Der kleine Eselhof an der Küste - Tilly Tennant - E-Book
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Der kleine Eselhof an der Küste E-Book

Tilly Tennant

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Beschreibung

Voller Träume zog Hattie vor zwei Jahren nach Paris. Nun steht sie vor den Trümmern ihres Lebens: Job weg, Mann weg, kein Geld für eine Wohnung. Geknickt kehrt sie in das verschlafene Dörfchen Gillypuddle in Dorset zurück. Doch Aufgeben ist für Hattie keine Option, ein neuer Job muss her! Und so heuert sie auf dem Gnadenhof für Esel an. Vom ersten Tag an ist sie begeistert. Nicht nur von den Eseln, auch der attraktive Tierarzt Seth hat es ihr angetan. Nur ihre Chefin Jo bleibt ihr gegenüber wortkarg und abweisend. Doch der Hof steckt in Schwierigkeiten, und damit die alten Esel ihr Zuhause behalten, muss Hattie einen Weg finden, zu Jo durchzudringen ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Danksagung

Über das Buch

Voller Träume zog Hattie vor zwei Jahren nach Paris. Nun steht sie vor den Trümmern ihres Lebens: Job weg, Mann weg, kein Geld für eine Wohnung. Geknickt kehrt sie in das verschlafene Dörfchen Gillypuddle in Dorset zurück. Doch Aufgeben ist für Hattie keine Option, ein neuer Job muss her! Und so heuert sie auf dem Gnadenhof für Esel an. Vom ersten Tag an ist sie begeistert. Nicht nur von den Eseln, auch der attraktive Tierarzt Seth hat es ihr angetan. Nur ihre Chefin Jo bleibt ihr gegenüber wortkarg und abweisend. Doch der Hof steckt in Schwierigkeiten, und damit die alten Esel ihr Zuhause behalten, muss Hattie einen Weg finden, zu Jo durchzudringen …

Über die Autorin

Tilly Tennant stammt aus Dorset. Sie ist das älteste von vier Geschwistern. Nach einigen Jahren voll trostloser Jobs – darunter Verkäuferin, Kellnerin und Zeitungsabopromoterin – entschied sie sich, ihrer Passion für das geschriebene Wort nachzugehen, und begann ein Studium in den Fächern Englischen Literatur und Kreatives Schreiben, dass sie mit Auszeichnung abschloss. Ihr erstes Buch schrieb sie in den Semesterferien 2007 und hat seitdem nicht mehr mit dem Schreiben aufgehört. Tilly Tellant hat mittlerweile über zwanzig Romane veröffentlicht. Sie lebt mit ihrer Familie in Staffordshire.

TILLY TENNANT

ROMAN

Aus dem Englischen von Ralph Sander

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Tilly Tennant

Titel der englischen Originalausgabe: »Hattie’s Home for Broken Hearts«

Originalverlag: First published in Great Britain by Storyfire Ltd. Trading as Bookouture.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Silvana Schmidt, Dortmund

Einband-/Umschlagmotive: © istock: PPAMPicture | AndyRoland | fotoVoyager | Cecilie_Arcurs | Martin Wahlborg | v_zaitsev

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0389-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Das Leben konnte so schön sein, doch auch wenn es mal nicht ganz so schön war, gab es eine feste Größe: Ganz gleich, was sich gerade in Hatties Leben abspielte – Paris hatte immer etwas Magisches an sich. Der Stadt wohnte ein Zauber inne, der sich nicht recht in Worte fassen ließ. Er strahlte vom Kopfsteinpflaster, das bei Regen rutschig wurde, genauso aus wie vom einladenden Lichtschein eines Bistros in einer kleinen Seitenstraße. Dieser Zauber, der sich nicht so recht greifen ließ, war es, den die Touristen in sich aufsaugten, wenn sie mit müden Beinen auf der Champs-Élysées unterwegs waren und alles mit staunenden Augen betrachteten. Die Franzosen hatten dafür einen Ausspruch: Je ne sais quoi. Wer außer den Franzosen war schon in der Lage, den Worten Ein gewisses Etwas einen romantischen Klang zu verleihen?

Hattie saß auf der niedrigen Mauer und hatte den Blick auf die Seine gerichtet. Die schwüle Abenddämmerung lag bereits über der Stadt, der tiefblaue Himmel ging langsam in samtene Schwärze über. Boote bahnten sich ihren Weg auf dem Fluss, größtenteils jene flachen, breiten und rundum verglasten Touristenboote, die im Verlauf der letzten zwei Jahre für Hattie zu einem vertrauten und längst alltäglichen Anblick geworden waren. Die zahllosen Lichter der Boote spiegelten sich im Wasser der Seine und erschienen auf den Wellen wie goldene Explosionen. Die Ufer wurden von den makellosen, prachtvollen Fassaden der eleganten alten Häuser gesäumt, die alle in einem solchen Glanz erstrahlten, als wollten sie sich gegenseitig überbieten. In der Ferne ragte der Eiffelturm stolz in den Himmel und wachte in einer Weise über die Stadt, als wollte er sich mit jedem anlegen, der zu bestreiten wagte, dass der Turm der wundervollste Anblick an diesem von Magie erfüllten Ort war.

Hattie betrachtete die Stadt, die zwei Jahre lang ihr Zuhause gewesen war. Nie zuvor war dieser so vertraut gewordene Anblick so sehr ein Grund zur Traurigkeit gewesen wie jetzt. Der Flug nach England war bereits gebucht. Vielleicht hätte Alphonse sie nach einer Weile ja doch gebeten, es sich noch einmal zu überlegen, doch es war bereits zu viel Porzellan zerschlagen worden.

Sie wusste auch nicht, ob das professionelle Verhältnis zwischen ihnen beiden je wieder so sein könnte, wie es einmal gewesen war – und ob sie das überhaupt wollte. Vielleicht war ja die Katastrophe an dem Abend, als seine neue Kollektion vorgestellt worden war, so etwas wie ein Omen gewesen.

So sehr Hattie Paris auch liebt – sie war schon seit Monaten von dem seltsamen Gefühl geplagt worden, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie hatte als seine persönliche Assistentin angefangen, voller Tatendrang, so viel wie möglich über die Branche zu lernen. Ihre ganze Arbeit hatte allerdings nur darin bestanden, für ihn das Mittagessen zu besorgen und die Wäsche aus der Reinigung zu holen. Mehr als einmal hatte sie ihn darauf angesprochen, doch er hatte ihr nur mit dem Finger auf die Nasenspitze getippt und sie gewarnt, sie solle nichts überstürzen, da alles gut ausgehen würde. Er hatte gut reden, denn er war auf dem besten Weg, ein angesagter Modedesigner zu werden. So strahlend seine Zukunft auch sein würde und so hell der Stern seiner Karriere aktuell schillerte, bewegte sich Hatties eigener Stern unbeirrt auf einer viel niedrigeren und weitaus weniger beeindruckenden Umlaufbahn.

Und dann war es doch noch passiert! Alphonse hatte ihr für die Eröffnung seiner Show die Aufgabe übertragen, sich um die Bühnendekoration zu kümmern. Da war sie noch außer sich vor Freude gewesen. Doch dann war alles ganz verheerend schiefgelaufen. Alphonse hatte sich so in seine Wut hineingesteigert, dass Hattie nicht nur um ihr eigenes, sondern auch um sein Leben gefürchtet hatte. Sie war fristlos gefeuert worden, was er schnell zu bereuen begann, als ihm klar wurde, dass er sich selbst um einen Kaffee und um die Reinigung kümmern musste, wenn er Hattie gehen ließ. Der Vorfall hatte Hattie aber längst zu einem Entschluss gebracht.

Sie stand von der Mauer auf und atmete tief durch. Es war schön, Paris, dachte sie, und ich werde dich auch nie vergessen … aber es wird Zeit heimzukehren.

Ganz egal, wie widersprüchlich die Gefühle waren, die der Gedanke an die Heimkehr in ihr auslöste – die mit Fingerhut gesäumten Straßen, auf denen das Taxi sie zu ihrem Elternhaus fuhr, die Wiesen mit ihren Wildblumen und die Haine aus uralten Bäumen, die im Vorbeifahren zu verwischten Schemen wurden, hatten doch immer eine besänftigende Wirkung auf sie. Gleiches galt für die bildhübschen Häuser in jenem Dorf in Dorset, wo sie zur Welt gekommen war – jedes Haus mit Reetdach, in Pastelltönen gehaltenen Fassaden und Rosenbüschen im Garten davor. Der Frühsommer war in dieser Region wirklich eine bemerkenswerte Jahreszeit, da die Landschaft jeden Moment vor Leben zu explodieren schien.

Als sie aus Gillypuddle weggegangen war, hatte sie viele ihrer Sorgen dort zurückgelassen, aber auch viele schöne Erinnerungen und Menschen, die ihr wichtig waren. Sie konnte nicht abstreiten, dass es schön sein würde, diese Menschen wiederzusehen, Erinnerungen wiederaufleben zu lassen und vielleicht auch ein paar neue Erinnerungen zu schaffen.

»Schönes Haus«, merkte der Taxifahrer anerkennend an, als er vor der geschwungenen Auffahrt anhielt. Hattie hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, wie das Zuhause ihrer Eltern auf andere Leute wirken mochte. Und doch hatten manche verstohlenen bewundernden Blicke ihr vor Augen geführt, dass Fremde das für bemerkenswert hielten, was für sie etwas ganz Gewöhnliches war. Für sie war es bloß das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Doch als sie jetzt aus dem Seitenfenster schaute, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie beeindruckend und prachtvoll sein Anblick war. Anders als bei den meisten Cottages im Dorf war das Dach nicht mit Reet gedeckt, sondern mit Dachziegeln. Es war auch deutlich größer als die umliegenden Häuser, und der ursprüngliche Teil der Fassade stammte noch aus der Zeit von König George. Im Laufe der Jahre war das Gebäude immer wieder renoviert und erweitert worden.

Auch das Grundstück hatte etwas Beeindruckendes an sich, da es mit ausladenden Büschen und Bäumen mit dichten Kronen übersät war. Dieser Überfluss an Grün war ihrem Vater und seiner Leidenschaft fürs Gärtnern zu verdanken. Das Haus lag gut eine Meile vom Meer entfernt, aber auch wenn der Nebel manchmal von der See bis hierher ins Landesinnere vordrang, konnten sie das Meer von hier aus nicht sehen. Allerdings war es immer noch nahe genug, um zu Fuß hinzugehen. Den Strand in Gehweite zu haben, war mit das Beste daran gewesen, hier aufzuwachsen.

»Danke«. Hattie blickte auf das Taxameter und gab ihm einen ausreichend großen Schein. »Der Rest ist für Sie.«

Der Fahrer tippte an den Schirm seiner imaginären Mütze und stieg aus, um ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu holen. Als Hattie bei ihm angekommen war, stand bereits alles am Straßenrand.

»So in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, danke«, sie nickte. »Die paar Schritte sind kein Problem.«

»Alles klar.«

Er nickte ihr noch einmal zu, dann stieg er wieder ein und fuhr los. Hattie betrachtete das Haus und atmete tief durch. Ihre Eltern würden sich bestimmt freuen, sie wiederzusehen, oder nicht? Sie nahm ihre Taschen an sich und ging zum Haus. Nicht mehr lange, dann würde sie die Antwort auf ihre Frage erhalten.

»Halloohooo!«

Hattie drückte die Haustür hinter sich zu und ließ alle Taschen auf den Boden fallen. Im Flur herrschte Stille, also rief sie noch einmal: »Haaallooo! Jemand zu Hause?«

Nichts, kein Laut. Ihre Eltern mussten unterwegs sein, aber das hatte sie auch fast schon erwartet … und vielleicht sogar ein klein wenig gehofft. Eines war jedoch sicher: Sie konnte sich nicht darüber beklagen, von niemandem begrüßt zu werden, wenn sie niemandem etwas von ihrer Heimkehr gesagt hatte.

Ihre Eltern hatten wieder einmal umdekoriert. Die Wände des großen Eingangsbereichs, der wirklich nichts anderes war als ein großer Raum mit vielen Türen und einer Treppe zu den oberen Stockwerken, waren bei ihrem letzten Besuch noch von einer dicken Tapete bedeckt gewesen, doch die war inzwischen entfernt worden. Stattdessen waren nun unterschiedliche Kontraste mit den Farben Salbei und Beige erzeugt worden – die neuen Farben ließen den Raum heller und sauberer erscheinen … und optimistischer. Die Fotogalerie war jedoch erhalten geblieben, und mit ihr auch eine alles durchdringende Traurigkeit, da sie an alles erinnerte, was längst verloren war, aber auch an die Unbeweglichkeit der Zeit, die Hattie jahrelang die Luft geraubt hatte, ehe sie von hier weggegangen war. Langsam schlenderte sie durch den Eingangsbereich und blieb vor jedem der aufgehängten Bilder stehen.

Da war ihre ältere Schwester Charlotte, die mit ihrer Auszeichnung für ihr Violinspiel in die Kamera lächelte. Charlotte als Gewinnerin des Reiterfests. Charlotte in ihrer Schuluniform, wie sie stolz ihr Abzeichen als Schülersprecherin präsentiert. Charlotte an ihrem sechzehnten Geburtstag. Charlotte in ihrem Chorgewand. Charlotte, wie sie dem Bürgermeister die Hand schüttelt und in die Kamera strahlt …

Dann, ganz am Ende der Reihe, gleich neben der Treppe, ein Foto von Hattie und Charlotte gemeinsam am Strand, beide blinzeln und lächeln in die Kamera. Die Sonne, die auf dem Foto nicht zu sehen ist, scheint grell und heiß.

Hattie konnte sich selbst jetzt noch daran erinnern, wie die Sonne auf ihren Rücken gebrannt hatte. Sie musste ungefähr sechs oder sieben gewesen sein, Charlotte war fünf Jahre älter. Schon seit Langem vermutete Hattie, dass dieses Foto nur aus einem Grund in der Galerie gelandet war: weil Charlotte darauf so einzigartig engelsgleich aussah. Hattie selbst sah dagegen aus wie ein Mauerblümchen, während es im Fotoalbum ihrer Mutter Bilder gab, auf denen sie viel hübscher wirkte.

Sie musste beim Anblick dieses Fotos seufzen. Ihre Eltern würden niemals aufhören, um Charlotte zu trauern, und das erwartete Hattie auch gar nicht von ihnen. Dennoch kam es ihr manchmal so vor, als wäre das Trauern der einzige Daseinszweck ihrer Eltern. Seit Charlottes Tod hatte es nichts Wichtigeres mehr gegeben, als die Erinnerung an sie aufrechtzuerhalten. Hatties eigene Kindheit war in einem solchen Maß davon geprägt gewesen, dass sie sich manchmal gefragt hatte, ob ihre Eltern wohl vergessen hatten, dass da noch eine zweite Tochter war.

Und dann waren da auch noch die fortwährenden Vergleiche, verbunden mit der ständigen Enttäuschung, dass Hattie nicht so war wie ihre Schwester. Zu Charlottes Lebzeiten hatten sie diese Unterschiede zwischen beiden Töchtern immer wieder feiern können, da es mehr als genug Gelegenheiten dazu gegeben hatte. Damals hatten ihre Eltern die Gewissheit gehabt, dass zumindest eines ihrer Kinder so geraten würde, wie sie es sich ausgemalt hatten. Doch mit dem Tod von Charlotte war es Hattie so vorgekommen, als hätte sie sich in die lebende Grabinschrift von Charlotte verwandelt. Als würden sie nun erwarten, dass Hattie all das erreichte, was ihre Schwester vorgemacht hatte, um so die Lücke zu schließen, die der Tod in ihr Leben gerissen hatte.

Durch den Umstand bedingt, dass sie nicht mehr erwachsen werden konnte, blieb Charlotte davor bewahrt, ihre Eltern zu enttäuschen. Sie würde niemals auf die schiefe Bahn geraten, nie den falschen Mann heiraten, nie zu früh oder zu spät in ihrem Leben Kinder kriegen und niemals Fehler machen. Auf allen Fotos würde sie immer noch da sein: die perfekte Tochter, deren Leistungen und Erfolge in erstarrten Bildern bewundert werden konnten. Hattie dagegen, die noch lebte und die fehlbar war, beging all diese Fehler, indem sie sich über den Wunsch ihrer Eltern hinweggesetzt hatte und nach Paris gezogen war, wo sie dann alles falsch gemacht hatte, was man nur falsch machen konnte.

Hattie ging zu ihren Taschen zurück und betrachtete sie. Als in Paris alles den Bach runtergegangen war, hatte der Gedanke an eine Rückkehr in ihr Elternhaus verlockend gewirkt. Jetzt aber war Hattie sich nicht mehr sicher, ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war. Der Flur, in dem sie sich jetzt aufhielt, stand eigentlich für all die Gründe, die sie ursprünglich dazu veranlasst hatten, das alles hinter sich zu lassen. Warum war sie dann so versessen darauf gewesen, ausgerechnet hierher zurückzukehren, nachdem ihr Leben in Paris in die Brüche gegangen war? Hatte sie etwa erwartet, in ihrem alten Leben Trost und Sicherheit zu finden? In finanzieller Hinsicht mochte das ja zutreffen, aber in emotionaler Hinsicht würde ein solcher Trost wohl lange auf sich warten lassen.

Sie atmete tief ein und straffte die Schultern. Ihre Eltern würden sich darüber freuen, sie wiederzusehen, und es würde auch guttun, wieder daheim zu sein. Und selbst wenn nicht, würde das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, ihr so viel Vertrautes bieten, dass es die Zeit wert sein würde, die sie hier verbringen wollte. Außerdem hatte sie ja nicht vor, für immer hierzubleiben. Sie brauchte nur eine Verschnaufpause, etwas Zeit, um ihr Leben neu zu ordnen und sich zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte …

Sie schaffte ihr Gepäck in eine Ecke des Flurs und ging weiter bis zur Küche. Die Sonne schien durch das Glasdach und wurde von den marmornen Arbeitsplatten reflektiert. Danach zu urteilen, wie intensiv es noch nach Desinfektionsmittel roch, musste die Reinigungskraft Carmen noch kurz zuvor hier gewesen sein. Hattie ging zum Kühlschrank, der wie üblich randvoll mit Lebensmitteln war. Ihr Flug hatte sich verspätet, dadurch war es ihr nicht möglich gewesen, nach dem Einchecken früh am Morgen noch irgendetwas zu essen.

Bestimmt störte es ihre Eltern nicht, wenn sie die Packung Schinken aufmachte, um damit ein Sandwich zu belegen. Es war hochwertiger Schinken, wie ein Blick auf die Verpackung ihr verriet. Es war weitaus besseres Essen als das, was sie gezwungenermaßen hatte kaufen müssen, als sie in Frankreich gelebt hatte. Ihre Eltern hatten schon immer von allem nur das Beste haben wollen, wodurch Hattie ihr Leben lang keine Ahnung hatte, wie Billigmarken überhaupt aussahen. Erst in Paris hatte sich das geändert. Die Kombination aus einer unverschämt hohen Miete und schlechter Bezahlung hatte dazu geführt, dass ihr die Bedeutung von »billig« sehr schnell bewusst geworden war. Zuerst hatte es ihr noch gefallen, sparsam mit ihrem Geld umzugehen, weil es ihr wie ein Aufbegehren gegen ihre Erziehung vorgekommen war. Doch schon bald hatte sie einsehen müssen, dass sie daheim ein wirklich privilegiertes Leben hatte genießen können. Durch all das, was ihr zuvor zur Verfügung gestanden hatte, war ihr schlechtes Gewissen erwacht. Sie hatte sich so sehr davon distanzieren wollen, dass sie neuen Freunden nie ein Wort davon erzählte. Doch in diesem Moment war eine Scheibe von diesem teuren Schinken genau das, was sie brauchte. Vielleicht konnte sie ihren Eltern ja dieses eine Mal die hohen Ansprüche nachsehen.

Sie hatte sich soeben mit ihrem Schinken-Gurken-Sandwich und einem großen Glas kaltem, frischem Orangensaft an die Kücheninsel gesetzt, als sie eine Stimme hörte, die vom Flur in die Küche getragen wurde. Sie war leise und entfernt, aber unverkennbar eine Stimme. Mit einem bedauernden Blick auf ihr Mittagessen stand sie auf und ging zurück in den Flur, um nachzusehen. Der Briefeinwurf in der Haustür stand offen, durch den Schlitz war ein Mund zu sehen.

»Dr. Rose? Mrs Rose?«

Hattie musste lächeln, als sie die Stimme erkannte. Sie lief zur Tür und riss sie auf, woraufhin der kleine alte Mann, der draußen stand, beinahe nach vorn gekippt wäre. Er hob den Kopf, sein erschrockener, irritierter Gesichtsausdruck wich im nächsten Moment einem strahlenden Lächeln.

»Hattie!«, rief er, während sie die Arme um ihn schlang.

»Rupert!«

»Keiner hat mir was davon gesagt, dass du nach Hause kommst!« Er lehnte sich zurück, um sie besser anschauen zu können.

»Bis gestern wusste ich selbst noch nicht, dass ich herkommen würde«, erwiderte sie und versuchte, dabei nicht über die Ereignisse nachzudenken, die sie zu diesem Entschluss gebracht hatten. Es war viel zu erfreulich, ihren alten Nachbarn wiederzusehen, als dass sie sich von dieser Art der Melancholie einen solchen Moment ruinieren lassen würde. »Wie geht es dir? Es ist so schön, dich zu sehen.«

»Es ist noch viel schöner, dich zu sehen, meine Liebe«, antwortete er gut gelaunt. »Ich schätze, deine Eltern sind ganz aus dem Häuschen darüber, dass du wieder hier bist.«

»Die wissen noch gar nichts davon. Ich bin eben erst angekommen, und sie sind gar nicht zu Hause.«

»Ah«, machte Rupert. »Das beantwortet natürlich meine Frage. Ich wollte mal mit deinem Vater über mein kaputtes Knie reden.«

Hattie zog die Augenbrauen hoch. »Kannst du dich noch immer nicht für die neue Dorfärztin begeistern?«

Schuldbewusst schaute Rupert vor sich hin. Er stammte aus einer Generation, die jedem, der irgendeine Art von Qualifikation vorweisen konnte, mit größter Hochachtung und Ehrfurcht begegnete. Deshalb befürchtete er wohl, sofort vom Blitz getroffen zu werden, wenn er etwas anderes als lobende Worte für die neue Ärztin im Dorf verlauten ließ.

»Ich bin mir sicher, dass sie gut ist, aber Gillypuddle ist für jemanden wie sie nicht der richtige Ort. Sie wäre in der Großstadt besser aufgehoben, wo es sie nicht kümmern müsste, ob sie Teil der Gemeinschaft ist oder nicht.«

»Dad sagt, sie ist Profi durch und durch, und das ist auch der Grund, warum sie keine persönlichen Beziehungen zu ihren Patienten unterhält.«

Rupert seufzte übertrieben. »Ich schätze, das ist was Neumodisches. Aber es spricht für bedauerliche Zeiten, wenn die Hausärztin nicht noch auf eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen bleiben kann.«

»Ich gehe davon aus, dass sie jede Menge Arbeit zu erledigen hat«, erwiderte Hattie in verhaltenem Tonfall.

Sie war es gewöhnt, bei ihren Telefonaten mit ihrer Mum und ihrem Dad in allen Einzelheiten zu erfahren, was Rupert wieder mal nicht gefiel. »Ich bin mir sicher, es ist nichts Persönliches.«

»Eben, und genau das ist ja das Problem«, redete Rupert weiter. Er war entschlossen, sich von Hatties Einschätzung nicht umstimmen zu lassen und nicht das mindeste Mitgefühl mit der durch Arbeit wahrscheinlich sehr ausgelasteten Ärztin zu zeigen. Ihr Dad hatte seine Karriere in einer Ära begonnen, als der Dorfarzt noch jedermanns Freund war. Damals hatten die Menschen, die im Gesundheitssektor arbeiteten, noch Zeit für ihre Patienten gehabt. Aber schon seit Jahren sprach ihr Dad davon, dass es nicht mehr so war wie früher und dass die Arbeit von Tag zu Tag anstrengender wurde. Das war auch einer der entscheidenden Faktoren gewesen, der ihren Dad vor noch nicht allzu langer Zeit zu dem Entschluss gebracht hatte, in den Ruhestand zu gehen.

»Dann empfängt er also immer noch Patienten?«, fragte Hattie.

Rupert tippte sich mit der Fingerspitze gegen die Nase. »Offiziell nicht. Wenn er von einem seiner Freunde um Rat gefragt wird, dann gibt er den auch, aber wir dürfen nicht darüber reden, damit die neue Frau davon nichts erfährt. Das könnte Ärger geben.«

»Verstehe. Aber es überrascht mich nicht, wenn ich ehrlich sein soll. Ich hatte mir schon gedacht, dass Dad an seinem Ruhestand nicht sonderlich viel Freude hat, auch wenn er jahrelang erzählt hat, gar nicht früh genug in Rente gehen zu können.«

»Sechzig ist heutzutage ja auch kein Alter, um in Rente zu gehen, nicht wahr? Mit sechzig steht man noch in der Blüte seines Lebens. Aber er spielt viel Golf, also sitzt er nicht bloß rum.«

»Ja, Mum hat davon erzählt.« Sie lächelte Rupert an. »Wie wär’s, wenn du mit in die Küche kommst und eine Tasse Tee trinkst? Ich bin sicher, Mum und Dad haben nichts dagegen, wenn du hier auf sie wartest.«

»Wohin sind sie eigentlich?«

Hattie hielt inne. »Eine sehr gute Frage, aber ich habe keine Ahnung.« Rückblickend war es albern von ihr gewesen, ihre Eltern nicht vorzuwarnen, dass sie hierher unterwegs war. Aber es war eine so spontane Entscheidung gewesen, dass ihr praktisch gar nicht erst der Gedanke gekommen war, ihnen Bescheid zu sagen.

Jetzt musste sie dagegen einsehen, wie arrogant es von ihr gewesen war anzunehmen, dass es für ihre Eltern völlig in Ordnung war, sie wieder bei sich wohnen zu lassen, und dass sie sich damit schon abfinden würden. Tatsächlich hatte sie bei der Buchung ihres Rückflugs an nichts anderes denken können als daran, einfach nur wieder daheim zu sein. Und vielleicht war da ja auch noch der heimliche Wunsch gewesen, so lange wie möglich das Gespräch mit ihren Eltern vor sich herzuschieben – das Gespräch, in dem sie ihnen erklären musste, warum sie so plötzlich das Leben in Paris hinter sich lassen wollte, wo sie doch zuvor so sehr dafür gekämpft hatte, genau dieses Leben führen zu können.

Für den Moment musste sie aber all diese Überlegungen zurückstellen, damit sie Rupert so strahlend wie möglich anlächeln konnte.

»Wenn das so ist, bleibe ich wohl besser nicht«, sagte er. »Es ist nicht so, als würde ich deine Gesellschaft nicht schätzen, aber es weiß ja niemand, wann sie zurückkommen, und Armstrong will schließlich auch gefüttert werden.«

Hattie stutzte. »Armstrong?«

»Oh ja, ich hab ihn immer noch.« Rupert lachte. »Er hat zwar keine Zähne mehr und ist halb taub, aber so allmählich glaube ich, dass er unsterblich sein könnte.«

»Dazu kann ich nichts sagen, aber ich bin mir sicher, dass ich noch nie von einem Kater gehört habe, der so alt ist, wie Armstrong inzwischen sein muss.«

»Dreiundzwanzig«, entgegnete Rupert voller Stolz. »Plus minus ein paar Monate, weil wir nie genau wussten, wie alt er war, als er zu uns kam.«

»Tja, bei dir muss er ja wirklich ein gutes Leben führen. Vielleicht sollte ich das auch mal versuchen.«

»Ho, ho. Als kleine Kinder habt ihr ja so gut wie bei uns gewohnt, du und deine Schwester. Kitty hat euch immer gern bei sich gehabt.« Nach einer winzigen Pause fügte er hinzu: »Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.«

»Es ist nett von dir, so was zu sagen, aber ich bin mir sicher, dass wir doch für euch die absoluten Nervensägen gewesen sein müssen. Schließlich sind wir zu jeder Tages- und Nachtzeit bei euch aufgetaucht und haben erwartet, dass ihr alles stehen und liegen lasst, um euch mit uns zu beschäftigen.«

»Nicht ein einziges Mal! Wir haben das geliebt. Und Kitty hat immer gesagt, dass es so viel besser war, als eigene Kinder zu haben, weil wir euch immer dann nach Hause schicken konnten, wenn es uns zu viel wurde.« Er lachte leise. »Nicht, dass es ihr jemals zu viel gewesen wäre. Ich glaube, wenn Dr. Rose damit einverstanden gewesen wäre, hätte sie euch beide auf der Stelle adoptiert.«

Hattie lächelte noch strahlender, doch gleichzeitig ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es schon gut war, nicht früher, in einem jüngeren Alter davon erfahren zu haben. Dann hätte sie sich vermutlich dafür ausgesprochen, dieses Angebot anzunehmen. Es war nicht etwa so, dass sie ihre Eltern nicht geliebt hätte oder dass sie nicht zu schätzen gewusst hatte, in welcher Umgebung sie aufgewachsen war. Nein, es ging um die Jahre nach Charlottes Tod, die dann nicht von einer Trauer um sie geprägt gewesen wären, die alles andere in den Schatten gestellt hätte. Bei Rupert und Kitty wäre Hattie vielleicht so aufgeblüht, wie sie es immer gewollt hatte, anstatt so großgezogen zu werden, als müsse sie die Lücke ausfüllen, die durch Charlottes Tod entstanden war. Vielleicht wäre sie dann nicht von dem Drang erfasst worden, gegen all das zu rebellieren, und vielleicht hätte sie dann nicht ihre Ausbildung hingeschmissen und wäre nicht aus einer Laune heraus mit einem doppelt so alten Mann nach Paris gegangen. Womöglich hätte sie dann besser verstanden, wo ihr Platz auf dieser Welt war und was sie zu leisten imstande war. Natürlich war die Zeit in Paris wunderschön gewesen (zumindest bis kurz vor Ende), dennoch hatte sie schon sehr bald nach ihrer Ankunft in Frankreich einsehen müssen, dass die Beziehung zu diesem Mann ein gewaltiger Fehler gewesen war.

»Ich schaue später noch mal rein.« Ruperts Worte rissen sie aus ihren Gedanken. »Wenn deine Eltern wieder da sind. Du bleibst doch bestimmt für ein paar Tage, oder?«

Hattie nickte unschlüssig. Wenn ihre Mum und ihr Dad sie um sich haben wollten, würde sie sogar viel länger als nur für ein paar Tage bleiben. Aber sie war sich nicht sicher, wie sehr sie hier willkommen sein würde, nachdem sie sich so nachdrücklich dafür eingesetzt hatte, dass Paris der Ort war, an dem sich ihr Leben abspielen sollte. Der Satz Ich habe es dir ja gleich gesagt würde unweigerlich fallen, wenn sie mit ihren Eltern redete, sobald die wieder nach Hause kamen. Dann würde sie sich mit allen Mitteln davon abhalten müssen, etwas darauf zu erwidern.

»Davon gehe ich aus«, antwortete sie schließlich.

»Wunderbar! Ich freue mich schon darauf, von deinen Abenteuern in Paris zu erfahren! Ich kann dir keinen französischen Wein versprechen, wenn du vorbeikommst, aber ich hab immer noch ein paar Flaschen Brombeerwein, den ich im letzten Herbst abgefüllt habe.«

»Das hört sich gut an.« Hattie drückte ihn kurz an sich und gab ihm einen Schmatzer auf die stoppelige Wange. »Darauf freue ich mich jetzt schon.«

Rupert lächelte sie liebevoll an. »Ihr beide wart so süße und höfliche kleine Mädchen«, schwärmte er. »Du und deine arme Schwester. Es gibt nicht viele Leute, die für einen alten Mann wie mich Zeit haben.«

»Für dich habe ich immer Zeit, Rupert«, versicherte Hattie ihm.

Sie verabschiedete sich von ihm und sah ihm noch einen Moment lang hinterher, bevor sie die Tür wieder schloss. In der Küche wartete ein Sandwich auf sie, aber aus irgendeinem Grund war sie jetzt nicht mehr so hungrig wie noch vor ein paar Minuten, als sie es geschmiert und belegt hatte.

Dennoch kehrte sie in die Küche zurück, während Charlotte sie von einem der vielen Fotos an der Wand anlächelte. Hattie war nach Gillypuddle zurückgekehrt, um etwas ins Lot zu bringen, obwohl sie keine Ahnung hatte, was eigentlich ins Lot gebracht werden musste. Sie hatte gedacht, nach Hause zurückzukehren, würde alles besser machen. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.

Hattie schlief auf dem Sofa im Wintergarten, als sie durch das Geräusch eines Schlüssels aufwachte, der im Schloss der Haustür umgedreht wurde. Sie hatte gar nicht einschlafen wollen, aber die Sonne war so warm und die Kissen waren so weich und bequem, außerdem war sie am Morgen bereits so früh aufgestanden, dass nicht viel nötig gewesen war, um sie einnicken zu lassen. Jetzt sprang sie auf, fühlte sich groggy und desorientiert und lief dennoch sofort raus in den Flur, wo sie ihre Eltern entdeckte, die verwundert das dort abgestellte Gepäck betrachteten. Als ihre Mutter Schritte hörte, drehte sie sich um und reagierte mit einem strahlenden Lächeln, als sie Hattie sah.

»Ach, wie wundervoll!«, rief sie freudig. »Warum hast du nicht Bescheid gesagt, dass du herkommst?«

»Endgültig entschieden habe ich das erst gestern Abend«, antwortete sie und ließ sich in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter fallen. »Es tut mir leid, dass ich nicht erst noch angerufen habe, aber …«

»Aber was?«, wollte ihr Vater wissen, der sie auf etwas steifere, förmlichere Art umarmte.

Hattie zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Das kam alles etwas plötzlich, und ich wusste auch nicht, wie ihr reagieren würdet.«

»Du bist bei uns immer willkommen und kannst uns jederzeit besuchen«, versicherte ihre Mutter ihr. »Das weißt du doch. Wir sehen dich so selten, dass wir uns über eine so schöne Überraschung niemals beklagen würden. Wie lange bleibst du? Hoffentlich mehr als nur ein oder zwei Tage, oder?«

»Kann schon sein«, erwiderte sie zögerlich. »Was würdet ihr dazu sagen, wenn ich einfach bleibe?«

»Du meinst, du willst nach Hause kommen?« Hatties Mum sah unschlüssig zu ihrem Ehemann, der mit einem Stirnrunzeln reagierte.

»Was ist passiert?«, fragte er an Hattie gewandt.

»Gar nichts.«

Als er daraufhin die Augenbrauen hochzog, kam sie sich vor, als wäre sie wieder vierzehn und suche nach einer Erklärung für den Zigarettenstummel, den er am anderen Ende des Gartens gefunden hatte.

»Ich bin einfach zu der Ansicht gelangt, dass Paris doch nicht das Richtige für mich ist. Jedenfalls ist das nicht die Stadt, in der ich den Rest meines Lebens verbringen will.«

»Und was ist mit diesem Job, bei dem du dir so sicher warst, dass er dir Glück bringen wird? Der Job, für den du keinen Abschluss vorweisen musstest – das war doch das, was du uns erzählt hast. Das Geld, das uns deine Schulbildung gekostet hat und das zum Fenster rausgeworfen war, weil du von zu Hause weggehen und Modedesignerin spielen wolltest? Und nun bist du nicht mal beharrlich genug, um das durchzuziehen?«

»Ich weiß, ich habe das gesagt, aber …« Abrupt verstummte Hattie.

»Und was ist mit diesem Mann, in den du so unglaublich verliebt warst? Das ist doch auch zu Ende, oder nicht?«

»Dad …« Hattie presste die Lippen so fest zusammen, dass es sich fast so anfühlte, als würde sie den Mund nie wieder aufmachen können. War ihrem Dad nicht klar, wie sehr er ihr damit wehtat, dass er Bertrand in diese Unterhaltung einbezog? Sie kam sich albern und verlegen vor, weil das alles so ein jähes Ende genommen hatte. Das musste er ihr doch anmerken können. »Ich war nicht unglaublich in ihn verliebt«, gab sie in einem schmollenden Tonfall zurück, der ihre wahren Gefühle überspielte. »Außerdem würde ich darüber lieber nicht reden, wenn es dir nichts ausmacht.«

»Und nachdem du nun heimgekehrt bist … wie sehen jetzt deine Pläne aus?«

»Nigel«, ging Hatties Mum dazwischen. »Vielleicht könnten wir das ja später besprechen.«

»Warum?«

»Weil Hattie gerade erst angekommen ist und ich mir sicher bin, dass sie nach der Reise müde und erschöpft ist.«

»Ist schon okay, Mum. Dad hat recht. Ich sollte irgendwelche Pläne haben, aber bedauerlicherweise habe ich absolut keine Ahnung. Paris habe ich komplett verbockt. Das ist es doch, was ihr hören wollt, nicht wahr?«

»Niemand unterstellt dir so was«, beharrte ihre Mum, doch Hattie schüttelte den Kopf.

»Es ist aber das, was ihr denkt.«

»Es ist das, was wir deiner Meinung nach wohl denken müssen«, widersprach ihr Dad. »Aber es ist ganz egal, was wir denken. Niemand hat dir jemals einen Ratschlag geben oder dich an seiner Weisheit teilhaben lassen können, ohne dass es darüber zu Streit gekommen wäre. Ich habe nicht vor, jetzt einen weiteren Versuch zu unternehmen. Ich gehe davon aus, dass du genau das tun wirst, was du immer tust – nämlich genau das, was du in diesem Moment willst. Und wenn dir langweilig wird, beginnst du sofort mit etwas anderem. Das kann man doch so sagen, nicht wahr?«

»Ich beginne gar nicht mit etwas anderem«, konterte sie mürrisch. »Ich bin nach Paris gegangen, um einem Traum nachzujagen.«

»Du hast einem Wunschtraum nachgejagt.«

»Es war ein Job.«

»Du hättest besser die Schule beendet.«

»Ich habe Schulbildung, sogar eine sehr gute, wie du mir mehr als einmal vorgehalten hast.«

»Aber ohne einen Abschluss! Da draußen herrscht ein brutaler Wettbewerb, und nur die Leute mit den Qualifikationen bekommen die besten Jobs.«

»Die akademische Welt war nie das Richtige für mich. Ich dachte, darauf hätten wir uns geeinigt.«

»Nach gerade einmal vier Monaten konntest du das unmöglich sagen!«

»Die vier Monate haben mir gereicht. Ich hätte da auch vier Jahrhunderte bleiben können, und es hätte mir trotzdem kein bisschen besser gefallen.«

»Es geht dabei nicht darum, was dir gefällt und was dir nicht gefällt. Charlotte hat begriffen, wie wichtig Schulbildung ist, und sie hat sich selbst dann in ihre Aufgaben vertieft, wenn sie gar nicht wollte. Hätte sie ihren Abschluss machen können …«

Er ließ den Satz unvollendet, gleichzeitig sah Hattie, wie der Blick ihrer Mutter zu den Fotos an der Wand zuckte. Alles lief letztlich immer wieder auf Charlotte hinaus. Wäre sie nicht gestorben, dann wäre sie heute Chirurgin oder Allgemeinmedizinerin wie ihr Vater oder sie würde irgendeinen anderen nützlichen Beruf ausüben. Charlotte hätte eine Erfolgsgeschichte geschrieben, anders als ihre nutzlose kleine Schwester, die nicht mal dauerhaft von zu Hause wegbleiben konnte, um erfolgreich zu rebellieren.

»Es tut mir leid.« Hatties Stimme wurde leiser. »Das war ein Fehler.«

»Ich habe von Anfang an gesagt, dass es ein Fehler ist, einfach nach Frankreich zu ziehen.«

»Das meine ich nicht«, gab Hattie zurück. »Ich hätte nicht nach Hause zurückkommen sollen.«

»Aber natürlich hättest du das!«, ging ihre Mutter energisch dazwischen.

»Wieso? Dad ist jetzt wütend auf mich.«

»Ich bin nicht wütend«, beteuerte er, und dann wartete Hattie nur auf den üblichen zweiten Satz: Ich bin bloß enttäuscht. Denn er war von Hattie immer nur enttäuscht gewesen. Warum sollte sich jetzt etwas daran ändern?

»Nein, bleib bitte!« Die Stimme ihrer Mutter klang besorgt.

»Rhonda …«, wandte sich Hatties Vater an seine Frau, die ihm einen warnenden Blick zuwarf, woraufhin er diesmal einen Rückzieher machte.

»Ich suche mir einen Job, das verspreche ich euch«, erklärte Hattie. »Ich werde euch nicht auf der Tasche liegen.«

»Das hat auch niemand behauptet«, machte Rhonda ihr klar. »Lass uns beim Abendessen darüber reden, welche Möglichkeiten du hast. Was sagst du dazu?«

Hattie zögerte. Was für Möglichkeiten sollten das sein? Sie war nicht der Ansicht, dass sich ihr viele Möglichkeiten boten. Sie war sechsundzwanzig, hatte keinen richtigen Abschluss, wenn man von ein paar sehr kostspieligen Schulbescheinigungen absah, und ihr Lebenslauf war einfach nur blamabel. Zudem konnte sie ja nicht davon ausgehen, in nächster Zeit ein bejubelndes Arbeitszeugnis aus Paris zu bekommen – selbst wenn sie den Mut aufbringen sollte, Alphonse danach zu fragen. Dennoch genügte ein Blick in die leuchtend grünen Augen ihrer Mum, die Charlotte geerbt hatte, während Hatties Augen so matt und braun waren wie die ihres Dads. Ihrer Mutter konnte sie deutlich ansehen, dass sie um jeden Preis helfen wollte.

»Das wäre schön«, antwortete Hattie schließlich. »Ich würde mich über jeden Ratschlag freuen, den ihr mir geben könnt.«

»Aber wirst du unsere Ratschläge auch annehmen?«, wollte Nigel wissen.

»Ich bin bereit, darüber nachzudenken.« Sie blickte in seine Richtung. »Würde das fürs Erste reichen?«

Er zog nur die Stirn in Falten und sah Hattie durch seine Nickelbrille an, antwortete aber nicht.

»Ich werde jetzt erst mal dein altes Zimmer herrichten«, verkündete Rhonda und durchbrach damit die anhaltende Stille.

»Dabei helfe ich dir«, bot Hattie sich an, nahm eine der Reisetaschen und folgte ihrer Mum nach oben. Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um und sah, dass ihr Dad ihnen mit der anderen Tasche nach oben folgte.

»Mehr Gepäck hast du nicht?«, fragte er.

»Nein.«

»Nicht gerade viel für zwei Jahre Paris.«

»Na ja, das Apartment war möbliert, und ich sah keinen Sinn darin, Sachen mitzunehmen, die ich eigentlich nicht brauche.«

»Und was hast du mit den Sachen gemacht, die du nicht brauchst?«

»Die habe ich einem Verein gegeben, der sich um Obdachlose kümmert«, schnaubte sie, als sie die schwere Tasche auf den Treppenabsatz wuchtete und kurz innehielt, um durchzuatmen. Ihr Dad nickte zustimmend. Zumindest das hatte sie in seinen Augen offensichtlich richtig gemacht. Auch wenn es das Einzige war.

»Du kannst dich mit deiner Mutter um dein Zimmer kümmern, ich werde in der Zwischenzeit mit dem Abendessen anfangen. Es gibt Lachs, falls es dich interessiert.«

»Klingt wunderbar«, erwiderte Hattie gedankenverloren, während ihr Blick an einer Reihe von Fotos hängen blieb, die die Wand im ersten Stock schmückten. Auch hier nahm Charlotte den meisten Raum ein. Sie konnte nicht verstehen, wie das möglich war, aber diese Fotos hatte sie tatsächlich vergessen. Der Anblick war wie eine Ohrfeige. Ihr Dad hatte völlig recht: Auch wenn Charlotte hundert Jahre alt geworden wäre, hätte sie niemals auch nur einen Bruchteil von dem Mist gebaut, für den Hattie bemerkenswert wenig Zeit gebraucht hatte.

Hattie schob den leeren Teller weg. »Das war so unglaublich lecker! Die besten Köche in Paris können es nicht mit dir aufnehmen, Dad. Auch wenn ich ehrlich gesagt bei meinem mageren Gehalt gar nicht dazu gekommen bin, das zu probieren, was die besten Köche in Paris einem servieren.«

Nigel nickte als Zeichen seines Danks und erwiderte mit ironischem Lächeln: »Haben die besten Köche in Paris denn jemanden, der für sie den Tisch abräumt?«

Hattie lächelte ihn an. »Schon verstanden, Dad. Ich räume ab.«

»Ich helfe dir.« Rhonda, die soeben ihren Wein ausgetrunken hatte, erhob sich von ihrem Stuhl.

»Danke, Mum.«

Gemeinsam mit ihrer Mutter sammelte Hattie die benutzten Teller ein, die sie, in der Küche angekommen, in die Spülmaschine räumte.

»Es ist schön, dass du wieder daheim bist«, sagte Rhonda.

»Meinst du, Dad ist deiner Meinung? Beim Abendessen hatte ich nicht das Gefühl. Ich weiß, er will ernsthaft mit mir darüber reden, was ich machen will, nachdem ich jetzt zurück in England bin. Aber ganz ehrlich, Mum, ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin, um darüber zu reden.«

»Das weiß ich doch, Darling. Das ist nicht schlimm. Wir reden darüber, sobald du bereit bist.«

»Ich glaube, Dad sieht das anders.«

»Nein, so ist es nicht. Hör einfach nicht auf ihn. Du weißt doch, wie er ist. Er hat in seinem Beruf zu lange das Sagen gehabt, dadurch ist es für ihn schwierig, wenn er über irgendeine Sache nicht die Kontrolle hat.«

»Über eine Sache wie mich?«

»Eigentlich will er nur dein Bestes. Das hat er für seine Kinder immer gewollt.«

»Ich weiß. Und Charlotte hätte auch auf ihn gehört.«

»Es ist nicht so, als könntest du grundsätzlich nicht auf ihn hören.«

»Das Problem ist eher, dass ich ihm zwar zuhören, aber unmöglich immer seiner Meinung sein kann. Ich kann nichts dafür, dass ich nicht so bin wie du und Dad.«

»Niemand erwartet das von dir. Wir wollen nicht, dass du eine exakte Kopie von uns bist. Uns ist klar, dass du andere Dinge erstrebst und dir erhoffst als das, was für uns wichtig ist. Das ist uns schon seit langer Zeit klar. Aber das kann uns nicht davon abhalten, manchmal zu denken, dass du einen Fehler begehst, und dann zu versuchen, etwas dagegen zu unternehmen.«

»Selbst wenn es Fehler sind, sind es immer noch meine Fehler, und ich möchte die Möglichkeit haben, sie zu begehen. Ich bin sechsundzwanzig, Mum, ich bin nicht mehr euer kleines Mädchen.«

»Ganz egal, wie alt du bist, du wirst immer unser kleines Mädchen bleiben.« Rhonda lächelte melancholisch, was Hattie vermuten ließ, dass sie gerade über ihr anderes kleines Mädchen nachdachte – das Mädchen, das nicht mehr erwachsen werden würde und niemals irgendwelche Fehler machen konnte.

»Danke, Mum. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

»Also …«, begann Rhonda mit der allzu deutlichen Absicht, die düstere Stimmung zu vertreiben, die sich über die Küche gelegt hatte. »Was hast du jetzt vor, wo du wieder zu Hause bist? Keine Sorge, ich meine das nur auf den Augenblick bezogen, nichts Längerfristiges.«

»Abgesehen davon, dass ich eine Woche durchschlafen will?«, gab sie amüsiert zurück. »Tja, ich schätze, ich werde mir wohl einen Job suchen müssen.«

»In Gillypuddle? Ich glaube, hier sind deine Möglichkeiten ziemlich begrenzt. Wenn du mehr als nur den Mindestlohn verdienen willst, wirst du in einem größeren Radius suchen müssen.«

»Für den Anfang würde ich auch für den Mindestlohn arbeiten. Hauptsache, ich kann dir und Dad was zum Haushalt dazugeben.«

»Wir brauchen kein Geld, und es ist uns auch egal, ob du etwas zum Haushalt dazugibst oder nicht.«

»Es geht ums Prinzip, Mum.«

»Aber wir würden nicht wollen, dass du dich in irgendeinem üblen Job abrackerst, nur damit du uns Geld geben kannst.«

»Ich glaube, Dad würde es auch als eine Frage des Prinzips ansehen. Oder zumindest als eine Frage des Stolzes. Ich glaube nicht, dass er noch hoch erhobenen Hauptes in den Golfclub gehen kann, wenn die anderen wissen, dass seine unnütze Tochter ihm auf der Tasche liegt.«

»Du würdest uns nicht auf der Tasche liegen«, beharrte Rhonda, auch wenn Hattie der Überzeugung war, dass ihre Mutter ihr tief in ihrem Inneren zustimmte. Für ihren Dad waren das Image und das gesellschaftliche Ansehen immer wichtig gewesen.

»Na ja, ich würde so oder so für den Mindestlohn arbeiten müssen, wenn ich bedenke, welche Qualifikationen ich vorweisen kann und welchen Job ich zuletzt gemacht habe.«

»Du hast doch einen einwandfreien Job gemacht.«

»Mag ja sein, trotzdem glaube ich, dass eine mündliche Arbeitsvereinbarung mit einem temperamentvollen Franzosen hier bei uns nicht viel zählen wird. Außerdem glaube ich nicht, dass sich Alphonse überschlagen wird, um mir ein Zeugnis zu schreiben.«

»Und?« Rhonda wischte sich die Hände ab und griff nach den Tabs für die Spülmaschine, die im Schrank lagen. »Wirst du mir erzählen, was in Paris wirklich vorgefallen ist?«

Hattie hielt daraufhin einen Teller hoch. »Willst du den erst noch unter Wasser halten, bevor ich ihn in die Spülmaschine stelle?«

»Hattie«, gab Rhonda ernst zurück.

Seufzend stellte sie den Teller weg. »Ehrlich gesagt weiß ich es gar nicht. Zugegeben, ich habe da Mist gebaut. Aber das war nichts, was ich nicht mit einer Entschuldigung und ein bisschen Kriecherei wieder hätte geradebiegen können.«

»Und warum hast du das nicht gemacht?«

Hattie zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, die strahlende Karriere in der Modebranche, von der ich immer geträumt hatte, sah mit einem Mal gar nicht mehr so strahlend aus. Zugegeben, ich hatte dort Freunde, und auch wenn Bertrand mich einfach sitzen ließ, verbrachte ich eine schöne Zeit in Frankreich. In Paris zu leben, war einfach traumhaft, aber … na ja, irgendwas hat mir da gefehlt. Ich kann es nicht erklären, aber jetzt glaube ich, dass ich den Zwischenfall als Vorwand benutzt habe, um aufzugeben und nach Hause zu kommen.«

»Was glaubst du denn, was dir gefehlt hat?«

»Das Ganze war völlig bedeutungslos, weißt du? Dad hat mit seiner Arbeit etwas bewirken können, und du als Anwältin ganz genauso. Dad hat Leben gerettet, und du hast unschuldige Menschen vor dem Gefängnis bewahrt. Eure Jobs haben einen Sinn gehabt, aber den hatte mein Job bei Alphonse nicht. Es war so wie eine leere Pralinenschachtel. Von außen hübsch anzusehen und verlockend, aber wenn du sie aufmachst, ist da nur gähnende Leere.«

»Aha.« Rhonda lächelte. »Während andere von zu Hause weggehen müssen, um sich selbst zu finden, musstest du dafür wohl nach Hause zurückkommen?«

Hattie musste auflachen. »Ich schätze, so kann man das auch ausdrücken. Ich brauchte einfach Zeit, um herauszufinden, was ich wirklich will.«

»Es ist noch nicht zu spät, um deinen Abschluss nachzuholen«, sagte Rhonda, während sie die Spülmaschine schloss und einschaltete.

»Ich weiß, dass Dad und dir das gefallen würde, aber das ist nichts für mich.«

»Woher willst du es wissen, wenn du es nicht versuchst?«

»Ich weiß es einfach.«

»Na gut, aber wenn du sagst, du willst einen Job, der so wie meiner oder der deines Vaters etwas bewirken kann, dann ist das ein sehr nobles Ziel. Doch an solche Jobs kommt man nicht durch eine halbe Stunde Einarbeitung vor Schichtbeginn.«

»Ich will mit meinem Job etwas bewirken, aber es gibt bestimmt andere Möglichkeiten – ich muss ja nicht genau das Gleiche mache wie du oder Dad. Irgendwas muss es da draußen für mich zu tun geben, etwas, das für mich bestimmt ist. Ich muss nur herausfinden, was es ist.«

»Aber es könnte helfen, wenn du dich mit den Möglichkeiten befasst, die dir eine Ausbildung bieten kann.«

»Du hörst dich schon an wie Dad«, erwiderte Hattie irritiert.

»Ich bin ja auch der Ansicht, dass dein Vater in dieser Sache richtigliegen könnte. Wie wäre es, wenn wir versuchen herauszufinden, was erforderlich ist, damit du ein paar Kurse besuchen kannst? Wir könnten bei den Universitäten in der Umgebung nachfragen, mit ein paar Leuten sprechen …«

»Das will ich aber nicht, Mum.«

Rhonda schürzte die Lippen. »Manchmal sind die Dinge, die man nicht will, genau die, die man braucht.«

»Ja, aber wenn ich es nicht will, dann ist mir das herzlich egal, weil ich es nämlich nicht will. Und, ja, in meinem Kopf ergibt der Satz sehr wohl einen Sinn.«

»Dann sei wenigstens so gut, den Gedanken nicht komplett abzulehnen, sondern sag mir, dass du ihn in Erwägung ziehen wirst. Du hast gesagt, du wolltest dir unsere Ratschläge zumindest anhören.«

»Ja, ich glaube, ich habe so was in der Art gesagt.«

»Also wirst du darüber nachdenken?«

»Ich werde nichts versprechen.«

»Gut«, erwiderte Rhonda, die offenbar für sich entschieden hatte, die verneinende Antwort einfach zu ignorieren. »Das wird deinen Dad freuen, wenn er hört, dass dieser Gedanke nicht komplett vom Tisch ist.«

»Aber in der Zwischenzeit werde ich nach einem Job Ausschau halten.«

»Ja, natürlich. Weißt du, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, bin ich mir fast sicher, dass Lance und Mark immer noch eine Aushilfe für das Willow Tree suchen.«

»Die haben den Laden immer noch? Ich dachte, nach Marks Herzinfarkt würden sie alles verkaufen.«

»Für den armen Mark sah es eine ganze Weile nicht gut aus, aber ich vermute, das Willow Tree ist für sie so etwas wie eine Rettungsleine. Lance hat mir erzählt, dass sie lange und gründlich darüber nachgedacht haben und dass sie entschieden haben, den Laden zu behalten, weil sie sich sonst wahrscheinlich innerhalb kurzer Zeit zu Tode essen würden.«

Einen Moment lang überlegte Hattie. Lance und Mark waren beide nett, und es konnte nicht so schwierig sein, in einem netten kleinen Café wie dem Willow Tree zu arbeiten. Mittags kamen vor allem die Damen aus dem Dorfchor dort essen, manchmal auch ein Tourist, der auf dem Weg zur Küste war. Das könnte tatsächlich die Verschnaufpause sein, die sie brauchte, um sich Gedanken über den größeren Plan für ihre Zukunft machen zu können.

»Ich rufe gleich morgen an und frage nach, ob die Stelle noch frei ist«, verkündete sie.

»Schön.« Rhonda sah in den offenen Küchenschrank. »Nachdem das geklärt ist, könntest du deinen Vater fragen, ob er Pfefferminz- oder Kamillentee haben möchte?«

Gerade machte sich Hattie auf den Weg ins Esszimmer, da wurde sie von ihrer Mum zurückgerufen. »Wenn du schon zu ihm gehst und seine Bestellung aufnimmst, kannst du auch den Tee für ihn aufgießen. Das wäre eine gute Übung für deine neue Karriere in der Gastronomie.«

Hattie drehte sich grinsend zu ihr um. Es war eine Schande, dass nicht mehr Unterhaltungen mit ihren Eltern auf diese Weise verliefen. Wenn es mal der Fall war, fühlte sie sich zu Hause gleich wieder wohl.

»Oh!«, sagte sie, da ihr plötzlich etwas einfiel, was sie ihren Eltern sagen musste. »Ich weiß nicht, warum es mir jetzt einfällt. Jedenfalls habe ich vergessen zu sagen, dass Rupert hier war, weil er zu Dad wollte. Er will, dass Dad sich sein Knie ansieht.«

»In dem Fall lassen wir den Tee ausfallen und gehen gleich nach nebenan. Bestimmt hat er wieder einen seiner Obstweine aufgemacht. Willst du mitkommen?«

»Klingt gut. Außerdem hatte ich ihm ohnehin gesagt, dass ich zusehen wollte, ihn zu besuchen, da ich jetzt wieder hier bin.«

»Perfekt! Dann hole ich nur schnell meine Jacke. Es würde mir jetzt gefallen, den alten Armstrong zu knuddeln …«

Ein langer Tag lag hinter ihr. Da war zunächst die strapaziöse Heimreise von Paris hierher gewesen, dann hatte sie bei Rupert drei Gläser warm gewordenen Brombeerwein getrunken, begleitet von einer angenehmen Unterhaltung mit Rupert und ihren Eltern, während sie beiläufig auch noch ausgiebig den alten Kater gestreichelt hatte, der trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch laut genug schnurren konnte, um die Wände wackeln zu lassen. Trotz allem hatte Hattie später am Abend Mühe einzuschlafen.

Schließlich gelang es ihr, doch nach einer kurzen Nacht wachte sie am nächsten Morgen bereits früh wieder auf, da ihr tausend Gedanken zu ihrer Zukunft durch den Kopf gingen. Ihrer Mum hatte sie gesagt, dass sie nicht erst noch einen Abschluss machen wollte. Dennoch musste sie zugeben, dass ihre Eltern durchaus nicht ganz unrecht hatten, wenn es um die Frage ging, was sie ohne Abschluss würde erreichen können. Sie konnte eine Ausbildung machen, aber für welchen Beruf?

Tatsache war, dass ihr diese Frage mehr zu schaffen machte, als sie sie sich eingestehen wollte. Außerdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, versagt zu haben, obwohl sie Paris hinter sich gelassen hatte. Letztlich war einfach alles schiefgegangen, auch wenn sie sich noch so sehr bemüht hatte, alles richtig zu machen. Erst hatte Bertrand sie verlassen, und dann war ihr auch noch diese Sache mit Alphonse widerfahren.

So leise sie konnte, schlich sie bei Sonnenaufgang nach unten, um sich einen Kamillentee aufzugießen.

Als sie die Jalousie am Küchenfenster hochzog, um die Sonne ins Zimmer zu lassen, musste sie unwillkürlich lächeln, da Ruperts alter Kater Armstrong auf dem Fenstersims saß und sie anstarrte. Sie machte das Fenster auf, der Kater kam herein und rieb seinen Kopf an ihrer ausgestreckten Hand. Dabei schnurrte er so laut, dass es Hattie nicht gewundert hätte, wenn ihre Eltern davon aufgewacht wären.

Eine halbe Stunde mit Armstrong entspannte sie mehr als noch so viel Schlaf, aber eine halbe Stunde war auch alles, was er mitmachte. Mitten in der Streicheleinheit entschied er, dass es nun reichte. Er machte kehrt, stolzierte davon und sprang aus dem Fenster. Hattie sah ihm zu, wie er den Garten durchquerte und dabei nicht den Schwarm Spatzen aus den Augen ließ, die sich lärmend über das Futter im Vogelhäuschen hermachten.

Hattie schloss das Fenster und füllte den Wasserkessel auf. Ruperts Kater hatte sie so in Beschlag genommen, dass ihr Tee darüber ganz in Vergessenheit geraten war. Auf einmal wanderte ihr Blick zu der in Sonnenschein getauchten Wiese, die sich hinter dem Garten ihres Elternhauses erstreckte. Ein Spaziergang. Vielleicht würde ein ausgedehnter Spaziergang ja dafür sorgen, dass sie müde genug wurde, um noch ein paar Stunden schlafen zu können.

Sie stellte den Kessel weg, ging nach oben und suchte etwas aus, das sie über ihren Schlafanzug ziehen konnte.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, nur einmal über die angrenzende Wiese zu spazieren und dann zurückzugehen. Doch sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie irgendwann feststellte, dass sie auf den alten Weg geraten war, der zum Strand und hinauf auf die Klippe führte, von der aus man den Strand überblicken konnte. Sie wusste nicht, was sie auf diesen Pfad gelenkt hatte, aber da sie nun schon mal dort unterwegs war, sehnte sie sich danach, einen Blick aufs Meer zu werfen. Also ging sie etwas zügiger.

Sie wusste genau, wohin sie wollte – zu jener geheimen Stelle, die sie immer mit Charlotte zusammen aufgesucht hatte. Anfangs hatten sie dort immer gespielt. Als Charlotte sich dann zu alt fühlte, um mit ihr zu spielen, hatte sie Hattie dennoch stets dorthin begleitet. Dann hatte sie ihr bestimmte Strukturen in den Felsen gezeigt, oder sie hatten gemeinsam Muscheln gesucht. Manchmal hatten sie Ausschau nach irgendwelchem Getier in den Wasserlachen gehalten, ein andermal war es darum gegangen, möglichst viele unterschiedliche Vogelarten zu entdecken.

Hattie dachte mit einem Hauch von Melancholie an diese Zeiten zurück, und obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, sich diese Zeiten zurückzuwünschen, tat sie dennoch genau das. Womöglich war Charlotte nicht der perfekte Teenager gewesen, aber in Hatties Erinnerung fand sich nichts, was für eine Unvollkommenheit sprach.

Als Hattie sich dem Weg näherte, der hinunter zum Strand führte, hörte sie auf einmal ein Geräusch, das vom Wind zu ihr getragen wurde. Es schien von oben von der Klippe zu kommen, und es klang wie … Hattie zog grübelnd die Augenbrauen zusammen. Es klang wie Eselslaute. Soweit sie wusste, gab es hier niemanden, der Esel hielt. Da oben war zwar der Bauernhof des alten Ferguson, aber erstens hatte der nie Esel gehalten, und zweitens war er schon seit Jahren tot. Ihre Eltern hatten nichts davon erzählt, dass irgendjemand das riesige Anwesen gekauft hatte. Allerdings war das auch nichts so Wichtiges, dass sie es ihr bei der erstbesten Gelegenheit hätten erzählen wollen.

Das Geräusch ertönte erneut, womit Hatties Neugier groß genug war und sie der Sache auf den Grund gehen wollte. Also schlug sie eine andere Richtung ein und ging hinauf zur Klippe. Dort angekommen musste sie feststellen, dass sich vor ihr ein Gehege befand, darin gut ein halbes Dutzend Esel. Sie war sich sicher, dass es ein solches Gehege bislang nicht an dieser Stelle gegeben hatte. Hieß das, dass jemand den Hof gekauft hatte? Falls ja, wollte sie zu gern wissen, welche Tiere die Leute sonst noch hielten.

Sie ging zum Stacheldrahtzaun, während sie von einem braunen Esel beobachtet wurde. Hattie musste lächeln, denn innerhalb des Geheges standen alle übrigen Tiere in einer Gruppe zusammen, was es so aussehen ließ, als würden sie über den einen Artgenossen herziehen, der sich abseits von ihnen aufhielt. Hattie näherte sich dem Einzelgänger und sprach ihn leise an.

»Hey, Kumpel …«

Der Esel kam näher und stieß mit der Schnauze gegen ihre ausgestreckte Hand. Hattie musste kichern, als sie das samtige Fell seiner Nase an ihren Fingern spürte.

»Was ist mit der Truppe da hinten los?«, fragte sie und deutete mit einem Nicken auf die Eselgruppe. »Reden die schlecht über dich? Ich würde mich nicht drum kümmern. Typen wie die tratschen doch nur, weil sie nichts Vernünftiges zu tun haben.«

Der Esel schnaubte, und sie zog amüsiert die Hand weg. Dann kam er noch näher und steckte die Nase in ihre Jackentasche.

»Tut mir leid, aber da ist nichts für dich drin.« Sie rupfte ein Büschel Gras aus dem Boden und hielt es ihm hin, aber das interessierte ihn nicht. Stattdessen widmete er sich weiter ihrer Jackentasche, sodass sie ihn zurückschieben musste. »Möchte wissen, wem du gehörst«, murmelte sie nachdenklich. Vielleicht sollte sie weitergehen bis zum ehemaligen Hof des alten Ferguson und herausfinden, ob dort jemand eingezogen war. Aber wenn jemand sie beobachtete, würde der das vielleicht als unbefugtes Betreten ansehen. Zumindest würde sie als unglaublich neugierig rüberkommen. Sie hatte ja schon das Gefühl, dass sie sich gar nicht hier bei den Eseln aufhalten sollte, von einem Besuch des Hofs ganz zu schweigen. Doch dieser Esel war so hinreißend, dass sie zu der Ansicht gelangte, dass es das Risiko wert war, ertappt zu werden. So blieb sie noch gut zehn Minuten, bis sie beschloss, zu ihrem ursprünglichen Plan zurückzukehren und zum Strand zu gehen.

Bevor sie sich aber auf den Weg machte, ging sie noch ein Stück weit am Zaun entlang, um herauszufinden, ob sie näher an die übrigen Esel herankommen konnte. Sie zeigten kein großes Interesse an ihr, lediglich ein grauer Esel hatte sich inzwischen zu dem braunen gesellt, mit dem sie sich bereits angefreundet hatte. Beide standen nun nebeneinander und sahen so aufs Meer hinaus wie zwei alte Männer, die sich übers Wetter unterhielten. Hattie lächelte bei diesem Anblick, denn die beiden waren einfach zu süß. Tiere hatte sie schon immer geliebt, und sie ertrug die Vorstellung nicht, dass ein Tier leiden musste. In Paris hatte sie jede Katze gefüttert, die auch nur in die Nähe ihres Balkons gekommen war, auch wenn das ihrer Vermieterin und ihren Mitbewohnerinnen gar nicht gefallen hatte. Als sie erklärt hatte, die Katzen würden doch alle so ausgehungert aussehen, hatten die anderen nur gelacht und gesagt, wenn sie wirklich so ausgehungert wären, hätten sie sich schon längst der allgegenwärtigen Ratten angenommen.

Nachdem sie ihrem neuen Freund ein letztes Mal über den Kopf gestreichelt hatte, kehrte sie um und folgte weiter dem Weg, der zu ihrer geheimen Bucht führte. Wirklich geheim war sie natürlich nicht, da jeder in Gillypuddle darüber Bescheid wusste, dennoch hatte sie die Bucht immer als ihr und Charlottes Geheimnis angesehen. Es war der Ort, an dem sie sich als Kinder gegenseitig Dinge anvertraut hatten. Dort hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Schwester gewiss gewesen war.

Als sie die mit Gras bewachsenen, in die Klippe gehauenen Stufen erreichte, wurde sie von Erinnerungen fast überwältigt. Bei Regen waren die Stufen gefährlich rutschig, doch Charlotte hatte immer Hatties Hand gehalten, bis sie unten angekommen waren. Wenn es trocken war, hatten sie die Bienen gestört, weil sie das Gras und die Pusteblumen platt traten, sodass deren Pollen durch die Luft flogen.

Die Luft hier am Meer war genauso salzig wie damals, und die Wellen schlugen im gleichen beständigen Rhythmus gegen die Felsen, so wie sie es schon immer getan hatten und weiterhin tun würden. Diese Küste, diese Landschaft, die See … das alles war für die Ewigkeit, nur nicht die Menschen, die hier lebten.

Hattie setzte sich in den feuchten Sand und schrieb mit dem Finger ihren Namen. Dann ergänzte sie ihn um Charlottes Namen und versuchte so zu tun, als hätte ihre Schwester ihn selbst dort hinterlassen. Auch nach so vielen Jahren erging es Hattie so wie ihren Eltern – ihr fehlte Charlotte ganz entsetzlich. Aber anders als ihre Eltern glaubte sie, dass es Charlotte nicht gefallen würde, wenn sie alle ihretwegen immer nur traurig waren.

Hattie war zwar innerlich ruhiger, als sie nach gut einer Stunde am Strand heimkehrte, aber müde war sie noch immer nicht. Ihre Eltern waren bereits unterwegs, als sie zurückkam, und sie hatten ihr einen Zettel hingelegt, sie möge sich doch selbst um ihr Frühstück kümmern. Dadurch ergab sich keine Gelegenheit mehr, um sich mit ihnen zu unterhalten und um zu fragen, ob Sweet Briar Farm einen neuen Eigentümer hatte. Also musste die Aufklärung dieses Rätsels noch eine Weile auf sich warten lassen. Sie ging duschen, zog sich an und machte sich auf den Weg ins Dorf, um ihre Aufgabe zu erledigen, die darin bestand, eine Anstellung zu finden. Ihre erste Anlaufstelle war die, die ihre Mutter empfohlen hatte.

Das Willow Tree war das, was wohl von den meisten als kleines, altmodisches Café bezeichnet wurde, aber was ihm an Neumodischem fehlte, machte es mit seiner Atmosphäre mehr als wett. Es war makellos, gemütlich und einladend, was zu einem großen Teil den entsprechenden Bemühungen der Eigentümer Lance und Mark zu verdanken war. Auf den Holztischen lagen stets saubere rote Gingham-Decken, darauf standen frische Blumen. Die Wände wurden von Aquarellen von Marks Mutter geprägt, die die Landschaft rund um das Dorf zeigten.