Der intime Widerstand - Josep Maria Esquirol - E-Book

Der intime Widerstand E-Book

Josep Maria Esquirol

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Beschreibung

Das Intime wie auch das Nächste ist mit dem Zuhause verbunden, mit der Familie, dem alltäglichen Brot, dem Freund, den Büchern, den Träumen und der Luft, die man atmet ... Sein Gegenteil ist nicht die Ferne, sondern die Gleichgültigkeit: Der Himmel, durch ein Fenster betrachtet, kann Teil dieser Intimität sein, während etwas, das wir beinahe auf der Haut tragen, wie die Kreditkarte, die man gewöhnlich in der Brieftasche aufbewahrt, uns in Wirklichkeit sehr fremd sein kann. Oft ist Leben als Projekt, Freiheit, Entscheidung oder Selbstverwirklichung verstanden worden, als eine Art zentrifugale und zur Schau stellende Bewegung. In diesem Essay geht es darum, wie eine solche Bewegung sich mit einer anderen verknüpft, die Esquirol als Widerstand, Zuflucht und den Rückzug in die Nähe bezeichnet. »Intimer Widerstand« meint keinerlei Individualismus oder Narzissmus, sondern eher Zurückhaltung und Generosität. Die Reflexion über den intimen Widerstand wird so zu einer Philosophie der Nähe.

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Josep Maria Esquirol

Der intime Widerstand

Eine Philosophie der Nähe

Aus dem Katalanischen übersetzt von An-Magritt Ahn

Meiner

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel La resistència íntima: assaig d’una filosofia de la proximitat bei Quaderns Crema, Barcelona. Wir danken dem Verlag für die Einräumung der Übersetzungsrechte und dem Institut Ramon Llull für die Förderung der Übersetzung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-3968-6

eISBN (ePub) 978-3-7873-4012-5

© für die deutsche Ausgabe: Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Die warme Mahlzeit auf dem Tisch (Augenblick)

   I Auflösung und Resistenz

  II Kartographie des Nichts und nihilistische Erfahrung

Den Garten bestellen (Augenblick)

 III Heimkehr

 IV Lob der Alltäglichkeit: wie einfach das Leben ist

  V Kurze medizinische Meditation

 VI Sich um sich selbst sorgen, ohne narzisstisch zu werden

 VII Dem Dogmatismus der Aktualität nicht nachgeben

Subatomarer Schweiß (Augenblick)

VIII Der Ozean oder die Wüste?

 IX Das Wesen der Sprache als Zuflucht

  X Eine Metaphysik der Versammlung

Anmerkungen

Personenregister

In Erinnerung an Josep

und an

Maria Teresa aus dem Haus Sabater coix

DIE WARME MAHLZEIT AUF DEM TISCH

AUGENBLICK

Der Teller auf dem Tisch, das Öl und das Brot. Der gedeckte Tisch, der dampfende Topf und die Gläser vom Dampf der Suppe beschlagen. Was trennt dieses alltägliche Bild von der nihilistischen Erfahrung? Warum lässt es sich nicht mit den Szenen der Leere und des Absurden versöhnen? Womit verbinden wir es? Wohin führt es uns? Der warme Teller auf dem Tisch, gefüllt mit dem, was gekocht wurde – mit dem, was man immer kocht –, Zuhause; keine Feinkost, nichts Ungewöhnliches. Wir verbinden dieses Bild vor allem mit der Sorge, die das Kochen für Andere mit sich bringt, das Zusammensein und die häusliche Zuflucht. Natürlich auch mit dem Genuss, zu essen. Und mit der Erinnerung an die »Grundlagen«. So erinnert das Öl an den Olivenbaum; an die Erde, in die er seine Wurzeln treibt, an den hellen Himmel, in den er sich emporhebt; die reife Frucht, die Mühe der Ernte, die Pressung in der Mühle. Auch das Brot offenbart uns den Himmel und die Erde – weite Flächen von Weizenfeldern, die an das Blau angrenzen –, jedoch führt es uns auch gleich wieder zum Grundsätzlichsten: zu den Anderen. Das Brot ist das, was man teilt, und Gefährten sind die, die miteinander das Brot teilen.1 Die Situation am gedeckten Tisch erinnert uns an Bartleby, den literarischen Helden von Melville, eine Randfigur, die mit ihren Hemden und all den anderen Dingen, die ihr Besorgnis erregendes Motto verkünden: »Ich möchte lieber nicht« (I prefer not to), es dennoch nicht geschafft hat, sich ganz abseits der Moden zu halten. Bartleby wurde nie wirklich eine Mahlzeit serviert, so wie es sich gehört. Das war es jedenfalls, was der Notar, der ihn eingestellt hatte, aufgrund verschiedener eindeutiger Anzeichen vermutete. Niemand kochte für ihn, niemand bereitete ihm sein Essen: nicht einmal der anonyme Koch des Mittagsmenüs eines gewöhnlichen Restaurants. Und er teilte nie das Brot mit irgendjemandem: Er aß allein und ungesehen im Büro. Vielleicht ist es nicht zufällig, dass Bartleby letzten Endes an einem freiwilligen Hungertod stirbt (nun ja, sein Körper stirbt auf diese Weise, denn seine Seele erliegt einem anderen Grund). Erneuern wir das gemeinsame Leben, so verbindet sich der Genuss der Nahrung mit der seelischen Dimension: gemeinsam am Tisch sitzen und das Wort und die Geste miteinander teilen. Das gemeinsame Leben hängt vom gemeinsamen Essen ab und gerade deshalb haben die Bilder der Isolierung – nicht der Einsamkeit – immer etwas Beunruhigendes. Das Brot, das Salz, das Fest, die Trauer und der Frieden: von all dem, was man teilt, hängt die immer schwierige und prekäre Gemeinschaft der Zusammenlebenden ab.

I AUFLÖSUNG UND RESISTENZ

Es gibt Einsamkeiten, die sich auf unvergleichliche Weise miteinander teilen lassen. Eigentlich kann nur der wirklich mit anderen zusammen sein, der fähig ist, einsam zu sein. An die Wand des Zimmers eines Einsiedlers, in einem heruntergekommenen Haus in der italienischen Stadt Turin, standen die Worte geschrieben: »Wer in die Wüste geht, ist kein Deserteur«. Paradoxerweise, trotz der Bedeutung des Begriffs Deserteur (jemand, der eine Pflicht oder ein Versprechen aufgibt und an einen unbewohnten Ort flieht), enthielt diese Inschrift vielleicht die ganze Wahrheit. Im übertragenen Sinn findet man die Wüste natürlich nicht nur in weiten Flächen karger und rissiger Erde oder in den von der Sonne der Gerechtigkeit versengten Sandmeeren; die Wüste ist überall und nirgendwo: mitten in der Stadt, zum Beispiel. Wer in die Wüste geht, ist vor allem ein Widerstandskämpfer. Er braucht seinen Mut nicht, um sich auszubreiten, sondern um sich zusammenzuhalten und so den äußeren Bedingungen standzuhalten. Der, der Widerstand leistet, strebt nicht nach Beherrschung, nicht nach Kolonisation, nicht nach Macht. Er will sich in erster Linie nicht selbst verlieren und gleichzeitig, auf sehr spezielle Weise, anderen dienen. Dies sollte nicht mit einem einfachen und plakativen Protest verwechselt werden; Resistenz ist meistens unauffällig.

Der Widerstand ist nicht nur Einsiedlern und Eremiten eigen. Existieren bedeutet, zumindest teilweise, resistieren. So ist der Widerstand nicht nur Ausdruck einer situativ bedingten Gegebenheit, sondern eine Seinsweise, eine Bewegung der menschlichen Existenz. Ihn als solche zu verstehen, bringt eine Begriffsumwandlung mit sich, in Bezug darauf, wie man ihn bisher verstanden hat. Man hat immer schon von »Widerstand« gesprochen, jedoch bezeichnete dieser vor allem den Widerstand der Dinge gegenüber den menschlichen Absichten. Die Erde hat sich immer schon, wenn auch früher mehr als heute, dem Pflug widersetzt, der Schmutz dem Waschen und der Gipfel dem Erklimmen. Gerade daher kommt der biblische Satz »Im Schweiße deines Angesichts …«. Die Welt macht es uns nicht einfach und alles kostet Mühe. Unsere Vorhaben und Projekte sind oft mit Hindernissen konfrontiert, die die Realität mit sich bringt. »Die harte Realität« sagt man, das ist eigentlich schon ein Pleonasmus. Anstelle der Schwierigkeiten, die die Welt unseren Ansprüchen entgegensetzt, können wir mit dem Begriff des Widerstandes jedoch auch die Kraft bezeichnen, die wir selbst haben, um sie den Prozessen der Auflösung und der Zersetzung entgegenzubringen. Prozesse, die von außen einwirken oder sogar aus uns selbst herrühren. Gerade dann zeigt sich im Widerstand eine tiefe Bewegung des Menschlichen.

Anzunehmen, dass unser Existieren selbst schon Widerstand bedeutet, beruht darauf, die Realität als teilweise auflösende Kraft zu interpretieren. Tatsächlich ist der stetige Zerfall des Seins die schwierigste Prüfung, der sich das Menschsein stellen muss. Als ob die zentrifugalen Kräfte des Nichts versuchten, die Menschen auf die Probe zu stellen, zu prüfen, inwieweit diese fähig sind, dem Angriff standzuhalten. Auch wenn sich die feindlichen Gesichter ändern, gilt diese Prüfung nicht nur heute oder gestern, sondern schon immer, denn es ist die Realität selbst, die die Bedrohung ausmacht – zum Beispiel im Gewand der Zeit und ihrer wesentlichen Unumkehrbarkeit. So braucht man einen Zufluchtsort, weil es Bedrohung gibt. Für den, der keine Bleibe hat, sind die raue Unwohnlichkeit, die Nacht und die Kälte die unerbittlichsten Feinde. Daher spricht man von der Nacht und der Kälte des Seins und von der menschlichen Wärme eines Zuhauses: »Hier ist der Platz, Mylord; oh geht hinein; die Tyrannei der Nacht ist viel zu rauh, als dass Natur sie aushielt«,2 lauten die Worte des treuen Kent an den verwirrten und hilflosen König Lear in der shakespeareschen Komödie.

Existieren als resistieren … Es versteht sich, dass es zunächst nicht gerade attraktiv klingt, die Dinge auf diese Weise zu erklären, vor allem nicht im Vergleich mit dem glänzenden und beachtlichen Erbe des Existenzialismus, der vom Menschen wie von einem Projekt spricht. Wenn der Geschmack die Wahrheit bestimmen würde, ist es nicht schwierig, sich vorzustellen, wie die Wahl zwischen diesen beiden Aussagen aussähe: »Existieren ist Selbstentwurf« und »Existieren ist Resistenz«. Während die Idee des Projektes die Idee der Konstruktion, der Freiheit und sogar des Abenteuers miteinschließt, bringt der Widerstand, auf den ersten Blick, Konnotationen wie Passivität, Unbeweglichkeit und sogar Elend mit sich. Allerdings sollte der vermeintliche Kontrast zwischen dem »Projekt« und der Figur des Widerstandes näher betrachtet werden, denn trotz aller Gegensätze überwiegen die Gemeinsamkeiten – wie beispielsweise die Bejahung des Subjektes und der Idee der Verantwortung. Sicherlich findet die These, dass die Existenz dem Widerstand gleich ist, nicht in Sartre ihr Gegenteil, sondern in seinen Nachahmern, die wie psychologische Ratgeber auf ununterbrochene und banale Weise die immer gleiche Formel wiederholen: »Leben ist sich selbst verwirklichen«. Das soziale Umfeld, eingebettet in diese Begriffe, ist weit davon entfernt, die sartresche Interpretation zu vermitteln, und verbreitet vielmehr die Idee, den persönlichen und individuellen Weg zum Glück (oft verstanden als Errungenschaft oder als Erfolg) zu suchen. Aber es lohnt sich nicht weiter, diesen Punkt zu vertiefen, denn es handelt sich dabei nicht um gute Sophistik – von der es wohl möglich wäre, etwas zu lernen –, sondern um eine sterile Sophistik, deren Bedauernswürdigkeit nicht von ihrer Rhetorik, sondern von ihrer Mediokrität herrührt.

Existieren als resistieren … Die Betonung liegt nicht auf der expansiven Verwirklichung, sondern auf der Besinnung, der Zuflucht und der Einsicht, die dadurch möglich wird. Das Schweigen dessen, der sich sammelt, ist ein methodologisches – wörtlich genommen, ›den Weg betreffendes‹ – Schweigen, das danach strebt, besser zu »sehen«. Die Sinne schärfen, sie grundsätzlich öffnen; wachsam sein; so tun, als ob die Ohren Augen wären und die Augen Ohren: Kann man hierin noch eine sterile Haltung erkennen, von geringerem Wert als die Ideen der Selbstverwirklichung?

Wenn der Widerstand sich vor allem gegen den Zerfall richtet, dann wird es notwendig, die spezielle Natur einiger der bedeutendsten entropischen Kräfte unserer Situation zu analysieren (Nihilismus ist der Name einer dieser Kräfte, vielleicht der relevantesten) sowie die Formen und Motive zu erkennen, die es möglich machen, ihnen Widerstand zu leisten, durchzuhalten, auszuhalten; oder wie man umgangssprachlich sagt, »Haltung zu bewahren«. In diesem Punkt kommt mit ganzer Intensität die Erfahrung des Zuhauses zur Geltung, und zwar als Zufluchtsort nicht nur vor atmosphärischer Kälte, sondern auch vor metaphysischem Frost. Die durch Wände und Dach bestimmte Teilung von Innen und Außen ist relativ, sie verkörpert nicht die Abschottung oder Isolation, sondern, ganz im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung und Möglichkeit des Hinaustretens. Könnte man etwa den Gipfel des höchsten Berges erklimmen, ohne vorher die Nacht in einem Zelt oder einer Herberge verbracht zu haben? So haben wir angedeutet, dass sich der Widerstand in Form der Besinnung der Idee des Projektes nicht entgegenstellt; von diesem Standpunkt aus betrachtet ist er vielmehr die Voraussetzung ihrer Möglichkeit. Es gibt jedoch auch eine sterile Art von Abschottung und Isolation, die nirgendwohin führt, wie die des Roquentin, des Protagonisten aus Sartres Der Ekel: »Ich aber lebe alleine, vollständig alleine. Ich spreche mit niemandem, niemals; ich bekomme nichts, ich gebe nichts«.3 Nichts annehmen oder geben, das ist sehr wohl Verschlossenheit und der Gegenpol des Widerstandleistenden, dessen Ohren immer offen sind für das freundschaftliche Wort und dessen großzügiges Denken immer schon im Vorhinein einer engagierten Handlung verpflichtet ist. Widerstand ist nicht Immunologie (in diesem Punkt stimmen wir nicht mit Sloterdijk überein). Natürlich kann die Interpretation der Existenz als Widerstand die politische Bedeutung dieses Konzeptes nicht übergehen. Umgangssprachlich versteht man unter Widerstand ein politisches Phänomen, bestehend aus der Opposition einer kleinen Gruppe gegen die Besetzung oder Beherrschung durch eine Regierung totalitären Charakters. Ein bekanntes Beispiel, das uns sofort in den Sinn kommt, ist die Résistance, die sich während des Zweiten Weltkrieges in einigen europäischen Ländern der Besatzung durch die Nationalsozialisten widersetzte. Es handelt sich tatsächlich eher um eine Reaktion oder eine Abwehr als um einen Angriff. Im Falle der Besetzung Europas wurde die Résistance nicht nur zur Verteidigung eines Landes oder eines Territoriums organisiert, sondern auch zur Verteidigung demokratischer Regierungsweisen gegenüber der totalitären Ideologie sowie einer Art und Weise zu leben. Eine weitere nennenswerte Charaktereigenschaft des politischen Widerstandes ist die Tatsache, dass er oft ein spontanes Phänomen ist, das von unten her kommt und Konsequenz einer Bewusstwerdung dessen ist, was wahrhaftig im Spiel ist. Dieses Bewusstwerden führt nicht dazu, einen individuellen »Ausweg« oder die »Erlösung« des Einzelnen zu suchen, sondern einen sozialen, gemeinschaftlichen Weg. Der Widerstandskämpfer denkt nicht nur (oder vor allem) an sich selbst. Dies sind nun die Elemente des politischen Widerstandes: Bewusstsein, Wille und Mut, strategische Intelligenz, um sich selbst zu organisieren und trotz der Verfolgung durchzuhalten, der alle Beteiligten systematisch und unvermeidlich ausgesetzt sind.

Gilt es nicht auch für den Widerstand auf politischer Ebene, dass die Gruppe der Widerstandleistenden die als unrechtmäßig empfundene Macht als zersetzend wahrnimmt, wie eine Dunkelheit, die Anstalten macht, alles das zu verschlingen, was einen Wert hat? Darum gleicht das Standhalten gegenüber den Tyranneien und Totalitarismen dem Widerstand gegen die Auflösung, denn trotz des äußerlichen Scheins artikulieren diese Regime nicht die Bewegungen des politischen Lebens, sie knüpfen nicht den Stoff der Gesellschaft, sondern homogenisieren und erzwingen eine scheinbare, aber falsche Totalität. Der Widerstandleistende ist fähig, auf Annehmlichkeiten und Eigentum zu verzichten, in extremen Fällen sogar, sich selbst aufzugeben. Das, was in jedem Fall zählt, sind die verschiedenen Modalitäten und Intensitäten des Verzichts und der Entsagung. Zu dieser Art von Widerstand ist jener fähig, der weiß – und erlebt –, dass »gut zu leben« nicht alles ist. So glaubt er an etwas und ist schon daher kein Nihilist. Sein Verzicht sucht keinen Glanz und nicht einmal die Anerkennung der Anderen; sein Standpunkt wird nicht ausgehängt wie eine Fahne; er wird zu nichts Großartigem und dient zu keiner Art Schaustellung. Der Widerstand ist eher reserviert als auffallend; bis auf den Moment, in dem die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken ein geeignetes Mittel zur strategischen Aktion darstellt.

Die Kraft des Widerstandleistenden kommt aus seinem tiefsten Sein heraus. Das, was schon da war, drückt sich nun als Widerstand aus. So spiegelt es sich auch in der umgangssprachlichen Ausdrucksweise wider: »Jemand ist Widerstandskämpfer«. Man agiert nicht nur »als Widerstandskämpfer«; denn es geht um etwas, das über die konkreten Umstände hinausgeht und sein eigenes Wesen enthüllt. Es ist jedoch in bestimmten Kontexten wahrscheinlicher als in anderen, dass eine solche Tiefe zum Vorschein kommt und der Widerstandskämpfer als solcher sichtbar wird. So führt manchmal eine Entscheidung zum Widerstand, während sich der Widerstandleistende in anderen Fällen einfach am richtigen Ort »befindet« (wo er eigentlich schon war), ohne dies bewusst zu beschließen.

»Uns fehlt es an Widerstand gegenüber der Gegenwart«, sagte Deleuze. Und er hatte recht. Wir schlagen jedoch vor, von Widerstand gegenüber der Aktualität zu sprechen. Gegenüber dieser Aktualität, die man uns auferlegt und die sich uns auferlegt und die alles in sich konzentriert: die zersetzenden Kräfte des Momentes und die Fatalität der Zukunft. Der Widerstandskämpfer versucht, der Aktualität nicht nachzugeben. Es geht um Hier und Heute, so ist kein Aufschub möglich. Verschieben bedeutet aufgeben: Vielleicht lässt sich das, was man verliert, auf keine Weise mehr zurückgewinnen, die Gelegenheit des Momentes ist vorbei und die Möglichkeit des Unmöglichen wird zur definitiven Unmöglichkeit (hauptsächlich, weil niemand mehr daran denkt oder weil niemand mehr davon träumt). Erinnerung und Fantasie (die Arbeit der Ideen) sind die besten Waffen des Widerstandskämpfers. Und ja, der Traum, jedoch nicht die Halluzination. Die Vorstellungskraft und der Traum sind Kräfte des Wandels und des Lebens, während die Halluzination zum Stillstand führt, denn sie setzt einen Abbau der Wahrnehmung voraus, die darin besteht, etwas als wahrhaftig zu sehen, das es nicht ist: Von diesem Moment an ist das, was in der Welt passiert, nicht in Kohärenz mit dem, was ich tue und sehe, was Taubheit bedeutet. Aber die Verwirrung ist nicht nur äußerlich, sondern schließt das Individuum mit ein; der Stillstand wird so nicht nur durch eine verwirrte Umwelt, sondern auch durch eine innerliche Verwirrtheit ausgelöst. Nicht zufällig ist eine der dringendsten Aufgaben des heutigen Widerstandes, sich nicht von der Zerstreuung ablenken zu lassen.

So bringt jeder Widerstand, und jeder Widerstand gegen die Aktualität, die Hoffnung auf einen angeblich bekannten oder auf einen beinahe unaussprechbaren Begriff mit sich. In beiden Fällen ist man widerstandsfähig und hofft, dass sein Widerstand nicht umsonst ist, wenn der Erfolg sich auch nicht unbedingt in den gewohnten Parametern messen lässt. Vielleicht ist die Niederlage definitiv, vielleicht nur scheinbar, trotzdem hat es Sinn, die Flamme nicht erlöschen zu lassen. Was auch passiert, der Widerstandskämpfer weiß, dass seine Handlungen nicht absurd und nicht steril sind; er vertraut drauf, dass sie Früchte tragen werden, wenn er auch nicht weiß, wann und wie sie keimen werden. Er weiß nur, dass sie am Rand entstehen, abseits.

Intimer Widerstand? Es gibt keinen Widerstand ohne Bescheidenheit und Großzügigkeit. Deshalb zeugen Überheblichkeit und Egoismus von seiner Abwesenheit. Narziss ist nicht widerstandsfähig. Es ist wichtig, das hervorzuheben, um danach ohne Missverständnisse die Idee des intimen Widerstandes einzuführen. Er ist intim, nicht in dem Maße, in dem er sich im Innern befindet, sondern wie innig oder nah er ist, und wie zentral, inwieweit er im Selbst ist. Der intime Widerstand ist paradoxerweise dem elektrischen ähnlich, denn dadurch, dass dieser dem Durchlaufen des Stroms widersteht, produziert er für jene Licht und Wärme, die in seiner Nähe sind; ein Licht, dass den eigenen Weg erhellt und ein Leitlicht für andere ist, den Weg weisend, ohne zu verblenden. Kein Licht, das die höchsten Werte im Himmel der Wahrheit sichtbar machen könnte und auch nicht den verborgenen Sinn der Welt, sondern ein Licht am Wegrand, das uns in der kalten Nacht beschützt und uns leuchtend die Dinge in der nächsten Nähe zugänglich macht.

»Intim« verbinden wir also mit Nähe und Zentralität. Der »innere Dialog«, der ich bin, der Freund, der Teller auf dem Tisch, das Haus …, das sind Elemente einer Philosophie der Nähe, deren Gegenstück nicht die Ferne, sondern die vom Leben losgelöste Abstraktion ist. In gewisser Weise kann die Ferne mit der Nähe übereinstimmen, während es andererseits künstlich klingt, davon zu sprechen, sich dem unpersönlichen Strom der Information oder dem eines Magnetfeldes zu nähern oder sich diesen zu eigen machen zu wollen. Den gleichen Sinn, den der Wald, die Berge oder die Keller für den politischen Widerstand haben, hat die Nähe für den »anthropologischen« Widerstand. Die Philosophie der Nähe erfordert in gewisser Weise eine Alltäglichkeit, wenn sie sich auch nicht darauf reduzieren lässt, und so eine Revision der häufigen Gleichsetzung von Alltäglichkeit und Unechtheit. Durch die Idee der Nähe wird auch die Beziehung zwischen Widerstand und Sorge deutlich. Von der sokratischen Seelsorge bis zur heideggerschen Fürsorge in Sein und Zeit und der Sorge der neueren Ethiken, man hat immer schon gewusst, dass die Existenz der Auflösung ausgesetzt ist. Wenn dies nicht so wäre, warum sollte man sich um etwas sorgen? Und die Sorge wendet sich dem zu, was sich am nächsten befindet.

Auf diese Weise lässt die Idee des Widerstandes einen Gedankengang auf zwei Ebenen zu, die sich miteinander verknüpfen lassen. Einerseits eine Philosophie der Nähe, die, wie wir bereits beschrieben haben, die Aufmerksamkeit auf den Anderen – den Freund, den Gefährten, den Sohn – richtet sowie auf die Luft, die man atmet, die Nahrung, das Zuhause, das Zimmer, das Stück Himmel, das durch das Fenster zu sehen ist, auf die Arbeit, die Alltäglichkeit … und auf die Artikulation des Selbst (Erinnerung, Gefühl, Hoffnung …). Schichten der Intimität und der Nähe; komplexe Artikulationen und Variablen, die einen intimen Zufluchtsort darstellen, einen intimen Widerstand. Ein Widerstand, der keine Schlösser an den Türen und keine Schusswaffen fürs Gefecht braucht. Andererseits führt der Gedankengang der Resistenz zu einer Hermeneutik des Lebenssinns; ein Versuch, den Grund der menschlichen Existenz zu begreifen. So begründet sich auch die Reflexion über den Nihilismus, das Absurde und den Sinn.

Trotz der Schwierigkeiten, die es bereiten kann, erlaubt die Artikulation der beiden Erörterungen die ständige Übertragung des eher theoretischen Niveaus auf ein eher plastisches, existenzielles Niveau. Der Nihilismus beispielsweise entspricht der Figur der Unbeständigkeit und Ungunst der Witterung,4 wer ihr ausgesetzt ist, sucht Schutz. Die Besinnung, das Sich-sammeln, der Zufluchtsort und die Identifikation in dem, was nah und zugänglich ist, haben die Funktion, zu schützen; zum einen vor den grundsätzlich auflösenden und erodierenden Faktoren (die unbeständige Witterung der Existenz, das Verstreichen der Zeit, die Krankheit und das Altwerden …) und zum anderen vor den historisch variierenden Faktoren sozialen Charakters (Abläufe von Herrschaft, Gewalt, Vermassung, Banalisation). Deshalb werden der soziale und der »ontologische« Widerstand zusammen artikuliert.

Auch die Fronten des Widerstandes gehen von einem Niveau auf das andere über, manchmal ohne kontinuierliches Lösungskonzept. Der Widerstandskämpfer widersetzt sich dem massiven Sich-zufrieden-Geben. Er widersetzt sich der Herrschaft und dem Sieg des Egoismus, der Gleichgültigkeit, der Hegemonie der Aktualität und der Blindheit des Schicksals, der Rhetorik ohne Worte, dem Absurden, dem Schlechten und der Ungerechtigkeit.

Der, der in die Wüste geht, ist kein Einsiedler. Wer sich in einen Eremiten verwandelt, auch wenn er im Ödland lebt, ist keineswegs unfruchtbar. Das Leben kann tiefgründig sein, auch wenn es sich am Rand befindet, denn das, was zählt, ist, ein Anfang sein zu können; und jeder kann ein Anfang sein. Nur wenn man keinen Schritt nachlässt, ist es möglich, die Hoffnung auf den Sinn zu behalten und, inmitten der enormen Verwirrung und der vielfachen Abschwächungen, die Lichtung des Friedens zu eröffnen.

II KARTOGRAPHIE DES NICHTS UND NIHILISTISCHE ERFAHRUNG

DIE LANDKARTE

Von ihrem Abenteuersinn angetrieben unternahmen die alten Kartografen lange Erkundungen in unbekannte Landstriche. Was entdeckten sie dort? Welche Flüsse, Wälder und Berge warteten auf sie? Nach tagelangem Unterwegssein öffnete sich auf einmal eine unberührte Landschaft am Horizont, die sie betrachteten, als handle es sich um den ersten Tag der Schöpfung. So wurde die Ermüdung des Weges und der Nächte, die sie in prekären Unterkünften verbracht hatten, kompensiert durch intensive Momente des Genusses und natürlich durch die zunehmende Ausarbeitung der Landkarte, die nach und nach auf dem Papier zum Vorschein kam.

Das Kartografieren des Nichts ist sicherlich nicht so befriedigend. Allerdings ist es dennoch die Mühe wert; bleibt die Karte auch nur eine bloße Andeutung, so hilft sie uns doch, uns besser zu verstehen, nun, da auf diesem Planeten schon nichts mehr zu entdecken bleibt und unser Umfeld trotzdem, paradoxerweise, so beängstigend wirkt.

In der antiken Literatur, der kosmologischen wie der epischen, hatte das Nichts eine diskrete Präsenz und der Horizont des Lebens und des Denkens war eher das Ablaufen der Zeit und die Endlichkeit der Dinge. Mit dem Aufkommen der Philosophie spielt dennoch gerade in Griechenland die Frage nach dem Sein und daher auch nach dem Nicht-Sein eine zentrale Rolle bei Autoren wie Parmenides, Platon oder Aristoteles. In der jüdisch-christlichen Tradition gibt es in einem gewissen, eher nicht abstrakten Sinn sehr wenige, aber doch entscheidende Verweise auf das Nichts. Man sagt, Gott schuf aus nichts die Welt, aus dem Nichts: »Ich bitte dich, mein Kind, schau dir den Himmel und die Erde an; sieh alles, was es da gibt, und erkenne: Gott hat das aus dem Nichts erschaffen«.5 Die Formel, die in diesem Text erscheint, findet sich später in vielen lateinischen Manuskripten als ex nihilo. Die biblische Rede ist allerdings eher eine Rede eschatologischer Hoffnung als metaphysische Spekulation. Erst die Synthese zwischen der jüdisch-christlichen Tradition und dem Hellenismus führt dazu, die Frage philosophisch auszuarbeiten, um dann in der leibnizschen Metaphysik vollendet zu werden: »Warum gibt es überhaupt etwas, und nicht nichts?«, eine Frage, die durch Heidegger später neu formuliert werden würde.

Aber wir sollten noch einmal zurückkehren, denn uns interessiert nun vor allem eine Karte, die dem Missfallen der Ikonoklasten zum Trotz Bilder und Symbole beinhalten muss. Was sonst? Ein Brunnen, oder ein Abgrund, in Rot gezeichnet. Man fällt noch nicht hinein, aber es besteht die Möglichkeit, hineinzufallen, in einen freien, unendlichen Fall, denn der Brunnen ist leer und hat keinen Boden. Nichts, es gibt darin nichts. Nur Dunkelheit. Als ob jemand fragt: »Ist da etwas in der Schublade?« und die Antwort ist: »Nein, da ist nichts drin, sie ist leer«. Die Leere und das Nichts werden zu Synonymen. Leere wäre das abstrakte Substantiv. Das Nichts ist die Negation aller Dinge, aller Ereignisse, von allem: nichts, was man mit den Händen greifen, kein Wort, das man hören, kein Blick, den man auffangen, kein Geruch, den man wahrnehmen, kein Boden, auf den man sich abstützen könnte. Nichts, Leere oder auch totale Abwesenheit (absència).

Das Zeichen auf der Karte ist beweglich, was es noch beunruhigender macht. Kommt es uns näher, während wir uns ihm nähern? Sind wir so wenig, dass wir kurz davor sind, endgültig zu nichts zu werden? Oder sind wir schon da, im Nichts, und es gibt nicht mehr als eine bloße Illusion von etwas?

Im Spanischen kommt der Begriff nada aus dem lateinischen nulla res nata, das so viel wie ›keine Sache ist geboren‹ bedeutet. Dass die eigentümlichen Pfade der Wörter in diesem Fall dazu geführt haben, dass nur nata übrig bleibt, um die ganze ursprüngliche Idee auszudrücken, bringt uns zu der Frage, ob nicht alles, was geboren wird, das Nicht-Sein in sich trägt, von dem es allmählich vom ersten bis zum letzten Tag verzehrt wird. So braucht das spanische nada merkwürdigerweise nicht einmal mehr die Negation des katalanischen no-res, des englischen nothing oder des italienischen niente. Als ob alles, was geboren ist, gleich schon nichts wäre; als ob das Holz, aus dem das Gerüst der Erde gemacht ist, gleich von Anfang an schon vom Holzwurm des Nichts befallen wäre.

Aber der Brunnen oder der Abgrund ist nicht nur beweglich, er breitet sich zunehmend aus. Das Land um ihn herum gibt allmählich nach, um zu Nichts zu werden. Dies bedeutet, dass, noch während wir die Karte zeichnen, ein Teil des Landes verschwindet. Werden wir genug Zeit haben, um die Karte zu beenden? Und werden wir später diesen schon ausgearbeiteten Teil wieder auswischen müssen? Wahrhaftig betrifft uns der Prozess des Nichts-Werdens, der Prozess der Nihilisierung, bezüglich unserer eigenen Existenz auf besonders intime Weise. Spricht Nietzsche von Nihilismus, dann verweist er hauptsächlich auf die Aktion, das Verb, den Prozess. Wenn es nun diese nihilistische Bewegung gibt oder auch, wie Nietzsche sagt, eine nihilistische »Logik«, dann sollten wir sehen, wie weit diese schon fortgeschritten ist, und vor allem, ob man ihr irgendeine Art Widerstand entgegenbringen kann; ob doch noch, nachdem sie sich als Hegemonie etabliert hat, irgendwo ein unversehrter Winkel bleibt, von dem aus eine alternative Bewegung (oder Streitmacht) initiiert werden könnte. In jedem Fall legt der Prozess der Nihilisierung den Widerstand nahe.

Deshalb sollten wir eine Baracke in unsere Karte einzeichnen, ein mediterranes Iglu; eine Baracke, die vor dem nihilistischen Regen und seinen vernichtenden Blitzen schützt. Die Baracke bietet einen Zufluchtsort, während wir darauf warten, dass sich der Sturm legt und man wieder hinauskann, um die Feldarbeiten wieder aufzunehmen.

Im Nordosten die Überreste eines Fadens. Sie sind das Wenige, was wir finden konnten, und wir zeichnen sie in die Karte, wie das halbausgefranste Ende eines Seils. Ein Seil? Nihilismus ist der bildungssprachliche Begriff, vom lateinischen Wort nihil abgeleitet, das gebraucht wurde, um ›nichts‹ zu sagen. Hier stellt uns die Etymologie vor die erste Schwierigkeit: Weder nada noch nichts, no-res, nothing und auch nicht rien stammen von nihil ab. Problematisch ist auch, wie Heidegger schon beobachtet hat, die Herkunft von nihil selbst und der Grund für seine Bedeutung »nichts«. Das Einzige, wovon wir ausgehen können – und das ist doch schon viel – wäre Folgendes: Nihil wäre die Komposition zweier Worte, ne-hilum, wörtlich bedeutet das ›ohne Faser‹ (ohne Zusammenhang, ohne Verbindung). Aus dem archaischen Latein ne-hilum (›ohne Faser‹) leite sich nihil ab und bedeute ›kein Ding‹, ›keine Sache‹. In der Botanik und in der Biologie bezeichnet Hilum (Nabel) die Stelle, die das Korn mit der Ähre oder die Erbse mit der Schote verbindet (äquivalent zur Nabelschnur, die den Embryo mit der Plazenta verbindet). Die Figur des Fadens6 stellt eine Verbindung dar und lässt offensichtlich weitere grundlegende Analogien zu: der Faden des Lebens, der Ariadnefaden, der verbindende Faden (Religion)7 …

Folgen wir diesem Faden, so können wir dem Nihilismus einen anderen Gehalt geben, wenn auch parallel zu dem des Nichts. Der nihilistische Prozess besteht darin, den Faden, die Verbindung, die Beziehung zu verlieren. Bleiben wir einen Moment bei dieser letzten Idee stehen; später kann immer noch weiter gegangen werden. Vielleicht gibt es keine Beziehung, oder aber diese kann verloren gehen. Um von einer Beziehung sprechen zu können, muss es zwei Begriffe und eine Verbindung geben, das heißt, es muss eine Differenz und eine Weise bestehen, das miteinander zu verbinden, was unterschiedlich ist, wie es beispielsweise durch das Wort geschieht. Das Gegenteil der Beziehung ist die Gleichgültigkeit, die Indifferenz in zweifachem Sinn. Sie kann einerseits als Ununterscheidbarkeit verstanden werden; keine Beziehung ist möglich, alles ist gleich, alles ist homogen. Andererseits kann Gleichgültigkeit auch totale Abwertung bedeuten.

So scheint es, dass man, um sich dem Nihilismus zu widersetzen, den Unterschied verteidigen sollte. Und es scheint auch, dass der nihilistische Prozess einen zunehmenden Beziehungsverlust darstellt.

Ein sich weitender Brunnen, eine Hütte, die Überreste eines Fadens … und in einer weiten Moorlandschaft ein dichter Nebel, der sich, niemand weiß so richtig warum, nie wirklich hebt. Es ist schwer, den Weg zu finden. Wo sind wir? Die Angst ist wie die Feuchtigkeit des Nebels, die den Körper allmählich durchdringt. Wir gingen Richtung Nordosten. Aber die Sonne geht nicht mehr auf, wodurch jede Karte unbrauchbar wird. Wo sind wir? Wir finden den Sinn nicht, wir haben uns verlaufen. Vom Unsinn ins Absurde. Das Territorium des Nichts ist uns nicht fremd: Wir sind ganz in seiner Nähe.

ZUR ERFAHRUNG HIN

Noch bevor man von ihm als Theorie sprechen kann, ist der Nihilismus eine Erfahrung. Es reicht nicht aus, seinen Begriff zu nennen, ihn im Unterricht zu erklären, Nietzsche zu zitieren – der mit Sicherheit genannt werden muss – wie auch Fragmente von Heidegger oder Deleuze. Ist sein bitterer Saft noch nicht, und sei es nur in homöopathischer Menge, durch die Venen geflossen, dann bleibt er verborgen. Es ist nicht genug, daran zu erinnern, dass laut Nietzsche eine der nihilistischen Episoden mit dem progressiven Fall der traditionellen Werte begann. Man muss ihn erfahren, um ihn zu verstehen, und wenn dies passiert, dann kann man dem kalten Schauer nicht ausweichen, der einen ergreift. Vielleicht gibt es nichts anderes, in dem sich die fatale Verbindung zwischen Denken und Leben klarer herausstellt. Aber dieses Denken ist nicht diskursiver Art, wenn sich überhaupt Syllogismen oder Argumentationen in ihm ausfindig machen lassen, dann haben diese eine zweitrangige Funktion. Priorität hat dabei keine deduktive Schlussfolgerung, die Schritt für Schritt auf ein logisches Ergebnis hinauslaufen würde. An seinem Anfang steht die unfreiwillige Erfahrung des Fallens und des Abgrundes, eines zitternden Körpers; dem sich, ohne sein Zutun, den Mund halb geöffnet, ein großer Schluck des Nichts einflößt. Später verflicht sich das eher diskursive Denken mit dieser Erfahrung, bis sich beide miteinander verwirren. Dieser Gedanke kann sogar den, der ihn entwickelt (denkt), dazu ermutigen, eine unmögliche »Erlösung« oder »Überwindung« zu suchen oder zumindest eine Art Widerstand. Ein Bespiel wäre Philipp Mainländer, Poet, Philosoph und ein Zeitgenosse Nietzsches, dem er besondere Beachtung schenkte. Er schrieb eine pessimistische Philosophie, in der man so beunruhigende Aussagen finden kann wie die, dass der Tod Gottes das Leben der Welt verursacht habe. Er verteidigte die Jungfräulichkeit und den Selbstmord, um nicht zur Verbreitung des Lebens beizutragen, und ging so weit, zu behaupten, dass es mehr wert sei, nicht zu sein, als zu sein. Er selbst hat sich erhängt, mit einem Strick um den Hals, vierunddreißig Jahre alt, am Morgen nach der Veröffentlichung seiner wichtigsten Arbeit, die ausgerechnet den Titel Die Philosophie der Erlösung (1876) trägt. Der Primat des Nichts war, wenn man so will, die »These« seines Denkens, die Erfahrung des Abgrunds jedoch ging dieser mit aller Sicherheit voraus und bot ihr den Grund. Anstatt von »Kohärenz« zwischen seinem tragischen Ende und dem Verlauf seiner Gedanken zu sprechen, ist es deshalb passender, anzunehmen, dass seine Philosophie und sein Selbstmord beide Ausdruck derselben Erfahrung waren.

Es ist bekannt, dass der von Nietzsche verkündete Nihilismus nicht in die gleiche Richtung geht, vor allem, da er die Erlösung keineswegs dem Eintauchen ins Nichts zuschreibt. Welche Erfahrung liegt Nietzsches Philosophie zugrunde? In Ecce Homo beschreibt er seine »authentische Erfahrung« als die der Dekadenz