Korinther 4,3-5), weil am Ende nur das Urteil Gottes zählt. Eine wichtige Hilfe im Umgang mit von außen und von innen (dem eigenen Herzen) kommender Kritik. Aber auch eine Gratwanderung, weil dies manchen Menschen zum Vorwand gereicht, sich nichts sagen zu lassen. Unser Gesprächseinstieg hat gezeigt, wie wichtig es ist, bei diesem Thema die Balance zu halten.

Ein Anfang ist gemacht, der Teppich ausgerollt. Wir sind bereit, uns den Wurzeln von Uli anzunähern.

1 »Im Grunde waren wir eine Unternehmerfamilie« ELTERN, GESCHWISTER UND FRÜHE KINDHEIT

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Auf diesen Gesprächsteil war ich im Vorfeld besonders gespannt. Ich kenne Uli als Pionier, Redakteur, Verleger, SCM-Geschäftsführer und Verleger, Willow-Vorsitzenden und vieles mehr. Ich meine im Wesentlichen zu verstehen, wie er tickt, was ihm wichtig ist und was nicht. Über seine Kindheit und Jugend hingegen weiß ich fast nichts. Dabei, so sagen Entwicklungspsychologen, sind das die prägendsten aller Lebensjahre. Was mich besonders interessiert: Bestätigt sich bei Uli die These, dass sich viele Lebensthemen und Anliegen eines Menschen aus seiner Kindheit und Jugend erklären lassen? Welche Spuren werden sich bei ihm zeigen?

Es ist Spätsommer 2020. Wir sitzen in Cuxhaven im Wohnzimmer. Vor uns laufen inklusive Handy Sechs (!) Aufnahmegeräte (»Dass da nur nichts schiefläuft!«) und wir legen los …

Das Erbe der Eltern

Thomas: Du bist der jüngste von drei Brüdern. Dein Vater war im Krieg. Wer waren deine Eltern? Wie haben sie dein Leben geformt?

Uli: Erst mal: Aus der Metaebene heruntergebeamt in das Kleine würde ich sagen, dass ich eine superglückliche Kindheit und eine tolle Familie hatte. Wunderbare Eltern, denen ich enorm viel verdanke. Zugleich waren sie Menschen, die sich selbst immer als »kleine Leute«, als »am Rand der großen Welt« empfunden haben. Dieses Gen habe ich aufgesogen, es zieht sich in meinem Leben durch. »Wir sind kleine Leute vom Rand« – gesellschaftlich, von der christlichen Szene her.

Mein Vater Wilhelm Eggers war Prediger im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Norddeutschland. Und er legte Wert darauf, dass er »Prediger« war, nicht Pastor oder gar Pfarrer, was typisch für die evangelische Landeskirche wäre, von der sich die norddeutschen FeG-Gemeinden im Zuge einer missionarischen Erweckung gelöst hatten.

Das hat uns als Kinder geärgert. »Pastor« klang ein bisschen vorzeigbarer, beim »Prediger« hat man sich eher geschämt. Ich kann mich an Schulsituationen erinnern, wo es um den Beruf des Vaters ging. Ich fand es peinlich zu sagen: »Mein Vater ist Prediger.« Die Hälfte der Klasse wusste wahrscheinlich gar nicht, was das war, und die anderen fanden es vielleicht doof. Einmal habe ich ganz erfinderisch gesagt: »Der ist Angestellter der Stiftung Elim!« Das stimmte juristisch – und kam viel harmloser rüber. Aber das Lebensgefühl war: »Wir sind irgendwie kleine Leute, wir gehören nicht zur großen Gesellschaft, wir sind nicht wichtig.« Zugleich aber auch: »Wir haben eine wichtige Aufgabe! Und das ist die Gemeinde. Dafür leben wir! Wir tun das zusammen, Vater und Mutter als Pastorenehepaar – und ihr Kinder gehört auch dazu!«

Thomas: Was für eine Persönlichkeit war dein Vater?

Uli: Er war der Leiter, die unbestrittene und gute Autorität. Er hatte vor dem Studium Zimmermann gelernt und dann mit den Gemeindeleuten ganz handfest mehrere neue Gemeindehäuser gebaut. Er war ein Unternehmer mit Ideen und Bewegungsenergie. Auch ein kluger Prediger. Ein guter Bibelausleger, mitten im Leben. Ich habe von seiner Art, Beispiele zu erzählen und Lebensgeschichten zu nutzen, viel gelernt. Aber er war auch ein Typ in Halbdistanz, ein bisschen scheu. Klug zwar, als Leiter auch vorneweg und sattelfest, sehr mutig – aber persönlich manchmal fast ein bisschen unbeholfen und scheu. Davon habe ich auch was mitgekriegt ...

Thomas: Und die Mutter?

Uli: Meine Mutter Erika war das Gegenteil, die optimale Ergänzung: eine musisch-kreative, warmherzige Gemeindemutter, die extrem gut mit ihrem Mann zusammengespielt hat. Sie hat all das eingebracht, was er nicht so hatte – gemeinsam waren sie wie Eltern für die Gemeinde. Meine Mutter war eine sehr kluge Frau, belesen und gebildet. Sie hat mein Interesse am Lesen geweckt, an den Künsten und am Schönen. Mutter hatte ein großes Herz, war im besten Sinne die anschmiegsame Zuflucht. Das hat mir extrem gutgetan. Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihr – und sie, glaube ich, auch zu mir, weil ich so ein Krankheits-Sorgenkind war und sie vielleicht in mir auch etwas erkannte. Was sie natürlich nicht so laut sagen durfte, weil man die Kinder ja nicht verwöhnen darf ...

Die Eltern als junges Paar, 1938

Das Wichtigste an meiner Mutter war: Sie war jemand, der Anteil nehmen und sich mitfreuen konnte – eine wunderbare Resonanzquelle, sie war wissbegierig und empathisch. Das hat in mir etwas Optimales angespielt. Ich habe mich schon immer gern anvertraut, davon gelebt: Wie reagiert jemand? Wie geht er mit? Für mich ist eines der schönsten Dinge im Leben, jemanden zu haben, dem ich mich anvertrauen kann, dem ich was erzählen kann, der sich mitfreut! Der mit mir dankbar ist, einfach Anteil nimmt.

Thomas: Das heißt: Du warst in deiner Familie der Kommunikative? Als Kind war ich das auch, als Jugendlicher dann innerhalb meiner Familie eher verschlossen. Du aber hast dich mitgeteilt, deine Eltern wussten, wie es dir geht und was in dir vorgeht?

Uli: Na ja, ich war der Jüngste, das Nesthäkchen, von allen geliebt. Ich war kommunikativ, ich war frech, ich war spritzig – und zugleich schüchtern, wie das irgendwie in meiner Familie so ist: mutig im Amt, privat zurückhaltend ... Und ich war von Anfang an aufgrund meiner Asthmaerkrankung ein Sorgenkind.

Im Grunde waren wir eine Unternehmerfamilie – das Unternehmen war die Gemeinde. Alle arbeiteten in irgendeiner Form mit. Meine Eltern haben 1940 geheiratet. Das erste Kind, mein ältester Bruder Otto, kam noch während des Krieges 1941 zur Welt – er ist leider vor einigen Jahren gestorben.

Vater war in Russland. Nach seiner Rückkehr 1948 – acht Jahre später! –wurde mein Bruder Dieter 1949 geboren, der mittlere. Und nach weiteren sechs Jahren kam ich Meine Eltern lebten ihre Ehe unter dem Schatten der Kriegssituation – ich war der Nachzügler, wurde erst 1955 geboren, meine Mutter war schon 42 bei meiner Geburt. Ich war der »kleine Bruder« dieser Familie, der junge Sohn, offensichtlich irgendwie, obwohl ich so spät kam, Wunschkind. Alle waren alt genug, um den kleinen Kerl irgendwie zu mögen. Aber »der Lütte« war auch eine Nervbacke ...

Thomas: Ich bin bei euch Deutschen immer wieder fasziniert und betroffen davon, wie sehr eure Lebens- und Familiengeschichten mit dem Zweiten Weltkrieg verwoben sind. Du bist zehn Jahre nach diesem Krieg auf die Welt gekommen. Wenn du jetzt zurückblickst: Wie sehr hat die Kriegsgefangenschaft deines Vaters, aber auch die Nähe zu dieser dunklen Stunde Deutschlands in dir Spuren hinterlassen? War das ein mitlaufender Schatten in deiner Familie und Kindheit? Gab es Nebenwirkungen, Spätwirkungen – auch durch seine Gefangenschaft?

Uli: Das ist insofern eine spannende Frage, als dass man sie im Grunde in Jahrzehntschritten beantworten müsste. Bis ich zwanzig war, war das für mich ein selbstverständlicher Horizont ohne politische Dimension. Ich hatte einen Vater, der eben – wie viele andere – im Krieg gewesen war. Deutschland befand sich im Aufbau, es ging ständig vorwärts. Gleichzeitig war da auch die Sache mit der Teilung Deutschlands in BRD und DDR – und einem dritten Teil in Russland. Die Mauer und Grenze war da, dort drüben waren die »bösen« Russen, bei denen Vater in Gefangenschaft gewesen war – eine schlimme Zeit! Erst drei Jahre nach dem Krieg ist er nach Hause gekommen. Was für eine lange Zeit!

Wir haben unsere Mutter immer gefragt: »War das nicht sehr schwer für dich?« Sie meinte: »Natürlich war das schwer, aber zugleich ... «, und das fand ich eine spannende Beobachtung, die mir heute noch viel mitgibt, » ... es ging ja vielen so!« Wenn es vielen so geht, macht das die Situation etwas einfacher. Bei manchen kam der Partner gar nicht wieder – Mutters Mann aber lebte! Zwar in Gefangenschaft, aber sie hatte Hoffnung und Hilfe durch die Familie.

Dann kam der Vater nach Hause. Er brachte eine Zeltbahn aus Russland mit –ich sehe sie heute noch vor mir liegen –, eine geflickte, gelblich-braune Plane, ein Paar Galoschen, eine Wärmflasche. Und dann gab es da diese geheimnisvolle Holzkiste, die er sich gebastelt hatte – voll mit Kriegsfotos. Er war drei Jahre lag in Gefangenenlagern als Zimmermann, hatte vor Hunger manchmal Gras und Rinde gegessen. Dennoch war er ganz gut durchgekommen, konnte raus aus dem Lager, da er Bäume fällen musste. Als gelernter Zimmermann gehörte er im Krieg zu einer Einheit von Eisenbahnpionieren, musste aus Holzstämmen riesige Brücken neu aufbauen. Da gab es tolle Fotos, wo die halb nackten Arbeitsmänner stolz vor der neuen Brücke standen – obendrauf mehrere Dampflokomotiven zur Belastungsprobe und Abnahme. Krieg war also auch Arbeit, vielleicht sogar ein bisschen Berufsabenteuer.

Thomas: Dein Vater hat Krieg und Gefangenschaft also vergleichsweise mild erlebt?

Uli: Letztlich kann ich das nicht beurteilen. Wir haben ihn als Familie Jahre später oft gefragt: »Wie war es denn wirklich?« Er erzählte, wie die Russen ihn aus dem Lager ins Dorf zu Zimmermannsarbeiten gebracht hatten. Da haben sie ihm manchmal ein Stück Brot dafür gegeben. Dann erzählte er aber auch widerstrebend von den schlimmen Dingen. Wir merkten: Er wollte sich gar nicht in diese Erinnerungen einlassen, verdrängte das – und mit ihm unsere ganze Gesellschaft.

Einmal erzählte er davon, dass er von der Front überrollt worden war und sich dann ganz allein im gegnerischen, im russischen Hinterland befunden hatte. Umgeben vom Feind war er während mehrerer Nächte zurückgewandert, um durch die Front zu den eigenen Leuten durchzubrechen. Er hat sich an Mond und Sternen orientiert, erzählte von der extremen Gefahr. Irgendwann fand er wieder zurück – pure Bewahrung.

Bei solchen Geschichten spürten wir, was für eine traumatische Situation das gewesen war: Ganz allein! Jede Begegnung konnte den Tod bedeuten. Er konnte sich nur nachts bewegen. Ich empfinde ein total wehes Gefühl für ihn, möchte ihn da am liebsten noch heute herausretten, kann das als Albtraum nachempfinden. Damals dachte ich: Was hat das mit meinem Vater gemacht? Wie kam er darüber hinweg? Es war schon 40 Jahre nach diesen Ereignissen, als meine Mutter nach einer solchen Erzählzeit sagte: »Fragt ihn nicht mehr, er konnte wieder nicht schlafen!« Erst da habe ich verstanden, wie viel mein Vater und seine ganze Generation aus absolut nachvollziehbaren Gründen verdrängt haben.

Thomas: Mir scheint, die politische Aufarbeitung des Krieges, des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung geschah in Deutschland vorbildhaft. Gleichzeitig fällt auf, dass die Auseinandersetzung mit den traumatischen Auswirkungen auf Kinder und Enkel der Kriegsgeneration erst in den letzten zwei Jahrzehnten Fahrt aufgenommen hat. Ich denke zum Beispiel an die Bücher von Sabine Bode, in denen Betroffene vom großen Schweigen der Eltern und dem sorgfältigen Hüten von Geheimnissen erzählen. Deine Familiengeschichte scheint das zu bestätigen.

Uli: Ich glaube, das ist alles sehr ambivalent. Für meine Generation mag das stimmen – wir leben mit der Verpflichtung, die dem großen Unrecht entstammt, das von Deutschland ausging. Das war großes Schulthema, immer wieder. Zugleich gab es die 68er-Bewegung und die damit verbundenen Unruhen – das waren Nachgeborene, Ältere als ich, die sahen, dass zu vieles nahtlos weiterging, dass die Elterngeneration Schuld und Auseinandersetzung auch verdrängte.

Ich war damals zwischen zehn und vierzehn Jahre alt und bekam es nur am Rand mit. Ich habe lange gedacht: »Das sind ganz böse linke Studenten, die sind gegen die Gesellschaft, was ist da bloß los?« Noch mit vierzig habe ich – gut konservativ und verteidigend geprägt – so empfunden. Heute weiß ich, dass diese 68er-Studentengeneration zu Recht ein Thema hatte. Ihre Eltern hatten einfach nur mit Tempo weitergemacht, wiederaufgebaut – und diese ganzen Kriegserfahrungen weggedrückt. Man wollte nichts mehr davon wissen, keine Rechenschaft darüber abgeben. Nicht preisgeben, was man gewusst hatte. Wie bei meinem Vater, der im Grunde sagte: »Lasst mich nach vorne schauen! Ich möchte nicht mehr an dieses Trauma denken, ich kann dann nicht schlafen! Das alles war schrecklich, kein Zweifel! Ich wollte das doch nie! Wir mussten aber ... Es bedeutete Unglück für meine Ehe. Ich konnte mein Kind jahrelang nicht sehen, meine Frau nicht. Wie gut, dass das vorbei ist, warum soll ich noch mal darüber nachdenken?«

Heute verstehe ich das total! Ich kann es absolut nachempfinden – so etwas kostet enorme emotionale Kraft, das will man nicht! Aber ich verstehe auch, dass es gesellschaftlich richtig und nötig war, sich der Vergangenheit zu stellen.

Thomas: Was ist das Wertvollste, dass dir dein Vater für dein Leben mitgegeben hat?

Uli: Sein klares Denken. Mein Vater war analytisch, ein sehr guter, strukturierter Prediger mit lebensnahen Anwendungen und guten Beispielen. Er bemühte sich darum, dass die Leute wirklich etwas mitnehmen konnten. Mein Vater war nüchtern, mit großer Klarheit und weitem Blick auf die Dinge. Und er war bekannt als unangepasster Typ mit Mut.

Peter Strauch erzählte mir einmal, wie mein Vater an der Mitarbeiterkonferenz der FeG Norddeutschland einen Vortragenden nach der Bedeutung eines Fremdwortes gefragt hat, nach dem sich sonst niemand zu fragen traute. Er wies auf Dinge hin, die er als unehrlich und unwahr empfand – auch wenn es sich mal gegen den großen Direktor Friedrich Heitmüller richtete, der die norddeutsche Arbeit gegründet hatte. Nach dem Motto: »Da muss man doch was sagen!« Diese sehr gerade und manchmal vielleicht auch kantige Art hat mich geprägt.

Von seinen Predigten habe ich enorm viel Biblisches mitgenommen. Sodass ich heute sage: Es geht mir wie Obelix. Ich bin das Kind, das in den Zaubertrank gefallen ist, in den biblischen Riesentopf. Ich bin gesotten mit Bibel, das prägt mich bis heute tief. Zugleich steckt darin auch eine gewisse Interesselosigkeit oder mangelnde Erwartung beim eigenen Bibellesen, weil ich immer denke: »Ach, ich kenn das doch alles schon! Habe es als Kind über Jahre in den Gottesdiensten meines Vaters aufgenommen.«

Mein Vater hat mich immer wieder an seine Hobelbank und zu den Holzvorräten mitgenommen, wo ich helfen konnte. Er hat im Haus ständig etwas gebaut – Regale, neue Türen, irgendwas am Dach. Du warst als Kind einbezogen. Vater war ein guter Pädagoge, aber nicht der große Lobestyp. Man fühlte sich geliebt und hatte Erfolgserlebnisse beim Helfen, die dann vor Mutter positiv erwähnt wurden – indirektes Lob. Aber er hat keine großen Worte gemacht.

Thomas: Auch das ein Merkmal, das für die Mehrheit der Väter seiner Generation gilt. Die meisten waren von der sogenannten »schwarzen Pädagogik« geprägt: Zu viel loben verweichlicht und verwöhnt. Man muss die Kinder fürs Leben (in Deutschland: und für den Krieg) stählen usw.

Unsere Väter sind in diesem Klima aufgewachsen – sie haben von ihren eigenen Vätern kaum Zärtlichkeiten und Lob erhalten und taten es ihnen gleich. Ich kenne Dutzende von Männern in unserem Alter, die genau das an ihren Vätern vermissten: den bestätigenden Zuspruch, das Lob: »Ich bin stolz auf dich!«

Uli: Ich fühlte schon eine zärtliche Liebe, ich war für ihn der »Emmels«, mein Kosename. Aber man war verbal wohl viel zurückhaltender als heute. Es gibt ein einziges richtig großes Lob, an das ich mich erinnern kann. Ich bin bis heute stolz darauf, weil ich merkte, dass es spontan kam – wie gegen die eigene Überzeugung, dass man Kinder nicht mit zu viel Lob verwöhnen darf. Irgendwann brach es unvermittelt verwundert aus ihm heraus: »Der Junge hat mehr Ideen als ein Hund Flöhe!« Das begleitet mich bis heute. Was für ein schöner Ausdruck! Und tatsächlich, da ist ja was dran – und war wohl schon immer irgendwie so! Da ist so ein kleiner Stolz in mir: Wie schön, dass Papa das gesagt hat!

Thomas: Diesen Satz hättest du auch als Kritik hören können: »Der hat so viele Ideen, vergiss es, da wird ja nie was draus ... «

Uli: Nein, das war klar als Lob gemeint, aber vielleicht auch ein bisschen aufseufzend nach dem Motto: »Was muss ich da immer alles mitmachen?! Was will er jetzt schon wieder von mir?«

Thomas: Du hast deine Mutter als warmherzige Person beschrieben. Was ist das Wichtigste, was sie in dich hineingelegt hat?

Uli: Das Interesse für Lesen und Bildung. Die Herzenswärme, Anteilnahme und Fürsorge. Mutter hatte viele Bücher, leitete den Büchertisch der Gemeinde. Bei den Bestellungen hat sie immer etwas für uns mitgeordert. Lesen war ihr enorm wichtig und sie wollte, dass auch wir lesen. Meine große Liebe zu Büchern ist durch sie entstanden.

Frühe Lesebegeisterung

Thomas: Was für Bücher hat sie für euch bestellt?

Uli: Alles, was du so als Junge kriegen solltest – altersgerecht. Reader’s-Digest-Jugendbücher, Franck’sche Jugendbücher. Mein Vater hat die Bibel und theologische Kommentare gelesen. Das hätte mich nicht entflammt, aber Mutter hat mir die kleinen Brockhaus-Taschenbücher gegeben und all die christlichen Jugendbücher. Ich habe noch heute ganze Regale voll davon – »Flucht Kurs Ararat!«, »Theo und sein Düsenjäger«, »In der Wildnis verschollen« – manches, das weiß ich heute, war ganz schön schwarz-weiß und knackfromm moralisch oder gesetzlich.

Hochzeit der Eltern, 1940

Auf Mamas Arm bei der Oma in Buxtehude Ostmoor

Mit den Brüdern in der Sandburg

Sonntagsausflug mit dem PW, dem Predigerwagen

Familie mit Bruder Dieter

Weihnachten Mitte der Sechzigerjahre mit Bruder Otto

Im Strandkorb

Weil ich viel krank war, haben beide Eltern darum gebangt, dass ich mein Leben bewältige. Wenn ich wieder mal krank war oder Vater sonntags weg über Land in einer der zu betreuenden Bibelstunden, dann ist Mutter mit mir und einem Buch an die Elbe auf den Schiffsanleger losgezogen. Ich erinnere mich an eine schöne Situation, wo wir stundenlang die Dampfer kommen und gehen sahen und auf einer Bank gesessen haben. Dort hat sie mir ein Brockhaus-Taschenbuch vorgelesen. Das war schön – sie mit mir ganz allein, weil die Brüder schon älter waren. Das war ein besonderer Beziehungsmoment.

Dann hatte sie selbst eine Reihe von Büchern, die ich ebenfalls verschlungen habe: Else Hueck-Dehio »Liebe Renata« – eine tragisch schöne Liebesgeschichte aus dem Baltikum, die mich tief geprägt hat und auch meine eigenen Kinder gelesen haben. Vieles aus dieser baltischen Region aus dem Salzer-Verlag, Familien- und Liebesgeschichten, wo aber auch das Drama des Krieges mit drin war – also Tod und Liebe. Sachen mit Gewicht und Herz, die sie sehr mochte und die sie mir oft gegeben hat, wenn ich krank war und beschäftigt werden musste.

Ein weiteres Buch, das mich sehr geprägt hat: »Gottfried Kämpfer« von Herman Anders Krüger, der Entwicklungsroman eines Jungen: Es geht um einen Predigersohn aus der Gemeinde in Herrnhut – ein Bestseller in den 20er-, 30er-Jahren in vielen christlichen Familien. Dieser kleine Kerl rieb sich an den steilen Vorschriften der Gemeinde. Damit konnte ich mich gut identifizieren. Er war auch Sohn eines Pastors und hatte Rollenfindungsprobleme.

Überhaupt diese Entwicklungsromane, in denen Kinder und Jugendliche Vorbilder finden und sich messen können – superwichtige Bücher, die ich heute im Buchmarkt vermisse! Etwa die Pfäfflings-Geschichten von Agnes Sapper. Solche Bücher haben mich geprägt und Gutes angelegt: Menschen finden ihren Weg, wachsen an Widerständen, scheitern, halten durch, kommen weiter, lernen etwas fürs Leben. Daraus habe ich viel mitgenommen.

Auch später haben meine Mutter und ich viele Bücher gemeinsam gelesen. Erst ich, dann sie oder umgekehrt. Da war ich dann schon ein junger Erwachsener. Als Flohmarktgänger habe ich viel für die Mutter mitgekauft: »Ach, das würde sie interessieren!« Ich brachte ihr die Sachen und sagte: »Schreib mir vorne unbedingt rein, wie du das Buch findest!« Da gibt es heute noch viele kleine Zettel: »Brauchst du nicht zu lesen, nicht wertvoll!«, oder: »Gutes Buch«. So haben wir auch gemeinsam den wunderbar tiefen und dramatischen Fluchtbericht von Hans Graf Lehndorff entdeckt, das »Ostpreußische Tagebuch«. Wer etwas von Krieg und Flucht und Haltung und Barmherzigkeit und Menschsein verstehen möchte, der sollte diesen Klassiker lesen – Lehndorff war Christ, lebte mit den Herrnhuter Losungen, schildert seine Zeit dort rund um das Kriegsende 1945.

Thomas: Ja, Bücher haben auf mich auch eine sehr tiefe Wirkung gehabt. Die Abenteuerbücher meiner Kindheit waren Romane, in denen die Lebensgeschichte historischer Indianerhäuptlinge und Wildwestfiguren nacherzählt wurde. Sie hatten eine enorme Wirkung auf mich und verpassten mir zeitweise eine zweite Identität. Manchmal fühlte ich mich tagelang wie Red Cloud oder Sitting Bull. Ich pirschte ums Haus, stets auf der Hut vor einem Hinterhalt. Oder ich versuchte, genauso geräuschlos durch den Wald zu schleichen wie einer meiner Helden. Mich unsichtbar zu machen oder den Schrei einer Eule nachzumachen und so geheime Signale zu senden. Ich lebte sozusagen die Geschichte weiter und meinte so zu denken, zu fühlen und zu handeln, wie es meine Helden taten. War das bei dir auch so? Lebtest du dein Leben auch ein Stück weit aus dem jeweiligen Buch heraus, als eine Art Verlängerung davon?

Uli: Ja und nein – ich habe die Handlung nicht direkt nachgespielt, aber ich habe sicher viel gutes Verhalten gelernt. Mehr im Sinne eines »Ich fühle mich verstanden, ich kriege einen Kompass, den ich ganz selbstverständlich in mein Leben einbaue«. Wobei ich heute weiß, dass manches an diesen Kinderbüchern geistlich schon auch arg eng und moralisierend war – aber das hat ja für das Finden einer Grobrichtung auf dem Lebenskompass auch etwas Gutes.

Thomas: Also hatten deine Bücher in erster Linie eine pädagogische und geistliche Wirkung auf dich?

Uli: Eine ganz starke sogar. Ich bin bis heute ein von romantischem Idealismus gesteuerter Typ mit hoher Ambition, die Dinge gut zu machen, einem Ideal zu folgen, mich einer Sache mit Leidenschaft hinzugeben. Jesus Freude zu machen, Rechenschaft zu geben, einen geraden, guten Weg zu gehen. Das Richtige zu tun, sich in Not und Gefahr zu bewähren und durchzuhalten. All das sind Prägungen, die viel mit diesen Büchern damals zu tun haben – und dem dazu absolut stimmigen Vorbild der Eltern. Hätte jemand zu mir gesagt: »Hey, du lässt dich aber stark davon prägen!«, dann hätte ich geantwortet: »Genau so muss das Leben doch sein!« Das war ein selbstverständlicher Maßstab.

Die Jahre 1955 – 1968

Thomas: Das war bei mir anders. Meine Bücher und die damit verbundene Traumwelt hatte nicht viel mit meiner Realität zu tun. Dort ging es nicht um Lebensorientierung für das Hier und Jetzt, für meine Kindheit oder den christlichen Glauben ...

Uli: Bei mir kam dazu, dass ich merkte, wie wichtig das meinen Eltern war. Klar habe ich später auch die ganzen Karl-May-Bücher gelesen. Das kam aber stärker über meine Brüder, von denen ich ja als Jüngster viel gelernt habe – Geschwister sind einfach eine großartige Sache!

Bei Eggers am Mittagstisch

Thomas: Wenn du die Art und Weise, wie du erzogen und geprägt wurdest, mit der Erziehung deiner eigenen Kinder vergleichst: Was haben du und Christel anders gemacht?

Uli: Wir haben versucht, es auf etwas modernere Art ähnlich zu machen. Das Vorbild von Eltern, Familie und Gemeinde ergab für uns ein Lebensmodell, nach dem auch wir leben wollten. Natürlich ohne manche Kanten und Ecken. Zum Beispiel wenn es um dieses übertriebene Gucken auf Menschen geht: »Das tut man nicht! Das gehört sich nicht! Was denken die anderen?« Das kam in meiner Kindheit stark durch das Leben mitten in der Gemeinde – da musste man immer Vorbild sein. »Was sollen sonst die Leute sagen?!«

Auch diese Sicht auf uns selbst als die »kleinen Leute« am Rande der Gesellschaft wollten wir als Eltern lockerer handhaben. Also nicht: wir als Freikirchler, die nicht zur großen Amtskirche gehören, also zu denen, die oft nicht richtig fromm sind im Gegensatz zu uns, der kleinen, frommen Truppe.

Heute sehen wir und freuen uns, dass wir da wohl vieles intuitiv richtig gemacht haben. Wichtig war uns immer: »Wärme und Liebe über alles.« Wobei ich heute rückblickend sage: Hier oder da hätten wir noch freier sein können. Zum Beispiel Kinder in den Fußballverein schicken, weil es ihnen gutgetan hätte. Aber der Fußballverein kollidierte natürlich mit Gemeindeterminen. Alles, was gesellschaftlich am Wochenende lief, war Konkurrenz zur Gemeindearbeit und blieb deshalb auf Sparflamme – war mir also ein Stück fremd.

Familie Eggers am Mittagstisch, 1970er

Thomas: Wenn ich damals, als du Kind warst, bei euch am Mittagstisch gesessen hätte, was hätte ich gesehen und gehört?

Uli: Neben den normalen Familiendingen natürlich besonders stark Gemeindethemen: Was oder wer gestern Abend in der Bibelstunde war. »Ach, Papa hat da wieder Obst und Gemüse von einer Stunde auf dem Land mitgekriegt« – oder manchmal so ein merkwürdiges Einweckglas mit einem todesblass aussehenden Huhn. Wie der Gottesdienst war. Wer krank war. Wer was und von wem gehört hat. Vieles sollten wir Kinder natürlich eigentlich nicht mitbekommen. Und so habe ich nebenbei gelernt, Menschen einzuschätzen, Verhalten zu hinterfragen, die Doppelbödigkeit mancher Dinge zu sehen. Nicht jede Oberfläche so zu nehmen, wie sie ist. Das war »Volkshochschule« in Menschenkenntnis und Einschätzungsvermögen – auch durch die älteren Brüder, die ja manches mit einbrachten.

Thomas: War dieser Filter vor allem von der Wahrnehmung deiner Eltern geprägt oder hast du manches, was sie sagten, auch kritisch interpretiert?

Uli: Beides. Die Eltern waren im internen Gespräch schon recht offen. Ich habe viel mitgenommen, zugleich manches auch kritisch gehört und gesagt: »Das überzeugt mich jetzt nicht!« Was wir als Kinder nicht mitgekriegt haben, waren die Kämpfe, die sie als Pastorenpaar hatten mit schwierigen Menschen in ihrer Gemeinde, mit Verwandten oder mit Vaters Vorgesetztem, dem großen Friedrich Heitmüller aus Hamburg.

Vater war dieser kritische Pastor, der manchmal nur deshalb vom Verband mitgetragen wurde, weil er die liebe Erika Zöllner geheiratet hatte, die Tochter einer verdienstvollen Gemeindegründerin in Buxtehude, dem Nachbarstädtchen hier an der Unterelbe. Meine Oma war eine Ikone im Norddeutschen Bund. Und ihre Tochter hatte nun diesen »aus der Welt« bekehrten jungen Zimmermann Wilhelm Eggers geheiratet, der ein feuriger Evangelist und Prediger, aber offensichtlich auch widerständig war. Da gab es schon einige Auseinandersetzungen – auch mit zwei alten Tanten, die in der Gemeinde in Bremervörde ein strenges Regiment führten.

Als Kind war man natürlich solidarisch mit den Eltern – und es bildete sich auch so ein Grundgefühl: Du gehst einen Weg, du hast Gutes vor – aber es gibt am Rande immer auch Strukturen oder Menschen, die das kritisch sehen oder sogar gegen dich kämpfen. So hörte ich immer wieder Menschen sagen: »Ich kannte deinen Vater. Das war ein mutiger Mann! Der ist aufgestanden!«

Thomas: Gab es Tabuthemen in eurer Familie, bei denen du dachtest: »Ich würde gern, aber ich kann nicht«?

Uli: Nichts wurde bewusst vermieden. Es war sicherlich spröde und prüde in Bezug auf Sexualität wie in den meisten frommen Haushalten damals. Aufklärung geschah unpersönlich: Mein Vater hat mir eine Broschüre vom Gemeindebüchertisch gegeben, so ein kleines 40-Seiten-Heft, wo man dann über die Bienen und die Befruchtung hin zu den Dingen kam. Ich war eher befremdet – »was soll mir das jetzt?«. Man hat nicht über diese Themen gesprochen. Ich kann mich an eine Szene erinnern, wo ich im Alter von ungefähr acht, neun Jahren über die »Vorbeuler« einer Frau geredet habe. Alle lachten. Ich wusste nicht, dass das »Brüste« oder »Busen« heißt. Und so erfand ich das Wort »Vorbeuler« – der junge Publizist halt. Niemand sprach mit mir darüber, es war kein Thema.

Thomas: Dass deine Eltern miteinander Sex hatten, das hast du erst spät mitbekommen ...

Uli: Da hatte ich keine Vorstellung, nein. Sie waren durchaus zärtlich miteinander. Aber was Sex ist und wie wir entstanden sind – keine Ahnung. Sie waren Jahrgang 1913 und 1914 – sie hatten es sicher auch nicht anders erlebt.

Thomas: Wer hat dich schlussendlich aufgeklärt?

Uli: Diese Broschüre gab manches her. Erst in der späteren Pubertät gab es dann auch christliche Bücher über Sex und Liebe ...

Thomas: Die Zeitschrift BRAVO war kein Thema?

Uli: Vielleicht mal mit 15,16. Doch da wusste ich eigentlich bereits alles – auch die Schule bildet ja fort. Aber es gab auch Dunkelheit und Schweigen. Selbstbefriedigung war für mich Fantasiebegabten ein großes Thema. Ich war viel krank, da hatte ich Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Das war in meiner Jugendphase eine Not. Auch die geistliche Selbstverurteilung: »Ach, bist du ein Böser! Das ist eine Sünde, das weißt du ja von deinen Eltern.«

Einmal sagte mein Vater zu mir nach einer langen Badezimmerphase: »Aber du spielst auch nicht an dir rum!« – »Nein, nein!« Im Nachhinein denke ich: »Au Backe, geballte Hilflosigkeit auf allen Seiten.« Da war Not und Einsamkeit, Selbstverurteilung. Daher kommt auch eine Beauftragung bis heute in manche von mir gegründete Zeitschriften hinein, weil ich bewusst machen will: »Leute, es gibt so viel Einsamkeitsnot rund um Sexualität. Die Hilflosigkeit der alleingelassenen Menschen, die denken, nur ich bin so! Nur ich bin so ein Schlimmer – oder eine Schlimme! Nur ich bin so speziell!« Da bin ich auch ein Stück zornig auf die christliche Szene, die viel erwartet und wenig Hilfestellung gibt – und bis heute ja bei vielen dieser Themen vor allem groß im Ausmalen des Missbrauchs und der Gefahren und wortlos oder hilflos beim Gebrauch ist.

Thomas: Die sexuelle Revolution und auch die damit positiven Öffnungen haben daran nichts geändert?

Uli: Die Not ist da, bis heute. Viel Verurteilung, viel Zeigefinger, viel hohe Moral und wenig Hilfe, wenig Freiheit, Freude und Gelassenheit. Es war für mich immer eine Verpflichtung, dagegen etwas zu tun – auch aus meinem eigenen Erleben.

Kinderglaube

Thomas: Wie muss ich mir den Kinderglauben des 11-jährigen Uli vorstellen? War der Glaube ein durchgehend natürlicher Teil deines Lebens? Oder »musstest« du dich bekehren?

Uli: Ich wusste immer, was richtig ist, woran »wir« glauben. Und ich habe mich in einer Kinderevangelisation im Alter von neun oder zehn Jahren bekehrt. Ich habe »mein schwarzes Herz« aus Pappe ausgeschnitten und in einem Briefumschlag an unsere Gemeindehelferin abgegeben. Ich weiß nicht mehr, ob ich ein weißes Herz dafür gekriegt habe oder was der Deal war. Auf jeden Fall habe ich es gemacht und wahrgenommen, dass es Wohlwollen um mich herum auslöste. Alle haben sich gefreut.

In gewisser Weise war das wie ein Initiationsritus: Danach wurdest du ernst genommen. Als Bekehrter konntest du mitarbeiten: in der Kindergruppe, im Kindergottesdienst. Eine Kindermitarbeiterin wollte unbedingt, dass ich Xylophon spiele – immer mit gutem Beispiel voran, der kleine Uli. Ich hatte davon keine Ahnung, stand hilflos vorne und habe an jeder Melodie vorbeigeklimpert. Ich fühlte mich völlig überfordert und ausgesetzt ...

Ich sehe das heute ein Stück archetypisch: Da ist ein Pastorenkind und es ist ja fromm und offensichtlich auch ganz pfiffig – ein kleiner frecher Wusel mit lockerem Mundwerk. Der muss das ja können! So wurde ich oft ins kalte Wasser geworfen, habe aber dadurch auch schnell Schwimmen gelernt.

Thomas: