Lisa - Thomas Glavinic - E-Book

Lisa E-Book

Thomas Glavinic

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Beschreibung

Lisa, eine Schwerkriminelle, begeht auf der ganzen Welt rätselhafte Verbrechen. Die Zeichen mehren sich, dass ein Mann ihr nächstes Opfer wird: Sie ist bereits in seine Wohnung eingebrochen. Doch sie bleibt unsichtbar, außer ihrer DNA gibt es keine einzige Spur. Verschanzt in einem verlassenen Landhaus, mit reichlich Whiskey und Koks, spricht der Mann jeden Abend per Internet-Radio zu einem virtuellen Publikum. Komisch bis zum bitteren Ende erzählt Thomas Glavinic aus Österreich vom unsichtbaren Grauen der virtuellen Welt. "Lisa" ist ein Meisterwerk zwischen Humor und Horror, ein Psychogramm des Grauens. Denn Lisa ist überall.

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Seitenzahl: 242

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Thomas Glavinic

LISA

Roman

Carl Hanser Verlag

eBook ISBN 978-3-446-23691-2

© Carl Hanser Verlag München 2011

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

www.thomas-glavinic.de

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

LISA

1

Ich bilde mir nicht ein, wahnsinnig viel über die Menschen zu wissen. Aber ich weiß immerhin, dass so ziemlich das Einzige, was einem Menschen bei anderen Respekt verschafft, seine Unabhängigkeit ist.

Und weil ich das über die Fußballfans gesagt habe, alles die reine Wahrheit. Ich sehe sie vor mir, die Schlachtenbummler, die mitreisenden Anhänger, die auf der Heimfahrt im Zug das Spiel diskutieren, Jeansjacke und weiße Socken, gelbe Zähne, Schnauzbart, Schal und Fahne, die Bierdose in der Schwielenhand. Solche Kapazunder sollten das Wahlrecht verlieren. Ich habe nichts gegen Fußball, aber das geht zu weit, solche Ablenkungsmanöver von der Wirklichkeit gehen absolut zu weit.

Jaja, ich bin ungerecht, aber wer wäre das nicht in meiner Situation. Ich meine, die Lage kann man nicht gerade als ideal bezeichnen. Wenn ich mich vor einem Rudel Hooligans verkrochen hätte, die jemand mit Crack und russischem Billigsprit abgefüllt hat, würde ich mich besser fühlen, wenn nur solche Idioten hinter mir her wären, wie schön wäre das.

Heute war nicht mein Tag. Vorhin habe ich mir auf dem Holzstuhl im Bad einen Schiefer eingezogen, und wo, am Hintern. War das ein Spaß, den da rauszukriegen, das war ein NASA-Projekt. Habt ihr euch schon mal mit einer Pinzette da hinten bearbeitet, in der freien Hand einen kleinen Spiegel? Eben. In einer solchen Haltung sieht nicht einmal George Clooney würdevoll aus. Und dabei ist es passiert, da habe ich mir auch noch den Rücken verrissen.

Aber wenn ich ein bisschen nachdenke, fallen mir erheblich größere Probleme ein als mein Rücken und mein Sitzfleisch und die Würde. Noch immer spiele ich mit dem Gedanken, in ein Militärdepot einzusteigen und rings um das Haus Tretminen zu legen. Darüber hinaus habe ich keine Ahnung, wann wir hier wieder wegkommen. Vor allem weiß ich nicht, wo Hilgert steckt. Sein Handy ist tot. Bei der Kripo wimmeln sie mich seit Tagen ab, dabei ist das immerhin die Polizei, die müssten Bescheid wissen, wo sich ihre Leute herumtreiben. Oder imstande sein, es herauszufinden. Oder es wenigstens herausfinden wollen! Pfah.

Hallo übrigens an alle, die heute zum ersten Mal zuhören. Ich arbeite hier mit ziemlich elender Software, ich sehe nicht einmal, wie viele Hörer ich habe. Aber ich bin dieses Livestream-Programm seit Jahren gewohnt und zu faul, um mich umzustellen.

Mir war es immer egal, wie viele Hörer ich hatte, ich habe mich da niemals irgendwelchen Illusionen hingegeben. Internetradio ist eine prima Sache, doch wer erwartet, dass ihm Millionen lauschen, steigt wahrscheinlich auch mit glänzenden Augen bei Pyramidenspielen ein. Mir ging es immer darum, meinen Hörer zu finden, den, der mir zuhört, weil er versteht, was ich mache. Mir ging es darum, live zu senden, live Radio zu machen, keine Podcasts, direkt hinaus, das fand ich immer schon faszinierend. Lange bevor ich nur ahnen konnte, dass ich mal in diese isolierte Situation kommen könnte und blablabla. Was ist los, ich klinge ja wie ein Soziotrottel. Ich muss was ziehen.

Jeden Abend schreibe ich meinen Namen mit Kokain auf den freien Schreibtisch, saublöde Angewohnheit, ich weiß, und jeden Abend ist schon um Mitternacht nichts mehr davon übrig, obwohl ich einen langen Namen habe und die Buchstaben sehr groß sind. Zum Glück bin ich keiner von denen, die auf Koks zu Eisbergen werden, ich bin zu menschlichen Regungen nach wie vor fähig, ich fange bloß zu quasseln an. Außerdem macht der Alkohol einiges wett.

Moment, ich muss nachsehen, ob Alexander schläft. Wir waren vier Stunden im Wald unterwegs, ich sollte also jetzt Ruhe haben. Naja, bei dem könnt ihr nie wissen.

Alles in Ordnung. Ich würde mir gern das erste Glas des Abends einschenken, aber wer weiß, was ich dann wieder aufführe, vorgestern wars schon schlimm genug, ihr wisst ja. Die Scherben habe ich noch nicht weggeräumt, die liegen als klebriges Mahnmal in der Ecke, und die Schuhsohlen schmatzen.

Hilgerts Verschwinden ist so eine Sache. Vielleicht steckt ja … Augenblick …

… gar nichts dahinter, vielleicht bilde ich mir nur etwas ein, vielleicht bilden die sich alle nur etwas ein und haben sich getäuscht, die ganze Geschichte ist doch auch … Aber natürlich weiß ich, dass sie recht haben. Als einzige andere Möglichkeit kommt in Frage, dass er in so einer Hütte sitzt wie ich. Doch dafür ist er nicht der Typ, in tausend Jahren nicht.

Hehe, tausend Jahre ist gut.

Ich bin so sicher, wie ein Mensch einer Sache nur sicher sein kann. Alles, was Hilgert herausgefunden hat, stimmt. Wir haben es mit dem Schlimmsten zu tun, das …

Ein Scheiß ist das hier … Moment, Zigarette … Zigaretten gehen mir aus. Wenn die weg sind, weiß ich echt nicht mehr, wie es weitergehen soll, dann verliere ich wirklich die Nerven.

Nein, meinen richtigen Namen verrate ich euch nicht, ich bin ja nicht ganz blöd, nennt mich Tom. Tom, das ist eine Idee von mir. Ich bin eine Idee von Tom.

Okay. Also von vorn. Für all jene, die gestern und vorgestern nicht zugehört haben.

23. Juli. Vor drei Jahren. Da hat man bei uns zu Hause eingebrochen. Kommen wir aus dem Urlaub zurück, und Alex sagt: Was isn mit dem Schloss los? Aufgebrochen ist es, steht in schiefem Winkel nach vorn ab, da genügt ein Blick, Besuch bekommen. Ich hinein, mit dem Badmintonschläger als Bewaffnung, habe wohl befürchtet, den Dieb noch anzutreffen, muss ziemlich lustig ausgesehen haben. Ist aber keiner mehr da. Und auch nicht da sind der Laptop, die Stereoanlage und seltsamerweise unsere Dokumente. Ausweise, Geburtsurkunden und so. Den Fernseher hatten sie dagelassen, war ein älteres Modell und zudem groß und sperrig, und gestunken hat er, wenn er länger lief, weil mal die Käsesauce hinten reingeronnen ist, der war noch von Kathas Eltern, dem Herrn Politprofi und der Frau Ich-nehme-die Valium-nur-ganz-selten.

Alles in allem … na fix noch … alles in allem ein verschmerzbarer Verlust, wenn ihr bedenkt, dass sie die Münzsammlung hätten finden können, weiß nicht, was die wert ist, zehntausend Euro vielleicht, keine Ahnung. Von den Daten auf dem Laptop hatte ich back-ups, die Versicherung hat anstandslos gezahlt, also alles okay.

Die hätten wir reinlegen können, die haben nicht einmal nachgefragt! Auf diese Weise sind wir zu einem neuen Laptop und einer Stereoanlage gekommen, und fast muss ich sagen, damals hätte ich den Gaunern den Fernseher obendrein gegönnt. Aber Versicherungsbetrug, das ist nichts für mich, ich kann nicht einmal am Sonntag die Zeitung stehlen. Nicht weil ich Angst habe, erwischt zu werden, sondern weil ich Betrug nicht leiden kann, ich hatte immer das Gefühl, diese Unehrlichkeit bekomme ich anderswo zurück.

Keine Frage, ich kenne Leute, die sehen das anders. Die meisten sehen das anders, gerade bei der Versicherung. Versicherungen sind Schweine, hört man immer, die betrügen euch, wo sie nur können, ihr zahlt jahrelang, und wenn ihr in der Klemme steckt, drücken sie sich um die Entschädigung herum, solche Leute muss man geradezu betrügen, wenn man die Gelegenheit hat, und so weiter, das sagen sie, die meisten sagens, und mir passt das nicht. Wenn ich mit dem Betrügen anfange, darf ich mich nicht beschweren, wenn zurückbetrogen wird. Mich haben sie aber noch nicht betrogen. Ich meine, ich hatte kein Recht dazu, ich weiß nicht, wie ihr das einschätzt, jedenfalls finde ich, es gehört sich nicht. Wenn das alle machen, wenn alle hin- und herbetrügen, was ist das dann für eine Welt? Wenn ich davon ausgehen muss, dass mich sowieso jeder betrügen will?

Scheint schon loszugehen mit der Quasslerei.

Bin ich durstig. Meine Lippen springen auf, so heiß ist es hier. Ich glaube, ich hole mir doch mal ein Bier. Nein, zuerst was ziehen, und dazu zwei Liter Wasser. Bin gleich zurück.

Worauf ich hinauswollte – ach ja, ausgesehen hat es in der Wohnung, unfassbar. Hinter den Bücherregalen schauen sie natürlich immer zuerst nach, aber so schlau bin ich auch, die Münzen hatte ich unter dem alten Kinderspielzeug. Wir haben drei Tage aufgeräumt, nachdem die Polizei abgezogen war.

Die haben ihre Sache gründlich gemacht, das muss man ihnen lassen. Deswegen ist die ganze Angelegenheit überhaupt so ausgeartet, weil die sorgfältig vorgegangen sind. Ein Papiertaschentuch war der Auslöser. DNA-Spuren. Fingerabdrücke hatten die selbstredend eine Menge, doch das Taschentuch hat ihnen zusätzlich die DNA von einem der Besucher verschafft.

Gründlich waren sie, hat Katha gesagt, trotzdem, helfen wird das nichts, die kriegen sie nie. Du hättest die Sicherheitstür einbauen lassen sollen, du Mondkalb, du stures, deine Schuld, das ist wieder mal typisch, das war ja klar.

Und ich? Mir wars egal. Ich wollte mich mit ihr nicht rumstreiten, sie hatte sowieso immer das letzte Wort, und in dem Fall war es mir wirklich egal, für die verdammte Tür hätte ich das Doppelte von dem gezahlt, was die mitgenommen hatten. Obwohl, ich wäre denen mit einer Straßenwalze über ihre niederträchtigen Räuberbirnen gefahren, wenn ich sie erwischt hätte, das muss ich zugeben. Der Moment, in dem du vor der Tür stehst. Kommst vom Urlaub heim und zack. Es ist so hässlich. Es ist so eine Schnüffelei. Jemand steckt seinen blöden Rüssel in deine Sachen.

Dabei hatten wir Glück, da gibt es noch ganz andere, da gibt es welche, die scheißen dir ins Bett. Kein Witz. Machen angeblich viele. Einbrecher, meine ich. Da hätte man allerdings mordsmäßig DNA. Aber was denkt so ein Lümmel schon groß an die DNA. Wenn es keiner aus dem Osten ist von den organisierten Banden, dann ist es ein Junkie, der hat andere Sorgen als moderne Ermittlungsmethoden, der will einfach schnell an den Zaster. Der Rumäne hockt bereits mit nacktem Hintern auf deinem Bett, da ruft sein Spießgeselle, hey Liviu, nicht scheißen, denk an die DNA! Na, wohl eher nicht.

Wo war ich? Moment, ich muss nachsehen, ob ich die Tür abgesperrt habe. Ich kann mich nicht erinnern, das ist ja komisch.

Ich komme mir vor wie Jack Nicholson in diesem Film, wo er durchdreht, allein im Hotel mit der Frau und dem Kind, nur dass hier heißer Sommer ist und keine Frau und ich nicht durchdrehe.

Ich drehe sicher nicht durch, ich habe überhaupt keine Lust dazu. Deswegen rede ich hier hinein, damit das nicht passiert, damit ich wenigstens das Gefühl habe, noch im Kontakt mit den Menschen zu stehen. Denn ich komme hier nicht weg, das … ich will am Leben bleiben.

Das ist alles zu wirr, könnt ihr mir folgen? Ich kann mir ja nicht mal selbst folgen.

Ich hatte allerdings immer schon eine Affinität zum blinden Hinaussprechen in die Welt, ich war früher CB-Funker. Lange Zeit zusammen mit meinem Vater. Einmal haben wir mit König Hussein gesprochen. Also sagen wir, mit jemandem, der sich als König Hussein vorgestellt hat.

Da war ich noch ein Kind. Kann mich genau an seine Stimme erinnern. Gerasselt hat sie wie bei einem Raucherbeinkandidaten.

Ich fand es schön, das an Alex weiterzugeben, und ab und zu machen wir es. Funken, meine ich. Und Internetradio, allerdings ist das in gewisser Weise glatter, weniger roh, weniger, na ja, blödes Wort, wenn ich sage, weniger archaisch. Selige Abende, im Freien sitzen, hinauslauschen ins Universum, die Grillen machen grühgrühgrüh, im Funkgerät rauscht es, dann eine Stimme, ein Schwachkopf meldet sich oder ein feiner Kerl, ihr wisst es nie, jedenfalls ist es keine Frau, Frauen funken nicht.

Gibt ja einige, die beginnen mit dem Funken, weil sie von der schönen Frau träumen, die sie eines Nachts im Funk kennenlernen wollen. Also zunächst mal ist es die Stimme, die sie kennenlernen, und der erzählen sie, was sie für eine lange Antenne haben, und diese Frau wollen sie treffen, und in der draufgängerischen Phantasie solcher Leute ist sie nicht nur wunderschön, sondern auch willig wie eine Straßenkatze und reich wie Paris Hilton.

Hallo, nicht alle Funker sind so, schönen Gruß, Jungs, falls sich einer von euch ins Internet verirrt hat, ich sage nur, ein paar gibt es. Oder gab es früher. Die sind wahrscheinlich alle hierher abgewandert. Im Internet trefft ihr ab und zu wirklich eine Frau. Ich habe Katha auf die Art kennengelernt.

Na ja, ein bisschen. Irgendwie.

Taxifahrer sind übrigens nicht anders, die glauben alle, dass eines Tages die Traumfrau bei ihnen einsteigt. Hört einer zu? Ich habe eine Nachricht für dich: Sie wird nie kommen! Nimms leicht, mein Freund.

Träume. Taxifahrerträume. Ich will keine Vorurteile verbreiten, aber Taxifahrer, muss ich weiterreden? Sagen wir es so: Es gibt Städte, da sind Taxifahrer wirklich die allerärgsten Kanaillen. Klar, nicht überall. Aber jedenfalls dort, wo sie viel zuwenig bezahlt kriegen, wo es viel zu viele Taxis gibt, wo nur noch diejenigen den Job machen, die sonst nirgends mehr eingestellt werden.

Reden wir von Wien, ah, ah. Ich steige am Bahnhof aus, setze mich ins Taxi, nenne die Adresse meiner Tante und habe garantiert einen völlig Wahnsinnigen am Hals. Einen, dem die Läuse durch den Bart kriechen, oder einen, der mit leuchtenden Augen von der Hitlerjugend erzählt, oder einen, der einen Fernseher dabeihat und während der Fahrt Pornos schaut, oder einfach nur einen mit einer akuten Psychose und Küchenmesserblock neben sich, jedenfalls ist es sozusagen ein Naturgesetz, dass ich eine unvergessliche Unterhaltung habe während des Transports.

Gibt es eigentlich so etwas wie eine gesetzliche Höchstgrenze für Gestank in Taxis? Darf der Wagen so alt sein wie der Fahrer, wenn der Fahrer schon so alt ist wie mein Vater?

Also.

Gut. Lassen wir die Taxifahrer in Ruhe. Sie sind nicht überall gleich. Ich habe wieder Nasenbluten, Sekunde.

Ich bin ja keiner, der Koksen schönredet. Ich stehe dazu, ich zock mir manchmal einen und derzeit sogar etwas mehr als das, aber ich glorifiziere da nichts, so blöd bin ich nicht. Und die Finanzkrise, die haben wir auch dem Weißen zu verdanken, das lasst euch gesagt sein. Weil all die Leute, die uns das eingebrockt haben, was glaubt ihr, was die sind? Kokser. Alle miteinander. Gebt euch da keinen Illusionen hin. Da lachen ja die Hühner! Die koksen alle, so wie alle überall koksen, die es sich leisten können und ein bisschen unternehmungslustig sind. Und die Börsenheinis, die sind das. Die haben sich die Rübe weggekokst und geglaubt, sie sind die Größten, und dann haben sie spekuliert in der Überzeugung, sie können nicht verlieren. Das Resultat dürfen wir uns die nächsten Jahrzehnte noch genauer ansehen. Beziehungsweise bezahlen wir dafür.

Ich wollte ja ganz was anderes …

Madre dios, was …

Heutzutage ist Funken kein weitverbreitetes Hobby mehr, doch ich wollte es dem Kleinen mitgeben. Gerade wenn ich ihm das Internetradio zeige, muss ich ihm erklären, was davor war, womit man sich früher bemerkbar machen konnte.

Ich mag auch andere Sachen, die man früher gemacht hat. Natur gehört dazu, ich mag es, mich draußen zu bewegen. Ich mag den Wind und das Wetter und das Gras und die Bäume, ich mag das alles, ich mag Zelte! Zelte sind spitze!

Was rede ich da von Zelten, ich höre mich an wie ein Jungscharführer, ich will mich ja bloß ablenken. Ich schaue mal zu Alex und hole mir unterwegs etwas zu trinken. In spätestens zwei Stunden werde ich ziemlich schriller Stimmung sein, aber was solls.

Ah, das geht runter.

Was ich am ersten Schluck des Abends seit jeher mag, sind die leichten Kontraktionen der Prostata, die darauf folgen. Dieses Prickeln gefällt mir.

Ich weiß, wie beknackt sich das anhört, und ich habe keine Ahnung, ob es nur mir so geht oder ob das verbreitet ist.

Na gut, das Thema müssen wir nicht auswalzen. Ich habe keine Theorie, wie der Alkohol die Prostata beeinflussen könnte … hmmm.

Ja, die Frau. Monströs.

Reden wir vom Anfang, alles harmlos erst mal, alles ganz erträglich und nicht zum Fürchten.

Zwei Wochen nach dem Einbruch erfahre ich so nebenbei von einem Polizisten, sie wissen, eine Frau war dabei, die Frau hat sich die Nase geputzt oder so. Super, sage ich, und was weiter? Nichts weiter, sie melden sich, wenn sie mehr wissen. Von Serienmorden kein Wort.

Einige Zeit habe ich dann nichts mehr von ihnen gehört, und ich dachte, das seis gewesen. Hat mich nicht weiter bekümmert, nachdem die Versicherung gezahlt hatte, ich war bloß ein wenig verwundert. Unter einem gemeinen Einbrecher stellt man sich ja in der Regel keine Frau vor, sondern einen unrasierten haarigen Schwitzekerl.

Ja, gut. Auch Frauen haben mitunter lange Finger, aber sie brechen nicht ein, das ist ihnen viel zu grob, viel zu unraffiniert.

Nun wusste ich, dass sich eine erkältete Frau meinen Laptop unter den Nagel gerissen hat. Was soll man groß mit einer solchen Information anfangen? Am wenigsten gefiel mir daran die Sache mit den Fotos und den Videos von Katha und mir auf der Festplatte, ihr wisst schon. Auf denen sah man nämlich nicht nur das untenrum Wesentliche, sondern auch unsere Gesichter, und ich hatte keine Lust, eines Morgens im Büro aufzutauchen und alle stehen grinsend rum und reiben sich die Hände, weil sie eine Überraschung im Internet gefunden haben. Eine Weile hatte ich Schweißausbrüche, wenn ich auf YouPorn zufällig auf ein Bild oder ein Frameset gestoßen bin, das mich an Katha oder gar mich selbst erinnert hat. Uah, das darf ich mir nicht mal jetzt vorstellen.

Später dachte ich, wahrscheinlich hat die alles gelöscht und das Ding verkauft. Jedenfalls waren das damals meine Gedanken über die Frau. So ganz naiv.

Ich mag nicht mal von ihr reden, ich kriege Gänsehaut, so wie ich hier sitze, dabei ist es schweineheiß!

Ich muss was ziehen, sofort.

Das Zeug hat mir jemand verkauft, der nur zwei- oder dreimal im Jahr etwas für mich hat, aber wenn, dann kriege ich genug für zwei Monate, und die Qualität ist okay. Was man daran merkt, dass man darauf gut schlafen kann. Polizei hört nicht zu? Obwohl, was interessiert sich die für einen Kokser mehr oder weniger. Und wenn, ihr findet mich nie. Sucht lieber Hilgert, ihr Quallen.

Ich will plötzlich dauernd Worte mit Qual sagen. Qual…ifikation. Qual…men. Qual, der Wal.

Ah. Bruha!

Oft kippe ich zehn Minuten in mich rein, da laufen die Gedanken. Ist für euch nicht sehr unterhaltsam, schon klar.

Manchmal hat man plötzlich einen Satz im Kopf und weiß nicht, woher. Also nicht nur Wörter mit Qual, wie vorhin, mitunter kriechen mir manche Sätze tagelang immer wieder über den Weg. Neulich ging mir die ganze Zeit »All work and no play makes Tom a dull boy« durch den Kopf. Ständig den doofen Satz im Hirn, und ich weiß nicht mal, was das heißt.

Ein Freund von mir, der hat jahraus, jahrein jeden Tag den Satz »Vernichtet die Feinde der Demokratie!« im Kopf. Das bedeutet wenigstens etwas. Bei mir sind es ausnahmslos Seltsamkeiten. Man sucht sich die Sätze nicht aus, die Sätze kommen von selbst.

Ich muss noch einmal kurz weg, einen Blick nach draußen … Ihr könnt sagen, ich bin überreizt, ich sehe Sachen, die sonst keiner sehen würde. Trotzdem bin ich mir sicher, dass gestern Nacht jemand ums Haus geschlichen ist. Keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte, nein, das heißt, ich habe durchaus eine Idee, aber das kann einfach nicht sein.

Doch. Etwas liegt in der Luft, ich weiß es und der Junge weiß es. Er ist ja nicht blöd, er läuft angespannt herum, will sich nichts anmerken lassen.

So. Ich mache einen Rundgang und bin in fünf Minuten zurück.

Noch alle da?

Wisst ihr eigentlich, wo ich bin? In einer Berghütte. Hütte ist zu klein gesagt, es ist ein Landhaus. Ich verpeste den ersten Stock. Fünf Zimmer, vier davon ziemlich karg eingerichtete Schlafzimmer, in einem schläft Alex, und dann gibts noch die Küche. Bauerneinrichtung, Holz, niedrige Decken, der Ofen qualmt, einen E-Herd hat der Bretterpalast bestimmt nie gesehen. Wie denn auch, die haben hier garantiert keinen Starkstrom.

Ich bin in meinem Schlafzimmer, wo auch der Laptop und das Mikro mit dem Wackelkontakt stehen, der hoffentlich nicht so oft wackelt, dass ihr gar nichts mehr mitkriegt. Ich habe das Ferienhaus wegen des Internetempfangs gemietet, im Prospekt stand es drin, hier gibts Internet, natürlich nur, wenn mans selbst mitbringt. Stand genau so drin: Internet muss selbst mitgebracht werden. Habe ichs halt mitgebracht.

Wir sind die einzigen Gäste, ich habe das ganze Haus gemietet. Das ganze seltsame Haus.

In jedem Zimmer hängt ein Kalender von vor fünf Jahren, sogar auf den Gängen. Da gibts alles. Katzenkalender. Clownkalender. Lokomotivkalender. Pin-up-Kalender, der hat Tankstellenniveau. Aber es gibt auch richtig kranke Sachen, Insektenkalender zum Beispiel. Wer stellt so was her? Jetzt machen wir mal einen Kalender mit schönen großen Ameisen und Käfern und Hornissen? Wem fällt so etwas ein, und wer kauft es und warum?

Gegenüber steht ein verlassenes Gasthaus. Erinnert mich ein wenig an das Haus in Slowenien, in dem sie die drei Brüder gefunden haben, die unsere Freundin so zusammengebunden hatte, dass sie sich gegenseitig erwürgen mussten. Interessanterweise haben die zwei anderen den Jüngsten zuerst…– na, egal. Da oben war sicher drei, vier Jahre niemand, bis ich vor ein paar Tagen rein bin. Eine fünf Jahre alte Zeitung ist rumgelegen. Habe darin gelesen, ich mag alte Zeitungen. Rufe von gestern! Macht schon nachdenklich, was wir vor fünf Jahren alles nicht wussten. Welche Kriege und Konflikte kommen würden, welche Katastrophen uns erwarten würden. Wer sterben würde.

Früher hatte ich die Angewohnheit, die Tageszeitung nicht wegzuwerfen, sondern in meinem Arbeitszimmer zu stapeln, um sie in ein paar Jahren zu lesen und mich zu erinnern… Tja, ist aber nichts draus geworden, Katha hat sie weggeschmissen. Alte Zeitungen gibt man doch zum Müll! Quackquackquack. Na ja. Schwamm drüber.

Bin eine Weile durch das Gasthaus gestapft. Alex wollte nicht mit, war ihm zu gruselig. Irgendwie verständlich. Mit acht hatte ich auch so meine Ängste, ohne dass ich je herausgefunden hätte, ob sie berechtigt waren. Das erfährt man nie. Wer weiß, womöglich ist viel mehr dran an diesen Kinderahnungen, als wir uns vorstellen können.

Habe mein Telefon angehängt. Und eine SMS an Walter rausgeschickt, meinen Bruder, aber ich will ihn nicht zu sehr beunruhigen.

Hmmm.

Walter sitzt sicher auf seiner ameisenverseuchten Veranda und schießt Papierflieger auf die Gasse. Oder bastelt an einem Flaschenschiffchen. Ein kahler, nervöser Typ mit einer Nase, so was hat die Welt noch nicht erlebt, und wenn er euch mit dem linken Auge ansieht, schaut er mit dem rechten in seine linke Brusttasche. Wir reden nicht darüber, doch er dürfte nur mein Halbbruder sein.

Er kennt die ganze Geschichte und macht sich Sorgen. Am Anfang war er skeptisch, jetzt weiß er nicht mehr, was er glauben soll. Gibt er immerhin zu. Er hat keine Ahnung, wo wir sind, nicht mal ihm sage ich das.

Außerdem hat der seine eigenen Probleme, dem ist vor acht Jahren eine Hantel aus der Hand gerutscht, und seither spürt er vom dritten Lendenwirbel abwärts nichts mehr. Als mein Vater starb, habe ich auf mein Erbteil verzichtet, damit Walter sich die Betreuung leisten kann. Ich hätte das Geld schon genommen, und nicht ungern, doch erstens hätte ich es sowieso bloß verjuxt, zweitens habe ich genug, und drittens hat er es wirklich nötig. Irgendwelche Gründe werden die da oben eines Tages brauchen, um mich ins Paradies aufzunehmen. Pfui Teufel, ist das Wasser warm, ist ja abscheu…

Ablasshandel. Den wird es wohl immer geben. Möchte wissen, wie viele alte Frauen auf dem Land heute noch von ihrem Pfarrer ins Gebet genommen werden, ihr Haus der Kirche zu vererben, weil es der Herr lohnen wird.

Der eine, den sie so spät gefunden haben, der mit den drei Eisenstangen quer durch den Schädel, der war ja Pfarrer. Hat mich sehr beeindruckt. Nicht, was sie mit ihm gemacht hat, ihre Bestialitäten war ich da längst gewöhnt.

Übrigens versucht es Walter mit Akupunktur. In Bezug darauf bin ich der Skeptiker, doch nachdem er sich seit zwei Jahren Nadeln reinhauen lässt, hat er bereits acht Zentimeter Gefühl im Körper zurückgewonnen, acht Zentimeter nach unten. Da staune ich. Von dem habe ich übrigens die Soundkarte, die in diesem Laptop steckt, wie auch das Mikro, also Beschwerden bitte an ihn.

Internet funktioniert, der Handyempfang hingegen ist hier nicht so prächtig. Ich habe die Bitrate eher mittel eingestellt, das heißt, ich hoffe darauf, dass ihr mich gut versteht. Überprüfen kann ich es leider nicht.

Wenn ich vollkommen störungsfrei telefonieren will, muss ich ein paar Kilometer den Berg hinunter. Anfangs habe ich den Jungen hiergelassen und bin einfach gefahren, mittlerweile hat sich das geändert. Moment!

Jetzt geht das schon wieder los. Kaum ist es dunkel, höre ich sonderbare Geräusche. War natürlich nichts.

Das Gasthaus. Lassen es einfach verfallen, ein schönes altes Gasthaus, mit einer eigenen Geschichte.

Wahrscheinlich bringt es eben kein Geld. In der Woche, seit wir hier sind, haben wir nicht einen Menschen getroffen. Ich bin mir fast sicher, dass Alex und ich die einzigen Seelen im Umkreis von mindestens zehn Kilometern sind, abgesehen natürlich von Katzen und Mardern und dem ganzen anderen Getier. Sollten wir jedenfalls sein.

Eine Begegnung mit einer Schlange hatten wir vorgestern. Eigentlich wäre ich davon ausgegangen, dass Alex wie der Blitz auf den nächsten Baum springt, aber er hat mir nur ruhig befohlen zu warten. Ich also Sicherheitsabstand eingenommen und das Vieh im Auge behalten. Fünf Minuten später wetzt er wie ein Blöder den ganzen Hang vom Haus herab und winkt und schreit, in der Hand ein Buch. Ich kann mir schon denken, was für eine Nachricht er da für mich hat, und gehe noch zwei Meter zurück. Moment, Moskito!

Das Buch war eines über Schlangen. Und die Schlange, die ich die ganze Zeit betrachtet hatte, so ziemlich das giftigste Vieh, dem ihr in unseren Breiten begegnen könnt. Sehr selten überdies, eine Trophäe für jeden Schlangenkundler. Wir haben ihr noch einmal unseren Respekt bekundet, ihr eingeschärft, vom Haus wegzubleiben, und uns schleunigst verzogen.

Ich wollte noch etwas über das Gasthaus sagen, aber ich habs vergessen.

Okay. Okay. Langsam.

Die Polizei kriegt bald raus, dass die Frau, die in unserer Wohnung ein Taschentuch verloren hat, auch an anderen Straftaten beteiligt gewesen ist. Ich sage das deshalb so neutral, weil es sich bei den anderen Vergehen um Schwerwiegenderes gehandelt hat als um einen Wohnungseinbruch. DNA-Spuren dieser Frau sind im Lauf vieler Jahre nahezu bei allen denkbaren Verbrechen gefunden worden, das beginnt beim Hirsediebstahl am weststeirischen Bauernhof und endet bei mehrfachem Foltermord, dass einem schon bei den weniger schlimmen Details kotzübel wird. In Ungarn hat sie eine junge Frau entführt, gequält und mit ihren eigenen Haaren erwürgt, in Prag gab es diese Giftserie, bei der sie sicher sind, sie wars, in der Nähe von Warschau hat sie drei junge englische Adelige aufgehängt, in Genua einem Obdachlosen die Nieren herausgeschnitten und in München einem Journalisten die Eier, irgendwo in Dänemark zwei Lesben die Brüste mit der Kettensäge entfernt, bei Nantes einen alleinstehenden Rentner in einem Topf mit seinen eigenen Eingeweiden erstickt und so weiter und so weiter. Insgesamt soll die Frau an zwanzig Tötungsdelikten beteiligt gewesen sein.

Das ist die offizielle Zahl. Die inoffizielle Zahl, Hilgerts Zahl, da wird einem schwindlig. Aber sie haben nie an die große Glocke gehängt, dass die alle mit einer bestimmten Person zu tun haben.

Tötungsdelikt, wie sich das anhört.

Ich komme noch darauf zu sprechen. Es waren eben nicht gerade normale Morde. Also, normal, wie hört sich das an, so normal, wie ein Mord sein kann. Du böse, ich schieße dich tot und laufe weg, einen Tag später tatütata, banale Geschichten eben.

Ich rede ja nur noch Blödsinn. Ihr versteht es hoffentlich trotzdem.

Und wer meint, er kennt die Geschichte aus der Zeitung, Junge, du hast keine Ahnung, glaub mir, warts nur ab.

Was ich am Ziehen so mag, neben der Wirkung, versteht sich, sind diese Briefchen, in denen das Zeug verpackt wird. Die sind so hübsch gefaltet, das ist schon fast Koksorigami. So etwas auszupacken hat was von Weihnachten.

Hm.

Dass das Phantom aus meiner Wohnung ein anderes Kaliber ist, erfuhr ich erst Monate nach dem Einbruch. Da hatte ich die Sache bereits halb vergessen. So etwas ist irgendwann nur noch eine Geschichte, die ihr gelegentlich erzählt. Irgendwann ist das kein … kein bedeutsames Thema mehr, es belastet euch nicht wie am Anfang. Zumindest nicht, solange ihr nicht wisst, dass da eine Mörderin in der Wohnung war.

Ich muss ehrlich sagen, meine Finger wollen dauernd hinüber zu dem Origami-Kunstwerk. Aber das geht nicht, ich kann mir das nicht alle fünf Minuten ins Hirn schießen.

Zirbenschnaps. Wer kann so etwas saufen? Wenn es wenigstens Wacholder wäre. Ich sollte unten noch irgendwo eine Flasche Whisky haben. Hm. Eigentlich zwei, oder? Eine hole ich, wenn ich pinkeln gehe. Toilette ist nämlich unten. Spinnweben, Kriechzeug, Käfer, alles sehr natur.

Es ist jetzt stockdunkel. Ich mag heute nicht mehr raus. Ich gehe auch nicht mehr raus.

Ich würde mir gern einen runterholen. Weil mich das im wahrsten Sinn runterholt, mich auf die Erde zurückbringt, doch ich glaube, ich kriegs nicht mehr hin.

Das dürfte euch vermutlich gar nicht so brennend interessieren.

Ich hole den Whisky, vielleicht hat der günstigere Auswirkungen auf mich als dieser Biotreibstoff da. Woher ist der über…