Der Islam - Willi Weitzel - E-Book

Der Islam E-Book

Willi Weitzel

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Beschreibung

Willi Weitzel interviewt Mouhanad Khorchide Mit Illustrationen von Oliver Weiss Der Islam ist derzeit in Medien und gesellschaftlichen Debatten präsent wie kaum eine andere Religion – und doch wissen viele Menschen wenig darüber. Was glauben Muslime? Warum tragen viele muslimische Frauen Schleier? Was passiert in einer Moschee? Darf ich als Nicht-Muslim dort hinein? Was hat der IS mit dem Islam zu tun? Wenn eine Klassenkameradin Muslima ist – muss ich etwas beachten, wenn sie mich besuchen kommt? Der renommierte Kindermedien-Macher Willi Weitzel, bekannt durch die Sendung "Willi wills wissen", geht u. a. mit dem bekannten Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide diesen Fragen auf den Grund. Eine leicht verständliche Einführung zum Islam für alle, die's wissen wollen – nicht nur für Jugendliche.

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Seitenzahl: 194

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Willi Weitzel Mouhanad Khorchide

Der Islam

Fragen und Antworten für alle,die’s wissen wollen

Mit Illustrationen vonOliver Weiss

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 by edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Anja Haß, Leipzig

Fotos: Peter Grewer

Illustrationen: Oliver Weiss

Gestaltung: makena plangrafik, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-96038-137-2

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Moslem oder Muslim?

Einführung

Woran glauben Muslime?

Glaubensinhalte

Vorstellungen von Gott

Paradies und Hölle

Barmherzigkeit und Nächstenliebe

Glaubensrichtungen im Islam

Was tun Muslime?

Glaubenspraxis

Wie man Muslim wird

Islamunterricht

Die fünf Säulen des Islam

Speisevorschriften

In der Moschee

Religiöse Symbole

Woher kommt der Islam?

Religionsgeschichte

Der Prophet Mohammed

Der Koran

Wohin entwickelt sich der Islam?

Islam und Moderne

Freiheit im Islam

Muslime in Deutschland

Gewalt im Islam

Männer und Frauen im Islam

Der Islam und andere Religionen

Kann es einen modernen Islam geben?

Schlagwortregister

Autoren

Vorwort

„Fragen wir doch mal den Willi, wenn der es erklärt, dann verstehen es alle!“ Mit diesen oder ähnlichen Worten wenden sich regelmäßig Menschen an mich, die komplizierte Sachverhalte einfach und unterhaltsam vermitteln wollen. Für die Fernseh-Wissenssendung „Willi wills wissen“ habe ich das jahrelang gemacht. Und so ist auch die edition chrismon an mich herangetreten und fragte mich, ob ich nicht ein Buch über den Islam schreiben möchte. Lust hatte ich sofort, denn über den Islam wusste ich bis dahin nur sehr wenig, und ich fand die Idee, mich näher mit dieser Religion zu beschäftigen, spannend. Doch bin ich nicht der Willi, der alles weiß, und so ein Buch mal eben so schreibt, sondern ich bin der Willi, der es wissen will, ich brauche jemanden, den ich mit Fragen löchern kann.

So bekam ich vom Verlag den Islam-Experten Prof.Dr.Mouhanad Khorchide (das e am Ende seines Nachnamens ist übrigens stumm) als Experten an die Seite gestellt, und ich habe einfach getan, was ich am besten kann: mich unbefangen, aber nicht unkritisch auf ein Thema einlassen und immer dann, wenn es kompliziert wird, große Augen machen und auf diese Weise bei meinem Gesprächspartner eine möglichst einfache Antwort einfordern.

Zwei Tage haben wir in seinem Arbeitszimmer über Gott und die Welt geredet, dabei ziemlich viele Plätzchen, Nüsschen und Weintrauben gegessen und uns angefreundet. So ist dieses Buch zu einer Sammlung voller Fragen zum Islam geworden, eben zu allem, was ich schon immer mal wissen wollte. Und darüber, was die Leserinnen und Leser der Zeitschrift chrismon wissen wollten – denn die hatten wir vorher gebeten, ihre Fragen an die Redaktion zu schicken, damit ich sie mitnehmen kann.

Aber es sind nicht die Fragen, die dieses Buch ausmachen, sondern die Antworten, die mir mein Interviewpartner, ein intellektueller Professor, ein weltoffener Islamwissenschaftler, ein mutiger und unterhaltsamer Gelehrter, ein bescheidener, gläubiger Muslim und beeindruckender Mensch mit großem Herz, gegeben hat.

Durch ihn durfte ich den Islam kennenlernen und vieles, was ich bisher vermeintlich kannte, berichtigen. Er hat Licht, Ordnung und Verständnis in die Halbweisheiten gebracht, die ich bis dato über den Islam aufgeschnappt und abgespeichert hatte.

Diese erhellende Begegnung mit Mouhanad Khorchide empfinde ich als ein großes Geschenk, das ich gerne mit euch und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, teilen möchte, indem ich euch an diesem Gespräch teilhaben lasse. Ich hoffe, ihr könnt meine Erfahrungen teilen und geht mit Freude und Interesse auf Entdeckungsreise durch die Welt des Islam.

Willi Weitzel

Moslem oder Muslim?

Islam –

Islām ist arabisch und bedeutet wörtlich das „Sich-Ergeben“ (in den Willen Gottes), „Sich-Unterwerfen“ (unter Gott), „Sich-Hingeben“ (an Gott), oft einfach mit Ergebung, Hingabe und Unterwerfung übersetzt

Einführung

Lieber Mouhanad, jetzt geht es los. Ich freue mich total, dass ich dir viele Fragen zum Islam stellen darf. Was hört sich für dich angenehmer an: Moslem? Oder Muslim beziehungsweise Muslima?

Die verdeutschte Version Muslim oder Muslimin. Es reicht nicht zu sagen, die Muslime gehören zu Deutschgeln und sagen zu den Frauen Muslima. Deswegen finde ich in der weiblichen Form Muslimin angemessener.

Der Muslim. Die Muslimin. Ab sofort werde ich diese beiden Begriffe in meinen Wortschatz integrieren! Das wäre geklärt. Jetzt geht’s ganz leicht weiter. Was ist deine Lieblingsfarbe?

Violett.

Ach, ich habe auf Grün getippt.

Weil Grün die Farbe des Islam ist? Nein. Also wirklich nein. Ich mag es nicht, wenn man Muslime nur auf die Religion reduziert. Frag mal kleine muslimische Mädchen, die werden bestimmt nicht grün, sondern rosa und pink rufen!

Stimmt, wenn du das so sagst, das war wirklich dumm gefragt! Denn ich fände es auch komisch, wenn du mir unterstellen würdest, Weiß und Gelb seien meine Lieblingsfarben, nur weil ich Katholik bin, weil diese beiden Farben die vatikanischen, römisch-katholischen Farben sind.

Wir Menschen haben viele Seiten, um nicht zu sagen verschiedene Identitäten. Das Muslimsein ist nur eine Seite. Aber ich würde mich nicht ausschließlich über die Religion definieren und mich nur als Muslim sehen wollen, der nur auf die Farbe Grün anspringt. Übrigens: Grün ist nicht nur die Farbe des Islam, es ist auch die Farbe des Paradieses.

Du bist in Saudi-Arabien aufgewachsen und lebst jetzt in Münster. In einer katholischen Hochburg. Wie geht es dir hier?

Münster ist für mich in erster Linie eine akademische Stadt. Vor allem das ist es, was Münster für mich interessant macht. Ich mag die Ruhe und ich mag die ruhige Umgebung. Deshalb fühle ich mich in Münster sehr wohl.

Welches westfälische Gericht würdest du am liebsten mal probieren?

Das ist wirklich peinlich: Ich habe keine Ahnung. Wenn du mich fragst, nenn mal drei westfälische Gerichte, ich habe keine Ahnung, was ich nennen soll.

Aha, ich habe dich ertappt: Du bist kulinarisch noch nicht integriert!

Nein. Überhaupt nicht. Leider. Das ist eine Schande. Nicht nur das übrigens. Also ich gehe selten raus. Entweder bin ich an meinem Lehrstuhl an der Universität oder zu Hause am Schreibtisch.

Das Schicksal des Geisteswissenschaftlers. Aber ich kann nicht erkennen, dass du einen unglücklichen Eindruck machst.

Das hast du sehr gut erkannt. Ich bin ein zufriedener Mensch.

Bevor ich so richtig loslege mit meinen Fragen, muss ich erst ein paar Begriffe klären. Wann verwendet man eigentlich das Wort „islamisch“ und wann „muslimisch“? Oder gibt es da keinen Unterschied?

Man hat sich darauf geeinigt, „muslimisch“ vor allem im Zusammenhang mit Subjekten, also Personen zu verwenden. Die muslimische Gemeinde, die muslimische Gruppe, die muslimischen Kinder. „Islamisch“ benutzt man bei allem, was Institutionen, Sachen und Orte betrifft: die islamische Firma, das islamische Ritual, die islamischen Länder.

Weltreligion Islam

über 1,8 Milliarden Anhänger

nach dem Christentum (ca. 2,2 Milliarden Anhänger) die zweitgrößte Weltreligion

Staaten mit dem größten Anteil an der muslimischen Bevölkerung: Indonesien, Pakistan, Indien, Bangladesch, Ägypten, Nigeria, Iran, Türkei, Algerien, Marokko

Und was heißt dann „islamistisch“?

Das ist die ideologische Auffassung vom Islam. Da wird nicht das Spirituelle und Ethische in den Vordergrund gestellt, sondern das Politische. Wenn jemand sagt, wie die Muslimbrüder zum Beispiel: „Wir wollen regieren!“, wollen sie mit dem Label „Islam“ an die Macht kommen. Sie nutzen den Islam, um Menihr Gott wollt, müsst ihr uns wählen, weil wir islamisch sind! Wählt uns!“ Der Islam wird benutzt, er wird instrumentalisiert, um Wählerstimmen zu gewinnen.

Wenn man von Islamismus spricht, versteht man den Islam als ein Schema, das möglichst alle Lebensbereiche der Menschen kontrollieren will, um die Menschen damit zu regieren, um Macht über sie zu gewinnen. Es ist die politisierte Form des Islam.

Gibt es denn überhaupt einen Islam ganz ohne politischen Anspruch?

Den gibt es. Das ist der Islam, den ich anstrebe, den übrigens sehr viele Muslime anstreben, die es ablehnen, aus dem Islam eine politische Ideologie zu machen. Das wollen die Islamisten. Und es gibt zum Glück viele islamische Länder, heute sogar in den Arabischen Emiraten, auch in Ägypten, die dem politischen Islam den Kampf erklärt haben. Das finde ich auch wichtig, damit der Islam nicht instrumentalisiert wird, sondern die Spiritualität und die Ethik dieses Glaubens im Vordergrund steht. Zwar verlangt der Islam, sich politisch zu engagieren, zum Beispiel für Gerechtigkeit, Umweltschutz oder Bildung, aber nicht um Macht anzustreben.

Nochmal zu deinem persönlichen Hintergrund: Du bist in Saudi-Arabien zur Schule gegangen, aber du bist dort nicht geboren?

Meine palästinensischen Eltern sind 1969 vom Libanon nach Saudi-Arabien gegangen, weil mein Vater dort eine Arbeit gefunden hat. 1971 ist meine Mutter für ein paar Monate noch einmal zurück in den Libanon, um ihre Abschlussprüfungen an der Uni abzulegen und mich einige Wochen später zur Welt zu bringen – zack, hat sie gleich zwei Sachen erledigt.

Das klingt nach einer starken Mutter! Aber wo hast du dann deine Kindheit verbracht?

So kann man das sagen! Danach ist sie mit mir nach Saudi-Arabien zurückgegangen. Deshalb bin ich in Saudi-Arabien aufgewachsen. Aber die Sommerferien haben wir immer im Libanon verbracht, jedes Jahr drei Monate. Das hat mich sehr stark geprägt, weil im Libanon Dinge erlaubt waren, die ich in Saudi-Arabien nicht durfte. In der Schule habe ich gelernt, dass Jungs und Mädchen nicht miteinander an einem Tisch sitzen dürfen. Auch haben wir Jungs nie mit den Mädchen gespielt. Und dann jedes Jahr in den Sommerferien drei Monate Libanon. Hier habe ich vor allem mit Mädchen gespielt. Am liebsten Monopoly oder Fußball, ja, das haben wir ohne Ende gespielt. Also ich habe sozusagen in zwei Welten gleichzeitig gelebt. Saudi-Arabien war islamisch und Libanon war islamisch. Und das prägt einen, dass man sieht: Es gibt nicht den Islam – es gibt verschiedene.

Woran glauben Muslime?

Glaubensinhalte

Vorstellungen von Gott

Wer oder was ist Allah?

Das Wort „Allah“ ist das arabische Wort für Gott. Es ist ein Fehler, wenn gesagt wird: unser Gott und euer Allah. Damit keine Missverständnisse aufkommen, lass uns das Wort „Gott“ benutzen. Gott ist die Liebe. Gott ist die Barmherzigkeit. Das ist der Inbegriff von Gott: die Liebe, die Barmherzigkeit. Jeder Mensch, der an die Liebe und die Barmherzigkeit glaubt, der glaubt im Grunde auch an Gott, auch wenn er sagt, ich glaube nicht an Gott. An einen liebenden und barmherzigen Gott glaube ich, so verstehe ich den Islam. Aber das ist nicht unbedingt das Mainstream-Gottesbild im Islam, und deshalb gibt es leider auch Religionskriege und so weiter.

Welches Bild haben andere Muslime von Gott?

Die meisten Muslime glauben an einen Gott, der nur Gesetze offenbart hat. Dazwischen steht ein Gelehrter, der ihnen eine Art Liste gibt, auf der alles steht, was erlaubt ist und was nicht. Daran halten sie sich, damit dieser Gott nicht zornig wird. So simpel ist das Verständnis vieler Muslime. Leider ist das Bild des strengen Gottes viel verbreiteter, es stellt das barmherzige Gottesbild in den Schatten. Aristoteles und Platon haben mit ihren Gottesbildern die islamische Theologie geprägt. Deswegen ist das Gottesbild von einem unbewegten Beweger, einem Gott ohne Emotionen, entstanden und prägt bis heute sehr stark den Glauben.

Der Islam ist …

… eine monotheistische Religion, weil die Muslime an nur einen Gott glauben

… eine abrahamitische oder abrahamische Religion (wie das Judentum und das Christentum), weil sich der Islam auf den Gott Abrahams bezieht (im Koran Ibrahim)

… eine prophetische bzw. Offenbarungsreligion, weil sie sich auf eine Offenbarung Gottes gegenüber einem Propheten (hier Mohammed) gründet

… eine Buch- oder Schriftreligion, weil sie mit dem Koran eine Heilige Schrift hat

Aber nicht deinen Glauben! Woher schöpfst du die Kraft für einen Gottesglauben, der ziemlich wenig mit dem Gott gemeinsam hat, den viele deiner Glaubensbrüder anbeten?

Wenn ich im Koran lese, erkenne ich einen emotionalen Gott, der Mitgefühl und Mitleid mit den Menschen hat. Im Koran spricht Gott: Ich möchte mit den Menschen zufrieden sein, aber ich möchte, dass auch sie mit mir zufrieden sind. Ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt von meinem Gott. Erwill, dass auch wir mit ihm zufrieden sind. Das ist einer, der sich mit viel Empathie auf mich einlässt und auf Augenhöhe mit mir kommuniziert. Das ist nicht der unbewegte Beweger, der alles erschafft, sich dann aber emotional raushält.

Die christliche Theologie hatte dasselbe Problem, aber irgendwann hat man sich losgelöst von der griechischen Gottesvorstellung und ist zurück zur Bibel gegangen, und dort hat man wieder dieses stark emotionale Gottesbild entdeckt.

Wie kommst du mit deinem Gottesbild und deinem Glauben bei den anderen Muslimen an?

Viele lehnen mich und meine Ansichten erst einmal ab, vielleicht auch, weil ich sie verunsichere. Aber ich erfahre auch viel Bestätigung. Tagtäglich schreiben mir vor allem viele junge Leute. Menschen, die ich nicht kenne. „Herr Khorchide, ich hatte mich längst verabschiedet von meiner Religion, aber dann bin ich auf Sie gestoßen. Danke, denn Ihr Blick auf den Koran öffnet mir die Augen!“ Ich sage: Im Islam stehen die Gesetze nicht an oberster Stelle. Gott hat kein Interesse an irgendwelchen Gesetzen. Es geht um ethische Haltungen. Es geht um die Beziehung zu Gott, aber nicht als juristisches Verhältnis zwischen Mensch und Gott, sondern als Liebes- und Vertrauensverhältnis. Obwohl der Koran Gott als einen Gott der Liebe und der Barmherzigkeit beschreibt, ist diese Ansicht für viele neu.

Mir ist ein barmherziger Gott auch lieber als einer, der nur Gebote und Verbote offenbart. Aber so ein wenig kommt mir dieser fordernde und strafende Gott auch aus der Geschichte der christlichen Kirchen bekannt vor. Und auch, wenn man das kirchengeschichtlich eher auf das Mittelalter bezieht, hatte ich doch in meiner Kindheit und Jugend öfter ein schlechtes Gewissen – Gott und der Kirche gegenüber.

Der Glaube an einen strafenden Gott führt bei den Menschen zu einem schlechten Gewissen. Daraus kann sich eine emotionale Erpressung entwickeln. Insbesondere bei Jugendlichen mit einem schlechten Gewissen leidet das Selbstwertgefühl immens. Bis heute lernen viele junge Muslime zum Beispiel, dass Selbstbefriedigung eine der größten Sünden ist und Gott zornig macht. Aber ich frage: Welcher Jugendliche mit vierzehn, fünfzehn Jahren macht das nicht? Diese Jugendlichen laufen dann dauerhaft mit einem schlechten Gewissen und niedrigem Selbstwertgefühl herum. Sie fühlen sich schmutzig und fragen sich, ob sie ein schlechter Mensch sind, und fürchten, dass Gott sie in der Hölle dafür bestrafen wird. Schrecklich.

Steht im Koran, dass Selbstbefriedigung verboten ist?

Nein, der Koran geht nicht darauf ein. Diese Idee ist erst später entstanden. Und es ist doch zutiefst menschlich, dass Kinder in der Pubertät keine Lust darauf haben, morgens um vier oder fünf Uhr aufzustehen, sich zu waschen und dann zu beten. Und dann fangen diese Jugendlichen an, zu denken: Ich bin ein schlechter Mensch! Gott wird mich bestrafen! Dieser Zugang zum Islam ist in meinen Augen nicht gesund, zumal ich die Folge sehe: Die meisten Jugendlichen entfernen sich von der Religion. Es gibt ganz klare Statistiken: Von den sechzehn- bis vierundzwanzigjährigen Muslimen beten gerade mal fünfzehn oder sechzehn Prozent. Also, was hat man da erreicht? Jugendliche sollten sich vielmehr aus Liebe zu Gott für ihren Glauben entscheiden. Doch leider spielt die Hölle in der traditionellen religiösen Erziehung eine starke Rolle.

Oh Mann, ich hoffe, dass dieser Absatz in unserem Buch der einen oder dem anderen Jugendlichen Mut machen kann. Aber heißt das, ein guter Muslim kommt in den Himmel und ein schlechter in die Hölle?

Nach der traditionellen islamischen Auffassung gibt es so etwas wie das Fegefeuer. Das heißt, ein schlechter Muslim kommt, wenn Gott das so entscheidet, für eine bestimmte Zeit in die Hölle, um von seinen Sünden gereinigt zu werden. Erst dann kommt er ins Paradies.

Nichtmuslime hingegen haben nach dieser traditionellen Auffassung keine Chance auf den Himmel, auch wenn sie gute Menschen waren. Für sie gibt es kein Fegefeuer, sondern eine ewige Hölle. Mit diesem exklusiven Himmel nur für Muslime habe ich aber ein großes Problem, denn durch solche Vorstellungen lässt sich eine Religion leicht instrumentalisieren – auch um Gewalt in ihrem Namen zu rechtfertigen.

Paradies und Hölle

Wie stellt man sich denn im Islam das Paradies oder die Hölle vor? Was sagt der Koran dazu?

Der angesehene Gelehrte Al-Ghazali schrieb im zwölften Jahrhundert über das Paradies und die Hölle: Ich beobachte viele Muslime, die zu Gott beten und Gutes tun, weil sie ins Paradies wollen. Sie tun Gutes und beten, weil sie Angst vor der Hölle haben. Al-Ghazali verurteilt diese Haltung als falschen Gottesglauben, denn man glaubt aus pragmatischen Gründen, weil man Essen, Trinken und Erotik haben will. Im reinen Glauben an Gott glaubt man hingegen nur deswegen an Gott, weil man Gott will. Man tut das Gute schlicht deswegen, weil es gut ist – und nicht, um eine Belohnung zu bekommen oder aus Angst vor einer Strafe.

Essen, Trinken, Erotik sind deiner Meinung nach also nur Bilder, um einen Zustand der ewigen Glückseligkeit zu vermitteln. Und was ist mit der Hölle? Ist die auch nur ein Bild? Oder gibt es die deiner Meinung nach doch?

Die eigentliche Hölle ist das Getrenntsein von Gott. Ein eher geistiger und kein physischer Zustand. Der Koran spricht vom Feuer der Trennung. Und das eigentliche Paradies ist, bei Gott zu sein. Und wenn jemand das Paradies anstrebt und nur Essen, Trinken, Erotik darunter versteht, dann soll er das bekommen, aber er bleibt von Gott getrennt, weil er nicht wirklich Gott haben wollte.

Was glauben Muslime im einundzwanzigsten Jahrhundert: dass die Begriffe Paradies und Hölle symbolisch gemeint sind, oder glauben sie an die wortwörtliche Hölle und das wortwörtliche Paradies?

2012 habe ich in meinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ genau darüber geschrieben und das Paradies als Zustand der Nähe Gottes beschrieben. Die Hölle habe ich als Zustand des Getrenntseins von Gott beschrieben …

… ja, und wie ist das bei den Lesern angekommen?

Ich habe eine Menge Kritik bekommen und mich gefragt, was ist denn hier los? Komisch, im zwölften Jahrhundert hätte ich seelenruhig schreiben können, dass Paradies und Hölle keine physischen Orte sind, dass es nicht um Essen, Trinken und Erotik geht. Vor neunhundert Jahren hätte ich dafür viel Anerkennung unter den Muslimen erhalten. Aber heutzutage kaum. Viele Muslime waren irritiert. Die ultrakonservativen Muslime, die sogenannte salafistische Szene, hat mich angefeindet. Pierre Vogel, ein Wortführer der Salafisten in Deutschland, verbreitete damals Videos, in denen er seinen Anhängern erklärte, dass ich vom Islam abgefallen bin. Vor allem wegen dieser Sache mit der Hölle. Denn diese Hölle wird gerade von Angstpädagogen, wie er einer ist, instrumentalisiert, um damit zu missionieren: Wenn du kein Muslim wirst oder uns nicht folgst, warten auf dich diese oder jene Höllenqualen. Mit meiner Deutung von der Hölle habe ich diese angstmachende Hölle weggenommen. Im elften Jahrhundert waren wir weiter, als wir es heute im einundzwanzigsten Jahrhundert sind. Heute neigen wir eher dazu, den Koran samt der Bilder, die in ihm vorkommen, wortwörtlich aufzufassen.

Dabei wolltest du doch niemandem das Paradies rauben, du wolltest nur zeigen, dass das Paradies viel mehr ist. Ganz persönlich muss ich zugeben, dass deine Beschreibung des Paradieses dem Zustand sehr nahekommt, den ich mir für mein Leben nach dem Tod wünsche. Ein Leben in großer Freiheit. Meine Seele ist dann frei. Ich will mich selig, frei und aufgehoben bei Gott fühlen.

Das klingt sehr schön. Es geht um Freiheit! Auch in meinem Paradies. Ich bin frei von allen Bedürfnissen. Ich bin umgeben von reiner Liebe. Das ist der Zustand bei Gott. Diese absolute Freiheit zu genießen, von nichts mehr abhängig zu sein, nur die Liebe spricht …

Abgesehen davon finde ich, dass es nicht schlecht klingt, im Sonnenschein auf einer grünen Wiese zu liegen. Das Wasser im Bach plätschert freundlich, wir essen ein paar Weintrauben, die sexy Bauchtänzerinnen sind da … Wäre doch wirklich schön …

Klar, als nette Abwechslung für einen Tag mal, ein bisschen Partytime. Aber ewig nur essen und trinken und Sex? Soll das alles sein? Hat Gott uns nur deshalb erschaffen, Propheten entsandt, uns Religionen als Wege zur Wahrheit gegeben und in uns die Frage nach dem richtigen Weg zu Gott eingepflanzt, weil es am Ende lediglich um Essen, Trinken und Erotik geht? Das soll alles gewesen sein? Darum soll es gehen? Da geht mir doch der Sinn von allem verloren: der Sinn meines Lebens und der Sinn meiner Religion!

Al-Ghazali schrieb in diesem Zusammenhang von „Sklaven des Bauches und der Genitalien“. Und darauf will ich nicht reduziert werden. Ich will meine Würde haben und nicht wie ein Tier nur essen, trinken und mich fortpflanzen wollen. In dieses Paradies will ich nicht. Gläubige haben doch Sehnsucht nach Gottes Gegenwart. Genau diese streben sie an. Darum soll es gehen.

Jungfrauen im Paradies. Was hat es eigentlich mit dem Jungfrauenwahn im Islam auf sich? Wobei ich zugeben muss, dass bei uns Katholiken die Jungfräulichkeit auch eine große Rolle spielt und ich nicht ganz so frech fragen sollte …

Es geht um die Frage, ob eine Frau, die noch nicht verheiratet war, vorehelichen Geschlechtsverkehr hatte. Das wird als verpönt angesehen im Islam. Hintergrund ist, die Institution der Ehe zu schützen und auch den Geschlechtsverkehr nur in einem geschützten Raum zuzulassen. Im Christlichen gibt es ja auch die Vorstellung, dass Jungfräulichkeit etwas ganz, ganz Reines ist. Daher muss auch Maria eine Jungfrau sein, klar.

Deswegen auch die Jungfrauen im Paradies?

Deshalb auch die Jungfrauen im Paradies, ja, also die kein anderer Mann vorher angetastet hat. Ein Symbol der Reinheit.

Was ist eigentlich, wenn Musliminnen ins Paradies kommen, warten da auch junge, hübsche Männer?

Also ein typischer traditioneller Theologe würde auf diese Frage antworten: Die Frau kriegt im Paradies ihren Mann, ihren eigenen Mann. Ich kenne viele muslimische Frauen, die sagen: Oh je, nicht schon wieder … Da sieht man wieder, dass vieles aus Männerperspektive gedacht ist. Ich frage mich aber: Was ist, wenn der eigene Ehemann verstorben war und eine Frau einen anderen Mann geheiratet hat, oder wenn sie geschieden war – welchen kriegt sie jetzt? Also so weit haben die Gelehrten nicht gedacht. Die haben sich vor allem Gedanken über die Männer gemacht. Insgesamt handelt es sich hierbei jedoch um eine Vorstellung, die unterstellt, es würde im Paradies um Sexualität und um Frauen und Männer gehen. Für mich sind die Jungfrauen im Paradies aber nur Bilder und Metaphern für einen Zustand der ewigen Glückseligkeit.

Jetzt waren wir im Paradies. Wollen wir noch einmal in die Hölle gehen? Wer kommt in die Hölle? Die Attentäter von Paris zum Beispiel?

Es gibt immer noch eine traditionelle Theologie, die besagt, dass alle Nichtmuslime für ewig in der Hölle schmoren. Das würde bedeuten, dass wir Muslime an einen gewalttätigen Gott glauben, also einen Gott, der sagt: Ja, lieber Willi, du hast ein wunderbares Leben geführt, du hast viel Gutes getan, aber du warst kein Muslim, tut mir leid, es hilft nichts, rein in die Hölle. Also körperliche Strafe auf ewig.