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Zafzāfs besondere Stärke liegt darin, mit nüchterner Sprache und ohne überflüssige Dramatik tiefgehende Einsichten in die Lebensrealitäten seiner Figuren zu bieten. Es sind die kleinen, alltäglichen Momente, die in seinen Erzählungen die größten Spannungen und Offenbarungen tragen. Muhammad Zafzāf, einer der wichtigsten marokkanischen Erzähler der 60er und 70er Jahre, zeigt uns in dieser Sammlung von Kurzgeschichten mit scharfsinnigem Blick das Leben von Menschen, die im sozialen Gefüge der Gesellschaft oft unsichtbar bleiben. Ob Hippies, Schmuggler, notleidende Bauern oder Bettler – Zafzāf erzählt mit feiner Ironie, Wärme und Bitterkeit von den Herausforderungen der Menschen und eines Landes, das nach der französischen Kolonialzeit zwischen Armut, Spiritualität und sozialen Umbrüchen zerrissen ist. In Erzählungen wie "In der Pampa", "Das straffe Seil" und "Die Heuschrecke" lässt er die Leser tief in das alltägliche Leben eintauchen. Es sind die kleinen, alltäglichen Momente, die in seinen Erzählungen die größten Spannungen und Offenbarungen tragen und in denen sich die Hoffnungen und Ängste seiner Figuren entfalten. So auch in der Titelgeschichte, "Der King auf dem Platz", in der er ein absurdes, aber treffendes Bild der Absurditäten des Lebens zeichnet. Eine Gruppe von Menschen, die zusammen mit ihren Maultieren auf einen gewaltvollen Marsch geschickt werden, ohne zu wissen, wohin es geht oder warum. Zafzāf, ein Vorreiter der modernen marokkanischen Literatur, bietet eine einzigartige Perspektive auf das Leben der gesellschaftlichen Außenseiter Nachkolonialzeit. Mit ungekünstelten Einblicken in das Leben der gesellschaftlichen Ränder sind sie ein Spiegel der Widersprüche, die das moderne Marokko prägen. In Anerkennung seines schriftstellerischen Schaffens wird seit 2002 der angesehene "Mohammed Zafzāf Prize for Arabic Literature " als Teil des marokkanischen Literaturpreises vergeben.
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2025
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MuhammadZafzāf
Geschichten ausMarokko
Ausgewählt und aus dem Arabischen
übersetzt von Hartmut Fähndrich
Der Übersetzer dankt der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für ihre großzügige Unterstützung.
1. Auflage 2025
© Edition Faust, Frankfurt am Main 2025
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
www.editionfaust.de
Lektorat: Elvira M. Gross
Buchgestaltung, Satz: Kevin Mitrega, Schriftloesung
Druck und Verarbeitung: Gutenberg Press Ltd., Malta
ISBN: 978-3-949774-39-3
eISBN: 978-3-949774-40-9
In der Pampa
Der Besuch am Schrein
Das straffe Seil
Alltägliches
Die Heuschrecke
Männer und Maultiere
Die Krankenstation
Der heilige Baum
Das Bond-Street-Spiel
Dürre
Antonio
Ein Sommer ohne Ende
Der König der Dschinnen
Der King auf dem Platz
Der Straßenkehrer
Das Kinderwägelchen
Die Blumenhändlerin
Von Ratten und Vögeln
Borges im Jenseits
Anmerkungen
Nachbemerkung
Quellenangaben
Draußen fällt dichter Schnee. Obwohl schon zehn Uhr abends, kann man die Flocken beobachten, die sich als weiße Decke über alles legen. Drinnen zieht Achmad seinen Mantel enger um sich. Es ist kalt, wenngleich die beschlagenen Fensterscheiben eine Illusion von Wärme erzeugen.
»Man entkommt der Kälte nicht«, stellt die Frau hinter dem Tresen fest, wie um die ungemütliche Temperatur zu entschuldigen. »Wir liegen hier zwischen zwei Bergen, und es schneit dauernd. Richtig heizen können wir uns gar nicht leisten. Viel zu teuer, besonders jetzt, wo die Kundschaft ausbleibt.«
»Ja, das miese Wetter macht die Gegend trist und ungastlich.«
»Nicht unbedingt. Kann ich Ihnen noch was bringen?«
»Warum nicht? Und trinken Sie selbst doch auch was. Das hilft gegen die Kälte und schützt vor schweren Erkältungen.«
»Ich nehme einen Whisky. Mein Chef erlaubt mir nicht, billigen Fusel zu trinken.«
Das Café ist praktisch leer. Nur etwa acht Gäste sitzen fest eingemummt da, einige am Tresen, andere auf den Stühlen da und dort im düsteren Raum. Türen und Fenster sind geschlossen. In der Küche wird abgewaschen; aus der Durchreiche ist das Klappern von Töpfen und das Klirren von Gläsern zu hören. Die Frau nimmt sie von Zeit zu Zeit in Empfang und stellt sie unter den Tresen. In einer Ecke bei der Tür sitzt eine Frau, die ihr Tuch vom Gesicht genommen hat. Auf ihrem Kinn prangt ein Tattoo im Zammouri-Stil. Sie leert ein Glas nach dem anderen. Der Mann neben ihr ist schon sternhagelvoll. Die Enden seines Turbans hängen ihm über Schultern und Stirn. Auch seine Unterlippe hängt herab.
»Eigentlich tut mir der Whisky nicht gut, aber ich kann nicht anders, ich muss ihn trinken.«
»Probieren Sie’s halt mal mit Rotwein.«
»Kommt überhaupt nicht infrage. Schauen Sie sich doch die Frau da drüben an. Die trinkt nur Wein, und sie ist stark wie der Teufel.«
»Ihrem Mann reicht wohl Bier, um sich zu betrinken.«
»Er ist rasch betrunken. Übrigens ist er gar nicht ihr Mann. Er ist mit zwei anderen Frauen verheiratet.«
»Glückspilz! Er muss ganz schön betucht sein.«
»Ein Viehhändler, er besitzt zwei Lastwagen. Sogar unser Provinzgouverneur hier hat ganz schön Respekt vor ihm. Und seine beiden Frauen wissen von seiner Beziehung zu der da.«
Die Frau hört, dass ein Glas auf den Tresen gestellt wird, und geht hinüber, um sauberzumachen. Zwei Männer kommen ins Lokal, die Kappen weit über die Ohren herabgezogen. Ihre Mäntel sind weiß, sie sehen aus wie Schneemänner. Einer von ihnen haucht sich in die Hände. Eine Dunstwolke tritt vor sein ölverschmiertes Gesicht. Er ist wohl Mechaniker, der andere LKW-Fahrer. Beide gehen direkt zum Tresen, treten neben Achmad und verlangen zwei Tassen sehr heißen Kaffee, die sie hastig hinunterkippen, dabei unterhalten sie sich flüsternd. Dann brechen sie wieder auf. Bevor sie die Glastür des Cafés öffnen, ziehen sie ihre Mützen tief ins Gesicht. Ein eisiger Wind drängt herein, und alle Gäste versinken noch tiefer in ihren Mänteln.
Achmad fischt eine Zigarette aus der Tasche. Vielleicht hilft es ja, wenigstens sein Gesicht etwas zu erwärmen. Er leert sein Glas und klopft damit auf den Tresen. Die Frau kommt und schenkt ihm und sich selbst nach. Heute Nacht werde sie sicher betrunken sein, prophezeit sie. Aber das sei das Beste, was ihr passiere könne, besonders bei solch einem Wetter.
»Saukalt«, sagt sie auf Berberisch und fragt ihn: »Sprechen Sie Taschelhit?«
»Nein, aber ich kann Sie verstehen. Sind Sie Amazîgh?«
»Mein seliger Vater war Berber, meine Mutter Araberin aus Dukkâla. Manchmal muss ich Tamazight reden. Die meisten Leute hier in der Gegend sind Berber.«
»Und was hat Sie hierher verschlagen? Sie sind offenbar ja nicht von hier.«
»Nein, aber das ist eine lange Geschichte, eine sehr lange Geschichte. Jedenfalls kann ich nicht zurück in die Stadt, wo ich herkomme. Er droht, mich umzubringen.«
»Wer er?«
»Er halt.«
»Aber es gibt doch den Rechtsweg.«
»Ja, das weiß ich auch. Am besten, wir reden nicht darüber. Und ich lebe hier ganz passabel, obwohl wir hier in der Pampa sind. Ich hab mich dran gewöhnt und werde wohl den Rest meines Lebens hier zubringen, fürchte ich.«
»Diese Furcht würde jeder andere in Ihrer Lage wohl teilen. Sehen Sie den Mond da oben über den schneebedeckten Gipfeln?«
»Die Fenster sind beschlagen, ich kann nichts sehen.«
»Ich auch nicht. Ich hab mir das nur vorgestellt. Geben Sie mir noch was zu trinken. Ich bin hundemüde und weiß noch nicht, wo ich in dieser Saukälte schlafen soll. Sie sagten ja, es gäbe kein Hotel in der Nähe.«
»Stimmt, ein Hotel gibt es nicht, und wir haben hier nur drei Zimmer, die schon seit vier Tagen von Touristen belegt sind. Trinken Sie erst einmal, dann finden wir schon eine Lösung. Stimmt, Sie haben da ein ziemliches Problem. Zur nächsten Stadt sind es achtzig Kilometer. Und das bei diesem ekelhaften Wetter.«
»Ja, und müde, wie ich bin. Ich kann überhaupt nicht mehr ans Steuer. Verstehen Sie?«
»Natürlich.«
Sie schenkt sich nochmals nach und bringt einem Gast in einer Ecke, was dieser bestellt hat. Dann kommt sie hustend hinter dem Tresen hervor und geht zur Jukebox. Ein warmer amerikanischer Song erklingt. Der Mann mit den herabhängenden Turban-Enden wacht auf und beginnt, ein berberisches Lied zu singen. Die Frau heißt ihn aufhören. Es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Später gebe es Gelegenheit, dann würden ihm alle zuhören.
»Gib uns was zu trinken«, erwidert der Mann. »Das Leben ist kurz. Nächsten Samstag muss ich einen ganzen Lastwagen voll Rinder verkaufen. Was für ein Geschäft!«
»Glaub ja nicht, die Leute hier wären bettelarm«, schimpft die Frau, und Achmad flüstert sie zu: »Er protzt mit seinem Geld nur, wenn er einen sitzen hat.«
»Er hat ja recht: Das Leben ist kurz«, sagt Achmad. »Außerdem ist es lausig kalt, und ich muss schlafen. Was hielten Sie davon, wenn ich bei Ihnen übernachten würde, natürlich gegen Bezahlung?«
»Ich weiß nicht recht. Das ist mir noch nie mit einem Gast passiert.«
»Einmal ist immer das erste Mal. Trink dein Glas leer. Das Leben ist kurz. Mein Gott, alles ist anstrengend, sogar mit einer Frau zu schlafen. Glaub nicht, ich wäre wie die anderen! Ich will einfach pofen. Wenn du nicht willst, passiert nichts. Ich würde heute Nacht einfach am liebsten in einem Bett schlafen.«
»Du trinkst zu viel. Hast du schon was gegessen?«
»Ja, schon, ein paar Sardinen und ein halbes Kilo Bananen. Aber das ist jetzt auch schon wieder ein paar Stunden her.«
»Das reicht nicht. Ich bestell dir ein Sandwich. Ich brauche auch immer was im Magen, bevor ich ins Bett geh.«
»Okay, wie du willst. Gieß mir nochmal ein. Die Kälte lässt nach. Es fühlt sich schon wärmer an.«
»Aber du hast eine rote Nase.«
Ein Gast ruft nach ihr. Sie geht die Rechnung holen. Drei Männer verlassen das Lokal. Der Wind bläst wieder herein, Achmad spürt es nicht. Im Licht der Straßenlaterne sieht er die dichten Flocken fallen. Die Straße ist weiß und menschenleer. Die Glastür schließt sich wieder, von selbst.
»Bist du Staatsangestellter?«, fragt die Frau.
»Nein.«
»Geschäftsmann?«
»Nein.«
»Ah, ich verstehe, Drogenschmuggler. Die kommen hier oft vorbei.«
»Nein, ich bin auch kein Drogenschmuggler. Ich tu was anderes im Leben. Arbeitest du mit denen zusammen?«
»Den Drogenhändlern?«
»Nein, denen.«
»Wem denen?«
»Denen halt, kennst du die nicht: die Bullen.«
»Nein, also bitte! Unmöglich.«
»Warum?«
»Darum«, erklärt sie mit Nachdruck. »Ich hab zwei Sandwiche bestellt. Darf ich mir nochmal nachschenken? Du bist sehr großzügig.«
»Ich will einfach ein bisschen schlafen.«
»Das ist möglich, aber nicht ganz einfach. Du weißt nicht, wie es hier in der Gegend so läuft. Ich kann keinen Gast mit nachhause nehmen, ohne dass am nächsten Tag überall darüber getratscht wird.«
»Aber es geht nur um eine Nacht in deinem Leben hier.«
»Ich weiß schon. Du musst aber noch zwei Stunden oder vielleicht länger ausharren, bis der letzte Gast gegangen ist.«
»Ich werd’s probieren. Du nimmst mich dann mit?«
»Ich hab aber nur ein schmales Bett, eigentlich nur für eine Person.«
»Umso besser.«
Achmad spürt seinen Kopf, er wird schwerer und schwerer. Der Alkohol tut seine Wirkung. Er schließt die Augen und lässt sich in seinem Stuhl zurücksinken.
»Geh und warte im Auto auf mich. Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin«, sagt die Frau. Auch bei ihr bleibt der Alkohol nicht folgenlos. »So kann ich jedem Verdacht vorbeugen.«
Achmad zahlt und nimmt das Sandwich. Kauend verlässt er das Lokal. Ein bitterkalter Wind bläst ihm entgegen. Er zittert am ganzen Körper und beginnt zu rennen, was sich als äußerst schwierig erweist. Seine Füße gehorchen ihm nicht. Er fällt in den Schnee, kämpft sich wieder hoch und läuft weiter zum Auto. Einmal drin, schließt er die Tür und versucht, sein Sandwich zu essen. Es gelingt ihm nicht. Das Brot fällt ihm aus der Hand und landet auf seinen Beinen. Auch ein weiterer Versuch, es an den Mund zu führen, schlägt fehl. Als ihm ein wenig wärmer geworden ist, sinkt sein Kopf nach vorn und er beginnt lautstark zu schnarchen.
Im selben Augenblick fallen der jungen Frau am Tresen die Gläser aus der Hand.
Im Lokal sitzt nur noch ein betrunkener Gast.
Der Lastwagen hielt am Straßenrand. Halîma schreckte auf, ebenso ihre drei Kinder. Hâdi öffnete die Beifahrertür, stieg aus und schlug sie weithin hörbar zu. Der Fahrer wurde wütend, nahm sich aber zusammen und sagte nichts. Er schaute, ob von hinten ein Auto kam, dann öffnete er die Tür auf der Fahrerseite und stieg aus. Hâdi ging auf der einen, der Fahrer auf der anderen Seite des LKWs entlang. Hinten angekommen, rief Hâdi seine Frau, die sofort reagierte. Sie sprang auf und sah zu ihm hinab.
»Weck die Kinder«, befahl er.
»Aber sie haben überhaupt nicht geschlafen.«
»Also gut, mach dich fertig runterzukommen.«
Er schaute nach dem Fahrer, der auf der anderen Seite zum Graben ging. Es war sehr dunkel. Nichts war zu hören, nur das Zirpen kleiner Insekten. Der Fahrer verschwand zwischen den Bäumen am Straßenrand und pinkelte im Stehen. Halîma sah ihn, drehte sich aber rasch weg, da sie fürchtete, ihr Mann könnte sie schlagen. Als der Fahrer fertig war, wandte er sich an Hâdi.
»Los, auf den Wagen, und hol deine Kinder und deine Frau und deine Siebensachen runter«, kommandierte er, noch während er sich die Hose zuknöpfte. »Ich hab keine Zeit zu verlieren. Es ist noch weit bis Oujda, und ich muss morgen Abend vor sechs Uhr dort sein.«
Hâdi traf Anstalten, auf die Ladefläche zu klettern, doch dann fiel ihm etwas ein. Er könnte seiner Frau beim Hinunterklettern helfen, aber wer sollte sie unten in Empfang nehmen? Die Vorstellung, der Fahrer könnte das tun und dabei seine Hand auf ihre Hüfte legen, ließ ihm das Blut gerinnen.
»Halîma!«, rief er.
»Ja.«
»Komm runter. Lass die Kinder. Ich steig zu ihnen hinauf.«
Halîma fügte sich. Sie warf zunächst ihre Schlappen hinunter, dann hielt sie sich an der Rückwand der Pritsche, hob ein Bein darüber, dann das andere. Als sie so in der Dunkelheit am Lastwagen hing, fasste Hâdi sie, erst am Gesäß, dann an der Hüfte, und half ihr herab. Sie ging ein paar Schritte und setzte sich dann, an einen Baum gelehnt. Es war unbequem, offenbar saß sie auf einer Wurzel oder einem Baumstumpf. Sie rutschte hin und her, ächzend und keuchend, als wäre sie weit gelaufen. Hâdi sprang rasch und behänd auf den Lastwagen, wo ihn die drei Kinder, von der Dunkelheit verängstigt, erwarteten. Er redete ihnen zu und übergab sie dann, eines nach dem anderen, dem Fahrer, der sie unten in Empfang nahm. Sie rannten sofort zu ihrer Mutter, kauerten sich neben sie und beobachteten ihren Vater und den Fahrer. Hâdi reichte dem Fahrer Decken, Kleider und einen abgewetzten alten Koffer hinab. Am Ende noch ein Paket, in dem offensichtlich Metallgegenstände waren. Als der Fahrer danach griff, klapperte der Inhalt. Man konnte auch das Klirren von aneinanderstoßenden Gläsern hören. Dieser Mann ist wirklich nicht ganz bei Trost, dachte der Fahrer, Glas in ein Paket zu packen, ohne daran zu denken, dass es zerbrechen könnte.
Schließlich setzte sich der Fahrer wieder hinter das Lenkrad und ließ den Motor an. Der Lastwagen fuhr los. Hâdi trat vor seine Frau und stemmte die Hände in die Hüfte.
»Bald wird es hell«, sagte er. »Was meinst du, sollen wir gleich losgehen oder warten, bis man etwas mehr sieht?«
Halîma hatte dazu keine Meinung. Er solle tun, was er für richtig halte, sagte sie. Er setzte sich neben sie und lehnte sich auch an den Baumstamm. Die drei Kinder waren halbwach, schliefen aber bald wieder ein. Das erste suchte die Wärme der mütterlichen Umarmung, die beiden anderen legten den Kopf auf die Schenkel der Mutter. Hâdi zog eine Zigarette hervor und begann zu rauchen.
»Du musst die Packung fertigrauchen«, mahnte Halîma.
»Werd ich.«
»Aber jetzt gleich, vor Sonnenaufgang. Dein Vater darf dich nicht mit einer Zigarette sehen oder riechen, dass du geraucht hast. Für ihn ist das eine Sünde.«
»Weiß ich ja. Ich hab auch nur noch fünf. Die schaff ich gut vor Sonnenaufgang. Aber wie ich eine ganze Woche ohne Zigaretten überstehen soll, weiß ich nicht.«
»Mach’s halt wie dein Bruder Abbâs«, sagte Halîma, während sie sich mit dem Saum ihres Kleides die Nase putzte. »Der raucht überhaupt nicht.«
»Das schaff ich nicht.«
»Wenn du ein Mann wärst, schafftest du’s.«
»Ich bin ein Mann.«
»Wir werden ja sehen, ob du diese Woche ohne Zigaretten durchhältst.«
Hâdi rauchte weiter. Er betrachtete die Zigarette als eine Art Henkersmahlzeit. Eine Woche lang, ohne zu rauchen! Sein Vater durfte ihn nicht mit einer Zigarette sehen. Denn obwohl er selbst wegen seines Alters oft weder betete noch fastete, hielt er das Rauchen für eine Sünde, so schlimm wie das Trinken. Schon in den vergangenen Jahren musste Hâdi während des einwöchigen Schreinbesuchs auf das Rauchen verzichten, für ihn ein siebentägiges Rauchfasten. Sogar während des Ramadans genehmigte er sich hin und wieder eine, natürlich nur klammheimlich. Wenn seine Nachbarn es herausbekämen, würden sie ihn steinigen oder doch verfluchen und ihn in der Moschee an den Pranger stellen. Dann wäre er wie ausgestoßen. Immer wieder hatte Halîma ihn gewarnt, im Ramadan nicht zu rauchen, besonders an Sonntagen, wenn er nicht zur amerikanischen Air-Base ging. Wie er an den übrigen Tagen der Woche rauchen konnte, war ihr nicht klar. Danach gefragt, erklärte er, alle würden dort rauchen. Die Arbeit sei mühsam und körperlich kaum auszuhalten.
Halîma machte sich ihre Gedanken über dieses Problem. Wäre Hâdi imstande, eine ganze Woche lang auf das Rauchen zu verzichten? Auch in den vergangenen Jahren hatte er nie ganz zu rauchen aufgehört. Er zog sich einfach mit ein paar Freunden zurück und rauchte. Wichtig war nur, dass sein Vater es nicht mitbekam. Wichtig war auch, dass er sich während dieser Woche den Kopf rasierte und einen roten Tarbusch aufsetzte; sein Vater ertrug es nämlich auch nicht, ihn mit einer üppigen Haartolle nach Christenart zu sehen.
Hâdi starrte in die Dunkelheit und dachte über die nächsten Tage nach. Hinter den Bäumen um sie herum war das Summen von Insekten zu hören. In dem Augenblick fuhr auf der Straße ein Lkw vorbei. Hâdi blickte auf: ein amerikanischer Militärlaster. Der Fahrer war nicht zu erkennen. Die Dunkelheit steht so manchem entgegen.
Hâdi zog eine weitere Zigarette heraus, zündete sie an und rauchte mit großem Genuss. Er führte seine linke Hand zwischen seine Beine und begann, mit seinen langen Nägeln dort zu kratzen. Obwohl er zwei Tage zuvor im Bad gewesen war, tummelte sich in seinem Schamhaar zahlreiches Ungeziefer vielfältiger Art und plagte ihn. Allerhand Insekten bewegten sich dort im dichten Bewuchs nach Herzenslust, was Hâdi lästig fand und was ihn veranlasste, sich zu kratzen und diese winzigen Viecher zu verfluchen, die weder Läuse noch Flöhe waren, sondern Kreaturen, die sich an den Haarwurzeln festklammerten und erst losließen, wenn sie sich mit allem verfügbarem Blut vollgesaugt hatten. Für Halîma war es nicht neu, dass ihm das Ungeziefer zu schaffen machte, doch als er sich neben ihr in der Dunkelheit so heftig kratzte, fragte sie:
»Du kratzt immer noch?«
»Ja.«
»Dann kratz halt! Ich hab dir ja schon hundertmal gesagt, du sollst diesen Pelz da unten abrasieren und dich säubern. Aber du bist so was von dickschädelig. Ich hab dir auch schon tausendmal geraten, ein bisschen Kerosin zu verwenden, aber du weigerst dich immer und folgst nur deinen eigenen verqueren Vorstellungen.«
»Du hast eben keine Ahnung. Der Doktor auf der Air-Base hat mich gewarnt, mich da unten zu rasieren. Das Haar dort fördert das männliche Begehren.«
Das konnte ja wohl nicht stimmen, dachte Halîma. Sein Begehren war in letzter Zeit jedenfalls nicht sehr ausgeprägt. Im Bett drehte er ihr den Rücken zu und pofte weg, ohne dass sich ein Härchen regte. Das war ja wohl nicht das Verhalten eines begehrenden Mannes.
»An was denkst du?«, wollte Hâdi wissen.
»An nichts Besonderes. Es wird bald hell. Glaubst du, dein Vater ist schon vor uns angekommen und hat sich schon eingerichtet?«
»Unsere Leute sind immer ein oder zwei Tage vor dem Fest des Sîdi da. Das ist gut so, weil die, die später kommen, keinen Platz mehr für ihr Zelt finden.«
»Wird dein Vater dieses Jahr seines wohl neben dem Schrein aufschlagen?«
»Das tut er seit Jahren. Er schlägt es nie woanders auf, immer direkt neben dem Schrein. Er sucht den Segen des heiligen Mannes, damit seine Ernte besser wird als im Vorjahr. Bedauerlicherweise hat aber seine Ernte über die Jahre nicht zugenommen. Und du weißt ja, mein Vater ist ein Verschwender.«
»Ja, ich weiß, und ich frage mich immer, warum ein Mann in seinem Alter sich unbedingt nochmal verheiraten muss.«
»Das frage ich mich auch. Und dazu hat er jetzt auch noch dieses Luder geheiratet, die Frau ist viel jünger als er und sogar zehn Jahre jünger als ich. Sîdi al-Kâmil hilft keinem Mann, der dauernd heiratet und das Geld zum Fenster rauswirft. Trotzdem ist seine Barmherzigkeit unermesslich.«
Inzwischen war Halîma eingenickt. Hâdi ließ sie und die drei Kinder schlafen. Er wollte vor Tagesanbruch unbedingt die restlichen Zigaretten rauchen. Danach könnte er ein paar Pfefferminzblätter kauen, um den Geruch loszuwerden, damit der Vater bei der Begrüßungsumarmung den Tabak nicht roch.
Halîma hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Sie hatte während der Fahrt zu schlafen versucht, doch das Rütteln des Lastwagens und das Geschnatter der Kinder mit ihren unzähligen Fragen zu diesem und jenem, hatten ein Einschlafen unmöglich gemacht. Nun lag sie zwar erschöpft, aber völlig entspannt da. Hâdi rauchte. Er war getrieben von einem imaginären Rauchgeist. Aber auch er spürte, wie die Müdigkeit langsam in ihm hochkroch. Nicht einmal die Zigarette konnte daran etwas ändern.
»Schlaf ja nicht ein«, sagte er zu seiner Frau. »Es ist beinahe Morgen.«
»Ich habe überhaupt nicht geschlafen«, erwiderte Halîma mit geschlossenen Augen. »Lass mich einfach ein wenig ausruhen und weck mich, sobald es hell wird.«
»Nein, bleib jetzt wach, du kannst schlafen, wenn wir am Schrein angekommen sind.«
»Wir sind doch schon da.«
»Ich meine, wenn wir bei den Zelten sind. Dann kannst du zwei Tage lang schlafen.«
»Sei einfach still und lass mich schlafen. Ich bin hierhergekommen, um Sîdi al-Kâmil aufzusuchen, nicht um zwei Tage lang zu schlafen.«
Während die Eheleute sich unterhielten, wachte das älteste Kind auf, ein geistig etwas zurückgebliebener dreizehnjähriger Junge, der nicht verstand, worum es zwischen seinen Eltern ging. Er starrte seinen Vater an und versuchte, aus seinem Gesichtsausdruck schlau zu werden, jedoch ohne Erfolg. Dann betrachtete er die rote Glut an der Zigarette und hatte jedes Mal seine Freude, wenn sein Vater daran zog.
»Papa, kommen wir heute zum Schrein?«, fragte der Junge.
»Ja, bald ist es so weit. Wenn es hell wird.«
»Wird Opa auch da sein?«
»Natürlich, er hat sein Zelt sicher schon neben dem Schrein aufgestellt. Dieses Mal kannst du direkt neben dem Grab des großen Mannes wohnen.«
Der Junge hörte auf, seinen Vater anzustarren. Er starrte in die unergründliche Dunkelheit. Schließlich schloss er die Augen und legte seinen Kopf in den Schoß seiner Mutter. Sein Vater tat es ihm gleich – bis zum Tageanbruch. Dann wachte Halîma auf und weckte die anderen. Auf den Feldern um sie herum stand allerhand Vieh. Der Graben direkt neben ihnen war voll brackigen Wassers. Kleine Frösche hüpften herum und schnappten am Rand nach Luft. Hâdi gähnte, alle anderen folgten seinem Beispiel. Sie wischten sich ein paar morgendliche Tautropfen von Gesicht und Kopf.