Der Jaeger und sein Meister - Rocko Schamoni - E-Book
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Der Jaeger und sein Meister E-Book

Rocko Schamoni

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Beschreibung

Nach „Große Freiheit“ taucht Rocko Schamoni erneut ein in die brodelnde Szene der sechziger und siebziger Jahre in Hamburg, wo jenseits der bürgerlichen moralischen Vorstellungen ein freies, ungezügeltes Leben gefeiert wird.
Im Zentrum steht die Freundschaft von Joska Pintschovius zu Heino Jaeger, einem hochbegabten Künstler, Stimmenimitator und Satiriker, der kultisch als „Meister“ verehrt wird. Und am Ende an seiner seelischen Durchlässigkeit verglühen wird. Die Verbindung aus Genialität und Wahnsinn fasziniert den Erzähler und Chronisten Schamoni, der sich in der Ergründung dieses Lebens persönlicher und verletzlicher zeigt als je zuvor.

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EPUB
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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über das Buch

Nach »Große Freiheit« taucht Rocko Schamoni erneut ein in die brodelnde Szene der sechziger und siebziger Jahre in Hamburg, wo jenseits der bürgerlichen moralischen Vorstellungen ein freies, ungezügeltes Leben gefeiert wird.Im Zentrum steht die Freundschaft von Joska Pintschovius zu Heino Jaeger, einem hochbegabten Künstler, Stimmenimitator und Satiriker, der kultisch als »Meister« verehrt wird. Und am Ende an seiner seelischen Durchlässigkeit verglühen wird. Die Verbindung aus Genialität und Wahnsinn fasziniert den Erzähler und Chronisten Schamoni, der sich in der Ergründung dieses Lebens persönlicher und verletzlicher zeigt als je zuvor.

Rocko Schamoni

Der Jaeger und sein Meister

Roman

hanserblau

Inhalt

Handelnde

Prolog

Verdun

Paris

Basel

Welt aus Staub

Die kalte Pracht

Schwarze Engel und brennende Eier

Heimathirsche

Neue Freunde

Beginn einer Karriere

Einer gegen alle

Der Golem

Oma Ziegenfuß

Der Kampf

Sportstudio

Das Panorama der Jahrtausende

Stress

Philips

Linda

Café Adler

Mutterkorn

Der Phönix aus der Asche

Sturzflug

Spiegel-Party

Der Jaeger und sein Meister

Wolli Indienfahrer

Fernsehen

Reise ins Nichts

Epilog

Quellen

Handelnde

Heino Jaeger — Künstler und Scherbenzeichner aus Hamburg

Joska Pintschovius — Volkskundler und Heinos bester Freund

Jürgen von Tomëi — Zeichenlehrer und Pintschovius’ Cousin

Doktor Brandstädter — Jaegers Psychologe

Junker Jörg — Heimathirsch 1

Dietmar Breitschneid — Heimathirsch 2

Onkel — Hehler und Kleinkrimineller

Wolli Köhler — Sexarbeiter

Hubert Fichte — Schriftsteller und bester Freund Wollis

Wolfgang Pahde — Chef Unterhaltung beim WDR Radio

Wilhelm Prinz von Homburg aka Norbert Grupe — Boxer

Vaclav Jakubec — Golem

Hilka Franck — Heinos erste Freundin

Oma Ziegenfuß/Georg Schäfer — guatemaltekisch-deutscher Künstler

Maya — Drogenforscherin und Tochter Schäfers

Oscar Bonavena — Boxer

Petra oder Joy — geheimnisvolle Gespielin

Rainer Günzler — Moderator des Aktuellen Sportstudios

Reimar Renaissancefürstchen — Drogenspezialist

Mauli — Nerzträgerin

Linda — Mädchen vom Lande

Helmut Förnbacher — Filmemacher

Stefan Hentschel — Zuhälter

Dieter Bockhorn — Weltreisender

Uschi Obermaier — Kommunardin

Knut Kiesewetter — Liedermacher

Helga Feddersen — norddeutsche Seele

Fritz Raddatz — Feuilletonchef Die Zeit

René Durand — Maître de Plaisir

Renate Durand — Chefin des Salambo

Hexi Hegewisch — Reedersgattin und Partylöwin

Rudolf Augstein, Marcel Reich-Ranicki, Horst Janssen,Ernst Bloch, Paul Wunderlich, Hans Mayer — Partycrowd

Gerlinde — Praktikantin aus dem Museum

Karl-Heinz Schmieding — Redakteur des Saarländischen Rundfunks

Uschi Nerke, Mike Leckebusch, Manfred Sexauer — Macher der TV Show Musikladen

Prolog

Anfang Januar lag mein Vater schon seit ein paar Wochen im Krankenhaus. Der Krebs war nach Jahren zurückgekehrt, obwohl sein Arzt damals gesagt hatte, dass er diesen für immer besiegt habe. Den ganzen Sommer über hatte mein Vater eine Chemoanwendung nach der anderen tapfer ertragen, sein Zustand verbesserte sich kontinuierlich, und zum Herbst hin hielten wir ihn für geheilt. Er schien dem Tod zum zweiten Mal von der Schippe gesprungen zu sein. Aber kurz vor Weihnachten machte sich die Krankheit erneut heimtückisch an ihn heran.

In den Jahren zuvor hatte Vater eine Reihe minimaler Schlaganfälle erlitten, von ihm selbst unbemerkt, irgendwann machten sie sich jedoch durch Gedächtnislöcher und Wortfindungsschwierigkeiten bemerkbar. Er schämte sich jedes Mal wahnsinnig, wenn ihm ein einfaches Wort nicht einfiel, aber er gab es offen zu und entschuldigte sich, also fanden wir das Wort für ihn. Dadurch war Vater noch langsamer geworden als ohnehin schon. Dennoch erkannte ich hinter diesen sprachlichen Perforierungen klar und deutlich seine Persönlichkeit, sie schien mir in ihrem Kern unbeeinträchtigt von den Krankheiten.

Immer wieder besuchten wir ihn im Krankenhaus, er lag in einem Zweibettzimmer mit wechselnden Bettnachbarn, deren Dramen jeweils hätten Bände füllen können. Was für Elendshorte sind bloß unsere Krankenhäuser, Sackbahnhöfe für so viele große Lebensbögen, deren strahlendes Sein nun ausgerechnet in Orten wie Oldenburg in Schleswig-Holstein zu seinem dümpelnden Ende kommen muss. Dabei sollte doch ein Krankenhaus ein Ort der Heilung, der Genesung, der Gesundung sein, oder etwa nicht?

Wir ließen — wie alle Angehörigen — von der Hoffnung nicht ab, vom Vertrauen in die Ärzte und die Technik und den Fortschritt der Medizin. Wenn man nur lange genug das Elend, die Tristesse und die Lieblosigkeit, die Abgewichstheit und den Durchlaufbetrieb eines derartig menschenfeindlichen Ortes aushalten könnte, dann käme am Ende mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Wunder dabei raus. Wann wenden sie denn endlich das Wunder an, wann kommt die Wende, wann können wir unseren geliebten Menschen geheilt aus dieser Hölle befreien, hat er denn nicht bald genug gelitten? Alle Angehörigen geraten in diese trügerischen Hoffnungsspiralen — man verheddert sich darin wie Fische in Reusen —, und die Ärzte werden unsereins gegenüber zumindest eine Möglichkeit auf Rettung aufscheinen lassen, um ihre Betten bezahlt zu halten.

Vater wurde immer weniger, er aß nichts mehr und trank nur sehr wenig, der Krebs hatte sich in seinen Nieren festgefressen. Wenn wir den Raum betraten, lag der einst so starke Mann meist auf dem Rücken im Bett und betrachtete mit vom Leid entleertem Blick die Zimmerdecke, wie ein Kind, das eingesehen hatte, dass es an seinem Zustand nichts verändern könne, weil die Erwachsenen es nun mal so beschlossen hatten. Lesen konnte er nicht mehr, das Fernsehen interessierte ihn nicht, die Teilnahmslosigkeit des endgültig Ausgelieferten eroberte sein Wesen: leiden und warten auf Erlösung, darauf, endlich nach Hause zu können oder aber zu sterben. Einmal am Tag kam eine Schwester und brachte ihm ein paar Tabletten, die er wenn überhaupt nur sehr schwer schlucken konnte. Er verdorrte vor unseren Augen, seine Substanz schmolz dahin, die Kraft verdampfte buchstäblich. Schließlich verweigerte er den Ärzten die Dialyse, ohne genau begründen zu können warum, seine Wortfindungsschwierigkeiten hatten in dieser Krankenhauszeit stark zugenommen. Sein Wille aber war klar und entschlossen, er würde sich das nicht länger gefallen lassen, diese ganze Tortur. Ohne die Dialyse allerdings würde er keine zwei Wochen überleben, so sagten es die Ärzte voraus, da seine Nieren kaum noch funktionierten.

Wir beschlossen, ihn aus dem Krankenhaus zu holen. Ich weiß noch genau, wie ich ihm unseren Entschluss eröffnete und er darauf ganz erstaunt meinte: »Nach Hause? Wirklich? Ja, wenn ihr das erlaubt.« In dem Moment konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Er hatte sein Schicksal in unsere Hände gelegt, hatte nur unseretwegen all die Wochen an diesem unseligen Ort ausgehalten, weil wir als seine Familie es so beschlossen hatten, damit wir dadurch hoffen konnten, ich kam mir unendlich schuldig vor. Nachdem ihm der Dialyseschlauch aus der Halsschlagader gezogen worden war und wir seine wenigen Sachen zusammengepackt hatten, wurde mir ganz froh zumute, endlich konnten wir ihn befreien, und niemand würde uns aufhalten können.

Vater wirkte lebendiger, auch wenn er kaum noch gehen konnte. Es war später Nachmittag im Januar und schon dunkel draußen, als wir ihn mit einem Rollstuhl zum Auto transportierten und aus der Stadt über die Landstraße zurück nach Hause aufs Dorf fuhren. Ich steuerte den Wagen mit der linken Hand, er saß neben mir auf dem Beifahrersitz und hielt die ganze Fahrt über in der Dunkelheit meine rechte Hand. Er beobachtete konzentriert die dunkle Straße, als ob er diesen letzten Weg noch einmal ganz bewusst erleben wollte. Als wir das Wohnzimmer betraten, sagte er: »Das hätte ich nicht gedacht, dass ich noch mal nach Hause komme.« Wir waren alle für einen kurzen Moment erlöst.

Zehn Tage später starb er. Es hat mich viel stärker getroffen, als ich erwartet hätte. Wie schon Jahre zuvor bei Mutter. Man weiß, dieser Moment kommt unausweichlich, man geht gemeinschaftlich in der Familie darauf zu, begleitet den Sterbenden. Was ziemlich grotesk ist, so als ob man einen Lebenspartner im Alltag zur Exekution begleiten würde und nebenbei noch den Haushalt verrichten müsste. Das, was als »würdevolles Abschiednehmen im Kreise der Familie« beschrieben wird, hat im Kern etwas grausam Banales, dem man sich ohnmächtig ausgeliefert sieht, denn die Entscheidung, wer auch immer sie gefällt hat, lässt sich nicht aufhalten.

Nach seinem Tod dachte ich: Jetzt bist du Vollwaise. Dieses Nicht-mehr-Zurückkönnen ist einer von vielen Effekten, die man nach dem Tod der Eltern erlebt. Nicht mehr zurückkönnen ins Kindsein. Denn auch als Erwachsener bleibt man ja Kind seiner Eltern. Es ist schön, ein altes Kind sein zu dürfen. Auf eine gewisse Art und Weise tröstlich. In letzter Instanz könnte man bei unüberwindlichen Problemen immer noch die Eltern anrufen. Aber irgendwann sind sie dann tatsächlich verschwunden, versunken im Loch der Zeit. Dann sind auf einmal die alten Kinder an der Reihe. Ich bin der Nächste in der Familie, der gehen muss. Wenn alles nach dem normalen Ablaufplan der Natur geht.

Alle Fragen, die ich Vater noch stellen wollte, werden für immer unbeantwortet bleiben. Seitdem weiß ich: Wann auch immer man brennende Fragen in sich trägt, sollte man sie stellen — die Leute verschwinden irgendwann einfach. Mit seinem Tod sind mir auch die Fragen an Mutter wieder eingefallen. Fragen, die ihr zu stellen ich vergessen hatte. Die ebenfalls für immer unbeantwortet bleiben werden:

Mama, wann genau waren wir eigentlich in Guatemala?

Welche Kinderkrankheiten hatte ich, welche nicht?

Wie viele Wochen war ich im Kinderkrankenhaus in Quarantäne, als ich mit drei Jahren Hirnhautentzündung hatte? Ich erinnere mich daran, wie ihr durch eine Glasscheibe auf mich blicktet, aber nicht zu mir kommen durftet. Ich glaube, ich war verzweifelt. Ist in diesem Moment mein Urvertrauen zerbrochen?

Warum, Papa, hast du mich in Norwegen einfach vom Steg in die Nordsee geschmissen? Weil ich so genervt habe? Das Wasser war eiskalt, mir blieb die Luft weg. Du hast gelacht und bist weggegangen. Und ich war unglaublich zornig. Bis zum Abend habe ich mich in einem niedrigen Gebüsch neben unserem Wohnwagen versteckt, ich hatte eigentlich geplant, dort für immer zu bleiben, als Strafe für dich und Mama, das habt ihr jetzt davon, euer Sohn ist bei einer erzieherischen Maßnahme ertrunken! Pah! Irgendwann hat der Hunger meine Wut beschwichtigt. Da hatte ich bereits vergessen, worum es eigentlich gegangen war. Im Nachhinein vermute ich, dass dein Handeln gerechtfertigt war. Die Streitereien zwischen meinem Bruder und mir müssen unerträglich gewesen sein.

Familien sind Schutzräume und Kampfzonen zugleich. Ich weiß gar nicht genau, was in einer normalen Familie überwiegt, das Schöne oder das Schreckliche. All die Liebe und all der Hass geboren aus der Kollision von Freiheit und Sicherheit.

Immer wieder muss man das Verschwinden und den Verlust eines nahen Menschen erneut realisieren. Das Gehirn braucht lange, bis es das als Selbstverständlichkeit akzeptieren kann. Die sich täglich schmerzhaft wiederholende Erkenntnis der von nun an ewigen Abwesenheit einer geliebten Person ist wie ein scharfer kleiner Eisdolch, der sich einem permanent aufs Neue ins Herz rammt. Dann tauchen Bilder wieder auf. Wie Vater dort im Wohnzimmer auf der Seite lag und ganz leise sagte: »Ich glaube, ich muss jetzt sterben.« Was für ein schockierender Satz! Und wie wir dem alle nicht widersprechen konnten, weil wir wussten, dass er recht hat. Du hattest immer recht. Was du sagtest, stimmte, war gewissermaßen Gesetz. Wie hätten wir also dieses Mal zweifeln können?

Jetzt ist das Haus meiner Eltern zu einem Museum ihrer selbst geworden. Es steht da auf dem Dorfhügel, vor dem weiten Urstromtal, wie es immer dastand, groß, alt, schön, voll eingerichtet und gleichzeitig ausgekühlt und menschenleer. Drinnen ist die Zeit stehen geblieben, in dem Moment, als auch Vater verstarb. Der Esstisch, das Klavier, das Sofa vor dem Fernseher, der riesige Kamin, die Küche, der gusseiserne Herd, die Ofenbank, der Schreibtisch meines Vaters, sein Laptop, der Schmuck meiner Mutter aus Guatemala, ihre Makrameewandbehänge, ihre Messingdosensammlung, die beiden leeren Eheringe: Alle diese Dinge warten in angespannter Stille und Sehnsucht auf ihre Benutzer. Manche Dinge wurden häufig gebraucht, die zehren noch von dieser Zugewandtheit, andere kamen nur selten zum Einsatz oder schon lange nicht mehr, die sind jetzt der Verzweiflung nahe, weil sie kurz davor sind, endgültig in Vergessenheit zu geraten, die Liebe und der Stolz, die ihnen einst galten, sind schon lange dahingeschmolzen. Dinge, die nicht mehr geliebt werden, von denen niemand mehr weiß, die gibt es gar nicht, fürchten die Dinge.

Unendlich zart und langsam rieselt der Staub dieser sich zersetzenden Welt auf alles und bedeckt es in ewigem Schlaf. Die Decken, die Wände, die Bilder an den Wänden, die Vorhänge, die Lampenschirme zerbrechen und zerbröseln, eine schleichende, stille Kapitulation.

Das Haus ist ein Museum ohne Besucher, so gut wie nie betreten Menschen diese Räume. Nachts, wenn ich wach in meinem Bett in der fernen Stadt liege, muss ich häufig an diesen Zustand denken: an die Ruhe, an die Dunkelheit und das Unveränderte im ganzen Ensemble. Ich erschauere dabei, wenn ich an das Ehebett meiner Eltern denke, an die Punkte an der Decke, die sie erblickt haben mögen, wenn sie morgens erwachten, Tausende Tage, den Bogen ihres ganzen Lebens entlang, und jetzt: unbetrachtet. Das Merkwürdige ist: Nichts weist in diesem Haus auf den Tod hin. Und dennoch gibt es hier kein Leben mehr. Der Tod ist die maximale Abwesenheit.

Wenn ich vor dem Schreibtisch meines Vaters sitze und seine Hinterlassenschaften durchgehe, seine Ausweise, Zeugnisse, Fotos, Briefe, dann blitzen mich Momente seines Lebens an, Sekunden, in denen ich zu begreifen meine, wie er sich gefühlt haben mag. Wie es ihm ergangen ist. An welchem Punkt seines Lebens er sich gerade befand.

Irgendwie war mein Vater mir immer fern, er war eine Art Eminenz für uns. Bei aller Wärme und Offenheit, die er mir und meinem Bruder gewährte, blieb er mir doch verborgen, es gab eine undurchdringliche Wand zwischen uns, aus Respekt und gleichzeitigem Desinteresse, aus dem männlichen Unvermögen, wirkliche Nähe herzustellen, und auch aus Legendenhaftigkeit. Eltern haben etwas Legendenhaftes an sich, etwas Übergroßes, was nicht von dieser Welt scheint. Das rührt daher, dass sie für uns Kinder immer schon da waren, ewige, gigantische Monolithen, deren Augen aus dem Himmel unserer Kindertage wohlwollend oder streng in unsere Wiegen blickten. Aus dem Bild der Eltern wurde unser Glaube an Gott geboren, an das Ewige, Große, Weise und Unvergängliche. Aber unsere Eltern waren selbst einmal Kinder. Hatten ihre eigenen Götter. Die manchmal gar keine Götter waren, sondern nur Götzen. Abgötter. Säulenheilige. Oder Teufel. Die sie ignorierten oder missachteten, die sie malträtierten und schlugen. Wie gut waren dagegen — zumindest in meinem Fall — meine Eltern als unsere Götter.

Wenn man sich mit den eigenen Eltern nach ihrem Tod beschäftigt, sich ihnen annähert und versucht, sie zu verstehen, dann fällt diese Wand der Unnahbarkeit. Sie werden zu ganz normalen Menschen, zu Gleichaltrigen, die man kritisieren und sogar belächeln kann. Vor allem: die fehlbar sind.

1965, als mein Vater fünfundzwanzig Jahre alt war, als er Deutsch, Geschichte und Philosophie auf Lehramt studierte, als wir Kinder noch nicht geboren waren, schrieb er in sein Tagebuch:

24.4.1965

Was ich erstrebe und wonach sich meine geheime Sehnsucht richtet, das ist ein reiches, geistiges und künstlerisches Leben. Was ich mir ersehne, ist eine Aufgabe, die mich hinreißt, weg aus meinem apathischen Dämmern, die mich mit jeder Faser meines erlahmenden Wesens gefangen nimmt, leidenschaftlich und brennend wie eine Liebe.

Immer deutlicher wird mir, wie sehr ich doch eigentlich ein haltloser Spielball meiner Anlagen bin, die so sehr denen meines Vaters gleichen, ein Melancholiker mit einem gehörigen Schuss Phlegmatik. Schwermütig, zeitweise äußerst träge und zäh im Denken, manchmal spüre ich förmlich eine Abneigung gegen jede gedankliche Betätigung. Dabei kann ich mich aber stundenlang irgendwelchen Tagträumereien hingeben, meist vollkommen utopischen Erfolgsträumen, die sich mein Unterbewusstes ausspinnt in Ermangelung wirklicher Erfolge, mehr eine Reaktion auf eine kontinuierliche Kette von Misserfolgen und daraus resultierendem Mangel an Selbstbewusstsein. Diese Misserfolge selbst wiederum sind eine Folge meiner Trägheit und Langsamkeit, meiner bewundernswerten Fähigkeit, alles bis auf die letzte Minute hinauszuschieben.

Stimmt, solange ich denken kann, warst du langsam. Du warst langsam und Mutter schnell. Das Aussehen habe ich von dir geerbt, auch die Gründlichkeit und wohl auch die Depression. Aber zum Glück bekam ich von Mutter die Schnelligkeit. Deine Langsamkeit nahm mit fortschreitendem Alter deutlich zu. Wenn du einen Satz begannst, hatte ich ihn schon zu Ende gedacht und wartete nun ungeduldig darauf, dass sich in deinem Mund die mir bereits bekannten Worte formten. Dabei habe ich mich immer schuldig gefühlt. Und dann kam der Satz doch genauso raus, wie ich ihn erwartet hatte, und die Schuld verpuffte. Als wenn wir beide auf unterschiedlichen Zeitebenen mit unterschiedlichen Tempi nebeneinanderher gefahren wären. Aber ich hätte nie gedacht, dass du unter deiner Langsamkeit leidest. Ich ahnte nicht einmal, dass sie dir bewusst war, und erst recht nicht bereits in deinen frühen Jahren. Dass sie für dich ein Lebensproblem war, mit dem du letztendlich gelernt hast zu leben, geliebter alter Elefant.

Manchmal muss ich an mir zu meinem Erschrecken einen Zug von Starrheit feststellen, zum Beispiel macht es mir Freude, mir für einen Tag eine ganze Reihe von Aufgaben zu stellen, häufig eher banaler Natur, sie schriftlich zu fixieren und anschließend Punkt für Punkt zu erledigen, wobei jede erledigte Aufgabe mit einer gewissen Befriedigung sorgfältig durchgestrichen wird. Aber wehe, es gelingt nicht, ganz gleich, durch welche Umstände das verhindert wird. Dann kann ich nicht einfach den Rest auf morgen verschieben. Dieser Gedanke bereitet mir größte innerliche Qualen, denn die Punkte warten darauf durchgestrichen zu werden! Schließlich kann ich diesem Drang nicht widerstehen, streiche sie durch und setze sie am nächsten Tag wieder an den Anfang. So kann man in meinem Notizbuch die eigenartige Beobachtung machen, dass Punkte manchmal über Wochen durchgestrichen werden und tags darauf wieder auftauchen, bis sie dann irgendwann endlich einmal erlöst werden konnten oder, wenn nicht, endgültig gestrichen wurden.

Das kenne ich von mir genauso, Alter! In meinen Jahresbüchern finden sich auch unendlich viele Einträge, die immer und immer wieder durchgestrichen und um Tage verschoben neu eingetragen werden! Bis sie irgendwann verschwinden. Genau wie bei dir, ohne dass ich davon gewusst hätte, ohne dass ich deine Notizbücher je gesehen hätte. Prokrastinationswalzen. Wellen von Unerledigtem, die ich vor mir herrolle wie ein Mistkäfer seine Kugel. Ich dachte immer, du würdest alles sofort erledigen, du hättest alles fest im Griff. Wie ähnlich wir uns doch sind, denke ich, während ich deine Aufzeichnungen lese, in denen du davon schreibst, wie ähnlich du deinem Vater seist.

Ganz fasziniert bin ich immer noch von Dürrenmatts Roman Der Richter und sein Henker. Aber es fehlt mir die Formkraft, um so etwas zu gestalten. Jedenfalls fehlt sie mir noch, wenn ich auch immer das Gefühl in mir habe, dass ich eine Antwort auf diese Welt geben müsste, als forderte sie diese Antwort von mir, so vermessen das auch klingen mag, denn ich spüre bis jetzt noch in keiner Weise ein besonderes Schriftstellertalent in mir. Aber ich durchschaue immer mehr die Hohlheit und Attrappenhaftigkeit unserer modernen Gesellschaft.

Ja, das Gefühl, eine Antwort auf die Welt geben zu müssen, habe ich auch. Schon immer. Ohne dass wir je darüber geredet hätten. Was ist das für ein merkwürdiger Reflex? Als wäre es unsere Aufgabe, Zeugnis abzulegen in Form einer Antwort auf den großen Chor. Wenn wir nicht schöpferisch tätig geworden sind, haben wir unsere Lebensaufgabe verpasst. Also steck die Ziele nicht zu hoch, geneigter Leser, es geht beim Bezeugen nicht in erster Linie darum, Meisterwerke zu erschaffen, es geht vielmehr um die Vielfältigkeit und die Eigenheiten des Beobachtenden. Nur unser aller Blicke zusammen ergeben ein Bild dieser Welt, denn wir sind Gottes Augen. Oder besser: Wir sind Gott.

23.9.1965

Es besteht jetzt kein Zweifel mehr: wir werden ein Kind bekommen!!! So überwältigend diese Tatsache auch sein mag, habe ich bis jetzt kein richtiges Verhältnis dazu. Doch glaube ich, dass sich die Freude mit dem wachsenden Leben steigert. Je mehr dieses kleine Lebewesen heranwächst, je mehr es menschliche Gestalt annimmt und menschliche Zeichen von sich gibt, desto unmittelbarer ist sicherlich auch das Erlebnis und die Freude darüber.

Dieses Kind war ich. Und mittlerweile bin ich genau doppelt so alt wie mein Vater damals. Ich lese seine Zeilen also aus einer vaterhaften Position, als wäre ich wiederum sein Vater, viel älter und welterfahrener. Schon damals scheint er in einer bestimmten Weise beziehungslos zu mir zu sein, er entzieht sich der Beurteilung über mein Herannahen, diese Distanz zwischen uns ist geblieben, auch wenn ich sie im späteren Verlauf eher als »herzliche Distanz« umschreiben möchte.

Wenn ich noch einen weiteren Schritt zurücktrete, gelange ich in nahezu göttliche auktoriale Sphären, denn ich weiß tatsächlich alles über dein Leben: Wie es von dem Punkt meiner Geburt an weitergeht, was dir und uns die Jahre bringen werden, jedes Detail kenne ich, die Geburt meines Bruders, von dem du an diesem Punkt noch nichts weißt, den Fortgang deiner beruflichen Karriere als Lehrer an der Gesamtschule, ein guter und beliebter Lehrer warst du. Ich weiß von dem Haus, das du und Mutter in dem kleinen Dorf im Norden kaufen und renovieren werdet, eure ganze Liebe und Kraft steckt ihr in dieses Haus. Und ich weiß von all den Reisen um die Erde, mit uns und ohne uns, von der Dritte-Welt-Arbeit, von euren Erfolgen und Niederlagen, und schließlich weiß ich um euer beider Ende. Ich, hier in der fernen Zukunft, ich weiß alles davon. Leider kann ich daran nichts ändern, das wäre wahre Göttlichkeit, denn ich hätte euch unsterblich gemacht.

Soeben lese ich bei Jung, dass Menschen neurotisch werden müssen, wenn sie der Natur entfremdet werden oder wenn sie aufhören, schöpferisch tätig zu sein. Der Mensch ist zur schöpferischen Tätigkeit geschaffen und verdorrt seelisch, wenn er dies nicht mehr weiß.

Den Teilsatz hat mein Vater dick unterstrichen. Damals war er noch auf der Suche nach diesem Schöpferischen, ohne es je gefunden zu haben. Das Einzige, was er in dieser Hinsicht hinterlassen hat, sind die wenigen Seiten seines Tagebuchs, das nicht einmal zu einem Viertel gefüllt ist. Das kurz nach meiner Geburt endet, die er mit keinem Wort erwähnt. Wahrscheinlich beginnt mit meinem Erscheinen auf der Welt ein derartiger Stress, dass so etwas wie Tagebuchaufzeichnungen nicht mehr möglich sind. Entschuldigung, ich wollte nicht stören. Du warst musisch, spieltest Piano, allerdings nach Noten, nie etwas Eigenes. Ich habe nie nach Noten gespielt, ich kann sie nicht lesen, vom ersten Ton an habe ich nur Eigenes gespielt, zu anderem war ich nicht in der Lage. Da ich das Lernen nicht gelernt hatte, trotz oder grade weil meine Eltern beide Lehrer waren, war ich vom ersten Moment an — sui generis — ein Erschaffer von eigenen Gnaden, wenn auch die Qualität meiner Kreationen zur Disposition steht.

Weihnachten steht vor der Türe, doch mir ist gar nicht weihnachtlich zumute. Im Gegenteil: Ich habe momentan wieder einmal mit einer dieser Perioden des seelischen Zusammenbruchs zu kämpfen. Es kommt mir so vor, als ob sich in meinem Inneren eine Inflation vollziehen würde. Ich bin so müde und allem so überdrüssig. Ich fühle mich so unendlich einsam, allein, entwurzelt, keine wirklichen Freunde, niemand, der wirklich verstehen könnte oder wollte. Günther und Trudel ziehen sich anscheinend auch von uns zurück. Das kränkt mich zutiefst und verletzt meinen so unglaublich leicht verletzbaren Stolz. Meine allgemeine Kontaktarmut nimmt bedenklich zu, und ich spüre, wie ich an einem inneren Abgrund entlangbalanciere.

Es schien immer alles sicher, ausgeglichen und beständig zu sein, in dir und um dich herum, Vater. Nur einmal hast du mir davon berichtet, in der Mitte deines Lebens, als du so alt warst wie ich jetzt, dass du in deiner Jugend auch — so wie ich — mit Depressionen zu kämpfen hattest, dass sie dich gequält haben. Aber du meintest: Halt aus, das geht vorüber, man darf sich nur nicht allzu sehr auf die dunklen Gedanken einlassen, dann übersteht man diese Zeit, und danach kommt eine bessere. Was jedoch diese bessere Zeit in dir ausgelöst hat, habe ich leider vergessen zu fragen. Ist es einfach nur das Altern, das einen sich selbst finden lässt, weil man jeden Tag in den Spiegel schaut und irgendwann glauben kann, dass es diese merkwürdige Person, die man dort erblickt, tatsächlich gibt? Weil man sie und ihre Bedürfnisse und ihre Marotten kennengelernt hat, vielleicht sogar gelernt hat, sie zu akzeptieren? Fest steht, dass ich mit fünfundzwanzig Jahren auch noch nicht wusste, wer ich war. Und diese Suche war genauso schmerzhaft und erschreckend, wie sie auch lustvoll und schöpferisch war. Denn ich habe mich in Ermangelung meiner selbst, weil ich mich selbst nicht kannte und nicht werden wollte wie von euch gewünscht, schließlich selbst erfunden. Ich bin über den Umweg der Kunst zu meiner eigenen Kreatur geworden und zu meinem eigenen Kreator. Schöpfer und Schöpfung in einem. Ich habe mir so lange überlegt, wer ich sein könnte, so lange an mir, meinem Image, meinem Äußeren und meinem Benehmen herumgemacht, bis es mir förmlich zu langweilig wurde, mich immer neu zu erfinden. Vermutlich von dem Moment an wurde ich zu dem, der ich heute bin.

Weil ich dich so selten zu Gesicht bekam, weil du immer in deinem Arbeitszimmer gesessen hast, um »Hefte zu korrigieren« (wie viele Hefte kann ein Mensch in seinem Leben korrigieren?), habe ich dich in gewisser Weise verpasst. Nicht wirklich kennengelernt. Du zogst dich von der Familie zurück, wie auch dein Vater sich zurückgezogen hat, nur dass er sich im Fernsehzimmer mit billigem Rotwein besoff, während du »Hefte korrigiertest«. Du hast mir erzählt, wie dein Vater im Fernsehzimmer saß mit einem großen Topf mit Rotwein, der mit einem Bierdeckel abgedeckt war, damit niemand sehen konnte, was und wie viel noch darin war. In der Linken hielt er die Fernbedienung, in der Rechten den Topf. Darüber mussten wir beide sehr lachen. Er saß alleine mit seinem Topf im Wohnzimmer, und ihr Kinder habt euch mit eurer Mutter am Küchentisch unterhalten.

Du aber hast es genauso gemacht wie dein Vater, du saßt in deinem Arbeitszimmer, und wir waren in der Küche bei Mutter. »Hefte korrigieren« war deine Ausrede für alles, deine Auszeit, dein maximaler Rückzug aus der Welt. Während sich das Leben deiner Familien um die Mütter abspielte, waren dein Vater und du abwesende Schemen, mit denen schlimmstenfalls gedroht wurde, denn wenn es hart auf hart kam, wenn der Kinderstress zu groß wurde, dann drohten eure Frauen, euch aus den Höhlen zu lassen (»Ich hol gleich Papa!«), und sofort war jeder Streit geschlichtet.

Die Initiation ist in allen Kulturen ein wichtiger Ritus, um die Heranwachsenden in den Kreis der Erwachsenen aufzunehmen. Wenn ich mich nach männlichen Vorbildern umsah, nach Rollenmodellen, nach Idolen, die man als Jugendlicher sucht, um sich etwas abschauen zu können, dann fand ich diese reichlich in eurem Umfeld, unter euren Freunden. Wilde Männer, eigenartige, laute, starke, komische und beeindruckende. Sie tauchten bei uns zu Hause auf, um zu trinken, zu essen, mit Mutter zu flirten, zu rauchen, zu tanzen und mit dir zu musizieren, in der Jazzband. Darunter waren immer einige, die mich besonders beeindruckten: Freaks! Außergewöhnliche, die gut reden konnten, fantastische Angeber, Gockel, Posierer, Hervortuer, Hasardeure, sie tauchten da bei uns um den Küchentisch auf und führten ihre Kunststückchen auf. Zeigten, wie gut sie sich auskannten mit der Kunst, der Musik, der Literatur und der Politik. Und mit der Liebe natürlich. Das sind die großen fünf. Und der Maître de Plaisir ist derjenige, der sie alle beherrscht oder zumindest über sie parlieren kann. Natürlich immer unter der Zuhilfenahme des Raketenmittels Alkohol, das zu allen Eventualitäten effektvoll und in Mengen eingenommen wurde. Lämmleinliebe Biologielehrertypen wurden unter Zuhilfenahme des Raketenmittels zu brennenden Revolutionären, sogar zu rasenden Mordbrennern, die dem System mit Hammer und Sichel an den eisernen Adlerhals springen wollten. Am nächsten Tag im Biologieunterricht war davon meist nichts mehr zu spüren.

Vater wurde von allen geschätzt, er war der Gastgeber, der Zuverlässige, der Spender der Situation. Aber der Hahn war er nicht, das Krakeelen übernahmen andere. Ich beobachtete dieses Posieren aufmerksam. So lernte ich die Freaks und ihr Benehmen kennen. Sie waren meine Ersatzväter. Alles, was Vater persönlich nicht übernehmen wollte, die ganzen Albernheiten, Affigkeiten, Affektiertheiten, das schaute ich mir von den anderen ab. Gespräche über den tieferen Sinn von Kunst, Dissidenz, Radikalität und Exzess inspirierten mich. Das war es, wonach ich gesucht hatte: Wildheit, Leidenschaft, Selbstaufgabe. Immer wieder fand ich solche inspirierenden Männer in meinem Leben, die meine Lehrer wurden. Die mich vorantrieben und mir als meine Meister dienten, denen ich etwas abgewinnen konnte, die mich kritisierten und gängelten, aber auch lehrten und erbauten. Und ich schäme mich dafür, dass ich davon nicht genug bekommen konnte und dass das, was du, Vater, mir zu geben hattest, mir nicht ausgereicht hat. Aber so war es nun einmal, ich habe mir meine Wesensart nicht ausgesucht, das Hungrige kam ganz von selbst, das Suchende, das Idiotische und Prahlerische, das Grüblerische und Melancholische, das Himmelhochjauchzende und das Kleingeistige — all das fand mich ganz von selbst.

Ich habe sie verehrt, meine Idole, in ihrer extraordinären Eigenheit, nicht nur beeindruckte mich, was sie erschufen an Kunst und Musik, sondern vor allem ihre Art zu sein. Und sie wiederum erzählten mir von anderen Merkwürdigen und Eigenbrötlern, die ich aufsuchte, um zu lernen, was für absonderliche Möglichkeiten es gab, Mensch und Mann im Abseits zu sein, Individuen, die aus sonderbaren Spalten des Daseins ihr Wesen erbastelten, scheinbar unverbunden mit dem Rest der Welt und somit nahezu einflusslos, ganz verwachsen und zerplustert.

Solche Menschen gibt es heute kaum noch, da alles verbunden ist, da jeder Haushalt und jede Person mit unsichtbaren Leitungen an die Matrix angeschlossen ist, die sozialen Netzwerke, durch die die immer gleichen Informationen fließen, die von den immer gleichen Pumpen angetrieben und von den immer gleichen Sieben gesiebt werden, wir werden uns alle immer ähnlicher unter dem alles durchdringenden Auge von Alexa.

Wenn früher einer von uns im Dorf es geschafft hatte, eine ganz besondere Platte (zum Beispiel die erste Pork-Dukes-Single) aus England zu besorgen, so blieb er mit diesem Heiligtum im Umkreis von fünfzig Kilometern manchmal auf Monate allein, beneidet und vorneweg, da die Kanäle und Möglichkeiten, an ein derartiges Heiligtum zu gelangen, im Dunkel verborgen lagen. Dann saßen wir stundenlang in kleinen Haufen um solche heiligen Kälber herum und meditierten darüber, ließen den Stoff immer wieder erneut aus den Boxen quellen, inhalierten den Duft des Covers, entzifferten jeden Buchstaben und suchten nach Ritzungen im Vinyl der Auslaufrille, wo manchmal Geheimbotschaften enthalten waren, da es beim Presswerk die Möglichkeit gab, dort etwas Spezielles eingravieren zu lassen (ich tat das später dann auch mit meinen eigenen Platten). Wir verleibten uns das geliebte Kunstwerk also komplett ein, es füllte uns aus.

Heute reicht dazu eine Bewegung des rechten Daumens, das Objekt der Begierde taucht auf einer kleinen Matrix mit mangelhaftem Klang auf, nicht berührbar, ohne Geruch, wird einmal unaufmerksam überflogen und meist danach vergessen. Ein Großteil der Popmusik und der Grafik von heute werden speziell für Smartphones konzipiert. Was für eine andere Art, Kunst wahrzunehmen! Dabei geht es der dissidentischen Kunst eben nicht um die maximale Verbreitung, sondern eher um das wirkliche Einlassen auf ein Werk. Heute scheint das kaum noch möglich, die neuen Techniken und ihr aberwitziges Tempo zwingen uns, anders auf die Kunst zu blicken, oberflächlich, unaufmerksam, hastig und gierend. So moralisierend das auch klingen mag.

Von den Freaks aus dem Umfeld meiner Eltern übernahm ich also die Vorliebe und den Blick für das Merkwürdige und die Außergewöhnlichen. Und später, als ich längst in der großen Stadt wohnte, suchte ich immer weiter nach solchen Menschen, und wenn ich sie fand, hielt ich begeistert inne, um ihre diffusen Impulse wie kostbaren Weihrauch zu inhalieren. Auch verrannte ich mich dabei, denn es waren solche darunter, die bleierne Schatten in sich trugen, und einige Male musste ich erschreckt feststellen, dass ich Psychopathen aufgesessen war, schwer alkohol- und drogenkranken Spinnern, deren Freaktum einzig darin bestand, komplett aus der Spur gerutscht zu sein, und die sich nun wie siechende Ameisenlöwen krampfhaft an jedem Forschungsreisenden festhielten, der ihrem Loch zufällig zu nahe kam.

Die Blütezeit der Freaks waren die Endsechziger und die Siebzigerjahre, eine Zeit, in der es zum guten Ton gehörte und State of the Art war, sich nonkonform zu geben, es war normal, unnormal zu sein; Normalität galt schon fast als obszön, man könnte sogar behaupten, dass die letzten Normalen richtiggehende Drop-outs waren. »Bah, schau mal der Typ da vorne mit den kurzen Haaren und dem sauberen Anzug!« — »Ja, abstoßend, und rasiert ist der auch und geht ganz gerade, ohne zu torkeln. Lass uns mal lieber die Straßenseite wechseln, ich habe Angst, dass man sich da was wegholen könnte!« Das maximale Gegenteil von heute.

Viele Jahre später, 1991, als mir der »Meister« das erste Mal angeraten wurde, von meinem damaligen Plattenproduzenten Ulf Krüger, da war ich noch nicht ganz bereit für die ganze Weite von dessen Universum. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt, so alt wie mein Vater, als er Hermann Hesses Peter Camenzind gelesen hatte, Hesse übrigens war ebenfalls fünfundzwanzig, als er dieses, sein erstes Buch schrieb. Ulf Krüger überreichte mir eine Maxi-Single des »Meisters« mit weißem Cover ohne Aufdruck und forderte mich auf, dieses Werk, an dessen Produktion er beteiligt gewesen war, aufmerksam durchzuhören, Inspiration sei garantiert, der Erschaffer sei ein ganz besonderer Typ, ein wirklicher Drop-out, einer der letzten großen Freaks aus der Blütezeit derselben, in den Siebzigern ein angehender Star, jetzt allerdings heruntergekommen und halb verrückt einsitzend in einem Pflegeheim für geistig Verwirrte, sein Name:

Heino Jaeger

Die Platte stieß bei mir auf empfangsbereite Ohren, auf ihr waren vier Hörspiele enthalten, allesamt von jenem Heino Jaeger persönlich eingesprochen, trockene kleine Miniaturen von Menschen aus der bundesdeutschen Arbeitswelt, die vor allem durch ihren grotesken Fachjargon auffielen. Mir schien diese merkwürdige pointenlose Art von Humor als eine Offenbarung, anscheinend hatte da ein Unbekannter, Jahre vor mir und meinesgleichen, versucht, deutschen Humor neu zu definieren, anders, als man es beispielsweise aus dem deutschen Fernsehen gewohnt war. Eigentlich konnte man kaum unterscheiden, ob das, was Jaeger da präsentierte, noch Humor oder nur noch Abbild einer ins Groteske übersteigerten Realität war. Je mehr ich mich auf die Welt Heino Jaegers einließ, als desto weiter und tiefer empfand ich sie, es gab nicht nur Schallplatten, sondern auch Zeichnungen, Malerei und Texte, die mir allesamt fast noch interessanter erschienen als die Tonaufnahmen.

Wir alle suchen eine Zeit unseres Lebens nach unserer Herkunft genauso wie nach unserem Zuhause, das häufig ganz woanders liegt als unsere Heimat. Wir suchen nach Traditionen, auf die wir uns berufen können, was deutschen Künstlern aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte und ihrem abgrundtiefen Riss eher schwerfällt. Im humorkargen Gefilde der deutschen Kunst bot Heino Jaeger einen Ankerpunkt in einem unbekannten kleinen Hafen, den ich freudig anfuhr. Ich besorgte mir alle seine Tonträger, immerhin veröffentlichte der Schweizer Verlag Kein und Aber gerade alle vergriffenen Platten aus den Siebzigern erneut. Zudem wurden mir unveröffentlichte Aufnahmen zugespielt, denn das Feld der Eingeschworenen um den Meister war größer und konspirativer, als ich zuerst angenommen hatte, immer wieder tauchten von irgendwoher neue alte Aufzeichnungen auf. Wiederholt forderte mich Ulf Krüger auf, dem Meister in seinem Heim einen Besuch abzustatten, wer weiß, wie lange der dort noch leben würde, aber ich traute mich nicht, wie hätte ich diesem Mann denn begegnen können, der dem Vernehmen nach schon halb aus der Welt gerutscht war.

Dann gab es die erste Heino-Jaeger-Ausstellung, an die ich mich gut erinnern kann, eine große Ausstellung in der Hamburger Galerie Zwang mit einem Querschnitt durch das Schaffen des Meisters, Hunderte Arbeiten sollten dort vertreten sein. Am Tag der Ausstellung mischte ich mich verschämt unter die Gäste, ich war erstaunt, wie viele Besucher von diesem Ereignis angezogen waren, ich hatte das Gefühl, als Letzter vom Meister mitbekommen zu haben, und musste anerkennen, dass der kleine Geheimhafen gar nicht so geheim war, wie ich es mir vielleicht erhofft hatte.

Die ausgestellten Bilder waren fantastisch, zahlreiche kleine Bleistiftzeichnungen, detailreich und akribisch, darauf erfundene, völlig abstruse Ackerbau-Werkzeuge, medizinisch fragwürdiges Arzneibesteck, bizarre Waffen, groteske Körperteile, fischhafte Penisse mit Flossen, Militärutensilien, alles in unabgesetztem, aber perfektem Strich gezogen, dann wieder große Blätter mit Straßenszenerien, mit Caféhausmomenten und unglaublich viele Porträts von Versehrten jeglicher Art, von Soldaten, immer wieder Soldaten, Menschen mit grotesken Verwachsungen, Zwitterwesen, halb Mann, halb Hummer, Tiere in Uniformen, alte Damen in Persianern, zwischendurch kühle Landschafts- und Architekturskizzen, natürlich auch größere »Ölbilder« (mit Plakafarbe gemalt). An vielen Werken prangten bereits rote Punkte, die Preise waren nicht gerade niedrig.

Im hinteren Teil des großen Ausstellungssaales entdeckte ich eine Gruppe von Männern, allesamt Eingeweihte aus dem engsten Kreis des Meisters, respektvoll umringt stand dort der beste Freund Heino Jaegers: Joska Pintschovius. Er schien das Zentrum dieser konspirativen Welt zu sein, ein älterer weißhaariger Herr in bestem Zwirn, der weihevoll schwadronierend den Kreis der ehrfürchtig Lauschenden unterhielt. Schüchtern umkreiste ich die Gruppe in gehörigem Abstand, niemals hätte ich gewagt, mich vorzustellen oder das Gespräch zu suchen, viel zu erhaben und ausgesucht erschien mir dieser Zirkel, also verließ ich nach Besichtigung aller Werke die Räume mit einem merkwürdigen Schamgefühl.

Ein paar Tage später rief ich den Galeristen an und fragte ihn, ob noch Jaeger-Kunst übrig geblieben und zum Verkauf vorhanden sei, was dieser bejahte. Unverzüglich kehrte ich in die Hallen zurück und hatte nun das Vergnügen, ganz allein die restlichen Werke begutachten zu dürfen. Die schönste Zeichnung, ein großes Blatt mit einer unterschwellig perversen Strandszenerie, erstand ich für gehobenes Geld. Nun gehörte ich dazu, ich hatte einen echten Jaeger zu Hause, das konnte mir keiner mehr streitig machen.

Ich weiß nicht mehr, wer mir den Kontakt zu Joska Pintschovius vermittelte, aber er kam zustande, etwa ein Jahr nach jener besagten Ausstellung. Pintschovius hatte ein Buch über Jaeger geschrieben (Heino Jaeger — Man glaubt es nicht — Leben und Werk, ebenfalls erschienen bei Kein und Aber), das es mir sehr angetan hatte, denn endlich erschloss sich das legendenumwitterte Leben des Meisters etwas genauer für mich. Anekdotenhaft, kurz und sehr pointiert wurden hier in der ersten Hälfte des Buches die entscheidenden Lebenssituationen Jaegers beschrieben, während die andere Hälfte mit Texten, Gedichten, Kurzgeschichten und Zeichnungen des Meisters gefüllt war, einzigartiges Material. Einen Film oder einen Roman sollte man daraus machen, verbreitet gehöre er, der Name des Meisters, endlich aus der Versenkung gehoben, in der er bereits ein ganzes Leben feststeckte, gehöre er. Das hatte sich auch der bedeutende Dokumentarfilmer Gerd Kroske vorgenommen und wollte einen Film über Heino drehen, zu diesem Zweck warb er beim NDR um Unterstützung, die briefliche Antwort darauf war eindeutig und perfekt zum Angstprofil des norddeutschen Haussenders passend:

»… die Dokumentation dürfte für das NDR-Publikum nicht von Interesse sein. Schließlich geht es um einen Mann, der vor knapp 25 Jahren alkoholkrank, psychotisch und verwahrlost bei einem Zimmerbrand in Hamburg ums Leben kam und an den sich heute kaum jemand erinnert und dessen zeichnerisches und kabarettistisches Schaffen längst vergessen ist. Es dürfte schwer sein, mit diesem Protagonisten eine ausreichende Zahl von Zuschauern zu begeistern.«

Dass es eben grade wichtig sein könnte, an einen vergessenen Hamburger Künstler zu erinnern, der einstmals für die Kulturszene vor Ort bedeutsam war, diesen wiederzuentdecken und einem breiten Publikum zugänglich zu machen, darauf kam beim NDR selbstredend niemand.

Pintschovius, der sich als äußerst großzügiger Spender von Informationen zu schlichtweg allem und speziell zum Leben Heino Jaegers herausstellte, bestärkte mich in meinem Anliegen, hatte er es sich doch zu seiner Lebensaufgabe gemacht, an seinen großen unbekannten Freund zu erinnern. Wir trafen uns einige Male in Hamburg, er erzählte und erklärte, zeigte mir Zeichnungen, Bilder, Dias und Filme, die er von und mit Heino Jaeger angefertigt hatte. Das Panoptikum einer versunkenen Welt eröffnete sich mir, die Gruppe um den Meister, die sich die »Altmodler« nannten, im Kern waren das Joska Pintschovius, Alexander Knispel, Johannes Vittek, Harald und Hilka Müller, Iris Schoop und in Saturnringen drum herum kreiselnd die legendäre Hamburger Kunstszene der Sechziger und Siebziger mit Horst Janssen, Peggy Parnass, Hubert Fichte, Leonore Mau und ihrem Sohn Michael, Knut Kiesewetter, Hannes Wader, Helga Feddersen, Peter Rühmkorf, Fritz Raddatz, Domenica, Norbert Grupe, Uschi Obermaier und Dieter Bockhorn, Ali Schindehütte und die Rixdorfer, Wolli »Indienfahrer« Köhler und seine Freundin Linda und viele andere.

Je näher ich jedoch Heino Jaeger kam, desto unbeschreibbarer erschien er mir, ja, er schaffte es, sich auch nach seinem Ableben jeder Beobachtung, Beurteilung oder Vereinnahmung zu entziehen. Diverse literarische Angänge habe ich über die Jahre probiert, immer glitt mir der Meister wie ein wendiger Aal aus den Fingern. Ich dachte wieder an die Fragen, die man stellen sollte, solange die Berichterstatter noch in der Welt sind. Nur die, die eine bestimmte Zeit, einen Ort, Personen oder Ereignisse noch persönlich miterlebt haben, können wirklich davon berichten.