Der Kameramörder - Thomas Glavinic - E-Book

Der Kameramörder E-Book

Thomas Glavinic

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Beschreibung

Mit seiner Lebensgefährtin besucht der Erzähler ein befreundetes Paar in der Steiermark. In den Medien wird über einen Doppelmord an zwei Kindern berichtet, den der Mörder mit einer Videokamera aufgenommen haben soll. Und während die vier Freunde zwischen Fernseher und Kartenspiel, Küche und Gesprächen hin und her pendeln, wird ganz in ihrer Nähe fieberhaft nach dem Mörder gesucht. »Wo Glavinic steht, das wissen wir nach diesem Buch: in der ersten Reihe der deutschsprachigen Literatur.« Daniel Kehlmann, Literaturen

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Thomas Glavinic

Der Kameramörder

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Der Kameramörder [Teil 1]Der Kameramörder [Teil 2]Der Kameramörder [Teil 3]Der Kameramörder [Teil 4]Der Kameramörder [Teil 5]

Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben. Meine Lebensgefährtin Wagner Sonja und ich nutzten die Osterfeiertage zu einem Ausflug in die westliche Steiermark. Wir leben in Oberösterreich, in der Nähe von Linz. Da meine Lebensgefährtin aus Graz-Umgebung stammt, haben wir in der Steiermark einige Bekannte. Am Gründonnerstag fuhren wir zu Hause ab. Nachmittags waren wir in der Nähe von Graz in einem Lokal mit verschiedenen Freunden verabredet. Anläßlich dieses Treffens sprach meine Lebensgefährtin in einem übertriebenen und schadhaften Ausmaß alkoholischen Getränken zu (ca. 1 l Weißwein, 6×2 cl Tequila, ? Bier). Spätnachts, um etwa 5 Uhr früh, hatte ich mich um die Unterkunft zu kümmern u. mußte meine Lebensgefährtin zu Bett geleiten. Der Tag darauf war Karfreitag. Nachdem meine Lebensgefährtin aus ihrem Alkoholschlaf erwacht war, fuhren wir das nicht mehr weite Stück zu unseren Freunden Heinrich und Eva Stubenrauch, wohnhaft Kaibing 6, 8537 Kaibing. Es war ca. 15.00 Uhr, als wir dort eintrafen. Man begrüßte uns herzlich. Eine Jause wurde uns gerichtet und, weil schönes Wetter herrschte, auf einem großen Holztisch im Freien serviert. Wir brachten unser Erstaunen zum Ausdruck, daß der Hof mit mind. 25–30 Katzen übersät war. Heinrich erklärte uns, die Tiere seien unfreiwilliger Besitz des benachbarten Bauern. Dessen Haus war ca. 20 m entfernt. Er habe an die Stubenrauchs vermietet. Meine Lebensgefährtin sagte, die Luft und die Landschaft seien herrlich und die Jause tue ihrem beeinträchtigten Kopf gut. Ich mußte 8 × Wespen von meiner Limonade verscheuchen. Nach der Jause war es ca. 16.00 Uhr und fast so heiß wie im Sommer. Meine Lebensgefährtin äußerte den Wunsch spazierenzugehen, da dies ihrem Zustand Vorteile verschaffen könne. Weil in der näheren Umgebung von Heinrichs und Evas Haus keine optimalen Wanderbedingungen bestehen, fuhren wir ca. 5 km mit dem Auto der Stubenrauchs zu einem Parkplatz an der Landstraße. Dahinter erstreckt sich ein weites Feld mit Getreide und Mais. Heinrich scherzte, dies sei die größte von Hügeln nicht unterbrochene Fläche der Region. Wir wanderten auf den Wegen zwischen den Feldern. Dabei unterhielten wir uns über allgemeine Dinge (Befinden, Neuigkeiten u.dgl.). Insekten schwirrten durch die Luft. Grillen zirpten. Die Sonne brannte derart vom Himmel, daß ich eine rosarote Baseballkappe mit der Aufschrift Chicago aufsetzen mußte, um mich eines evtl. Sonnenbrandes oder gar -stiches zu erwehren. Von den Geräuschen der Insekten abgesehen, war es ganz still. Wir ließen den bebauten Grund hinter uns und gingen durch hohes Gras. Weit und breit war eigentlich nichts zu sehen, nur ein vereinsamter Baum, einige Sträucher und etwas, das wie ein Gebäude aussah. Als wir näher kamen, stellten wir fest, daß es sich um eine kleine Ruine handelte. Heinrich hatte diesen Ort einmal besucht. Er wußte darüber Bescheid. Es waren die Reste eines vor 2 Jahrzehnten abgebrannten Bauernhauses. Gerüchte besagten, es habe sich um Brandstiftung gehandelt. Der Bauer und seine Frau seien in den Flammen umgekommen. Abergläubische Bewohner des nahe gelegenen Ortes schworen, daß es hier spuke, und hielten sich von der Ruine fern. Meine Lebensgefährtin bat uns, den Ort sofort zu verlassen. Heinrich machte sich über sie lustig. Ob sie an Geister glaube. Sie antwortete, sie habe schon beim Näherkommen ein schreckliches Gefühl gehabt. Vielleicht liege es auch an ihrem schweren Kopf. Aber etwas Unheimliches gehe von dem Ort aus. Sie könne es nicht erklären, doch sie habe Angst. Sie wolle nach Hause zu den Stubenrauchs. Heinrich machte einen Scherz. Da begann meine Lebensgefährtin am ganzen Leib zu zittern und lief davon. Wir mußten ihr folgen. Es wurde nichts gesprochen. Wir fuhren zum Haus der Stubenrauchs zurück. Am Abend kochten die Frauen Spaghetti Bolognese. Während sie in der Küche arbeiteten, unterhielt sich Heinrich mit mir über Angeln. Ab und zu verschaffte sich eine Katze Zutritt zum Haus. Dies veranlaßte Heinrich, aufzustehen und das Tier hinauszujagen. Dazu äußerte er sich dahingehend, daß die Katzen eine echte Plage seien und man sie nicht ins Haus lassen dürfe, weil sie hier alles verschmutzen und Unhygiene hereinbringen würden. Nach dem Essen spielten wir Rommé. In einer durch Eva Stubenrauchs Harndrang bedingten Pause holte meine Lebensgefährtin zwei Päckchen Kelly's-Chips. Heinrich schaltete den Fernseher und Teletext ein. Die erste Nachricht behandelte einen ausländischen Staatsbesuch. Die zweite berichtete von einem Mord an zwei Kindern, der in der Weststeiermark verübt worden war. Man schrieb von einem grauenhaften Verbrechen. Groß angelegte Fahndung »Es wird gegen einen etwa 30jährigen, mittelgroßen Mann ermittelt, der 27 u. 8 Jahre alte Kinder gezwungen hat, sich durch einen Sprung von einem hohen Baum zu töten, und diese Taten mit einer Videokamera aufgenommen hat. Ein dritter Bub, der 9jährige Bruder der beiden ums Leben gekommenen Kinder, hat entfliehen können. Es gibt fieberhafte Ermittlungen. Heinrich forderte die wieder eingetretenen Frauen auf, die Nachricht zu lesen. Eva schlug die Hände vors Gesicht. Meine Lebensgefährtin: So etwas Gräßliches habe sie noch nie gehört. Heinrich machte uns darauf aufmerksam, daß der im Bericht genannte Ort ganz in der Nähe liege. Er behauptete, von der betroffenen Familie, deren Oberhaupt Kommandant der freiwilligen Feuerwehr sei, schon gehört, evtl. in einer Gemeindezeitung das Foto des Vaters gesehen zu haben. Es wurde allgemein Überraschung darüber laut, daß jemand einen anderen Menschen zwingen könne, sich zu töten, und wie so etwas vor sich gehen könne. So dauerte es eine Weile, bis wir uns wieder unseren Karten zuwenden konnten. Dabei gewann ich ein wenig Geld, meine Lebensgefährtin verlor etwas, Eva gewann viel, und Heinrich verlor viel. Wir aßen Chips und tranken Rotwein. Diesen holte Heinrich in Abständen aus dem Keller. Da der Keller nur von außerhalb des Hauses zu erreichen ist und es am Abend heftig zu regnen begonnen hatte, kehrte er jedesmal naß zurück. Dies gab zu Heiterkeit Anlaß. Nachdem wir einige Stunden gespielt hatten, räumte Eva um ca. 1.30 Uhr früh die Spielkarten zurück in die Schachtel. Bevor wir einer nach dem anderen ins Badezimmer gingen, um uns die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen, schaltete Heinrich noch einmal Teletext ein, um etwaige neue Nachrichten über den Kindermord zu lesen. Es gab jedoch nichts Neues. Ich stieg hinter meiner Lebensgefährtin die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo die Schlafräume liegen. Dabei gab ich acht, mit dem jeweils anderen Fuß als sie die hölzernen Stufen zu betreten. Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne. Wir frühstückten am Holztisch. Zu ihm wurde ein Sonnenschirm gestellt. Die Stubenrauchs hatten ein üppiges Frühstück mit Salami, vielen Käsesorten, Eiern, Toast, Butter, Marmelade, Gebäck und Fruchtsäften zubereitet. Dafür zeigten wir uns durch Danksagungen und Lob erkenntlich. Hin und wieder trat der mit einem zu kleinen Hut und in einer blauen, schmutzigen Arbeitshose umherschlendernde Bauer vom Nachbarhaus zu uns. Er sprach über den in so großer Nähe geschehenen Mord an den Kindern. Er sagte, er kenne die Eltern der Kinder und wer so etwas tue, gehöre weg. Dabei machte er die Gebärde des Aufhängens. Im übrigen sprach er viel zu laut, als sei einer der Anwesenden oder er selbst schwerhörig. Auch die Frau des Bauern kam herbei. Neben Heinrich setzte sie sich auf die Bank. Sie legte die Hände auf ihren mit einer gefleckten Schürze bedeckten Schoß und machte durch Kopfschütteln und Mimik deutlich, wie erschüttert sie war. Meine Lebensgefährtin, die das Frühstück schneller beendet hatte als ich, stand dabei ca. 2 m vom Tisch entfernt und schaute wortlos vor sich hin. Eva nickte der Bäuerin zu, um ihr zu verstehen zu geben, daß sie ihre Meinung teile.

Es wurde geseufzt. Heinrich rollte einen Apfel über den tuchlosen Tisch und fragte, ob man schon mehr über den Täter wisse. Meine Lebensgefährtin sagte, ihr sei gar nicht wohl und sie könne diese Nachrichten nicht ertragen. Heinrich riet ihr, die Ohren zu verstopfen, das sei alles Unsinn u. sie solle sich über den schönen Tag freuen. Die Bäuerin fragte Eva, ob sie mit ihr später gemeinsam zur Fleischweihe gehen wolle. Die Angesprochene entgegnete, sie könne noch nicht sagen, wann sie gehen werde u. die Bäuerin solle besser nicht auf sie warten. Nach dem Frühstück verfielen Eva und meine Lebensgefährtin auf den Gedanken, Federball zu spielen. Heinrich und ich waren bereit, diesem Wunsch zu entsprechen. Wir wußten jedoch nicht, wo wir das von Eva herbeigebrachte Netz aufspannen sollten. Denn in unmittelbarer Nähe des Hauses würden die ca. 25–30 umherstreunenden Katzen das Spiel mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Springen, Jagen, Ballnachlaufen u.ä. Aktivitäten stören. Und in weiterer Entfernung war keine geeignete Fläche zu finden, da Bäume bzw. Gestrüpp die Bildung eines ausreichend großen Spielfeldes verhinderten. Heinrich regte an, zu dem Ort, den wir am Vortag bei unserem Spaziergang besucht hatten, zu fahren. Meine Lebensgefährtin weigerte sich lautstark unter Verweis auf die unheimliche Stimmung dieser Gegend. Heinrich und Eva wohnten noch nicht lange genug hier, um die Umgebung genau zu kennen. So standen wir vor einem Rätsel. Eva kam auf die Idee, den Bauern zu befragen. Dieser verwies uns auf eine hinter einem nahe gelegenen Hügel befindliche Stelle. Sie sollte für unseren Zweck wohl geeignet sein. Dorthin begaben wir uns, nachdem wir passendes Schuhwerk und Kleidung angezogen hatten und Eva eine Jause gerichtet und in einen Weidenkorb gepackt hatte, in dem sich außerdem eine zusammengefaltete Decke befand. Grund: U.U. wollten wir Einzelpartien spielen. Den Pausierenden sollte Gelegenheit zu bequemer Rast gegeben werden. Heinrich und ich spannten das Netz auf. Zum Aufwärmen spielten wir eine Partie ohne Punktezählung. Dann bestritten wir einen Wettkampf, bei dem zwei Doppel gegeneinander antraten. Nach jeder Partie wurden sie neu zusammengestellt. Auf diese Weise spielte jeder einmal mit jedem. Nach ca. 3,5 Stunden stellte sich bei zwei Spielern – Eva und mir – Erschöpfung ein. Wir beide verfügten uns zurück zum Haus. Dabei unterhielten wir uns intensiv über die Frage der bei Sportausübung geeignetsten Fußbekleidung. Wir unterbrachen das Gespräch auch nicht, als wir im Haus angekommen waren. Ich sagte, Turnschuhe seien unerläßlich. Eva widersprach immer wieder, barfuß sei Sport am gesündesten. In einem Nebensatz erklärte sie, von der Hitze sehr mitgenommen zu sein. Sie habe eine Dusche nötig. Durch die Beiläufigkeit dieser Bemerkung entging mir, daß erwähnte Erfrischung auf der Stelle stattfinden sollte. Für mich völlig überraschend, zog sich Eva vor mir im Badezimmer ihr leichtes rotes Sommerkleid und sogar den Büstenhalter und die Unterhose aus und stieg in die Duschkabine. Diesen Manipulationen begegnete ich, indem ich mich abwandte. Dabei hörte ich aber nicht auf, über unser Thema zu sprechen. Angesichts der Tatsache, daß mir für einen Moment der Blick auf ihr schwarzes u. gestutztes Schamhaar freigegeben war, war dies nicht ganz einfach durchzuführen. Ich hörte das Wasser rauschen. Mein Wegdrehen kommentierte Eva mit einer Bemerkung hinsichtlich meiner ihrer Ansicht nach unnötigen Scham. Als ich nichts erwiderte, kam sie rasch auf die herrschende und schier unglaubliche Hitze zu sprechen. Diese habe, wie Eva scherzte, sogar schon einigen Insekten den Tod durch Hitzschlag beschert. Nachdem sie geduscht hatte, bat sie mich, ihr ein Handtuch zu reichen. Ich willfahrte ihr. Da unser Gespräch über die Turnschuhfrage beendet schien, verließ ich, die ersten Töne des Radetzkymarsches pfeifend, das Badezimmer. Vor dem Haus setzte ich mich in eine zwischen einem Apfelbaum und einem Kirschbaum gespannte Hängematte. Dort wartete ich auf das Eintreffen meiner Lebensgefährtin und Heinrichs. Dieses erfolgte nach ca. einer weiteren Stunde. Gerade zu dieser Zeit wurde Eva mit den Vorbereitungen zur Osterjause fertig. Sie brachte Teller und Besteck. Sie servierte geselchtes Fleisch, gefärbte Eier, Brot und Kren, der so scharf war, daß alle am Tisch das ganze Essen über weinten. Eva machte uns auf in der Luft liegenden Brandgeruch aufmerksam. Die ersten Osterfeuer würden angezündet. Heinrich sagte, die Bauern ringsum seien allesamt Heiden, sie zweckentfremdeten ihre heilige Handlung, indem sie die Gelegenheit nutzten, den Baumschnitt des Frühjahrs zu verheizen, was an allen anderen Tagen verboten sei. Früher habe man wenigstens Hexen verbrannt, heute sei alles nur noch landwirtschaftliche Maßnahme. Nachdem wir einige Zeit geplaudert hatten (über die Temperatur, den ausbleibenden Wind, die nur durch Miauen von Katzen zuweilen unterbrochene ungewöhnliche und, wie meine von Heinrich der übertriebenen Empfindsamkeit geziehene Lebensgefährtin meinte, unheimliche Stille sowie über die Aussicht auf neuerlichen Regen zu Abend), fiel Heinrich der Mord wieder ein. Er wischte sich den Mund mit einer geblümten Serviette ab und lief ins Haus, um im Teletext Nachrichten zu lesen. Kurz nach seiner Ankunft im Gebäude öffnete er ein Fenster. Warum dieses nicht sowieso offenstand, war unerklärlich. Angesichts der Hitze wäre es erforderlich gewesen. Heinrich rief uns zu, eine Schlagzeile laute Videokamera gefunden – Kind sagt aus. Erregt wiederholte er, die Polizei habe die Videokamera des Täters, mit der dieser seine Handlungen aufgenommen hat, auf einem Autobahnraststättenparkplatz aufgefunden. An uns richtete er die Frage, ob diese Aufnahmen wohl evtl. der Öffentlichkeit im Fernsehen zugänglich gemacht würden. Er glaube, daß ja. Dieser Auffassung widersprach meine Lebensgefährtin. Solche Szenen würden aus Gründen der Moral nicht ausgestrahlt. Darauf verlieh Heinrich unter Gelächter seiner Überzeugung Ausdruck, daß meine Lebensgefährtin die Realität der Geschäftswelt im allgemeinen und die der im Quotenkampf befindlichen Fernsehsender im besonderen nicht in vollem Umfang zu erfassen scheine. Da habe er auch wieder recht, antwortete meine Lebensgefährtin. Heinrich zog sich vom Fenster zurück. Nicht lange, und er lehnte sich wieder aufs Fensterbrett. Es gab Neuigkeiten. Nach der Aussage des dritten, geflohenen Kindes hat die Polizei die kaum faßbaren Vorgänge rekonstruiert. Ein bereits beschriebener Mann hat die 3 Geschwister am Karfreitagmorgen beim Spielen auf einer Waldlichtung, etwa einen Kilometer vom Haus der Eltern entfernt, angesprochen. Sachlich und gar nicht unfreundlich setzt der Mann den Kindern auseinander, er hat ihre Eltern in seine Gewalt gebracht. Es liegt an den Jungen, ob die Eltern mit dem Leben davonkommen oder ob er sich durch das Verhalten der Geschwister gezwungen sehen wird, den Eltern einen gewaltsamen und äußerst schmerzhaften Tod zu bescheren. Die Entführten müssen alles tun, was er von ihnen verlangt. Und damit sie nicht doch auf die Idee kommen, ihm wegzulaufen, wird er einen von ihnen – den später entflohenen 9jährigen, der die Aussagen machte – an sich festbinden und, falls die beiden anderen weglaufen, mit dem Tod bestrafen. Ausdrücklich erwähnt wurde, daß der Strick, mit dem der Mann das Kind an seinem Gürtel festgebunden hat, 80 cm lang und ein Schweinestrick ist. Nachdem dies geschehen ist, beginnt der Mann die Kinder zu filmen und vor der Kamera auszufragen. Wie sie heißen. Wie alt sie sind. In welche Schule sie gehen, welchen Beruf ihre Eltern ausüben und mehr. Einige Stunden lang streift der Unhold mit seinen Opfern durch Wald und Wiesen, fragt und filmt die weinenden Kinder. Er befiehlt dem 7jährigen, auf den höchsten Baum der Umgebung zu klettern. Dabei darf ihm der geschicktere 8jährige helfen. Durch die Unterstützung des großen Bruders schafft es der Kleine, die Höhe von 10–12 m zu erreichen. Der Größere muß wieder hinabklettern. Nun befiehlt der Mann, immer die Kamera am Auge, dem Kleinen hinunterzuspringen. Meine Lebensgefährtin rief aus, das kann doch nicht wahr sein. Heinrich antwortete, es sei wahr, im Teletext würden die Ereignisse auf 8 Seiten genau geschildert. Meine Lebensgefährtin bat ihn, in seinem Bericht fortzufahren. Heinrich erzählte, der Mann habe gedroht, im Fall einer Sprungverweigerung die ganze Familie auszurotten, angefangen hier mit den beiden Geschwistern. Als sich das Kind lange sträubt, verstärkt der Mann seinen Druck und versichert ihm im Gegenzug, ihm wird nichts geschehen, er verspricht es, er wird ihn auffangen. So ist der Kleine schließlich gesprungen und folgerichtig gestorben. Auch dabei ist gefilmt worden. An dieser Stelle warf meine Lebensgefährtin ein, der Täter würde bald gefaßt. Gewiß habe er sich durch seine Stimme verraten. Nun sei sie überzeugt, das Video werde ausgestrahlt. Schon um den Täter von Zuschauern anhand seiner Stimme identifizieren zu lassen. Heinrich antwortete, so sicher sei dies nicht. Der Täter habe seine Stimme völlig verstellt und hoch und krächzend gesprochen. Übrigens seien Fernsehteams aus der ganzen Welt unterwegs in die Weststeiermark, wegen der Unfaßbarkeit der Tat. Frauenkirchen, die Opfergemeinde, sei lt. Teletext im Belagerungszustand. Eine Schlagzeile laute: Das Verbrechen geht um die Welt. Eine Hundertschaft von Journalisten sei vor Ort, die Mutter der Kinder in die psychiatrische Anstalt Am Feldhof eingewiesen, das überlebende Kind in künstlichen Tiefschlaf versetzt. Im Haus ertönte ein Schrei. Eva kam herausgestürmt. Weinend jammerte sie, wobei sich ihre Stimme überschlug, sie wolle nichts mehr von dieser entsetzlichen Sache hören. Heinrich solle endlich still sein. Sie halte es nicht mehr aus. Sie zitterte am ganzen Körper, ballte die Fäuste und schluchzte. Meine Lebensgefährtin umarmte sie. Heinrich blieb am Fenster stehen. Er biß an fingernagelnaher Haut und schwieg. Es dauerte ca. 8–10 Minuten, bis Eva wieder zu ihren Gastgeberpflichten zurückkehren konnte (Abwaschen etc.). Meine Lebensgefährtin sagte zu Heinrich, es sei wirklich besser, wenn er sich mit Einzelheiten dieser grauenhaften Begebenheit etwas zurückhalte. Auch ihr gehe dies mehr an die Nieren als alles, was sie seit langem aus der Zeitung oder dem Fernsehen erfahren habe. Diese Bemerkung löste eine Diskussion aus, ob man von in unmittelbarer oder relativer Nähe geschehenen Unglücksfällen weitaus stärker betroffen sei als von Dingen, die weit entfernt in der Welt geschehen. Heinrich erwähnte weinende Jugoslawen und stellte diese ausgemergelten Äthiopierkindern gegenüber. Außerdem brachte er als Beispiel ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch (er erinnerte sich nicht genau) zur Sprache, das oder der 50000Menschen das Leben gekostet hatte (die Zahl könnte höher oder geringer sein, wieder ließ ihn hierbei sein Gedächtnis im Stich). Diese Katastrophe war in einem sehr weit entfernten Land in Asien oder Südamerika passiert. Bei uns hatte sie kaum Nachrichten nach sich gezogen. Auch er selbst habe bei weitem nicht solches Grauen verspürt wie jetzt. Das stimmt, sagte meine Lebensgefährtin. Sie gehe ebenfalls über die Erdbebennachricht mehr oder minder schulterzuckend hinweg, der Mord an den Kindern hingegen rühre an das Tiefste ihrer Seele. Wohl, weil es so nahe geschehen sei. Heinrich ergänzte, es sind Kinder, Sonja. Das komme hinzu. Ich erinnerte daran, daß wir Tränen nur wahrnehmen, wenn wir sie sehen, und daß wir die Gesichter kennen müssen, um ihr Leid fühlen zu können. Dazu passe auch Heinrichs Theorie. Jugoslawische Gesichter seien uns vertrauter als die von schwarzen Wüstenbewohnern. Meine Lebensgefährtin und Heinrich gaben mir recht. Eine Weile herrschte Schweigen. Alle Anwesenden beobachteten die Katzen, die über den Hof spazierten bzw. herumlagen u. sich von Zeit zu Zeit kratzten. Meine Lebensgefährtin merkte an, Heinrich habe die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Trotz aller Gräßlichkeit wolle sie wissen, wie das zweite Kind zu Tode gekommen sei. Mit gedämpfter Stimme, um seine Frau nicht erneut aus der Fassung zu bringen, berichtete Heinrich, was er im Teletext gelesen hatte. Er stellte jedoch voran, daß in ca. 25 Minuten eine Sondersendung aus dem kaum 10