Der Klang von fallendem Schnee - Bonnie Poitras Tucker - E-Book

Der Klang von fallendem Schnee E-Book

Bonnie Poitras Tucker

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Beschreibung

Die Welt ist voller Rätsel für Bonnie Tucker. Immer wenn ihre Mutter die Tür öffnet, steht ein Besucher davor. Wenn sie aber selbst die Tür aufmacht, ist niemand da. Hat ihre Mutter Zauberkräfte? Nein, ihre Mutter hört nur die Türglocke – Bonnie dagegen ist taub. Eine beeindruckende Lebensgeschichte, durch die wir die Welt des Hörens mit neuen Augen – und Ohren – wahrnehmen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 437

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Bonnie Poitras Tucker

Der Klang von fallendem Schnee

Leben ohne zu hören

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER Digital

Inhalt

Für meine Familie, in [...]Es gibt Menschen unter [...]Das Gefühl der StilleEinleitungDas erste Leben: Kind und Studentin12345678Das zweite Leben: Ehefrau und Mutter910111213Das dritte Leben: Anwältin, Juraprofessorin und Großmutter14151617181920212223Epilog

Für meine Familie, in Liebe: meinen Eltern Thelma und James Poitras; meinen Kindern Kevin, Ronale und Scott; meiner Schwiegertochter Heidi;meinen Enkelkindern Aubreigh, Amber, Austin und Ashlyn; meinen Brüdern Jim und Richard; meiner Schwägerin Joyce. Ihr gebt allem einen Sinn.

 

Ich danke den vielen Freunden und Freundinnen, die Teile meines Buches gelesen und mir mit Rat und Unterstützung zur Seite gestanden haben. Mein besonderer Dank gilt Don McGee, Vicky Lewis, Rosanne Keller, Maxine Turnbull und Henry Kisor.

Außerdem Dank an Melanie Bishop für ihren Einsatz.

Es gibt Menschen unter uns, die in Erfahrungswelten leben, die unsereins niemals betreten kann.

John Steinbeck

Das Gefühl der Stille

Bitte sagen Sie mir, was Sie hören. Es heißt, der Ozean tost und tobt. Wie klingt tosen und toben? Es heißt, Speck in der Pfanne brutzelt und Popcorn knallt. Sind diese Klänge gleich, aber unterschiedlich lang? Wenn Speck brutzelt, klingt das wie eine Reihe winziger Knalle – puff, puff, puff? Wie klingt ein Knallgeräusch? Was bedeutet es, wenn jemand sagt: «Ich höre das Wasser auf dem Herd kochen?» Wie können solche winzigen Bläschen Geräusche machen?

Es heißt, wenn man einen Tennisball richtig trifft, «klingt es richtig». Und wenn man sich nicht richtig auf seinen Skiern dreht, dann klingt das kratzende Geräusch (was auch immer das ist), das die Skier auf hartem Schnee oder Eis machen, «falsch». Was ist eigentlich damit gemeint?

Und Musik. Es heißt, Country-music klingt anders als Popmusik, und Blues klingt ganz anders als Jazz oder klassische Musik. Und Rockmusik klingt anders als alles andere. Es ist alles so verwirrend. Können Sie es mit Worten erklären, die ich verstehen kann, also ohne Ausdrücke wie murmeln und dröhnen und Wohlklang zu verwenden? Denn ich, die ich nicht hören kann, verstehe murmeln und dröhnen und Wohlklang nicht.

Ich bringe die Rolle Klopapier mit einem heftigen Ruck zum Drehen, und das Papier entrollt sich auf den Boden. Macht es dabei ein Geräusch? Hört man, wenn es den Boden berührt? Wenn Eiscreme schmilzt und auf den Ärmel tropft, macht das ein Geräusch? Oder macht es nur dann ein Geräusch, wenn es auf eine harte Oberfläche tropft, zum Beispiel den Boden, und nicht auf einen weichen Ärmel? Wenn ich die Zahnpastatube zusammendrücke, gibt das ein Geräusch? Und was ist mit der leeren Tube, wenn ich sie zusammendrücke? Man hat mir gesagt, daß entweichende Luft ein Geräusch macht. Wie? Wann?

Als ich einmal in einem Juraseminar aus Versehen mit dem Fingernagel über die Wandtafel gekratzt habe, während ich etwas anschrieb, haben meine Studenten protestiert. Das Geräusch muß ganz schwach gewesen sein. Wie konnten sie es so weit entfernt noch hören?

Sagen Sie mir mit Worten, die für mich einen Sinn haben, was Sie hören. Aber erst erzähle ich Ihnen etwas über das Gefühl der Stille.

Einleitung

Beschreiben Sie sich – na los, nur keine Hemmungen. Sagen Sie mir, wer und was Sie sind. Haben Sie gesagt, Sie sind Mutter, Vater, Geschäftsfrau, Sekretärin, Rechtsanwalt, Ärztin, Hausmann? Haben Sie Ihre Rasse genannt, Ihr Geschlecht, Ihr Alter, Ihre Haarfarbe? Ich wette, Sie haben bei Ihrer Beschreibung nicht das Wort Hörender beziehungsweise Hörende genannt. Wieso auch? Hören zu können ist für Sie selbstverständlich.

Ich dagegen kann mich nicht genau beschreiben, ohne das Wort taub zu verwenden. Taubheit bedeutet so viel mehr als nur die simple Unfähigkeit zu hören. Ein gehörloser Mensch wird durch seine Taubheit bestimmt. Ich bin Mutter, Großmutter, Rechtsanwältin, Juraprofessorin, Skifahrerin, Tennisspielerin, ich liebe Bücher und die Natur, und ich bin taub. In diesem Buch geht es um letzteres – darum, wie es ist, taub zu sein.

Letzten Endes ist meine Taubheit, auch wenn mir der Gedanke ganz und gar nicht behagt, nicht einfach nur ein Zustand. Es geht um Gefühle, um Gedanken, um Erfahrungen, die jemandem, der nicht taub ist, unbekannt sind. In meinem Buch möchte ich von ebendiesen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen erzählen, die nur Gehörlose haben; ich möchte Ihnen etwas erzählen, das für Sie, wenn Sie hören können, unvorstellbar ist.

Mein Buch soll Ihnen einen Blick in meine Erfahrungswelt gewähren.

 

Ich spreche über Taubheit aus der Sicht einer absolut tauben Frau, für die Hörgeräte sinnlos sind und die zeit ihres Lebens in der größeren Welt der Hörenden lebt. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, die, wie ich sie manchmal im Scherz nenne, «sieben Gebote» zu befolgen, die ich mir als Gehörlose gesetzt habe (Gott möge mir das Plagiat verzeihen):

 

Erstes Gebot: Du sollst keine falschen Bilder schaffen. Taubheit sollte stets in die richtige Perspektive gerückt werden – sie ist zweifellos ein wichtiger Teil meines Lebens, aber nicht das Allerwichtigste in meinem Leben. Das Bild, das ich von mir selbst schaffe, wird das Bild sein, das andere sehen. Ich möchte als ein Mensch gesehen werden, der nebenbei auch taub ist, und nicht als tauber Mensch. Gleichzeitig möchte ich allerdings, daß Sie mein Taubsein verstehen.

 

Zweites Gebot: Du sollst an der ganzen Welt teilhaben – nicht unnötigerweise irgendwelche Möglichkeiten ausschließen. Neunzig Prozent der Weltbevölkerung können hören und sprechen. Ich möchte mich nicht von diesen Menschen abspalten und mich nicht darauf beschränken, innerhalb einer viel kleineren Gemeinschaft von Gehörlosen zu leben. Ich möchte mein Leben in seiner ganzen Fülle inmitten aller möglichen Menschen leben.

 

Drittes Gebot: Du sollst die Verantwortung für alle Folgen übernehmen, die sich indirekt aus deiner Gehörlosigkeit ergeben. Ich stimme vorbehaltlos jenen zu, die sagen, daß ich nichts dafür kann, daß ich taub bin, oder daß es nicht fair ist, von mir zu erwarten, daß ich härter arbeiten oder mehr tun soll, nur weil ich taub bin. All das ist wahr. Ich kann nichts dafür, und es ist nicht fair. Aber andere können auch nichts dafür, daß ich taub bin. Somit kann ich nicht von anderen erwarten, daß sie mir uneingeschränkt zur Seite stehen, weil ich taub bin. Obwohl ich mit Recht angemessenes Entgegenkommen erbitten – ja verlangen – kann, kann ich übertriebenes Entgegenkommen weder erbitten noch erwarten, weil die wirkliche Welt nun mal nicht so funktioniert. Zunächst ist es allein meine Verantwortung, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um die sich aus meiner Gehörlosigkeit ergebenden physischen Grenzen zu überwinden.

 

Viertes Gebot: Du sollst dich in Geduld üben. Wie meine Geschichte zeigen wird, ist das Leben eines gehörlosen Menschen eine endlose Kette von Frustrationen. Als Gehörlose haben wir zwei Möglichkeiten. Wir können uns in eine permanente manische Ungeduld hineinsteigern, oder wir können lernen, geduldig zu sein. Leider habe ich es noch nicht gelernt. Aber ich bleibe am Ball.

 

Fünftes Gebot: Du sollst deine Gehörlosigkeit mit einem Schuß Humor nehmen. Ich lache lieber über die ständigen Ärgernisse, als mich von ihnen runterziehen zu lassen. Damit komme ich besser klar.

 

Sechstes Gebot: Du sollst alle möglichen Kommunikationsfertigkeiten so gut wie möglich beherrschen. Ich kann mich glücklich schätzen. Ich habe sehr gut sprechen gelernt, und ich kann perfekt von den Lippen ablesen. Nicht alle Gehörlosen haben dieses Glück, vor allem die nicht, die keine Hörgeräte tragen können (obwohl heutzutage die meisten gehörlosen Kinder dank der modernen Technik lernen können, ihr Restgehör zu nutzen, um sprechen zu lernen – wenn auch mit unterschiedlicher Klarheit). Doch was für Kommunikationsfähigkeiten wir Gehörlosen auch haben, wir können sie nie als selbstverständlich betrachten. Ich muß mir ständig Gedanken über meine Kommunikationsfertigkeiten machen. Als Anwältin habe ich festgestellt, daß die größten Kommunikationsprobleme dann entstehen, wenn ich nicht im voraus dafür Sorge trage, daß die in einem bestimmten Rahmen erforderliche Kommunikation gewährleistet ist. Planung ist das A und O.

 

Siebtes Gebot: Du sollst wissen, wann du dich geschlagen geben mußt. Wir alle müssen immer wieder entscheiden, wo unsere Grenzen sind. Bei Gehörlosen gestaltet sich diese Entscheidung häufig schwieriger. Ich möchte nicht vorzeitig kapitulieren, weil ich gehörlos bin, doch gleichzeitig möchte ich nicht um jeden Preis meine Grenzen überschreiten. Ich bin mir nicht immer sicher, wo meine Grenzen sind! Ich bemühe mich, sie festzulegen und trotzdem mit mir zufrieden zu sein, wenn ich an sie stoße.

 

Im Grunde sind diese Gebote recht simpel. Doch sie sind heute vor allem in Kreisen überzeugter Anhänger der sogenannten Gehörlosenkultur sehr umstritten.

«Taubsein ist toll», proklamieren die führenden Vertreter der Gehörlosenkultur in lebendiger, ausdrucksstarker Gebärdensprache. Anhänger dieser wachsenden Bewegung, die uneingeschränkte Solidarität mit diesem eigenen Teil unserer Gesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben hat und die sich von den tauben Menschen abgrenzt, die sich wie ich entschlossen haben, ihr Leben größtenteils in der Welt der Hörenden zu verbringen, sind bemüht, diesen eingängigen Slogan in der gleichen Weise populär zu machen wie die Schwarzen «Black is beautiful».

Was soll also mit dem Slogan «Taubsein ist toll» ausgesagt werden? Laut den Vertretern der National Association of the Deaf (NAD) bedeutet er, daß man froh ist, nicht hören zu können oder daß die eigenen Kinder nicht hören können; er bedeutet, daß man sich glücklich schätzt, einer privilegierten Minderheit anzugehören. Weil «Taubsein toll ist», sollen Ärzte weder die Lautsprache noch das audiologische Training für taube Babys und Kinder befürworten; weil «Taubsein toll ist», sollen Ärzte und Eltern nicht versuchen, taube Kinder zu «reparieren». Statt dessen sollen Ärzte und Eltern taube Kinder einfach als «visuell orientiert» anerkennen und ihre Energien darauf verwenden zu garantieren, daß diese besonderen Kinder mit ihrer Taubheit fröhlich leben. Ja, einige prominente Mitglieder der Gehörlosensubkultur haben die zunehmende Praxis, tauben Kindern die Innenohrprothese, das sogenannte Cochlear-Implantat, einzusetzen, als «elektronischen Angriff auf den Gehörnerv» bezeichnet. Sie haben Cochlear-Implantate mit dem irakischen Einmarsch in Kuwait verglichen oder behauptet, derlei Implantate seien das gleiche, als würde man einen Blinden schlagen, damit er Sterne sieht.[1]

Die meisten Anhänger der Bewegung «Taubsein ist toll» sind vehement dagegen, daß Gehörlose die Lautsprache verwenden, und zwar mit der Begründung, daß Gehörlose in ihrer «natürlichen» Gebärdensprache sprechen sollten. Einige von ihnen, um ein jüngeres Beispiel anzuführen, äußerten ihr Mißfallen darüber, daß die Miss Amerika des Jahres 1995, eine Gehörlose, während der Miss-Amerika-Wahl mehr die Lautsprache als die Gebärdensprache benutzte.

Entsprechend ihrer Überzeugung, daß «Taubsein toll ist», haben taube werdende Eltern nachdenklich, aber allen Ernstes zu mir gesagt: «Wir beten jeden Abend, daß wir ein gehörloses Kind bekommen.» Wieder andere Anhänger der Bewegung «Taubsein ist toll» sprechen sich dafür aus, daß taube Babys ihren hörenden Eltern, wenn diese sich nicht für die Ziele der «Gehörlosensubkultur» einsetzen, weggenommen werden, um in «linientreuen» Familien aufzuwachsen.

Ich werde als Verräterin an meinem Erbe betrachtet, weil ich dankbar nach jedem rettenden Strohhalm greifen würde, um meine Taubheit zu reparieren. Gehörlosen fehlt einer der entscheidenden Sinne, so einfach ist das. Dieser Mangel sollte soweit wie möglich behoben werden. Taubsein ist also nicht toll, und auch eine noch so entschiedene Haltung ändert daran nichts.

Das heißt jedoch nicht, daß ich gegen die Gebärdensprache bin. Ich habe sie aus einem ganz praktischen Grund nicht gelernt. Ich kenne niemanden, mit dem ich mich in ihr unterhalten könnte. Ich lebe schon mein ganzes Leben lang hauptsächlich unter Hörenden, die die Gebärdensprache nicht können. Wenn ich mit Gehörlosen zusammen bin, die die Gebärdensprache benutzen, bemühe ich mich tapfer, ein paar Gebärden zu lernen, doch wenn sich dann wieder mal eine Gelegenheit ergibt, das Erlernte anzuwenden, habe ich es leider schon wieder vergessen. Meine Gebärdensprache hat also keine großartigen Fortschritte gemacht. Für einige Gehörlose ist die Gebärdensprache allerdings das bevorzugte – und ein ausgesprochen effizientes – Kommunikationsmittel. Das Wort bevorzugt ist in diesem Zusammenhang entscheidend.

Ausschlaggebend ist die freie Wahl. Jeder gehörlose Mensch sollte das Recht haben, seine Kommunikationsform selbst zu wählen. Zur Ausübung dieses Rechts muß jedoch eine wirkliche Entscheidung möglich sein. Ein Gehörloser, der nicht die Lautsprache, sondern nur die Gebärdensprache gelernt hat, kann nicht entscheiden, wie er sich verständigen möchte. Ihm steht nur die Gebärdensprache zur Verfügung, und er hat somit keine andere Wahl. Ich halte es für dringend erforderlich, daß taube Kinder sprechen lernen, damit sie diese äußerst wichtige Entscheidung wirklich selbst treffen können. Es gilt als erwiesen, daß Gehörlose im fortgeschritteneren Alter meist nicht mehr sprechen lernen – Sprache muß in der Kindheit erworben werden. Wenn ein Gehörloser sich als Teenager oder Erwachsener jedoch für ein Leben in der «Gehörlosengemeinschaft» entscheidet und die Lautsprache als Hauptkommunikationsform ablehnt, so muß dieser Entschluß respektiert werden. Schließlich hat jeder von uns ein Recht darauf, über sein Leben selbst zu bestimmen.

Ich bin nicht so unvernünftig oder realitätsfremd, mich im Glauben zu wiegen, daß alle Gehörlosen Überflieger sind und Außergewöhnliches leisten. Zu Recht beklagen sich Behinderte heutzutage, die Gesellschaft erwarte von uns, daß wir Supermänner und Superfrauen, also «Superkrüppel», seien. Behinderte sind es leid, ständig Aussagen hören zu müssen wie: «Der oder die hat es trotz Querschnittslähmung geschafft, den Mount Everest zu besteigen – das kannst du auch.» Nicht jeder, ob behindert oder nicht, möchte den Mount Everest besteigen oder ist in der Lage dazu.

Wie alle Menschen haben Gehörlose das Recht, ein ganz normales Leben zu führen, ohne Superkrüppel sein zu müssen. Ich werde häufig gebeten, Eltern von tauben Kindern zu erzählen, welche Erfahrungen ich als taube Anwältin und Juraprofessorin gemacht habe – damit sie sehen, was ihre tauben Kinder für Möglichkeiten haben. Mir behagt diese Rolle ganz und gar nicht, und ich sage in jedem Gespräch: «Ihr Kind muß kein Superkrüppel sein, um Erfolg zu haben und glücklich zu werden.»

Es könnte der Eindruck entstehen, daß dieses Buch von einem Superkrüppel geschrieben wurde, denn aus freien Stücken war ich schon immer eher eine Überfliegerin. Doch meine Schilderung der Taubheit ist real, und das Buch handelt von realen Problemen und Frustrationen. Taub zu sein ist nun mal nicht lustig. Aber für viele von uns ist Taubheit eine Tatsache – etwas, womit es zu leben gilt. Wie er damit lebt, muß jeder Mensch selbst entscheiden. Meine Art, damit zu leben, entspricht vielleicht nicht der Ihren oder der anderer Menschen. Aber das ist auch gut so.

Das erste Leben Kind und Studentin

1

Zwei Frauen hängen an einer Doppelleine Wäsche auf. Es ist 1941, Spätherbst in Massachusetts, und noch immer liegt ein Hauch Wärme in der Luft. Ein kleines Mädchen läuft zwischen den beiden Wänden aus Laken und Handtüchern hin und her; sie mag das strahlende Weiß, die Art, wie die Sonne davon abprallt, die klamme Kühle des Stoffes. Sie preßt ihn zwischen den Händen zusammen, drückt ihn sich ans Gesicht. Sie steckt einen Handtuchzipfel in den Mund. Er schmeckt kalt und sauber.

«Bonnie, laß das», sagt ihre Mutter. Die Frauen unterhalten sich weiter.

Bonnie streckt die Arme in die Luft, läuft auf ein Laken zu, das wie ein Segel im Wind flattert. Sie drängt sich hindurch, spürt die Baumwolle an den Handflächen, dann am Gesicht, und als sie die Welt auf der anderen Seite erreicht, streift ihr das feuchte Laken über den Kopf. Sie macht es noch einmal, nimmt ihre Wollmütze ab, damit sie die Kühle auf ihren dunklen Locken spürt.

«Bonnie, hör auf damit, ja?» Ihre Mutter wirft der Nachbarin einen entschuldigenden Blick zu.

«Ich habe drei», sagt die Nachbarin. «Mittlerweile Teenager. Ich kenne das.»

Bonnie greift die Laken weiter an, läuft unter ihnen hindurch, die Hände hochgestreckt.

«Bonnie Poitras! Ich habe gesagt, du sollst sofort damit aufhören!»

Die Nachbarin sieht zu, wie Bonnie unter der Wäsche hindurchläuft, diesmal ein Handtuch ergreift und fest daran zerrt. Das Handtuch fällt herunter und Bonnie hin. Die Erde an ihrem Gesicht ist kalt und hart, aber sie weint nicht.

«Jetzt ist aber Schluß», sagt ihre Mutter. «Sieh nur, was du gemacht hast. Das Handtuch war sauber, und jetzt ist es ganz schmutzig, und es gehört uns nicht mal.»

Bonnie blickt überrascht, als hätte sie sich eben erst erinnert, daß noch jemand da ist. Weshalb ist ihre Mutter plötzlich so böse auf sie?

«Ist doch nicht schlimm», sagt die Frau.

«Tut mir leid», sagt die Mutter. «Mit zwei Jahren sind sie schrecklich. Sie will einfach nicht hören.» Sie beugt sich vor, das Gesicht jetzt dicht vor Bonnie. «Du bleibst jetzt schön hier sitzen, bis ich fertig bin.»

Bonnie setzt sich hin.

«Und setz deine Mütze wieder auf, sonst erkältest du dich noch.»

Bonnie gehorcht.

 

Als Thelma Poitras die letzte Socke aufgehängt hat, nimmt sie ihren Korb und die restlichen Wäscheklammern und ruft ihrer Tochter zu: «So, Schätzchen, komm, wir gehen rein.»

Bonnie blickt zu den Wolken. Eine sieht aus wie ein Pudel, den sie mal gesehen hat. Es gefällt ihr, daß sie sich bewegen, wenn man nur lange genug hinschaut.

«Bonnie», sagt ihre Mutter lauter. «Komm, wir gehen rein und machen uns was zum Mittagessen.» Die Nachbarin bemerkt das Gesicht des Kindes – es zeigt keine Regung.

«Also wirklich», sagt Thelma kopfschüttelnd. «Manchmal ist sie ein kleiner Satansbraten.» Sie geht zu Bonnie, die noch immer dasitzt und zum Himmel schaut.

«Wissen Sie was, ich glaube, sie kann Sie nicht hören», sagt die Nachbarin.

«Was?»

«Ihr Gesicht sieht aus, als würde sie gar nicht hören, was Sie sagen.»

Thelma zieht Bonnie am Arm hoch, klopft ihr hinten den Mantel ab.

«Und ob sie mich hört, nicht wahr, Bonnie?» Wieder beugt sie sich zu dem Kind hinunter. «Wie alt ist Bonnie?» sagt sie. Bonnie hält die rechte Hand hoch, zwei Finger. «Stimmt. Zwei. Kannst du sagen, Bonnie ist zwei?» Ihre Mutter wiederholt es lächelnd. «Bonnie ist zwei. Sag es.»

«Bonnie ist twei», sagt Bonnie.

Die Nachbarin lacht. «Sie spricht gut für ihr Alter», sagt sie.

 

Drinnen im Haus geht Thelma nicht mehr aus dem Kopf, was die Nachbarin gesagt hat: Ich glaube, sie kann Sie nicht hören. Bonnies Eigensinn kommt und geht; manchmal ist sie auch sehr folgsam.

Thelma setzt Bonnie in den Hochstuhl, gibt ihr einen Löffel und schlägt damit auf die Abstellfläche. «Spiel die Trommel», sagt sie. Bonnie lächelt und schlägt dreimal mit dem Löffel. Thelma tritt ein Stück zurück, blickt weiter ihre Tochter an. «Spiel die Trommel», sagt sie. Bonnie klopft dreimal auf die Abstellfläche und lacht. Thelma geht zum Herd, rührt die Spaghettisauce um und sagt laut: «Spiel für Mami die Trommel.» Sie hat dem Kind den Rücken zugedreht. Bonnie trommelt nicht.

Sie sagt es noch einmal. «Bonnie, Schätzchen, spiel die Trommel.» Sie hört nichts und dreht sich zu ihrer Tochter um, die geduldig auf das Essen wartet, den leeren Löffel in den Mund gesteckt.

Thelma blickt sie an und sagt: «Spiel die Trommel, ja?» Bonnie zieht den Löffel aus dem Mund, schlägt lachend mehrmals auf die Eßfläche. Sie tut es immer wieder, während ihre Mutter zuschaut. Und sie kann nicht verstehen, warum ihre Mutter nicht lächelt.

Das Gefühl der Stille

Gleich nachdem meine Eltern herausgefunden hatten, daß ich hochgradig hörgeschädigt war, beschlossen sie, daß ich nur dann eine Chance auf ein normales Leben hätte, wenn sie die Wahrheit etwas verdrehten. Worte verdrehten.

Statt mich als taub zu bezeichnen, was ich eindeutig war (und bin), bezeichneten sie mich als schwerhörig. Jemand, der taub war, durfte nicht auf eine Schule für hörende Kinder. Doch jemand, der lediglich schwerhörig war, durfte nicht in die abgesonderte Welt der Gehörlosen verbannt werden. Damals wurde in den Schulen nur selten das Gehör der Kinder getestet, und daher glaubte man meinen Eltern aufs Wort.

Das Wort «taub» wurde bei mir zu Hause so gut wie nie ausgesprochen. Und wenn es sich vermeiden ließ, habe ich niemandem erzählt, daß ich taub bin, und das blieb so, bis ich Mitte Dreißig war.

Manche Leute sagen, ich habe meine Taubheit verdrängt. Ich nenne es lieber «der Realität ins Auge sehen», denn ich habe schon sehr früh die Erfahrung gemacht, daß ich, wenn ich frei und unbekümmert in der Welt der Hörenden leben und als gleichberechtigt behandelt werden wollte, so tun mußte, als könnte ich hören. Wenn jemand von meiner Taubheit erfuhr, bevor er mich richtig kennengelernt hatte, trat irgendeine Veränderung ein. Von gleichberechtigter Behandlung konnte keine Rede mehr sein. Jedesmal, wenn ich als «Bonnie Poitras, die taub ist» vorgestellt wurde, konnte ich zu neunundneunzig Prozent davon ausgehen, daß ich wie ein geistig zurückgebliebenes Kind behandelt wurde.

Doch als Erwachsene war ich die ständigen Wortverdrehungen irgendwann leid. Ja, ich bin taub. Und ich mache keinen Hehl daraus. Ich bin absolut taub, und es ist bislang noch kein medizinisches Verfahren, keine Hörhilfe erfunden worden, die meine absolute Taubheit heilen könnte. Aber mit meinem Verstand ist alles in Ordnung. Ich bin so klug wie die meisten Leute, die ich kenne, und klüger als manche. Und mit meinen Stimmbändern ist auch alles in Ordnung (entgegen dem abfälligen Begriff taubstumm).

Statt Gleichberechtigung einzufordern, indem ich Hörfähigkeit vortäusche, fordere ich heute schlicht und ergreifend Gleichberechtigung ein.

2

Daß meine Mutter meine Gehörlosigkeit erst bemerkte, als ich schon zwei Jahre alt war, ist so verwunderlich nicht. Sie und mein Vater Jim waren neunzehn, als ich zur Welt kam. Die beiden waren körperlich sehr gegensätzlich. Meine bildhübsche Mutter hatte blondes Haar, blaue Augen, einen hellen Teint und war 1,55 klein. Mein gutaussehender Vater hatte dunkles Haar, dunkle Augen, einen dunklen Teint und war 1,88 groß. Bei meiner Geburt waren sie noch nicht ganz ein Jahr verheiratet und noch immer sehr verliebt. Meine Mutter ging ganz in ihrer Mutterrolle auf und spielte den ganzen Tag mit mir wie mit einer kleinen Puppe. Stundenlang las sie mir vor und sprach mit mir. Ich saß auf ihrem Schoß, beobachtete ihre Lippen und verstand so das meiste, was sie sagte.

Ich war vom Glück begünstigt. Lippenlesen fiel mir leicht, und ich war mimisch begabt. Ich war in dem festen Glauben, daß alle Menschen sich so verständigten: indem sie einander auf die Lippen und ins Gesicht schauten. Instinktiv bewegte ich meine Lippen wie meine Mutter ihre. Während ich jeden Tag stundenlang auf ihrem Schoß saß, konnte ich sie sprechen fühlen. Und wenn ich versuchte, die Worte, die sie immer und immer wieder sagte – «Ma-ma», «Da-da» –, zu wiederholen, machte ich meine Brust und meinen Hals so, wie sich ihre anfühlten. So, wie sie Luft ausblies, wenn sie die Lippen bewegte, blies ich die Luft aus, wenn ich die Lippen bewegte. Hätte meine Mutter gewußt, daß ich taub war, sie hätte nicht wirkungsvoller und eifriger mit mir arbeiten können. Und ich vermute, obwohl das reine Spekulation ist, daß ich als Kleinkind noch ein geringes Hörvermögen hatte und demnach eine Erinnerung an Klänge, auf die ich zurückgreifen konnte. Als meine Eltern schließlich herausfanden, daß ich taub bin, besaß ich bereits ein ganz beachtliches Vokabular für eine Zweijährige. Klar, daß niemand mich aufgrund meiner Sprache für taub hielt.

Als ich drei war, hatte mir meine Mutter erfolgreich einige Reime beigebracht, die ich immer aufsagen mußte, wenn wir Besuch hatten. Es muß sehr unterhaltsam gewesen sein. Ein so kleines Mädchen, das auf Kommando Verse aufsagte. An einen erinnere ich mich noch:

Division ist Konfusion,

Addieren eine Qual.

Subtraktion ist blanker Hohn,

Ich nehme lieber mal.

Angeblich habe ich das so perfekt aufgesagt, wie es nur ein hörendes Kind gekonnt hätte. Und alle haben geklatscht, kein Wunder, daß es mir Spaß gemacht hat. Schon ganz früh habe ich gelernt zu gefallen.

 

Ich weiß nicht, wie meine Eltern reagiert haben, als sie erfuhren, daß ihr erstes Kind taub ist. Aber sie hatten beide im Leben schon einiges durchgemacht und eine innere Stärke entwickelt. Der Vater meiner Mutter starb, als sie noch ganz klein war. Ihre Mutter, die berufstätig war und sich daher nicht um ihre beiden jüngsten Kinder kümmern konnte, schickte meine Mutter und deren Bruder Jackie auf eine Farm, wo sie sozusagen als Pflegekinder lebten, aber hart für ihren Unterhalt arbeiten mußten. Meine Mutter kam auf diese Farm, als sie zehn war. Eine schwere Zeit für sie. Sie war überglücklich, als ihre Schwester Vivienne, die zehn Jahre älter und unabhängig war, sie von dort wegholte. Mit dreizehn kehrte meine Mutter nach New York City zurück, wo sie bei ihrer Schwester und ihrer Mutter lebte und neben der High-School praktisch einen Ganztagsjob hatte. Meine Mutter fühlte sich wie im siebten Himmel. Sie war froh, zu Hause zu sein.

 

Mein Vater hatte einen ganz anderen familiären Hintergrund. Als Kind frankokanadischer Eltern in Montreal geboren, wuchs er zweisprachig auf. Er war das mittlere von drei Kindern einer sanften, religiösen Mutter und eines energischen, despotischen Vaters und verbrachte fast seine ganze Grundschulzeit in einem Jesuiteninternat, wo ein strenges Regiment herrschte. Sein Vater war eine Art Finanzmakler, der es irgendwann sogar zum Millionär gebracht hatte. Als mein Vater elf, zwölf Jahre alt war, zog seine Familie nach Roslyn, New York, wo sie ein großes Anwesen mit Butler, Chauffeur und Dienstmädchen hatten. Einige Jahre später traf mein Großvater ein paar verhängnisvolle geschäftliche Entscheidungen, und die Familie mußte ihr Haus in Roslyn förmlich über Nacht verlassen, um den Gläubigern zu entkommen. Fortan ernährte mein Großvater seine Familie als Versicherungsvertreter. Trotz zahlreicher hochtrabender Pläne konnte er nur noch für einen bescheidenen Lebensstil sorgen. So kam es, daß mein Vater, wie meine Mutter, während seiner High-School-Zeit jobbte, um die Familie zu unterstützen. Um aufs College gehen zu können, mußten meine beiden Eltern Geld verdienen, statt welches auszugeben.

Daß ihr erstes Kind taub war, mag von meinen Eltern lediglich als eine weitere unvorhersehbare Laune des Schicksals betrachtet worden sein. Bis heute haben wir nicht darüber gesprochen. Ich weiß aber, daß der Bruder meines Vaters, mein Onkel Maurice, der Meinung war, meine Taubheit habe rein psychische Ursachen. Als angehender Kinderarzt hatte er die Theorie, daß ich unter irgendeinem emotionalen Trauma litte und es nur verarbeiten müsse, um wieder hören zu können. Andere Mitglieder meiner Familie schlossen sich Onkel Maurice’ dilettantischer, aber gutgemeinter Ansicht an, und die Angelegenheit wurde hin und wieder im Beisein meiner Eltern besprochen.

Ob meine Eltern mehr über meine Taubheit oder über die Möglichkeit bekümmert waren, ich könnte durch ihre Schuld irgendeinen psychischen Knacks davongetragen haben, können nur sie selbst beantworten. Aber ich weiß noch, wie sehr meiner Mutter einige Jahre später die ständigen versteckten Andeutungen zu schaffen machten, daß mein noch immer nicht behobenes psychisches Problem eine fürchterliche Schande sei. Und ich erinnere mich an die Schuldgefühle, die mich selbst beschlichen, an die vagen Sorgen, die ich mir machte, daß ich vielleicht irgend etwas getan hatte – oder noch immer tat –, das mich daran hinderte zu hören.

 

Schon bald rückten für meine Eltern andere Dinge in den Vordergrund. 1944 wurde mein Vater eingezogen, um als Soldat im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen. Meine Eltern waren verzweifelt. Inzwischen hatte ich einen kleinen Bruder, Jimmy; er war zwei, und ich war vier. Mein Vater schloß den kleinen Parfümbetrieb, den er in Springfield aufgebaut hatte, und meine Mutter zog mit Jimmy und mir nach New York City, wo die Eltern meines Vaters wohnten und wo meine Eltern sich würden sehen können, wenn mein Vater während der Grundausbildung Urlaub bekam.

Es war zu der Zeit nahezu unmöglich, in New York eine bezahlbare Wohnung zu finden. Meine Mutter war froh, als sie endlich zwei ältliche Schwestern überreden konnte, ihr eine Wohnung zu vermieten, die nach dem Tode einer dritten Schwester frei geworden war. Die Todesanzeige hatte meine Mutter in der Zeitung gelesen. Es spielte keine Rolle, daß die Wohnung – auf der 146. Straße zwischen Broadway und Riverside Drive – in einer heruntergekommenen Gegend lag. Hauptsache, wir hatten ein Dach über dem Kopf.

Und so zogen wir in den zweiten Stock des Hauses, das den beiden alten Damen gehörte. Die eine war taub, die andere blind, und beide waren etwas senil, so daß sie immer wieder vergaßen, daß wir in ihrem Haus wohnten.

Einen Abend pro Woche arbeitete meine Mutter als freiwillige Helferin beim Roten Kreuz, sozusagen um ihren Teil der Kriegslast zu tragen. Eine Freundin von ihr paßte in der Zeit auf Jimmy und mich auf. Die kleinen alten Damen legten bei Sonnenuntergang immer die Türkette vor. Ich sah an diesen Abenden oft vom Fenster aus zu, wie meine Mutter nach Hause kam, fröstelnd vor der Haustür stand und wiederholt klingelte. Aber es dauerte eine Ewigkeit, bis sie oben war. Wie sie mir später erzählte, spielte sich stets folgendes ab: Wenn meine Mutter klingelte, suchte die Schwester, die hören konnte, die Schwester, die sehen konnte, und sie gingen gemeinsam zur Tür.

«Ja?» Die Frau sprach mit meiner Mutter durch den Spaltbreit, den die Tür sich bei vorgelegter Kette öffnen ließ. Keine der Frauen machte Anstalten, die Tür ganz zu öffnen.

«Hallo», sagte meine Mutter dann. «Ich bin’s, Thelma», und rang sich ein Lächeln ab.

Die Schwestern überlegten stets angestrengt, ohne daß ihnen je ein Licht aufging.

«Tut mir leid», sagte die Schwester, die sehen konnte, und wollte die Tür wieder schließen, so daß sich der ohnehin schmale Spalt, der unsere Mutter mit uns verband, noch weiter verringerte.

«Moment, bitte!» sagte meine Mutter. «Erinnern Sie sich denn nicht? Ich bin Thelma, Ihre Mieterin im zweiten Stock. Meine Kinder sind oben mit der Babysitterin.»

Wieder suchte jede vergeblich bei der anderen eine Bestätigung.

«Ich kenne keine Thelma», sagte dann die hörende Schwester. «Du etwa?» Die taube Schwester blickte verwirrt.

«Aber sicher kennen Sie mich», sagte meine Mutter. «Ich bin Ihre Mieterin, Thelma … Meine Kinder sind oben.»

Die Frauen schüttelten den Kopf. «Tut uns leid», sagten sie. «Also gute Nacht.» Und sie schlossen die Tür.

Meine Mutter klingelte erneut, und das Spiel begann von vorn. Manchmal dauerte es zwanzig Minuten, bis sie die Schwestern überzeugt hatte und hereingelassen wurde. Es war ein langer Winter. Ich glaube, meine Mutter hat sich in der Wohnung nie richtig zu Hause gefühlt.

Verzweifelt suchte sie eine andere Wohnung, aber es war keine zu finden. Wenn irgendwo mal eine frei war, ging sie an Leute, die das Geld hatten, den Hausverwalter mit mehreren hundert Dollar zu bestechen. Meine Mutter konnte von dem Sold meines Vaters und dem kleinen Gehalt, das sie im Geschäft meiner Tante Vivienne verdiente, kaum die laufenden Kosten decken. Sie würde es nie schaffen, das nötige Geld für eine bessere Wohnung aufzubringen. Es schien, als wären wir dazu verdammt, Fremde in unserem eigenen Zuhause zu bleiben.

Eines Nachmittags im Frühling sprach uns der Verwalter des Mietshauses auf der anderen Straßenseite an. Wir kamen gerade vom Einkaufen. Er hatte seit acht Monaten mit angesehen, wie meine Mutter die Vermieterinnen um Einlaß bat.

«Bei mir im Haus wird eine Wohnung frei», sagte er. «In einer Woche.»

Mutter fehlten die Worte vor plötzlicher Hoffnung.

«Sie können sie haben, wenn Sie möchten.»

Trotz der Tasche voller Lebensmittel in einem Arm und Jimmy im anderen schien mit einemmal alles leichter zu werden, schien sie ein bißchen aufrechter zu stehen.

«Sie sind wunderbar», sagte sie zu dem Mann, und ihr Gesicht wirkte heiterer, als ich es seit langem gesehen hatte. Die Leichtigkeit war ansteckend, und auch ich fühlte mich plötzlich beschwingt und sprang vor Freude auf und ab.

«Bonnie, Schätzchen, Vorsicht, du zerbrichst noch die Eier», sagte Mutter, und dann umarmte sie mich, und da standen wir, ich und sie und Jimmy aneinandergeschmiegt. Ich roch ihr Parfüm und Jimmys Babygeruch, und außer daß mein Vater noch nicht wieder zu Hause war, glaube ich, daß wir uns wie eine richtige Familie fühlten.

Das Gefühl der Stille

«Hör, wie der Wind weht, Liebes; hör, wie der Wind weht», lautet ein bekannter Refrain. Ich grübele darüber nach – ich verstehe es nicht. Was gibt es da zu hören?

Manche sagen, der Wind klingt anders, je nachdem, aus welcher Richtung er kommt. Kann das stimmen? Es übersteigt meinen Horizont.

 

Ich weiß, daß der Regen ein Geräusch macht: je stärker der Regen, desto lauter das Geräusch. Ich weiß das, weil viele Leute es mir erzählt haben. Aber niemand hat mir erzählt, wann – oder wie – der Regen ein Geräusch macht. Kommt das Geräusch vom Fallen des Regens selbst, oder hört man es nur, wenn die Tropfen aufschlagen, zum Beispiel auf den Boden oder gegen Fensterscheiben?

Macht auch Schnee ein Geräusch? Ich habe immer gedacht, mit dem Ausdruck «der leise rieselnde Schnee» sei gemeint, wie schnell der Schnee fällt, zum Beispiel zur Unterscheidung zwischen Schneesturm und leichtem Schneefall. Täusche ich mich da? Meint das Wort «leise» das leise Geräusch, mit dem der Schnee auf den Boden auftrifft?

Klingen Schneeflocken anders, wenn sie auf eine gefrorene Schneeverwehung fallen, als wenn sie auf Gras landen, und wieder anders, wenn sie auf einem Berg aus weichem, flaumigem Pulverschnee landen? Wie seltsam!

Ich weiß, daß raschelndes Papier ein Geräusch macht. Ich kann es fühlen. Das Papier ist glatt, und wenn ich es zerknülle, zerknittert es. Es erscheint mir logisch, daß das Zerknüllen und Zerknittern ein Geräusch macht. Dagegen begreife ich nicht, wieso das Aneinanderreiben von Kleidungsstücken ein raschelndes Geräusch macht. Kleidung ist weich und geschmeidig; wenn ich sie zerknautsche, geht das mühelos – der Stoff ist nicht widerspenstig wie Papier. Nein, ich finde es nicht logisch, daß Kleidung ein raschelndes Geräusch macht. Es ist absolut unlogisch. Dennoch versichert man mir immer wieder, daß man dabei ein Geräusch hört. Aber was für ein Geräusch? Bestimmt nicht ein Geräusch wie beim Zerknüllen von Papier. Es muß ein sehr viel friedlicheres Geräusch sein – irgendwie seidig.

 

In der Fernsehquizshow Jeopardy, in der zu vorgegebenen Antworten passende Fragen gesucht werden, lautete kürzlich eine Antwort «Verschüttete Suppe, die auf den Boden auftrifft». Noch während meine Gedanken durcheinanderwirbelten, sagte der Quizmaster, die richtige Frage sei «Was macht platsch?». Meine Vorstellungskraft läßt mich im Stich. Für mich ist Suppe eine geräuschlose Flüssigkeit. Ist denn nichts geräuschlos? «Hör mal», sagt jemand zu seinem Gegenüber. «Hör doch mal genau hin.» Ich kann es mir nur vorstellen.

 

Neulich las ich in der Zeitung, im Film E.T. habe eine Frau die Gehgeräusche von E.T. gemacht, indem sie Wackelpudding mit den Händen zermatschte. Ich weiß zwar, daß nicht alles, was in den Zeitungen steht, wahr ist, aber ist das nicht übertrieben, sogar für eine Zeitung? Wackelpudding macht ein Geräusch? Manches erscheint mir einfach zu weit hergeholt, um es zu glauben. Aber andererseits hat man mir erzählt, daß es Leute gibt, die mit ihren Achselhöhlen Geräusche machen. Das ist doch wohl ein Witz, oder? So naiv bin selbst ich nicht.

3

Die Eisenbahnwohnung sollte über fünf Jahre lang unser Zuhause sein, bis ich zehneinhalb Jahre alt war. Eisenbahnwohnung deshalb, weil ein Zimmer ins nächste führte. Um ins zweite Schlafzimmer zu kommen, mußte man durch das erste und so weiter. Wie bei Eisenbahnwaggons. Ich weiß nicht, wie meine Mutter die ersten Jahre damals überstanden hat. Ein guter Teil von ihrem Einkommen ging für die Kindertagesstätte drauf, die Jimmy und ich die Woche über besuchten. Ich haßte die Tagesstätte. Ich weiß nicht, ob die Leiterin von meiner Taubheit wußte, aber ich erinnere mich noch genau, daß ich die meiste Zeit nicht verstand, was wir machen sollten, da die Kindergärtnerinnen beim Sprechen nicht darauf achteten, mich anzusehen. Ich war aber noch zu klein, um meiner Mutter zu sagen, was mich störte, und sie hatte ohnehin keine andere Wahl. Ohne die Tagesstätte ging es nun mal nicht.

Mutter stand morgens ganz früh auf, zog uns an und brachte uns mit der U-Bahn zur Tagesstätte. Dann fuhr sie mit der U-Bahn weiter zur Arbeit. Jimmy und ich bekamen in der Tagesstätte Corn-flakes zum Frühstück und mittags ein kräftiges warmes Essen. Da wir schon etwas Richtiges zu Mittag gehabt hatten, machte Mutter uns abends eine preiswerte Suppe oder Erdnußbutter-Sandwiches. Jeden Samstag gab es unweigerlich Makkaroni mit Käse, billig, nahrhaft und sättigend. Mutter frühstückte nie, aß so wenig wie möglich zu Mittag und ließ auch manchmal das Mittagessen ganz ausfallen, um Geld für die U-Bahn-Karten zu sparen, damit wir sonntags zu Großmutter und Großvater fahren konnten. Das Abendessen am Sonntag bei ihnen zu Hause war die beste Mahlzeit der Woche.

Jimmy und ich bekamen von den täglichen finanziellen und emotionalen Kämpfen unserer Mutter nichts mit, wir waren glückliche und sorglose Kinder. Am Wochenende und abends im Sommer spielten wir stundenlang auf der Feuertreppe unserer Wohnung, was ich in schöner Erinnerung habe. Meine beiden engsten Freundinnen in unserer Straße waren zwei kleine schwarze Mädchen, Fifi und Charlene, die keine Ahnung hatten, daß ich nicht hören konnte, und nie auf den Gedanken kamen, daß ich irgendwie anders war als sie. Bis auf Tommy, den Sohn des Hausmeisters von gegenüber – der in einer Kellerwohnung voller Rohre wohnte –, und Peter Mamacos, der über uns wohnte, waren Jimmy und ich die einzigen weißen Kinder auf der Straße. Ich glaube nicht, daß es uns damals aufgefallen ist.

 

Ich bekam zwar Mutters Probleme nicht mit, aber ich war mir meiner eigenen sehr wohl bewußt. Da Mutter ganztags arbeitete, hatte sie nicht mehr soviel Zeit, mir vorzulesen oder sich mit mir zu unterhalten. Aber jeden Abend, egal wie müde sie war und wie sehr ich auch nörgelte, arbeitete sie mit mir mindestens eine Stunde, manchmal länger, an meiner Sprache: Sprechübungen, Rezitieren, die einzelnen Laute richtig artikulieren.

Mutter war Perfektionistin und bestand unter schrecklichen Drohungen (vor allem Leseverbot, was für mich eine Katastrophe gewesen wäre) darauf, daß ich die geübten Lektionen vor dem Spiegel wiederholte. Mir war das zuwider. Aber ich arbeitete hart und befolgte gewissenhaft ihre Anweisungen, denn wenn sie mit mir zufrieden war, durfte ich lesen. Und wenn ich las, war ich am glücklichsten. Schon mit vier Jahren waren Bücher meine große Leidenschaft, der ich, sooft ich konnte, frönte. Das einzige, das mich davon abhielt, waren die Übungen.

«Mach genau, was ich sage», sagte meine Mutter, als sie mir beizubringen versuchte, wie man flüstert. «Benutze deine Stimme genau wie beim Sprechen, aber laß sie sanfter, leichter, mit mehr Atem klingen.» Ich versuchte es. Ich brachte entweder keinen Ton heraus, oder meine Stimme war zu laut – von Flüstern konnte keine Rede sein.

«Ein Flüstern kommt aus der Kehle, nicht aus dem Bauch», erklärte meine Mutter. «Versuch, aus der Kehle zu sprechen.»

«Wie kann man denn aus der Kehle sprechen?» formte ich lautlos mit den Lippen vor mich hin. Aber ich probierte es unermüdlich weiter. Ich wollte unbedingt flüstern können. Immer wieder versuchte ich, Laute aus der Kehle statt aus dem Bauch hervorzubringen. Meine Kehle rebellierte; sie wollte nicht mitspielen. «Bist du sicher, daß nichts zu hören ist?» jammerte ich. «Ich bin sicher», erwiderte meine Mutter.

Manchmal machte mein Bruder Jimmy mit, was ich erniedrigend fand, da er jünger war. Was konnte er mir schon beibringen?

«Mach es einfach genau wie ich», sagte er, als er versuchte, mir Pfeifen beizubringen. «Spitz die Lippen und blase.» Ich spitzte die Lippen, ich blies. Nichts. «Nochmal», drängte Jimmy. «Preß den Ton durch die Lippen.» – «Was für einen Ton?» murrte ich atemlos. Aber ich gab nicht auf. Immer wieder spitzte ich die Lippen und blies. Immer wieder machte Jimmy es mir vor. Vergeblich.

Obwohl ich auch heute weder pfeifen noch flüstern kann, ernte ich nach wie vor die Früchte dieser allabendlichen Strapazen. Später meldete meine Mutter mich zu einem Sprach- und Lippenlesekurs an einer New Yorker Schule für Schwerhörige an. Mrs. Ronei war meine Lehrerin; ich fand sie toll. Zweimal die Woche fuhr ich die lange Strecke mit der U-Bahn zum Unterricht, und wenn ich zurückkam, wartete Mutter ungeduldig auf mich, um noch eine Stunde mit mir zu üben. Aber Mrs. Ronei merkte gleich, daß ich bereits perfekt Lippenlesen konnte. Die Hartnäckigkeit meiner Mutter in Verbindung mit meinem offensichtlichen Talent hatte sich ausgezahlt.

Doch ich verbinde auch schreckliche Erinnerungen mit der Zeit in unserer Eisenbahnwohnung. Nie werde ich die abendlichen Verdunkelungen in New York während des Krieges vergessen. Ich hatte panische Angst vor der Dunkelheit, denn dann war ich sowohl blind als auch taub. In den ersten Wochen, in denen die Verdunkelungen stattfanden, hatte ich fast den ganzen Tag über Angst vor dem Abend. Wie viele Stunden konnte ich noch das Tageslicht genießen, bevor wieder Dunkelheit und Stille kamen? Woher würde ich wissen, wann Bomben fielen, wo ich doch noch nicht mal merkte, wenn jemand sprach? Schließlich schafften wir uns Verdunkelungsvorhänge an, so daß wir während der Verdunkelungen etwas Licht in der Wohnung anlassen konnten. Ich konnte wieder frei atmen.

 

Wenn ich in meiner frühen Kindheit überhaupt über meine Taubheit nachdachte, zerbrach ich mir darüber den Kopf, inwieweit ich anders war. Meine Taubheit war für mich ein einziges Rätsel.

Doch auch andere Dinge verwirrten mich. An zwei Ereignisse erinnere ich mich ganz besonders: Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Wir fuhren bei jemandem im Auto mit. Ich saß hinten mit Mutter und Jimmy. Wir redeten und lachten. Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Sonne versank, und die Dämmerung kam. Schließlich konnte ich Mutters und Jimmys Lippen nicht mehr sehen. Ich hörte auf zu reden (wie ich es noch heute tue, wenn es dunkel wird). Aber – Moment! Ich lehnte gegen meine Mutter, und ich konnte fühlen, daß sie noch immer redete. «Komisch», dachte ich. «Wie kann sie denn im Dunkeln reden?» Ich rückte zur anderen Seite und lehnte mich gegen Jimmy. Erstaunlicherweise konnte ich fühlen, daß auch er redete! «Was mache ich falsch?» fragte ich mich. «Wieso können sie im Dunkeln reden und ich nicht?»

Aber ich fragte sie nicht, aus Angst, sie würden merken, wie dumm ich war.

Die zweite Erinnerung: Ich sah Mutter zu, wie sie unsere Wohnungstür öffnete und einen Besucher begrüßte. Ich beobachtete das mehrmals. Jedesmal, wenn sie die Tür öffnete, stand jemand davor. Toll! Ich fand es schön, wenn Besuch kam. Also versuchte ich es auch. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und öffnete die Tür. Es war niemand da. Ich schloß die Tür, verwirrt. Später versuchte ich es erneut. Wieder niemand. Dann ging meine Mutter unvermittelt wieder zur Tür und öffnete sie. Jedesmal war jemand da. Ich war völlig durcheinander. Hatte Mutter Zauberkräfte und konnte Besucher erscheinen lassen?

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als mir schließlich klarwurde, daß meine Mutter immer dann die Tür öffnete, wenn jemand klopfte oder klingelte.

 

Taubsein war auch noch mit ein paar ganz besonderen Kümmernissen verbunden. Zum Beispiel zu Weihnachten. Wieder kam der Weihnachtsmann in die Stadt. Mit schneeweißem Bart, der sein Gesicht vollständig einhüllte (und seine Lippen bedeckte). Wieder einmal. Ach, wie ich die Kinder beneidete, die beim Weihnachtsmann auf dem Schoß saßen und unbekümmert mit ihm redeten. Mit äußerster Konzentration beobachtete ich, wie der Weihnachtsmann mit den Kindern plauderte, die vor uns dran waren. Nein, es war hoffnungslos. Ich konnte es nicht. Wieder würde ich wie ein Dummkopf auf seinem Schoß sitzen und auf seine unsichtbaren Fragen nicht reagieren können. Wie lange würde er einem so dummen Mädchen noch Geschenke bringen? Würde es dieses Jahr das letzte Mal sein?

 

Ich mußte meine Taubheit, so gut ich konnte, verstecken. Taub war ein unanständiges Wort, das man in Gesellschaft kultivierter Menschen nicht in den Mund nahm. Als ich zum erstenmal «hörte», daß das Wort ausgesprochen wurde, war ich etwa sechs Jahre alt. Mutter war mit mir wegen irgendeiner Kinderkrankheit zum Arzt gegangen. Während der Sprechstunde erzählte Mutter, daß sie wegen etwas besorgt war, das ich nicht tat, ihrer Meinung nach aber tun sollte. Ich bekam nicht genau mit, worum es ging, sondern las nur die Erwiderung des Arztes von den Lippen ab. «Mrs. Poitras, Sie müssen schließlich bedenken, daß Bonnie taub ist.»

Als wir gegangen waren, fragte ich Mutter: «Der Doktor hat gesagt, ich bin taub. Was bedeutet das?»

«Ach», sagte Mutter achselzuckend, «nichts weiter. Du bist einfach nur etwas schwerhörig.»

Mutter tat alles dafür, daß ich eine normale Kindheit hatte. An den Wochenenden, und im Sommer manchmal auch abends, brachte sie Jimmy und mich zum Riverside Drive, wo wir mit den Kindern ihrer Freundinnen spielen sollten, weil sie die Wohngegend für besser hielt. Zu ihrem großen Kummer verstand ich mich mit den Kindern nicht. Sie mochten mich einfach nicht, wie sehr ich mich auch bemühte.

Ich kam nicht auf den Gedanken (und offenbar auch keine von den Müttern), daß die Kinder mich unter anderem deshalb nicht mochten, weil ich ihre Spiele nicht richtig verstand. Meistens wußte ich gar nicht, was vor sich ging. Wie alle Kinder waren sie ständig in Bewegung, so daß ich ihnen nicht ununterbrochen auf den Mund gucken konnte. Ich schnappte zwar das eine oder andere Wort auf, aber ich kriegte das Wesentliche nicht mit. Und deshalb reagierte ich oft falsch. Ich erinnere mich noch an ein Spiel namens «Krieg». Ich habe die Regeln nie kapiert. Ich wußte nicht, wer der Feind war und worum es eigentlich ging. Was ich auch tat, es war nie richtig.

Ein anderes Spiel war «Räuber und Gendarm». Der Gendarm zählte bis sechzig, während alle anderen sich versteckten. Dann mußte der Gendarm die anderen suchen, und jeder, den er entdeckte, kam ins Gefängnis, das auf dem Bürgersteig durch eine Blechdose markiert war. Manchmal mußte der Gendarm etwas weiter vom Gefängnis weggehen und die Gefangenen unbeaufsichtigt lassen. Das war die Gelegenheit für einen Mitspieler, der noch nicht gefunden worden war, sich als Held zu beweisen; er verließ sein Versteck, rannte zum Gefängnis, um gegen die Blechdose zu treten, womit er alle Gefangenen befreite. Sie versteckten sich wieder, und der arme Gendarm konnte von vorn anfangen. Die Befreiung der Gefangenen ließ sich nur dann verhindern, wenn der Gendarm hörte, wie der Räuber zur Blechdose lief, vor ihm dort war und einen Fuß auf die Blechdose stellte. Der verhinderte Held mußte sich dann zu den anderen Gefangenen gesellen.

Ich haßte dieses Spiel. Zunächst begriff ich nicht, worum es dabei ging. Niemand erklärte es mir; es wurde einfach erwartet, daß man es kapierte. Als ich schließlich die Regeln durchschaute, verstand, was die Blechdose für eine Rolle spielte, hörte ich nicht, wenn sie umgetreten wurde. Auch hörte ich nicht das Jubelgeschrei und das Gelächter der Kinder, wenn sie befreit wurden.

Also tat ich das, was ich immer tat – ich täuschte vor. Ich ahmte nach, was die anderen machten, versteckte mich, wenn sie sich versteckten. Einmal folgte ich einem Mädchen in ein Gebüsch zwischen zwei Zäunen, aber sie verscheuchte mich. Es war strategisch klüger, sich allein zu verstecken; niemand wollte durch jemand anderen verraten werden. Ich hatte schon mal Verstecken gespielt – und um nichts anderes schien es sich hier zu handeln. Ich suchte mir ein gutes Versteck.

Sobald ich mich versteckt hatte, war ich von dem Spiel ausgeschlossen, von der Welt. Aber dieses Gefühl kannte ich. Da ich es gewohnt war, viel allein zu sein, hockte ich ganz zufrieden in meinem Graben. Die Sonne ging unter, und es wurde dämmerig. Zuerst plagten mich die Mücken, doch als es ganz dunkel wurde, ließen sie mich in Ruhe. Henry war der Gendarm; ich wartete, daß er mich fand.

Je länger ich in meinem Versteck war, desto mehr hatte ich das Gefühl, das Spiel sehr gut zu spielen. Vielleicht war ich ja sogar die Gewinnerin.

Verliererin war richtiger. Das Spiel war schon lange vorbei, als meine Mutter, nicht Henry, mich fand. Sie war außer sich vor Sorge. Alle hatten mich gesucht; warum war ich nicht aus meinem Versteck gekommen, als gegen die Blechdose getreten worden war? Meine Mutter drückte mich, klopfte den Dreck von mir ab. Die Kinder, alle außer Jimmy, starrten mich an wie das achte Weltwunder, als ich aus dem Graben stieg.

Auf dem Weg nach Hause war nicht ich es, die weinte, sondern meine Mutter. Auch ich war todunglücklich, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ich wußte, es war meine Schuld, daß die anderen Kinder mich nicht mochten, aber ich wußte nicht, was ich dagegen tun konnte. Ich fühlte mich schuldig; ich mußte ein schrecklicher Mensch sein, wenn ich so unsympathisch war.

Das Gefühl der Stille

Ich benutze die Augen, wenn Sie die Ohren benutzen. Was Sie hören, lese ich von den Lippen ab. Ich konnte schon immer gut Lippenlesen. Aber Lippenlesen ist nicht immer eine Lösung. Es funktioniert meist nur von Angesicht zu Angesicht, bei hellem Licht, mit einem Menschen, dessen Lippen weder durch einen Schnurrbart noch durch einen Überbiß verdeckt werden und der auch keinen ausländischen Akzent hat, wodurch die Lippenbewegungen, die der Lippenleser zu erkennen gelernt hat, verzerrt werden. Und es klappt nicht bei jemandem, der nuschelt oder ständig aus deinem Gesichtsfeld verschwindet.

Über den Daumen gepeilt würde ich sagen, daß nur dreißig Prozent der Sprachlaute uneingeschränkt von den Lippen lesbar sind. Die Laute b, p und m beispielsweise sehen auf den Lippen gleich aus, so daß beispielsweise die Wörter Beter, Peter und Meter nicht von einander zu unterscheiden sind. Sie lassen sich nur aus dem Kontext erschließen. Wenn ich weiß, worum es geht, kann ich alles, was Sie sagen, verstehen – aus dem Kontext. Bei manchen Wörtern jedoch, zum Beispiel bei unbekannten Eigennamen, gibt es keinerlei Bezugsrahmen. Solche Wörter sind nicht von den Lippen ablesbar.

 

Angenommen, Sie sind Bildhauer, und zwar ein sehr guter. Aber niemand in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis versteht etwas von Bildhauerei. In den Augen der anderen sind Ihre phantastischen Skulpturen, gemessen an dem, was sie im Töpferkurs gelernt haben, bloß fortgeschrittenere Arbeiten. Oder angenommen, Sie sind eine hochbegabte Malerin. Doch Ihre Freunde und Bekannten verstehen nichts von Malerei. Für sie sehen Ihre Meisterwerke lediglich etwas fortgeschrittener aus als die Zeichnungen, die sie selbst in der Schule gemacht haben. Wie würden Sie auf solche Ignoranz reagieren?

Lippenlesen ist, wie Bildhauerei und Malerei, eine Kunst. Doch unsere Umwelt kann diese Kunstform nur wenig verstehen oder wertschätzen. Das ist für die talentierten Lippenleser unter uns manchmal frustrierend. Doch wir haben gelernt, diese Frustration meistens herunterzuschlucken und uns an unseren Fähigkeiten zu freuen. Wenn also jemand sagt, daß ein Lippenleser außerstande ist, mehr als dreißig oder vierzig Prozent des Gesagten zu verstehen, zucke ich bloß mit den Achseln. Ich weiß, daß ich in den meisten Fällen hundert Prozent des Gesagten verstehe, und ich weiß auch, daß ich, wenn ich mal nicht alles verstehe, normalerweise genau weiß, was ich nicht mitbekommen habe, und mich in der Situation behelfen kann, wenn ich will. Mein Wissen reicht mir – ich brauche weder das Wissen noch das Verständnis von anderen. Aber manchmal werde ich schwach. Dann lasse ich mich von kindlichen, negativen Emotionen überwältigen.

Eines Tages bekam ich von einem FBI-Agenten (via Dolmetscher) einen Anruf. Ich sollte für eine Woche nach Miami fliegen, um an einem Überwachungseinsatz teilzunehmen und die Unterhaltung von Leuten, gegen die in einem großen Fall ermittelt wurde, von den Lippen abzulesen. Ich fand das spannend – es hätte mich gereizt, von der Seite und aus der Ferne Lippen zu lesen, vor allem, wenn die betreffenden Leute nicht wollten, daß jemand mithörte. Doch leider war ich in der fraglichen Zeit unabkömmlich. Der FBI-Agent sagte, er würde sich mit anderen Lippenlesern in Verbindung setzen und mich am nächsten Tag wissen lassen, was er erreicht hatte.

Am nächsten Morgen rief er auch wirklich wie versprochen an und sagte, er habe zwei Lippenleser gefunden, die den Job übernehmen wollten. Als ich ihre Namen hörte, war ich verblüfft. Einer war ein Bekannter von mir, ein hörender Dolmetscher. «Ich glaube, da liegt ein Irrtum vor», sagte ich. «Mr. X ist Dolmetscher, kein Lippenleser.» – «Oh, aber er hat uns versichert, daß er Lippenleser ist», erwiderte der FBI-Mann. Da ich sicher war, daß es sich um ein ernstes Mißverständnis handeln mußte, das schwere Folgen haben konnte, rief ich meinen hörenden Bekannten an. Lachend sagte ich zu ihm: «Das FBI scheint dich versehentlich für einen Lippenleser zu halten.» – «Aber ich bin doch Lippenleser», entgegnete mein Bekannter. «Ich habe dem FBI gesagt, daß ich nicht so gut bin wie du, sondern nur halb so gut von den Lippen lesen kann wie du. Aber ich bin Lippenleser.»

Mein Bekannter würde sich zwar nicht als Maler oder Bildhauer bezeichnen, doch er hatte keinerlei Bedenken, sich als Lippenleser zu bezeichnen. Das war so eine Situation, in der ich mich von kindlichen, negativen Emotionen überwältigen ließ. Kann ein Nichtlippenleser überhaupt erahnen, wozu ein richtig guter Lippenleser fähig ist?

4

Als ich eingeschult werden sollte, schlug eine Freundin meiner Mutter vor, mich in der staatlichen Schule für Gehörlose anzumelden. Mutter war entsetzt. «So gehörlos ist sie nicht!» Als ich sah, wie sie das sagte, fragte ich mich, auf wie viele verschiedene Arten man gehörlos sein konnte. Auf welche Art war ich es?

Mutter erzählte Mrs. Ronei, was ihre Freundin gesagt hatte. Überraschenderweise stimmte Mrs. Ronei meiner Mutter zu. «Bonnie kommt viel zu gut klar. In der Welt der Gehörlosen ist sie fehl am Platz», sagte sie. «Warum sie in so eine Schublade stecken?» Ich sollte also auf eine normale Schule wie alle anderen.