Der Junge in der grünen Lunge - René Sommer - E-Book

Der Junge in der grünen Lunge E-Book

René Sommer

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Beschreibung

Der Band "Der Junge in der grünen Lunge" vereinigt kurze Geschichten, in denen sich im spielerischen Sinn einzelne Momentepisoden aneinanderreihen. Eine impliziert einfache Sprache gleich einem kinematischen Narrativ, lädt den Leser ein mitzugehen, die illustrativ greifbare und bisweilen surreale Erscheinungswelt zu kosten. Wenn wir gehen, die Umgebung schauen, Menschen begegnen, ihnen zuhören, aber auch, ein Bild betrachten, Stimmen und Klänge hören, sind erkennende Momente der Boden, auf dem wir verbindend und tätig durchs Leben gehen. Einer bringt, was dem anderen fehlt und einem fehlt, was der andere bringt. Sich neugierig und besinnend der Welt zuzuwenden, eröffnet schöpferischen Momenten Raum, etwas Neues entsteht, das nicht ein bestimmtes Ziel verfolgt, sondern sinnlich erfahrbares Wirken realisiert. Dass es auf dem Boden der Realität nicht immer friedlich zu- und hergeht, offenbaren etwa Demonstranten und Gegendemonstranten, die aufeinander prallen. Eine Band schiebt sich dazwischen, spielt auf. Die Menschen reichen sich die Hand, beginnen zu tanzen. Das Tänzerische, Musikalische zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten, die prononciert auf pointiertem Betrachten beruhen. "Euer Betrachten ist wie ein Reigen mit den Figuren", sagt ein Bildhauer in einem der Texte.

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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das große Erkunden. short stories. ISBN: 978-3-75974387-9

Die Wolkengondel. short stories. ISBN: 978-3-7597-76051

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Mit den Händen ein Herz. short stories. ISBN: 978-3-73923041-2

Tropfenklang aufs Tamburin. short stories. ISBN: 978-37583-0268-8

Inhalt

Die Ruhe

Das Paar im Film

Das Glück

Das offene Ohr

Die Seehunde kommen an Land

Der Orgellastwagen

Die Wahl der Gäste

Ein Junge lernt schwimmen

Die neue Tür

Waldo fliegt

Die Schildkröten

Fußball

Die Straßenbiegung

Mit Efeu überwachsen

Die Zauberer

Unter den Sternen

Der Lochstein

Der Fänger

Die Zahlen

Das Becken

Der Hut im Koffer

Der Junge in der grünen Lunge

Tsing, der kleinste Schmetterling

Zach ist wach

Der versenkbare Turm

Die Ruhe

Ava wandert auf einem schmalen Pfad durch eine Wiese, gelangt vor ein Haus. Ein Mann müht sich mit einer alten Tretnähmaschine ab. „Hilfst du mir tragen?“

Ava fasst mit an. Sie laden die Maschine auf einen Handwagen. Der Mann führt sie zu einem Sammelort. „Es ist Alteisenabfuhr“, erklärt er, „wie bin ich froh, dass ich sie los bin.“

Ava geht weiter, kommt im Dorf vor eine kleine Bank. Eine Frau öffnet die Tür, fragt: „Möchtest du einen Baukredit?

Ich bin dir gern behilflich.“

Ava dankt ihr für das freundliche Angebot. „Im Moment habe ich keinen Bau vor“, sagt sie.

„Das macht fast gar nichts“, erwidert die Frau, „aber wenn es einmal so weit ist, schaust du einfach bei mir herein.“

Auf dem Weg durchs Dorf gerät Ava vor ein Fußballfeld.

Frauen und Männer sind am Spielen. Ein Mann ruft Ava zu: „Uns fehlt noch eine Spielerin. Bist du dabei?“

Sie betritt das Feld. „Für eine kurze Zeit kann ich gern mitmachen.“ Sie erhält einen Ball zugespielt, trippelt, sieht eine Frau die Hand hochhalten, spielt ihr zu. Die Frau schießt ein Tor. „Dein Pass war sehr hilfreich“, lobt sie.

Ava wendet sich zum Gehen. „Ich habe gesehen, dass du freistehst. So konnte ich dir gut den Ball zuspielen.“

Sie verlässt das Fußballfeld, erreicht nach ein paar Schritten den Dorfausgang. Dort steht ein Mann, erkundigt sich: „Gehst du zum Wald? Kannst du meiner Frau die Tasche bringen? Ich komme später nach.“

Ava übernimmt die Tasche. „Und ich kann sie nicht verfehlen?“ vergewissert sie sich.

„Du wirst ihr ganz bestimmt begegnen“, versichert der Mann.

Sie trägt die Tasche zum Waldrand. Eine Frau kommt ihr entgegen. „Was hast du in der Tasche?“

Ava hebt die Schulter. „Das weiß ich nicht. Bist du die Frau, die am Ausgang des Dorfs wohnt? Dann ist die Tasche für dich.“

Die Frau öffnet sie, guckt hinein, findet Brote und Tee.

„Mein Mann dachte wohl, ich würde am Wald oben ein Picknick essen.“ Sie setzt sich auf eine Bank am Wegesrand.

„Willst du mit mir essen?“

Ava entgegnet. „Dein Mann kommt später nach. Offenbar hat er für euch beide gepackt.“

Die Frau stellt die Tasche neben sich auf die Bank. „Das ist gut möglich. Dann warte ich hier auf ihn.“

Ava spaziert durch den Wald, findet den Weg in eine Stadt.

Sie trifft einen Schauspieler. „Ich werde einen Kommissar spielen“, berichtet er. Dabei schlägt er den Kragen seiner Jacke hoch. „Wie wirkt das?“

Sie lacht. „Du siehst lustig aus.“

Sofort senkt er den Kragen. „Es ist ein ernster Film. Ich bin immer wieder am Schreiben des Berichts, versuche das Rätsel der Frau, die untergetaucht ist, zu lösen.“

Aus einer Laune heraus huscht Ava in eine Gasse. „Versuch, mich zu finden. Ich tauche unter.“

Der Schauspieler lässt sich auf das Spiel ein, läuft ihr nach. In einer Biegung der Gasse duckt sie sich in einen Hauseingang. Heftig atmend rennt er vorbei. Die Tür öffnet sich. Eine Frau fragt: „Wolltest du zu uns kommen?“

Ava weicht einen Schritt zurück. „Eigentlich wollte ich mich nur kurz im Hauseingang verstecken, um einem Mann, der den Kommissar spielt, zu entkommen.“

- „Du hast viel Fantasie“, stellt die Frau fest, „du passt gut zu uns. Komm herein!“

Ava folgt der Frau in den Wohnraum, wo 4 Menschen an einem Tisch sitzen. Vor ihnen liegen Manuskripte.

„Wer bist du und was führt dich zu uns?“ möchte ein Mann wissen.

Ava stellt sich kurz vor: „Ich wollte sehen, wie weit sich ein Schauspieler in seine Rolle als Kommissar hineinversetzen kann, und forderte ihn auf, mich zu verfolgen. Er ließ sich darauf ein und hätte mich fast eingeholt. Da sah ich den Hauseingang und dachte: Hier sieht er mich kaum. Tatsächlich lief er vorbei.“

Die Frau, die sie ins Haus gebeten hat, sagt: „Wir schreiben Geschichten und tauschen uns aus. Willst du dich nicht setzen?“

Ava bleibt stehen. „Ich könnte die Geschichte mit dem Schauspieler aufschreiben und in eure Runde bringen.

Dann hätte ich auch einen Beitrag.“

Die Frau begleitet sie zur Tür. „Komm bald mit der Geschichte zurück. Wir freuen uns.“

Ava verlässt die Gasse, sieht sich um. Der Schauspieler ist verschwunden. Sie gelangt vor ein großes Haus. Beim Eingang sitzen eine Frau und ein Mann auf Gartenstühlen an einem runden Metalltisch. Zwischen ihnen steht ein leerer Stuhl.

„Setz dich zu uns“, ermuntert sie der Mann.

Die Frau weist auf den Stuhl. „Du bist willkommen.“

Ava nimmt Platz. Der Mann bietet ihr ein Glas Tee an. „Ich bin gespannt, was du zu unserem Plan sagst.“

Die Frau fügt bei: „Wir gründen einen Verlag.“

Ava sagt: „Das finde ich eine gute Idee.“

- „Wenn du eine Geschichte hast, könntest du sie bei uns veröffentlichen“, schlägt der Mann vor.

Ava schlägt die Augen auf. „Bald schreibe ich eine Geschichte. Dann schaue ich bei euch vorbei.“

Sie geht die Straße hinauf, bis sie vor ein Schloss kommt.

Eine Frau und ein Mann rennen auf und ab, halten Ausschau, rufen. „Unsere Tochter ist mitsamt der goldenen Sense verschwunden“, berichtet die Frau.

Ava schaut sich um. „Ich helfe euch suchen.“ Sie folgt den Spuren im Gras, steigt den Hang hinunter. Grillen zirpen.

Mitten im Grasland liegt ein Mädchen auf dem Rücken und schaut mit unter dem Kopf verschränkten Armen den Schmetterlingen zu. „Deine Eltern suchen dich“, teilt ihm Ava mit.

Das Mädchen räkelt sich, steht auf. „Ich vermisste meine goldene Sense. Sie lag nicht mehr im Garten, wo ich sie abgelegt hatte. Ich ging sie suchen, lief den Hang hinunter.“

Ava sieht sich um. In einer Waldschneise ist ein Junge am Mähen. Die goldene Sense blinkt in den Halmen. Ava rennt zu ihm hinunter. Das Mädchen folgt ihr. Der Junge lässt die Sense fallen, läuft weg, als er sie bemerkt.

„Warte!“ ruft ihm Ava zu, „wir wollen mit dir reden.“

Er bleibt stehen. „Ich habe noch nie mit einer goldenen Sense gemäht, wollte probieren, was das für ein Gefühl ist.“

Das Mädchen meint: „Du hättest mich fragen können.“

Rasch nimmt er die Sense auf, gibt sie zurück. „Das stimmt.

Sie lag im Gras. Ich hätte sie nicht einfach nehmen dürfen.“

Vergnügt schreitet das Mädchen den Hang hinauf. Er begleitet es. „Wenn du willst, kann ich ein Stück für dich mähen. Es macht Spaß mit der goldenen Sense.“

Ava schaut ihnen nach, findet in der Schneise einen Weg, der in den Wald führt. Durch die Blätter leuchtet die Sonne, taucht die Stämme in einen grünen Schimmer.

Im Unterholz rascheln und knacken Tritte. Ein Gürteltier kommt zum Vorschein, fragt: „Brauchst du einen Gürtel?“

Verwundert beugt sich Ava herab. „Du hast doch keinen Gürtel zum Verschenken?“

Das Gürteltier zuckelt an ihr vorbei. „Fragen kann ich trotzdem. Es könnte ja sein, dass du schon lang einen Gürtel wünschst.“

Ava ruft ihm nach: „Ich finde es sehr freundlich von dir, dass du nachgefragt hast.“

Da ist das Gürteltier schon wieder im Unterholz verschwunden.

Ava folgt dem Weg, gelangt an den Waldrand, wo die Blätter der Bäume und die Gräser der angrenzenden Wiese im Sonnenlicht glänzen. Ein Papagei fliegt zu einem Ast, lässt sich nieder. „Würdest du die Einladung zu einem Boxkampf annehmen?“

- „Wer möchte denn einen Boxkampf machen?“ erkundigt sich Ava.

„Ich“, verkündet der Papagei stolz.

Sie tritt näher. „Wo willst du die Boxhandschuhe anlegen?“

- „An den Flügeln“, meint er.

„Das würde den Federn schaden“, erklärt Ava, „es ist besser, wenn du die Idee fallen lässt.“

In diesem Moment gesellt sich ein Mann hinzu. „Ich habe Boxhandschuhe zu vergeben. Wem darf ich sie schenken?“

Der Papagei fragt: „Schadet es meinen Federn, wenn ich sie anlege?“

Der Mann reicht ihm einen Handschuh. „Du kannst es ja einmal versuchen“

Mit einem Flügel schlüpft der Papagei hinein, zieht ihn schnell wieder zurück. „Das ist mir zu unbequem. Du kannst die Boxhandschuhe behalten.“

Gelassen nimmt der Mann den Handschuh zurück, bietet ihn Ava an. „Möchtest du in den Ring steigen und gegen jemand antreten?“

Sie tänzelt, teilt ein paar Faustschläge in die Luft aus. „Das müsste eher wie ein Tanz sein, der niemandem ein Leid zufügt.“

Der Papagei schwirrt um sie herum. „So könnte ich es mir vorstellen. Ein luftiges Ballett mit schnellen Bewegungen, ohne sich zu treffen.“

Der Mann geht weiter. „Da kommt ihr gut ohne Handschuhe aus. Ich wünsche euch viel Vergnügen.“

Nachdem der Papagei viele Scheinangriffe geflogen und die Flügel wild geschlagen hat, lässt er sich erschöpft auf einen Ast nieder. „Das hat richtig gutgetan. Willst du meine Freundin werden? Ich bin stark, schütze dich vor jedem Feind.“

Ava ist erfreut. „Ich bin gern deine Freundin.“

Der Papagei hebt den Kopf, fliegt in den Wald. „Wir müssen uns baldmöglichst wieder treffen.“

Mit ruhigen Schritten geht Ava den Waldrand entlang.

Meisen schwirren von Ast zu Ast, pfeifen. Ein Schnellläufer kommt ihr entgegen. „Interviewe mich“, fordert er sie auf, „ich nehme an Laufwettbewerben teil und gehe immer als Sieger hervor.“

- „Für wen soll das Interview sein?“ fragt sie.

„Sende es an die Zeitung“, erwidert er, „sie rücken es im Sportteil ein. Ich habe einen Namen. Es wird bestimmt erwartet und gelesen.“

- „Macht dir das Laufen Spaß?“ erkundigt sich Ava.

„Ich wache am Morgen auf, renne eine Runde, esse ein Müesli und bin schon wieder am Laufen. Ich kann gar nicht anders“, erklärt er, läuft um sie herum, „wenn ich laufe, fühle ich mich wohl. Wenn ich im Wettkampf allen Gegnern davonlaufe, schnurre ich vor Behagen.“

Ava dreht sich im Kreis, betrachtet ihn aufmerksam. „Was würdest du tun, wenn ein anderer Läufer dich kurz vor dem Ziel überholt?“

Er bleibt stehen. „Das wäre kein Problem. Ich habe meine Reserven. Die kann ich abrufen und ganz neu durchstarten.“ Er führt es ihr vor, und ist gleich weg. Erst nach 100 Metern kehrt er um, steht blitzschnell wieder vor ihr, atmet durch, schlenkert die Beine und Arme. „Das ist nur eine von vielen Reserven. Wie war ich?“

- „Sehr schnell“, anerkennt sie, „ich kam kaum nach mit Schauen.“ Sie blickt ihn unverwandt an. „Würdest du, wenn du noch einmal zur Welt kämst, etwas ganz anders machen?“

Er dehnt und streckt die Beine. „Ich würde noch früher mit dem gezielten Training anfangen, sagen wir: mit 3 Jahren.“

Ava schlägt die Lider nieder. „Wollen wir das Interview beschließen? Oder vermisst du noch eine Frage?“

Der Schnellläufer duckt sich in die Startposition. „Frage mich nach dem Ziel meines Lebens!“

Sie schenkt ihm einen Augenaufschlag. „Was ist das Ziel deines Lebens?“

Er rennt los. „Ich möchte zur Ruhe kommen.“

Das Paar im Film

Von der Passhöhe führt ein Weg über viele Kehren und Schleifen in die Stadt hinunter. Faris schreitet ruhig voran, gerät nach den ersten Häusern vor ein Restaurant, hört die Gäste das Menü singen. Neugierig stellt er sich unter die Tür, guckt hinein. Die Wirtin begrüßt ihn, zeigt ihm einen freien Tisch. „Oder suchst du Gesellschaft und möchtest dich einer Gruppe anschließen?“

Faris gesteht: „Eigentlich bin ich nur neugierig, wollte hereinschauen, was hier läuft.“

Sie rückt einen Stuhl beim Tisch neben der Tür. „Setz dich einfach und genieße die Stimmung.“ Schnell bringt sie ihm die Menükarte, die mit Noten versehen ist. „Jetzt kannst du auch mitsingen.“

Faris bestellt ein Mineralwasser.

„Du darfst die Bestellung auch singen, wenn du Lust hast“, merkt sie an und geht in die Küche.

Die Stimmung im Restaurant wird ausgelassener. Einige Frauen begeben sich in den angrenzenden Saal, ziehen sich aus und kehren nackt zurück. Die Wirtin bringt Faris das Mineralwasser, meint mit einem Blick auf die Frauen: „Gleich werden auch ein paar Männer aktiv.“

Tatsächlich stehen von jedem Tisch Männer auf, verschwinden im Saal und tauchen nach geraumer Zeit in Damenballkleidern wieder auf, mit Perücke und kunstvoll geschminkt. Sie tanzen mit den Frauen. Faris schaut eine Weile lang zu, bezahlt dann sein Mineralwasser und verlässt das Restaurant.

Auf der kleinen Straße, die stadteinwärts führt, treffen sich ein Hahn und eine Katze. „Gibt es etwas, dass du mir sagen möchtest?“ erkundigt sich die Katze.

„Mir gefällt dein getigertes Fell“, sagt er.

Die Katze leckt sich die Pfote, fährt sich übers Ohr. „Und mir gefallen deine bunten Schwanzfedern.“

Der Hahn stolziert zum Hühnerhof. Die Katze huscht durch eine Hecke in einen Garten.

2 runde Türme flankieren das Stadttor, durch das Faris in die Altstadt gelangt. An rollbaren Gestellen hängen vor allen Kleidergeschäften bunte Kostüme aus. Ein Verkäufer spricht Faris an: „Wie gehst du ans Fest? Hast du bereits ein Kostüm?“

Faris lässt den Blick über die Auslage schweifen. „Welches würdest du mir empfehlen?“

Der Verkäufer mustert ihn von Kopf bis Fuß, greift ein Clownkostüm heraus. „Wähle etwas Fröhliches“, empfiehlt er, „das kommt immer gut an.“ Er hält die breiten Hosen und den farbigen Kittel vor Faris hin. „Entdecke dich neu als Clown. Da wirst du bestimmt viel Spaß haben.“

Faris kann sich nicht sofort entschließen. „Ich schaue mich noch ein wenig um.“ Als er auf die breite Straße zum Rathaus kommt, begegnet er schon einigen Menschen in bunten Kostümen. Aus rohen Brettern und Balken ist eine Bühne gezimmert. Darauf spielt eine Frau Akkordeon. Eine Frau im Nilpferdkostüm lädt Faris zum Tanzen ein. Lustig wippen die Polster ihres Kostüms, als sie mit ihm über den Platz hüpft. Zuerst etwas ungelenk tanzt Faris immer entspannter. Ein Mann, der sich als Giraffe verkleidet hat, blickt auf ihn herab und ruft: „Kostümiere dich! Dann fühlst du dich sofort viel freier.“

Eine Verkäuferin bietet Faris Zebrahosen an. Er geht in den Laden, probiert sie an. Als er wieder auf den Platz hinaustritt, spricht ihn eine Frau an, die sich als Zebradame kostümiert hat: „Willst du mit mir tanzen?“

Vom Akkordeon animiert, lassen sie sich zu kurzen, trippelnden Tanzschritten, Windungen und Drehungen verleiten. Die zuschauenden Leute spenden spontanen Applaus und Beifallsrufe. Tief durchatmend schiebt die Frau am Akkordeon eine kurze Pause ein. Faris geht in eine Seitengasse, gelangt in einen Park, den hohe Bäume mit weiten Kronen überragen. Bei einer Sandanlage sitzt eine Mutter auf einer Bank, schaut ihrem Jungen zu, der im Sand spielt. Ein größeres Mädchen bietet sich an: „Ich könnte auf den Jungen aufpassen und mit ihm spielen.“

Die Mutter dankt für das Angebot. „Frage ihn, ob er das möchte.“

Das Mädchen freut sich, setzt sich an den Rand der Sandanlage, wendet sich an den Jungen: „Möchtest du mit mir spielen?“

Der Junge blickt kurz auf, reicht ihm eine Schaufel. „Wir bauen einen Berg und graben einen Tunnel.“

Die Mutter sagt zu Faris: „Mein Junge ist sehr beliebt.

Es gibt immer jemand, der etwas mit ihm unternehmen möchte.“

Interessiert schaut Faris den Kindern zu. In dem Moment meldet sich ein anderes Mädchen: „Darf ich nach dem Jungen sehen?“

Die Mutter weist aufs erste Mädchen: „Es ist bereits ein Mädchen da. Aber du kannst ja einmal nachfragen.“

Das zweite Mädchen kauert bei den spielenden Kindern nieder. „Darf ich dabei sein?“

Der Junge gibt ihr einen Rechen. „Du kannst eine Straße zum Tunnel ziehen.“

Während sich die Kinder mit dem Berg, dem Tunnel und der Straße beschäftigen, nähert sich ein drittes Mädchen mit der Frage: „Könnte ich den Jungen im Sand betreuen?“

- „Es sind schon 2 Mädchen bei ihm“, gibt die Mutter zu bedenken.

Trotzdem geht das Mädchen zum Jungen, sagt: „Ich helfe gern.“

Da wird es ihm zu viel. Er lässt den Berg stehen, setzt sich zur Mutter auf die Bank. Achselzuckend guckt sie zu den Mädchen. Sie laufen zum Tischtennistisch. Das dritte Mädchen klaubt Schläger und einen Ball aus ihrer Tasche.

Lächelnd dreht sich die Mutter Faris zu. „Das habe ich kommen sehen.“

Der Junge rutscht von der Bank, spielt weiter im Sand.

Faris lenkt seine Schritte aus dem Park. Eine Straße führt ihn an einer Reihe farbiger Altstadthäuser vorbei. Neugierig macht ihn ein Schild, das in eine enge Gasse weist.

„Zur Gebärhöhle“, steht darauf. Faris betritt die Gasse, die immer enger wird, in einen Höhleneingang mündet. An den dunklen Eingangsbereich schließt sich ein spärlich beleuchteter Gang an, an dessen Ende sich eine grottenartige Felsenhöhle auftut. Leise Musik erklingt. Die Höhle ist in ein goldenes Dämmerlicht getaucht. Eine weiß gekleidete Frau tritt Faris entgegen, fragt mit gedämpfter Stimme: „Bist du verwandt mit dem Paar?“

- „Welchem Paar?“ möchte Faris wissen.

Sie weist auf ein großes Bett in der Mitte der Höhle. Darin liegt eine Frau, wird von einer Hebamme zum Pressen aufgefordert. Ein Mann steht daneben, hält die Hand der Frau.

Ruhig geht die weißgekleidete Frau zu ihm, deutet auf Faris. „Darf er zuschauen?“

Der Mann winkt. „Komm, es ist gleich so weit.“

Faris bleibt mit einigem Abstand vor dem Bett stehen, schaut zu, wie der Kopf des Kindes hervorkommt, dann die Schultern. Sanft führt es die Hebamme ganz heraus, legt es auf den Bauch der Mutter, die es anstrahlt und lächelt. Das Kind gibt lange und hohe singende Laute von sich. Der Mann streichelt es. Mit sorgfältigen, behutsamen Bewegungen dreht es die Hebamme leicht in Seitenlage, durchtrennt die Nabelschnur. Der Mann nimmt es an seinen nackten Oberkörper. Dann taucht er es in ein warmes Bad, wo die Hebamme es wäscht. Dann wird es wieder auf den Bauch der Mutter gelegt und mit einem warmen Tuch gedeckt. Immer wieder lässt es die hohen, singenden Töne vernehmen. Der Mann wendet sich an Faris: „Schön, dass du dabei bist.“

Faris bedankt sich, dass er zuschauen durfte. Er zieht sich langsam aus der Höhle zurück, wandelt durch den Gang in die Gasse, blinzelt geblendet, als er ans Sonnenlicht tritt. Auf der Straße, wo beidseitig hohe Giebelhäuser aufragen, trifft er ein Mädchen. Es zeigt ihm ein großes Haus neben einem Platz mit Kastanienbäumen. „Das ist unsere Schule.“ Mit fliegenden Schritten eilt sie zur Tür, drückt die Klinke. „Sie ist geschlossen worden. Jetzt weiß ich nicht, wo ich hingehen soll.“

Faris schaut sich um. „Gehen wir ins Rathaus!“ Mit dem fröhlich plaudernden Mädchen an der Seite sucht er es auf. Die Frau am Schalter beim Eingang fragt: „Was kann ich für euch tun?“

Das Mädchen stützt sich auf die vorspringende Brüstung.

„Meine Schule ist geschlossen worden. Wohin gehe ich jetzt?“

Sie erkundigt sich: „Welche Klasse besuchst du?“

- „Die zweite“, sagt das Mädchen.

Die Frau setzt sich an den Computer. „Dein Unterricht findet im anderen Stadtschulhaus statt.“

Faris nimmt wunder, warum das Schulhaus geschlossen wurde.

Sie senkt die Lider. „Wir müssen sparen, wo wir nur können.“

Das Mädchen und Faris verlassen das Rathaus.

„Weißt du, wo das andere Schulhaus steht?“ fragt er.

Es antwortet: „Es befindet sich beim Fußballfeld draußen vor der Stadt.“

- „Dann weißt du jetzt Bescheid, wohin du gehen kannst“, meint Faris.

Hüpfend entfernt sich das Mädchen. Er blickt ihm nach, schlägt einen Weg ein, der ihn aus der Stadt auf eine Anhöhe führt. Auf dem Sträßchen muss er ab und an einem Mähdrescher ausweichen. Oben angekommen, bietet sich ein seltsamer Anblick: Mähdrescher fahren auf schmalen Landstreifen, finden kaum Platz zum Wenden oder Kreuzen. Ein Fahrer, der warten muss, bemerkt zu Faris: „Auf dem Berg sind zu viele Mähdrescher und zu kleine Feldstreifen. Würde das Land auf der Höhe einem Bauern allein gehören, wäre ein Mähdrescher schon lange fertig.“

Faris guckt den großen Maschinen zu, die auf engstem Raum verkehren, hektisch rattern, tosen, anhalten, sich ausweichen. Er kehrt in die Stadt zurück, betrachtet die Auslagen in den Schaufenstern und sich selber, wie er sich im Glas spiegelt. Eine Frau stellt sich neben ihn, guckt ihn durch das spiegelnde Glas an. „Du wirst es nicht glauben, was im Kino zu sehen ist.“

- „Zeigt es einen speziellen Film?“ fragt er.

Sie führt ihn vors Schaufenster des Kinos. Dort hängen Bilder eines Films aus. Zu sehen sind die Frau, die Faris angesprochen hat, und ein Mann. „Mein Mann“, berichtet sie, „hat unser Eheleben mit versteckten Kameras gefilmt.

Der Film wird jetzt im Kino gezeigt. Willst du ihn dir ansehen?“

- „Ist es dir wichtig, dass ich ihn sehe?“ vergewissert er sich.

Sie geht ins Kino voran. „Ich möchte mit dir darüber sprechen.“

In der hintersten Sitzreihe nimmt sie mit Faris Platz. Die Lichter im Saal gehen aus. Der Vorhang öffnet sich. Auf der Leinwand erscheinen der Mann und die Frau. Sie sitzen am Tisch und unterhalten sich.

„Du sagst immer das Gegenteil von dem, was ich vorbringe“, beklagt sie sich.

Er hebt die Augenbrauen. „Ich denke, wir sind meistens der gleichen Meinung.“

Das Publikum im Kino lacht.

„Er gibt uns der Lächerlichkeit preis“, raunt die Frau Faris zu.

„Er hätte dich vorher fragen sollen, bevor er einen Film daraus macht“, meint er.

In der nächsten Szene befindet sich das Paar in der Badewanne. „Kannst du mir den Schwamm reichen?“ bittet er.

„Ich kann dir auch ganz andere Sachen reichen“, sagt sie mit verführerischem Unterton.

„Der Schwamm reicht“, betont er, was im Publikum wieder etwelche Lacher auslöst. Eine andere Szene zeigt das Paar im Bett. „Schläfst du schon?“ fragt sie.

Er antwortet mit geschlossenen Augen: „Ja, tief.“

- „Wie kannst du mir Antwort geben, wenn du tief schläfst?“

wundert sie sich.

„Ich rede eben im Schlaf“, erklärt er.

Das Glück

Auf dem Weg durch die Wiese hört Lia die Grillen zirpen, sieht Schmetterlinge zu den Blüten gaukeln. Sie begegnet einem Mann. „Wohin gehst du?“ fragt er.

„Ich bin auf dem Heimweg“, sagt sie.

„Mach doch einen kleinen Umweg“, schlägt er vor, „bei der Tankstelle gibt es ein Feuerwerk.“

Sie zweigen vom Weg auf die Landstraße ab, die zur Tankstelle führt. Die Tankwartin begrüßt sie: „Schön, dass ihr kommt! Die Umwandlung meiner Tankstelle in die große Solaranlage feiert das zehnjährige Jubiläum. Aus diesem Grund habe ich eine alte Zapfsäule in einen Raketentrieb umgebaut.“

Die Säule liegt auf einem Gestell mit 4 Rädern. Mit einem Streichholz zündet die Tankwartin die Zündschnur an, worauf ein Feuerstrahl aus der Düse schießt. Die Zapfsäule rollt an, fährt immer schneller auf dem Schienenkreis um die Solaranlage herum. Sie faucht, zischt, rollt aus. Der Mann klatscht. „Dir ist ein kleines technisches Wunderwerk gelungen.“

Die Tankwartin lehnt stolz gegen eine Wand der Solaranlage. „Ich habe mich eben gefragt, was ich mit einer alten Zapfsäule anfangen könnte.“ Während sie mit dem Mann die technischen Details bespricht, macht sich Lia auf den Weg zur Wiese.

Eine Frau kommt ihr entgegen, erkundigt sich: „Was hast du vor?“

- „Ich gehe nach Hause“, erwidert Lia.

„Es wird doch nicht so eilen“, meint die Frau, „komm mit mir. Ich zeige dir ein wunderbares Bild, das ich im Archiv gefunden habe.“

Sie schlagen einen Weg ein, der über den Berg zu einem mit Efeu bewachsenem Haus führt. Die Frau bietet Lia einen Platz am Gartentisch auf dem Vorplatz an, eilt ins Haus und kehrt mit einer Fotografie zurück. „Ich schreibe eine Arbeit über einen Schriftsteller. Du siehst ihn hier mit Bartstoppeln und langen Haaren. Was sagt dir dieses Bild?“

Lia vermutet: „Vielleicht lebt er etwas zurückgezogen und vertieft sich ins Werk.“

- „Was du herausgefunden hast und noch viel mehr lässt sich aus dem Bild lesen. Ist das nicht spannend?“ begeistert sich die Frau.

Lia steht auf. „Danke, dass du mir das Bild gezeigt hast.“

Die Frau sagt: „Die Arbeit schreitet nun immer voran.

Komm mich bald wieder besuchen. Dann kann ich dir die neuesten Ergebnisse zeigen.“

Als Lia sich auf den Heimweg macht, schlägt sie einen Pfad ein, der zum Seeufer führt. Dort trifft sie einen Mann.

„Rate, was in meinem Rucksack ist“, fordert er sie auf.

Sie tritt von einem Bein aufs andere. „Was könntest du eingepackt haben?“

Er öffnet den Rucksack, zieht ein Badekleid und ein Badetuch hervor. „Kannst du die Badesachen brauchen?“

- „Eigentlich bin ich auf dem Heimweg“, sagt Lia, blickt jedoch auf den See hinaus, dessen Wellen verführerisch blinken. Der Mann gibt ihr das Tuch und das Badekleid.

„Vielleicht kannst du sie verwenden.“

Sie guckt ihm nach, zieht sich aus und schlüpft ins Badekleid. Es passt. Sie steigt ins Wasser, schwimmt zur Insel hinüber, wo eine flamingofarbene Villa im Glanz der Sonne leuchtet. Beim Bootssteg klettert sie die Leiter hoch, legt sich an die Sonne, bevor sie die Insel erkundet.

Auf der Veranda der Villa steht eine Frau. „Ich habe soeben einen langen Brief geschrieben“, berichtet sie, „nimm doch Platz, dann kann ich ihn dir zeigen.“ Sie holt den Brief.

Lia setzt sich auf eine sonnenwarme Steinstufe. Die Frau lässt sich neben ihr nieder und liest ihr eine Passage vor.

Sie ist an der Lesung eines Autors gewesen und erbittet von ihm eine Kopie des bisher unveröffentlichten Romans.

„Ich biete dir das Lektorat an“, schreibt sie und fragt Lia: „Was hältst du davon?“

- „Ich würde ihm den Brief schicken“, empfiehlt sie.

Schnell steht die Frau auf. „Danke für deinen Rat. Dann gehe ich rasch zur Post. Willst du mit mir zum Ufer fahren?“

Lia räkelt sich. „Ich schwimme zurück.“ Sie geht zum Bootssteg und springt kopfvoran ins Wasser. Mit ruhigen Zügen schwimmt sie zum Ufer hinüber, trocknet sich mit dem Badetuch ab und legt die Kleider an.

Ein Mann fährt im Solarmobil vor. „Willst du mitfahren?“

- „Ich habe es nicht weit nach Hause“, erwidert sie.

Er steigt aus, öffnet die Tür zum Beifahrersitz. „Ich biete dir auch eine kurze Fahrt an. Zusammen fahre ich lieber als allein.“

Sie wickelt das Badekleid ins Tuch, legt es auf den Rücksitz.

Dann setzt sie sich auf den Beifahrersitz. Er fährt in einem großen Bogen um den Berg herum. Bei der Wiese unter ihrem Haus hält er an. Sie bedankt sich, steigt aus. Erst, als er weggefahren ist, fällt ihr das Badezeug ein. Als sie sich gerade auf den Wiesenweg begeben will, kommt eine Frau auf sie zu. „Magst du die Mundart?“

Lia hebt beide Hände auf Schulterhöhe: „Ich rede und denke fast nur in Mundart.“

- „Und ich schreibe Mundartgedichte“, eröffnet ihr die Frau, „sicher möchtest du ein paar hören.“

- „Willst du sie bei mir daheim vortragen?“ fragt Lia und weist auf ihr Haus.