Murmeln in der Wurzelbucht - René Sommer - E-Book

Murmeln in der Wurzelbucht E-Book

René Sommer

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Beschreibung

Wege, die wir gehen, sind das, was uns zu dem macht, was wir sind. Zu Fuss unterwegs, unbekümmert umherschweifend in Augenblicken des Überraschenden und des Unerwarteten, erkundet der Protagonist Golo Ideen und Gedankengänge als Inspiration und ihren Sinn als Erfahrung. Leichtfüssig entwickelt sich Spannung aus dem Kontrast zwischen unendlichen Möglichkeiten und heiterem Handeln. Wie bunt zusammengewürfelte, schillernde Kugeln wurzeln Begegnungen und das Geheimnis hinter den Dingen in ihrem magischen Ursprung, zeigen sich, nehmen Form an, wollen erkannt, erfahren und gesehen werden. In dieser surrealen Welt, wo fliegende Elefanten, Flugwale, Badewannen, Skateboards und Datenmatten ebenso selbstverständlich vorkommen wie ein Buch, aus dem die Wildnis wuchert oder ein Buch, das die Ordnung wieder herstellt, reflektieren Begegnungsweisen zwischen Menschen, mit Dingen und spielerischem Flair ein loses Miteinandersein, ein offenes Panorama für eine gemeinsame Wirklichkeit. Manchmal muss man nur zuschauen können, sagt eine Frau im Buch, dann geht es wie von selber.

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Zuletzt erschienen:

Mit den Händen ein Herz. short stories. ISBN: 978-3-73923041-2

Tropfenklang aufs Tamburin. short stories. ISBN: 978-37583-0268-8

Inhalt

Der Anfang

Goldene Kugeln

Zum Willkomm

Im Papageienwald

Federball

Der Flug im Bassgeigenkoffer

Der Esel

Die Eichhörnchen am See

Neue Kleider

Das Katzenalbum

Auf einer Vogelfeder

Das Zicklein

Zu Fuß

Waldwegwald

Dem Mammut auf der Spur

Das Haus und die Schilder

Wilde Himbeeren

Murmeln in der Wurzelbucht

Die Notizenscheune

Die Lesung

Blau Weiß Grün

Der Vogelbrunnen

Der besondere Apfel

Himbeertörtchen

Das Alpaka

Der Anfang

In einer verborgenen Bucht springt Golo ins Wasser, taucht, schwimmt in den See hinaus. Die Frische prickelt auf der Haut. Er kehrt ans Ufer zurück, lässt sich von der

Sonne trocknen, zieht die Kleider an.

Eine Frau läuft das Ufer entlang, beugt sich vor. „Gibt es etwas zu tun?“

Golo schließt die Riemen der Sandalen. „Ich betrachte die wechselnden Blautöne des Sees.“

Sie lächelt. „Und sonst?“

Ein Mann trägt eine Zaine voll Wäsche. „Ich würde sie gern aufhängen, suche ein Seil und Klammern.“

Die Frau sagt: „Komm mit! In der Nähe sind Seile gespannt.

Dort findest du auch Klammern.“ Sie geht voran.

Der Mann blickt Golo an. „Bist du dabei?“

Golo folgt. Der Weg führt durch eine Wiese. Wegwarte und Schafgarbe blühen am Rand. Beim nahen Wald sind 5 Seile wie Notenlinien zwischen 2 Bäume gespannt. In einem aufgehängten Korb finden sich viele Klammern.

Der Mann beginnt die Wäsche aufzuhängen.

Als er fertig ist, fällt der Frau ein Klammerspiel ein. Sie klemmt die Klammern in verschiedener Höhe an die Seile, wie Noten. „Wer die Melodie singen oder pfeifen kann, darf als Nächster komponieren.“

Der Mann ist sehr gewandt, kann die erste Melodie auf An hieb singen, komponiert in der Folge eine neue. Die Frau fordert Golo auf, die Noten zu singen. Golo gelingt es auch. Nun ist die Reihe an ihm, eine neue Melodie zu setzen, welche dann die Frau mit glockenheller Stimme singt. „Was könnten wir als Nächstes unternehmen?“

Sie gibt die Antwort gleich selber: „Wir könnten zur Waldbühne gehen. Mit etwas Glück treffen wir dort die Band am Proben, können ihnen zuhören.“

- „Ist sie weit von hier?“ erkundigt sich der Mann.

„Es sind nur wenige Schritte“, sagt sie und eilt voraus.

Im Wald ist eine einfache Bretterbühne aufgebaut. Die Band ist nicht vollständig da, doch der Gitarrist und der Sänger proben. Sie freuen sich, dass sie ein kleines Publikum bekommen. Der Sänger trägt einen Song vor, wippt mit den Hüften. Der Gitarrist begleitet ihn, spielt zwischen den Strophen ein Solo. Während sich die Frau und der Mann vor der Bühne ins Moos setzen, geht Golo leise weiter. Ihn nimmt wunder, wohin der Weg führt. Er gelangt vor ein kleines Waldhaus. Am Gartentisch unter einem Sonnenschirm sitzt eine Frau. Sie komponiert einen Song.

„Lass dich nicht stören“, bittet Golo, „ich gehe gleich weiter.“

Die Frau legt den Stift ab, greift zur Gitarre. „Willst du hören, was ich bis jetzt komponiert habe?“

Sie bietet Golo einen Stuhl an. „Setze dich doch und sage mir frei heraus, was du davon hältst.“

Sie trägt den ersten Teil eines Songs vor, blickt Golo mit gespannter Aufmerksamkeit an. „Kannst du dir ungefähr vorstellen, wie das Lied wird?“

Golo steht auf. „Danke, dass ich zuhören durfte. Das wird ein ganz spezielles Lied.“

- „Möchtest du einen Tee?“ fragt sie, „ich könnte dir noch andere Kompositionen zeigen.“

Doch Golo wendet sich zum Gehen. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern den Wald erkunden. Mir gefallen die Waldwege. Ich weiß nie zum voraus, wohin sie führen.“

Sie meint: „Vielleicht schaust du auf dem Rückweg etwas länger bei mir herein.“

Er will nichts versprechen, schreitet weiter waldein. Der Wind bewegt die Äste. Sie werfen bewegte Schattenspiele auf den Waldboden. Wo sich die Bäume lichten, steht ein helles Haus. Auf der Eingangstreppe sitzt ein Mann mit einem Notizblock. „Ich plane.“

- „Was hast du vor?“ erkundigt sich Golo.

Der Mann zeigt ihm seine Skizze. „Wir richten ein Morgenzimmer ein. Wenn die Nacht vorbei ist, würde ich mich mit der Frau in diesen Raum begeben, bevor wir frühstücken. Das Kind schläft dann noch. Wir hätten Zeit zu zweit, um uns in den Tag einzustimmen. Zuerst dachte ich an viele Möbel, aber dann fiel mir ein, es wäre wunderbar, ein großes Bett in die Mitte des Raums zu stellen und zu sehen, was geschieht.“

- „Ich wünsche euch viel Freude in diesem Zimmer“, sagt Golo und lenkt seine Schritte auf einen Weg, der in

Schleifen durchs Grasland führt.

Am Wegesrand blüht Johanniskraut.

Eine Frau kommt ihm entgegen. „Kennst du das Bildungszentrum?“

- „Ich habe noch nie davon gehört“, gesteht Golo.

Sie findet: „Dann ist es allerhöchste Zeit, dass du es kennenlernst“, führt ihn durch eine Allee zu einem großen Gebäude. „Alle Geschosse sind in 4 Sektoren unterteilt“, berichtet sie. Die Sektoren sind nach den Himmelsrichtungen benannt und enthalten je 4 Räume, in welchen Ausbildungen stattfinden.“

Hinter der Eingangstür hängt ein Kästchen, das Pläne enthält. „Damit kannst du dich in allen Geschossen zurecht finden“, sagt sie, drückt ihm einen Plan in die Hand.

Golo studiert ihn aufmerksam. Auch die oberen Geschosse sind in Sektoren eingeteilt. Das Treppenhaus und die

Lifte befinden sich in der Gebäudemitte. Mit dem Plan findet sich Golo gut zurecht. Im dritten Stock hängt eine samtschwarze Kapuzenjacke an einem Garderobenhaken.

Als er im vierten Stock anlangt, spricht ihn eine Frau an: „Ich bin sicher, dass ich meine Jacke in der Garderobe aufhängte. Jetzt sehe ich sie nicht mehr.“

Golo beschreibt die Jacke, erkundigt sich: „Ist es deine?

Sie hängt einen Stock tiefer.“

Die Frau eilt hinunter, nimmt die Jacke von der Garderobe. „Danke für den Tipp! Ich war zerstreut.“

Golo sagt: „Die Geschosse sehen alle gleich aus. Das kann passieren.“

Er verlässt das Gebäude, stößt auf einen Weg, der zum See hinunterführt. Smaragdgrün schimmert er aus den Wiesen auf.

Er begegnet einem Mann, der ihm die seltsame Frage stellt: „Hast du Badehosen dabei?“

- „Im Moment nicht“, erwidert Golo.

Der Mann schenkt ihm eine aus dunkelblauem Stoff, entfernt sich schnell, bevor Golo etwas dazu sagen kann.

Überrascht steht er mit der geschenkten Hose da, als sich eine Frau zu ihm gesellt. Sie gibt ihm ein Badetuch. „Nun bist du ausgerüstet.“

- „Wozu?“ fragt er.

„Im See findet eine kurze Schwimmübung statt. Jetzt kannst du teilnehmen.“

Am Strand steigen Frauen und Männer mit der Schwimmlehrerin ins Wasser. Golo legt die Badehosen an.

Die Lehrerin muntert ihn auf: „Du bist willkommen.“

Er schwimmt mit der Gruppe hinaus und zurück zum Ufer.

„Das war es denn schon“, sagt die Lehrerin. Golo steigt aus dem Wasser, trocknet sich ab.

Die Schwimmlehrerin zeigt ihm eine Wäscheleine. „Da kannst du die Badehosen und das Tuch aufhängen.“

Erfrischt spaziert Golo das Seeufer entlang, bis er zu einem Sessellift gelangt. Bei der Talstation ist eine Holzbeige. Er sieht, wie die Kinder 2 Scheite mitnehmen, bevor sie in den Sessel steigen. „Was habt ihr vor?“ fragt er einen Jungen.

„Bei der Bergstation beigen wir die Scheite auf. Wenn wir alle bei jeder Fahrt ein wenig Holz mitnehmen, wächst die Beige auf dem Berg zu stattlicher Höhe, ohne dass wir uns verausgaben müssen.“

Golo anerkennt: „Das ist eine gute Idee.“

- „Nimm doch auch 2 Scheite und steig ein“, schlägt der Junge vor, „oben auf dem Berg kannst du die Aussicht genießen.“

- „Das könnte ich mir vornehmen“, sagt Golo, „aber zunächst möchte ich das Ufer und die Wege um den See erkunden.“ Er schaut zu, wie der Junge mit 2 Scheiten in den Sessel klettert und sich bergauf tragen lässt.

Dann geht er weiter, hält inne, betrachtet, wie der Wind mit dem spiegelnden Wasser spielt. Wellensterne blinken.

Bis ins Wasser ragen die Äste eines alten Baums herab. Im Wipfel kauert ein Eichhörnchen. Seine Stellung wirkt vollkommen entspannt. Golo denkt bei sich: „Ich könnte beim Nachbarbaum in den Wipfel klettern und mich wie das Eichhörnchen entspannen.“ Er steigt langsam in die Krone hinauf, um es nicht zu erschrecken. Das Eichhörnchen beobachtet ihn aufmerksam, verharrt jedoch ruhig. Bei 2 dicken Ästen kauert Golo nieder, nimmt seine lockere Haltung ein. Als das Eichhörnchen über einen Ast läuft und in einen anderen Wipfel springt, steigt Golo vom Baum herab, geht ein paar Schritte, sieht eine Katze, die sich wohlig in eine Wurzel gekuschelt hat. Sie hebt nur kurz den Kopf und mustert ihn, bevor sie die Augen wieder schließt und sich wohlig räkelt.

„Das will ich auch versuchen“, sagt sich Golo, legt sich auf die Wurzelstränge einer urwüchsigen Linde und entspannt sich.

Ein Mann ist mit einer Kamera unterwegs, sieht Golo auf den Wurzeln liegen, fragt, ob er ihn aufnehmen dürfe. Golo ist einverstanden, lockert sich von den Zehen- bis zu den Fingerspitzen, während der Mann ein paar Aufnahmen macht. Als er sich bedankt hat und weitergegangen ist, erhebt sich Golo, streckt und reckt sich wie eine Katze, folgt dem Weg, der in einen Wald einbiegt.

2 Männer sind daran, mit Tüchern und Ästen eine Hütte zu bauen. „Du darfst uns helfen“, sagt der blonde Mann, der Golo zuerst bemerkt.

„Wenn du magst“, fügt der andere bei.

„Was baut ihr?“ fragt Golo.

„Es wird unsere Hütte“, erklärt der blonde Mann.

Der Dunkelhaarige ergänzt: „Wir wollen darin übernachten.“

Der Blonde zeigt Golo einen Hüpfball. „Hier im Wald ist es schwieriger, damit zu spielen. Aber auf dem Asphalt hüpft er wunderbar hoch.“

Der Ball lässt sich in der Mitte aufschrauben. Der Blonde hat darin Brote eingepackt. „Ich verwende ihn als Mahlzeitbox.“

Der Dunkelhaarige bietet Golo das Skateboard an. „Fahre damit eine Runde.“

- „Auf dem Waldweg wird das schwierig“, gibt Golo zu bedenken.

„Mach dir keine Sorgen“, sagt der Dunkelhaarige, „mein Skateboard fliegt darüber hinweg.“

Er macht es gleich einmal vor, springt aufs Board und lässt es über den Waldweg gleiten. Es hebt ab, und der Dunkelhaarige kreist über den Wipfeln.

„Das solltest du auch versuchen“, empfiehlt der Blonde, „das gibt ein gutes Gefühl.“

- „Ich bleibe lieber bei den Wurzeln“, erwidert Golo.

Unter flechtenüberzogenen Bäumen spaziert er zum Waldrand. Auf einer Bank sitzt eine Frau, hat einen Schreibblock vor sich und sagt: „Ich schreibe einen Brief an einen Mann. Ich liebe ihn, aber er liebt mich nicht. Soll ich ihm trotzdem schreiben?“

Golo bleibt stehen. „Was willst du ihm mitteilen? Was erwartest du für eine Antwort?“

Sie sagt: „Ich weiß nicht einmal, ob er den Brief öffnen wird. Es ist das allerseltsamste Verhältnis der Welt. Was ließe sich da allenfalls schreiben?“

Golo denkt kurz nach. „Erzähle eine kurze Geschichte aus deinem Leben.“

Ihr fällt ein: „Ich sah eine Eidechse. Soll ich das schreiben?“

- „Das ist ein vielversprechender Anfang. Mich würde es freuen, einen Brief, der mit der Eidechse beginnt, zu bekommen“, erklärt Golo.

Goldene Kugeln

Golo läuft immer weiter, bis er vor eine riesige Orange kommt. Sie ist größer als ein Elefant. Eine Frau steckt einen Zapfhahn ein, füllt ein Glas mit Orangensaft. „Möchtest du probieren?“

Golo sagt: „Es nimmt mich wunder, wie der Saft schmeckt.“

Er probiert einen Schluck. „Das ist der beste Saft, den ich je getrunken habe.“ Genießerisch langsam trinkt er das

Glas aus, gibt es ihr zurück.

Sie legt die Hand an den Zapfhahn. „Du kannst gern noch mehr haben.“

Er streicht sich über den Bauch. „Danke, für den Moment reicht es.“

- „Du kannst jederzeit zurückkommen und Saft trinken, so viel du magst.“

Vom Weg am Waldrand zweigt ein Wiesenweg stadteinwärts ab. Dort trifft Golo einen Radfahrer. Er trägt einen

Helm und einen Anzug wie ein Rennfahrer.

„Trainierst du für ein Rennen?“ fragt er ihn.

Der Fahrer weist auf die runde Box, die auf dem Gepäckträger montiert ist. „Ich bin der Pizzakurier und muss jetzt los.“ Er verabschiedet sich, radelt bergab.

Golo schaut ihm nach, bis er ihn hinter einer Wegbiegung aus den Augen verliert.

Am Stadtrand wartet ein Flugwal. Er hält das Maul weit aufgesperrt. 3 Männer schieben einen Steinway-Konzertflügel hinein.

„Mag er mit dem Gewicht fliegen?“ wundert sich Golo.

„Ohne Mühe“, versichert ein Mann.

„Wohin fliegt er?“ will Golo wissen.

Der Mann deutet auf den Waldberg über der Stadt. „Zum Gipfelfelsen. Es gibt dort wunderbare Echoräume.“

- „Die würde ich auch gerne hören“, sagt Golo.

„Flieg doch mit“, empfiehlt ein Mann, „es hat genug Platz im Wal.“

Der zweite Mann breitet die Arme aus. „An Platz mangelt es wirklich nicht. Steig ein!“

Golo betritt den Wal. „Ich verlasse mich auf euch. Ihr bewegt euch ruhig und selbstsicher. Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass ihr auf diese Weise einen Konzertflügel verfrachtet.“

- „Wir haben Erfahrung“, bestätigt der dritte Mann, lädt eine Klavierbank ein, summt eine kurze Melodie. Der Wal singt laut. Dann schließt er das Maul, hebt ruhig ab.

Golo hält sich am Konzertflügel fest. Der Halt ist jedoch nicht nötig. Sanft gleitet der Wal durch die Luft. Er zieht eine Schleife um den Gipfel, landet auf einer riesigen Felsenplatte, sperrt das Maul auf.

Golo steigt aus. Die Männer schieben den Steinway aus dem Maul.

„Gleich ist es so weit“, kündet der erste Mann an.

Der zweite öffnet den Deckel der Tastatur. „Nun kannst du spielen.“

Rasch stellt ihm der dritte Mann die Klavierbank hin. Golo setzt sich, schlägt einen Ton an. Die Echoräume das Gipfelfelsens widerhallen. Ein wunderbares Spiel der Obertöne beginnt, als Golo auf dem Flügel spielt. Der Fels scheint mitzusingen. Der Wal stimmt einen neuen Gesang an.

Golo lässt die Musik verhallen. Als der Wal verstummt, kehren die Männer in sein Maul zurück.

„Kommst du mit?“ fragt der erste Mann.

„Oder bleibst du?“ erkundigt sich der zweite.

- „Ich würde gern den Berg erkunden“, antwortet Golo.

Wiederum summt der dritte Mann eine kurze Melodie, worauf der Wal singt, das Maul schließt und abfliegt. Golo schaut ihm nach, bis er als winziger Punkt am Horizont verschwindet. Er schließt den Tastaturdeckel, entdeckt einen Weg, der in vielen Kehren talwärts führt. Beim Abwärtsgehen verfällt Golo in ein fröhliches Hüpfen.

In einer Kehre bietet ihm ein Mann an, die Haare zu schneiden. „Ich habe in meinem Haus einen kleinen Coiffeursalon eingerichtet.“

Golo sagt: „Im Moment möchte ich die Haare lieber wachsen lassen.“

Bei der untersten Kehre stößt er auf eine leere Bahnhofshalle. Eine Frau setzt sich eine Augenbinde auf. „Ich möchte die Halle ertasten. Bist du dabei?“

- „Was muss ich tun?“ fragt er.

„Du begleitest mich und sagst mir laufend, ob es stimmt, was ich ertaste.“ Sie geht durch eine Drehtür in die Halle.

Golo folgt ihr. „Warum willst du die Halle ertasten?“ will er wissen.

„Es ist anders, als wenn ich sie mit den Augen erkunde“, antwortet sie und ertastet eine Säule. „Das ist eine Säule.“

Er bestätigt ihre Wahrnehmung. „Das ist richtig. Du hast eine Säule vor dir.“

Als nächstes spürt sie mit den Händen eine Sitzbank auf.

„Ich habe eine Bank gefunden.“

Golo sagt: „Du bist gut. Es ist eine Bank.“

Bei einem alten Fahrplanständer ist sie etwas länger am Tasten. „Möglicherweise“, rät sie, „ist es eine Anzeigetafel.“

- „Das trifft zu“, anerkennt Golo.

Sie nimmt die Augenbinde ab. „Es hat mir Spaß gemacht.

Möchtest du die Binde aufsetzen?“

Golo lässt den Blick schweifen. „Ich sehe mir lieber alles mit offenen Augen an.“

- „Das ist dir doch unbenommen. Das könntest du später jederzeit unternehmen. Vorerst würdest du aber mit den Händen entdecken.“

- „Ich bin ein Augenmensch“, betont er, „verlasse mich gern aufs Sehen.“

Sie verlässt die Halle. „Das musst du selber entscheiden.“

Golo schaut sich um, bevor auch er hinausgeht. Im Freien begegnet ihnen ein Fotograf. „Darf ich euch fotografieren?“

Die Frau stellt sich neben Golo. „Sind wir nicht ein tolles Paar?“

- „Deswegen fragte ich ja“, erklärt der Fotograf, „es macht mir Spaß, Paare aufzunehmen.“ Er umkreist sie, macht gleich einige Aufnahmen.

„Vorher“, berichtet sie, „tappte ich mit einer Augenbinde durch die Bahnhofshalle. Wäre das eine Aufnahme wert?“

- „Mehr als eine“, sagt er, schreitet eilends mit ihr durch die Drehtür.

Golo schlägt einen Weg ein, der sich an den Rand des Waldes schmiegt. Eine Frau ist mit 5 Hunden unterwegs. Sie blickt konzentriert auf die Leinen, immer darauf bedacht, Verwicklungen vorzubeugen, was alles andere als einfach scheint, denn die Hunde sind jung und temperamentvoll.

Außerdem trägt sie eine Tasche. Am Henkel hängt eine goldene Kugel. Sie fragt Golo: „Bringst du die Tasche ins Restaurant mit der goldenen Kugel im Schild? Ich denke, die Wirtin wird sich bestimmt darüber freuen.“ Ohne die Antwort abzuwarten, übergibt sie ihm die Tasche.

Golo weicht rasch zurück, dass die Hunde nicht an ihm hochspringen. „Wo ist das Restaurant?“

- „Du kannst es nicht verfehlen, wenn du stadteinwärts gehst“, antwortet sie und läuft mit den Hunden weiter.

Golo betrachtet die Tasche mit der Kugel, lenkt seine Schritte zum Stadteingang. Neben dem Tor, das 2 runde Türme flankieren, prangt tatsächlich ein Schild mit einer goldenen Kugel. Die Wirtin steht vor den Tischen am Straßenrand. Freudig nimmt sie die Tasche in Empfang. „Das wird meine Lieblingstasche.“ Sie rückt einen Stuhl. „Setz dich doch! Ich würde dir gern ein Getränk offerieren und bin ganz gespannt, ob du herausfindest, was es ist.“ Mit diesen Worten verschwindet sie im Restaurant, kehrt mit einem kleinen Glas zurück, in welchem ein purpurroter Saft schimmert. Golo kostet ihn im Stehen, findet ihn erfrischend herb. „Was ist das?“

- „Das ist Cranberry-Saft“, verrät sie ihm, „möchtest du dich setzen und etwas mehr trinken?“

Golo gibt ihr das Glas zurück. „Gerne würde ich zunächst die Umgebung der Stadt erkunden.“

Er schlägt den Weg in einen öden Hang ein, begegnet einem Mann, der ein großes Buch unter dem Arm trägt.

„Hier wäre der rechte Ort, es zu öffnen. Aber ich möchte es nicht selber tun.“ Er händigt es Golo aus. „Vielleicht möchtest du es übernehmen.“

- „Es ist recht schwer“, findet Golo, legt es ins Gras, schlägt es auf. Eine Fülle von Ästen, Zweigen, Blättern, Ranken und Blüten wuchert daraus empor, breitet sich schnell im Hang aus, bildet eine undurchdringbare Wildnis.

Golo schließt das Buch schnell. Die Wildhecke jedoch bleibt. „Damit könnte man ganze Landstriche beleben“, fällt ihm ein.

„Es ist das Buch der Wildnis“, erklärt der Mann, „ich behalte es bei mir. Du kennst es nun und kannst es jederzeit bei mir holen, wenn dir ein Landstrich zu öde erscheint.“ Er hebt es auf. „Du darfst es nur nie übertreiben.“ Eilends trägt er das Buch fort, während sich Golo nach einem Weg umsieht.

Eine Frau trifft ein. „Was für eine Wildnis! Zum Glück habe ich mein kleines Ordnungsbuch dabei.“ Sie reicht es Golo.

„Schlage eine beliebige Seite auf. Du wirst sehen, mein Buch bewirkt Wunder.“

Er öffnet das Ordnungsbuch. Magisch zieht es die Wildhecke ein, sie verschwindet im Buch mit allen Ranken,

Zweigen und Trieben, und der Hang ist öd wie zuvor.

„Erstaunlich“, bemerkt Golo, „was ein so kleines Buch alles aufnehmen kann.“

Die Frau nimmt es wieder an sich. „Wenn dir irgendwo ein Landstrich zu wild erscheint, kannst du es bei mir beziehen.“ Sie wirft einen letzten Blick auf den Hang, entfernt sich, reckt den Rücken gerade, geht erhobenen Hauptes.

Golo wählt den kleinen Weg, der durch den Hang zu einem Bahnhof mit einer großen Halle führt. Darin sind Leute am Warten und unterwegs, strömen vom Eingang zu den Gleisen oder von den Gleisen zum Ausgang. Ein Radiomacher trägt Kopfhörer und ein Mikrofon. Er fragt Golo: „Darf ich dich interviewen?“

- „Was sind denn deine Fragen?“ will Golo wissen.

„Ich möchte herausfinden, was die Leute tun, wenn sie den Pappbecher ausgetrunken haben“, erklärt der Radiomacher.

„Ich habe gar keinen Pappbecher“, sagt Golo.

Der Mann vom Radio fährt unbeirrt fort: „Aber was würdest du tun, wenn du einen hättest? Würdest du ihn ordnungsgemäß entsorgen?“

- „Sicher würde ich das tun“, erwidert Golo, „wenn immer möglich würde ich ihn in ein Kartonrecycling einwerfen.“

- „Das sagen alle“, wundert sich der Radiomann, „trotzdem liegen zerknüllte Pappbecher herum oder sind neben der Sitzbank abgestellt.“

Vom Bahnhof führt ein schmaler Weg zum See hinunter.

Den engen Eingang in die Lagune säumen Kalksteinfelsen. Steil ragen sie in die Höhe. Intensiv türkis schimmert das Wasser im Felsenbecken, azurblau in der Tiefe. Das Licht streut Farbenspiele über die hellen Felsen. Eine Frau trägt ein kleines Kind in die Lagune. Es hat die großen Augen weit geöffnet und staunt über das Licht und die Farben.

Auf dem Weg durch die Lagune sieht Golo ein Notenblatt liegen, hebt es auf. Es enthält ein mehrstimmiges Lied mit Klavierbegleitung. Zuerst will er es selber singen. Der Text handelt von einer Mütze, die ein Mann gefunden hat. Er begegnet 3 Frauen.

Die erste fragt: „Was für ein Blatt hältst du in der Hand?“

Golo zeigt es ihr. „Es ist ein Lied.“

Die zweite beugt sich vor: „Das könnten wir singen.“

Die dritte stimmt es an. Die Frauen singen dreistimmig.

Hell klingen ihre Stimmen. Die Felsen widerhallen.

Die erste Frau bittet: „Dürfen wir das Blatt behalten?“

Golo schenkt es ihr mit einem Lächeln. „Es gehört euch.“

Er findet auf einem kleinen Weg eine goldene Kugel. Sie glänzt im Gras. Er hebt sie auf. Ein Mann sagt: „Ich flechte ein Körbchen. Dann kannst du sie hineinlegen, wenn du das willst.“

Zum Willkomm

Unterwegs gerät Golo vor eine Hochsprungmatte. Sie bedeckt den Weg in seiner ganzen Breite auf einer Länge von 4 Metern, ist etwas über einen Meter hoch. Eine Frau schlägt vor: „Lass dich einmal rücklings fallen. Du wirst staunen, wie gut sie dich auffängt.“

Golo probiert es gleich aus. Er stellt sich rücklings an die Matte, wirft die Arme über die Schultern, landet weich auf dem Rücken. Dann setzt er sich auf, federt. „Sie fängt den Sturz weicher als Wasser auf.“

- „Nimm nun Anlauf, springe hoch, lande mit den Füßen auf der Matte und wälze dich.“

- „Meinst du so?“ fragt Golo, rennt zur Matte, springt in die Höhe, dreht sich bei der Landung in Seitenlage, lässt sich fallen, rollt aus.

- „Das hast du gut gemacht“, lobt sie ihn.

Golo dankt, geht weiter. Am Wegesrand steht eine Tafel. Darauf ist mit großer Schrift der Satz gemalt: „Du bekommst einen Brief.“ Golo sieht sich um. „Von wem sollte ich einen Brief erhalten?“ Eine Briefträgerin auf dem Fahrrad holt ihn ein, kramt einen Brief aus der Tasche: „Bist du Golo? Dann ist dieser Brief für dich.“

Er öffnet das Couvert, liest: „Lieber Golo, besorge dir Zebrastreifen. Freundliche Grüße, dein Zebra.“

Er kommt zu einem Markstand. An einem Kleiderbügel hängen Hosen mit Zebrastreifen. Die Marktfrau fragt:

„Willst du sie anprobieren?“

Die Garderobenkabine ist in einem Zelt untergebracht.

Golo probiert die Zebrahosen an, betrachtet sich im Spiegel. „Ich nehme sie. Was sie wohl kosten?“

- „Sie sind ein Geschenk“, sagt die Frau, hängt die Jeans an den Bügel. Golo dankt.

Der Weg führt an einer weißen Wand vorbei. Ein Mann sieht Golo schreiten, meint: „Du trägst weiße Hosen mit schwarzen Streifen.“

Später kommt er an einer schwarzen Wand vorbei. Eine Frau deutet auf ihn. „Du trägst schwarze Hosen mit weißen Streifen.“

Ein Mann winkt mit einem Prospekt. „Verstehst du dich aufs Kartenlesen?“

Golo tritt näher, betrachtet die Karte auf der Rückseite des Faltprospektes. Der Mann legt den Finger auf ein Kreuz.

„Da befindet sich eine Feuerstelle. Kannst du mir zeigen, wo sie ist?“

Golo studiert die Karte. „Der Weg führt durch den Wald.“

Er begleitet den Mann zur Abzweigung, schlägt den Waldweg ein. „Das ist der Weg, der auf der Karte eingetragen ist.“

- „Dann sind wir ja bald da“, freut sich der Mann.

Sie spazieren immer tiefer in den Wald hinein, der dicht bewachsen mit Farn und Laubbäumen ist. Auf einer Lichtung zwischen hohen Buchenbäumen erscheint die ummauerte Feuerstelle, umgeben von Tischen und Sitzbänken. Der Mann sammelt Reisig. „Da will ich denn gleich ein Feuer entfachen.“

Golo folgt dem Weg, sieht einen Wolf entspannt vor einem Höhleneingang schlummern. Er öffnet die Augen.

„Was schleichst du um mich herum?“

- „Ich schleiche mich nicht um dich herum“, widerspricht

Golo, „es ist ein schöner Tag. Da gehe ich hinaus und sehe mir die Welt an.“ Er spaziert aus dem Wald heraus an einen See. Wolken spiegeln sich in der glatten Oberfläche.

Ein drei Meter hoher Sprungturm ragt aus dem Wasser.

Golo zieht die Kleider aus, schwimmt hinüber. Er klettert auf den Turm, tritt aufs Sprungbrett hinaus, macht einen Kopfsprung. Ringförmig breiten sich die Wellen aus, blinken. Golo taucht auf, schwimmt zum Ufer zurück, nimmt das Kleiderbündel auf, geht an die Sonne, legt sich auf einen Felsen und lässt sich trocknen. Dann zieht er die Kleider an, wandert zum Sandstrand, wo ein Mann das Segel seines dreirädrigen Gefährts spannt. Ein Wind kommt auf, bläht das Segel. Der Mann schwingt sich auf den Sattel, rollt davon. Die Räder ziehen eine Spur in den Sand. Golo geht ihr nach. Vor dem Stadtrand holt der Mann das

Segel ein. „Mit dem Rad zu segeln ist ganz anders als mit dem Boot“, erklärt er.

Golo begegnet einer Frau. Sie sucht Kurkuma für einen Tee. „Es gibt am Stadtrand einen Laden. Begleitest du mich?“ Sie tritt mit Golo ein.

Der Verkäufer kommt aus dem Hinterraum. „Was darf es sein?“

Die Frau wünscht: „Ich hätte gern Kurkuma.“

Er geht zum Gestell. „Brauchst du eine große oder eine kleine Dose?“

Sie wählt die große. Ihr Handy klingelt.

Sie klaubt es aus der Tasche, blickt auf den Bildschirm.

„Mein Sohn ruft an.“

Er fragt: „Wo bist du?“

- „Im Laden am Stadtrand“, antwortet sie.

Seine Stimme klingt vergnügt. „Ich freue mich auf den Tee.“

Beim Verlassen des Ladens deutet sie auf ein Einfamilienhaus. „Das solltest du dir ansehen.“

Golo geht zur Tür. Sie steht nur angelehnt. Er ruft: „Ist jemand zu Hause?“

Ein Mann kommt zum Eingang. „Möchtest du das Haus besichtigen?“

- „Wenn es möglich ist“, antwortet Golo, „fände ich es interessant.“