Die kleine Waffelbäckerei am Meer - Tilly Tennant - E-Book
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Die kleine Waffelbäckerei am Meer E-Book

Tilly Tennant

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Beschreibung

Als die Waffelbäckerei ihrer Großeltern schließen muss, bricht es Sadie fast das Herz. Kurzerhand kündigt sie ihren Job und entschließt sich dazu, Die kleine Waffelbäckerei am Meer gemeinsam mit ihrer Oma Gammy wieder zu eröffnen. Ihr Vorhaben droht jedoch im Fiasko zu enden. Gammy ist nicht mehr die Jüngste - sie wird immer vergesslicher. Zum Glück greift Sadie ihre Jugendliebe Declan unter die Arme. Das Gefühlschaos ist allerdings vorprogrammiert, als ihr auch noch der charmante und neu zugezogene Luke immer häufiger über den Weg läuft. Plötzlich ist alles verwirrend, aber Sadie weiß: Wenn sie die kleine Waffelbäckerei retten will, braucht sie dringend einen Plan und all ihre Zuversicht ...

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Seitenzahl: 486

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CoverInhaltÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Danksagung

Als die Waffelbäckerei ihrer Großeltern schließen muss, bricht es Sadie fast das Herz. Kurzerhand kündigt sie ihren Job und entschließt sich dazu, die kleine Waffelbäckerei am Meer gemeinsam mit ihrer Oma Gammy wieder zu eröffnen. Ihr Vorhaben droht jedoch im Fiasko zu enden. Gammy ist nicht mehr die Jüngste – sie wird immer vergesslicher. Zum Glück greift Sadie ihre Jugendliebe Declan unter die Arme. Das Gefühlschaos ist allerdings vorprogrammiert, als ihr auch noch der charmante und neu zugezogene Luke immer häufiger über den Weg läuft. Plötzlich ist alles verwirrend, aber Sadie weiß: Wenn sie die kleine Waffelbäckerei retten will, braucht sie dringend einen Plan und all ihre Zuversicht …

Tilly Tennant stammt aus Dorset. Sie ist das älteste von vier Geschwistern. Nach einigen Jahren voll trostloser Jobs – darunter Verkäuferin, Kellnerin und Zeitungsabopromoterin – entschied sie sich, ihrer Passion für das geschriebene Wort nachzugehen, und begann ein Studium in den Fächern Englischen Literatur und Kreatives Schreiben, dass sie mit Auszeichnung abschloss. Ihr erstes Buch schrieb sie in den Semesterferien 2007 und hat seitdem nicht mehr mit dem Schreiben aufgehört. Tilly Tellant hat mittlerweile über zwanzig Romane veröffentlicht. Sie lebt mit ihrer Familie in Staffordshire.

Weitere Titel der Autorin:

Der kleine Eselhof an der Küste

Aus dem Englischen von Ralph Sander

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Dieser Titel ist auch als Hörbuch-Download erschienen

Deutsche Erstausgabe

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Tilly Tennant

Titel der englischen Originalausgabe: »The Waffle House on the Pier«

Originalverlag: First published in Great Britain by Storyfire Ltd. Trading as Bookouture.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Silvana Schmidt, Dortmund

Einband-/Umschlagmotive: © kokoroyuki / istock; IrinaSen / istock / Getty Images Plus; mickblakey / Adobestock; rh2010 / Adobestock; GlobalP / istock; Chiociolla / istock; -slav- / istock / Getty Images Plus; Christian Horz / iStock / Getty Images Plus

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2115-8

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für unseren Luke im echten Leben,der schon ein bisschen großartig ist!

Es war einer von diesen Tagen, an denen Sadie sich fragte, was zum Teufel sie nur mit ihrem Leben anstellte.

Warum ließ sie sich nur zur Lehrerin ausbilden, anstatt draußen in der wunderschönen Bucht zu arbeiten, so wie es ihre Eltern und ihr Bruder Ewan zusammen mit seiner Frau Kat taten? Sadie hatte ihnen stets gesagt, dass ein Leben auf dem Wasser nichts für sie war und sie ihren Lebensunterhalt nicht vom Tourismus abhängig machen wollte, der großen Schwankungen ausgesetzt war. Diese wiederum waren eng mit den Launen des Wetters verflochten und abhängig davon, wie gut oder schlecht das Pfund im Vergleich zu anderen Währungen dastand und welche Bewertungen das Dörfchen Sea Salt Bay – das ihr Zuhause war – im jeweiligen Jahr auf TripAdvisor erhielt. Sie wollte Sicherheit, ein garantiertes Einkommen und eine Karriere, die mehr oder weniger berechenbar war.

Eine Zeit lang hatte sie versucht, in der Branche zu arbeiten, in der fast ganz Sea Salt Bay tätig war: Tourismus in allen erdenklichen Formen. Doch der einzige Job, den sie bekommen hatte, war sterbenslangweilig gewesen. Außerdem hatte sie nach kurzer Zeit genug davon gehabt, jeden Tag das Gleiche zu tun. Sie wollte mehr, sie wollte ihre akademische Seite erkunden und ihren Wissensdurst und ihre Neugier stillen.

Also hatte sie sich der Tradition ihrer Familie entzogen, war wieder zur Schule gegangen, um im reifen Alter von zweiundzwanzig Jahren deutlich später als die anderen in ihrer Klasse ihren Schulabschluss zu machen. Dann hatte sie ein Studium in neuzeitlicher Geschichte absolviert und eine Ausbildung zur Lehrerin begonnen. Das bedeutete für sie, jeden Morgen Sea Salt Bay mit all seinen Reizen zu verlassen und in die nächstgelegene Großstadt zu fahren, um dort zu studieren. Aber das machte ihr nichts aus.

Außer an Tagen wie diesem, an dem sich der Sand in der Bucht warm und so weich wie Rohrzucker anfühlte, an dem Möwen ihre Lieder über die See sangen und die Wellen sich in einem hypnotisierenden Rhythmus an Land bewegten. Das Wasser war kristallklar und mit Schaumkronen besetzt. Die Sonne war für sie wie eine alte Freundin und wärmte ihre sommersprossige Haut, während die leichte Brise ihr liebevolle Worte ins Ohr flüsterte und mit ihrem kastanienbraunen Haar spielte. An Tagen wie diesem fragte sie sich, warum um alles in der Welt sie sich dazu entschieden hatte, in einem trostlosen Klassenzimmer zu sitzen, während sich die Bucht von ihrer schönsten und strahlendsten Seite zeigte.

Kinder kreischten und planschten in den Wellen, Paare spazierten Hand in Hand am Ufer entlang, wo der Schaum auf dem Sand trocknete. Menschen aßen Fritten aus Papiertüten und Eis im Hörnchen. Andere schlenderten nur am Strand entlang, ohne etwas zu sagen oder zu tun, weil es nicht nötig war.

Sie fragte sich, warum sie Tag für Tag damit verbrachte, einem Dozenten zuzuhören, dem es völlig egal war, ob sie anwesend war oder nicht, wenn sie doch genauso gut draußen vor dem Bootsschuppen ihrer Eltern hätte sitzen können. An einem Tag wie diesem lief im Hintergrund leise das Radio, die Sonne brannte vom Himmel, und die Touristen warteten aufgeregt darauf, an Bord des Bootes gehen zu können, weil sie darauf hofften, Delphine oder Seehunde oder Papageientaucher auf den grauen Felsen zu sehen zu bekommen, die stolz aus dem Wasser ragten. Es waren die gleichen Felsen, die vom Ufer aus betrachtet wie winzige Zähne aussahen, sich beim Näherkommen aber als gewaltig groß und mysteriös entpuppten. Als Kind hatte sie es geliebt, wenn ihre Eltern mit ihr um diese Felsen segelten. Sie war schon glücklich gewesen, auf dem Meer unterwegs zu sein, aber sie hatte sich immer sehr gefreut, wenn das Glück auf ihrer Seite gewesen war und sie ein paar wilde Tiere hatte sehen können.

Jetzt dagegen saß Sadie in einem düsteren Raum, um zu lernen, unterdessen verbrachten ihre Eltern jeden Tag auf See und lächelten den erstaunten Besuchern zu, während die auf Tümmler oder Seevögel deuteten oder sich daran erfreuten, wie die Klippen aus Kreidefelsen das Licht reflektierten. Zur gleichen Zeit war ihr Bruder mit anderen Touristen unter Wasser unterwegs und führte sie durch magische Wälder aus seidig-grünem Seetang, während sich die Sonnenstrahlen wie gleißende Dolche aus Licht durch die blauen Tiefen bohrten. Stattdessen las sie sich durch, wie Kinder lernten, wie man für ihre Sicherheit sorgte, wie man ihre Intelligenz und ihre Fortschritte berechnete. Wie man Vordrucke und Formulare ausfüllte. Wie man die Kontrolle behielt und Disziplin schuf. Wie man aus Kindern gute, moralische und vernünftige Erwachsene machte. Was war daran so wundervoll? Früher einmal war sie von der großartigen Vision erfüllt gewesen, als Lehrerin ihre Schützlinge zu inspirieren, ihre Neugier anzuspornen und ihre Kreativität zu fördern. Sie hatte gedacht, im Rahmen ihrer Ausbildung diese Dinge zu lernen. Sie hatte geglaubt, später einmal etwas bewirken zu können und einen wichtigen Beruf auszuüben, der ihr die Möglichkeit bot, junge Menschen zu formen. Vielleicht würden sich die von ihr unterrichteten Kinder später einmal an sie erinnern, wenn sie sich schon lange nicht mehr in ihrer Obhut befanden, und vielleicht würden sie als Erwachsene hin und wieder an sie denken und ihr für die Weisheiten danken, die sie ihnen mit auf den Weg gegeben hatte.

Aber nichts von alldem war so, wie sie es erwartet hatte. Einmal hatte sie versucht, genau das einem Dozenten zu erklären, doch er hatte sie nicht verstanden, sondern ihr lediglich gesagt, dass sie in der Lage sein würde, ihre eigene Klasse anzuleiten, wenn sie erst einmal ihre Qualifikation in der Tasche hatte.

Sie glaubte nicht, dass das stimmte, auch wenn sie ihm nicht hätte erklären können, warum sie das so empfand. Sie wusste nur, dass sie nicht in der Lage sein würde, eine Klasse so zu unterrichten, wie sie es wollte, weil sie momentan so viele Regeln lernen musste, die genau das verhinderten. Sie wusste, ohne Regeln ging es nicht, dennoch kam es ihr manchmal so vor, als ob es einfach zu viele Vorschriften waren, die so schwer auf ihr lasteten, dass sie zu keinem anderen Gedanken fähig war.

Die Klasse 3G der Featherbrook School hatte kaum dazu beitragen können, ihre zahlreichen Zweifel, ob diese Karriere für sie wirklich die richtige war, zumindest ein wenig zu lindern. Der heutige Tag war der bislang schlimmste überhaupt, sodass sie von Verzweiflung und einer überwältigenden Müdigkeit erfüllt gewesen war, als sie die Rückfahrt nach Sea Salt Bay angetreten hatte. Als sie zu Hause angekommen war, hatte sie feststellen müssen, dass niemand dort war. Ihre Eltern arbeiteten noch, da sie aus den länger und länger werdenden Tagen und der gerade erst einsetzenden neuen Touristensaison so viel wie möglich herausholen wollten. Daher würden sie erst Feierabend machen, wenn die Sonne hinter dem Horizont versunken war.

Anstatt in dem verwaisten Haus zu sitzen und sich wie eine elende Versagerin zu fühlen, hatte Sadie beschlossen, den warmen Nachmittag zu nutzen und zum Strand zu gehen. Sie hoffte, dass das Meeresrauschen und die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht eine heilende Wirkung zeigen würden. Falls das nicht gelang, würde sie ihren Körper so zumindest anregen, mehr Vitamin D zu produzieren.

Als sie sich nun in den Sand setzte und aufs Meer hinaussah, ließ sie die Ereignisse des Tages Revue passieren. Sie sollte eigentlich Unterstützung von einem qualifizierten Lehrer erhalten, damit sie nicht allein mit den Kindern war. Doch genau das kam immer seltener und seltener vor, was in gewisser Weise auch nachvollziehbar war. Immerhin war die Schule personell unterbesetzt, und es fehlte an den nötigen finanziellen Mitteln, sodass man wohl jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um an billiges Personal heranzukommen – ganz ohne Rücksicht darauf, ob man diesem Personal Unterstützung an die Seite stellen konnte oder nicht.

Heute war ein Mädchen zu ihr gekommen, weil jemand aus der Klasse sich ihm von hinten genähert und ihm ein Büschel Haare abgeschnitten hatte. Als Sadie die Klasse zur Rede stellte, legte jedoch niemand ein Geständnis ab. Warum auch? Sadie ließ sich als Lehrerin viel zu sehr von jedem hin und her schubsen, sodass niemand mehr Angst vor ihr hatte. Natürlich sollte niemand gleich Angst vor ihr haben, aber ein Hauch von Autorität hätte schon für sie abfallen können. Dann hatte sie kurz den Klassenraum verlassen und bei ihrer Rückkehr auf der Tafel einen riesigen Kreidepenis vorgefunden, den irgendwer aus der Klasse dort hingemalt hatte. Je länger der Unterricht dauerte, umso lauter wurden das Gerede und das dreckige Gelächter in der Klasse, das auch nicht nachließ, als sie zum x-ten Mal Ruhe einforderte. Schließlich war ein Lehrer aus dem Nebenzimmer hereingekommen und hatte sich über den Lärm beschwert, weil seine Klasse nicht mehr dem Stück folgen konnte, das sie sich anhören sollte. Natürlich waren ihre Schüler sofort ruhig, weil der Auftritt dieses selbstbewussten Lehrers Respekt und Angst einflößte. Aber kaum war er gegangen, hatte die gleiche Unruhe wie zuvor prompt wieder eingesetzt, nun allerdings noch lauter, was letztlich die Rektorin zum Einschreiten veranlasst hatte. Mit rotem Kopf hatte sie Sadie zu sich gerufen, um unter vier Augen mit ihr zu reden.

»Miss Schwartz … ich schlage vor, dass Sie für Ordnung in Ihrer Klasse sorgen!«

Sadie hatte hilflos genickt, ohne zu wissen, was sie darauf erwidern sollte. Vielleicht hatte ihr verzweifelter Gesichtsausdruck die Rektorin an ihre eigene Ausbildungszeit erinnert, denn mit einem Mal schien etwas von ihrer Entrüstung zu verrauchen.

»Sie wissen, Sie können immer zu mir kommen, wenn Sie bei irgendeiner Sache Hilfe oder einen Ratschlag benötigen«, hatte sie weitergeredet. »Mir ist bewusst, dass einige Kinder glauben, sie könnten mit einer Referendarin alles machen, aber in dieser Hinsicht unterstützen wir Sie. Wenn Sie solche Unterstützung brauchen, kommen Sie auf mich zu.«

Sadie hatte daraufhin erneut genickt, was diesmal von ihr ernstgemeint sein sollte. Dennoch fühlte sie sich nach diesen Ausführungen der Rektorin nicht besser als zuvor. Zwar hatte die Frau den Eindruck gemacht, mit ihr mitzufühlen und Geduld mit Sadies Zweifeln zu haben, doch sie wusste, dass es tausend Dinge gab, um die sie sich lieber sorgte als um den Lärmpegel in einer Klasse und die Frage, ob die betreffende Lehrerin mit ihren Aufgaben zurechtkam. Sadie wollte nicht diese Person sein, die ständig um Hilfe bat und der immer wieder gesagt wurde, dass sie schon alles richtig machte. Sie wollte eine zuverlässige Person sein, die ihren Aufgaben gewachsen war. Eine Person, von der die Rektorin wusste, dass sie gute Arbeit leistete. Aber nichts deutete darauf hin, dass sich das alles noch in diese Richtung entwickeln würde.

Als ihr das alles jetzt noch einmal durch den Kopf ging, verkrampfte sich ihr Magen, und ihr Gesicht fing an zu glühen. Sie wollte die Ausbildung nicht abbrechen, weil sie vor allem nicht zugeben wollte, dass sie gescheitert war. Allerdings regte sich der Eindruck, dass sie sich einer namenlosen und damit völlig unklaren Weggabelung in ihrem Leben näherte. Sie begann sich zu fragen, ob das Schicksal für sie noch etwas anderes vorgesehen hatte und ob es womöglich niemals wirklich ihre Bestimmung gewesen war, Lehrerin zu werden.

Und wenn es so war? Wäre es dann tatsächlich ein Scheitern, wenn sie sich vom Schicksal sagen ließe, was ihre Bestimmung war? War es wirklich so verkehrt, innezuhalten und auf die leise Stimme in ihrem Kopf zu hören, wenn die ihr zuflüstern wollte, welchen Weg sie tatsächlich gehen sollte? Jene Stimme, auf die sie nicht hatte hören wollen, als die ihr das Gleiche schon früher versucht hatte zu sagen? Vielleicht war sie ja aus einem bestimmten Grund der Klasse 3G der Featherbrook School zugeteilt worden, der ihr bloß noch nicht richtig klar war. Aber war der Grund der gewesen, ihre Entschlossenheit zu stärken, um sie zu einer besseren, stärkeren Lehrerin zu machen, oder ging es darum, dass sie es sich noch einmal gut überlegte, ob die Zukunft, für die sie sich entschieden hatte, wirklich die richtige war?

Sie verscheuchte eine Fliege von ihrem Bein und sah hinüber zu der weißen Klippe an der Landspitze, die jetzt in den rosigen Goldton der untergehenden Sonne getaucht war und wie griechischer Marmor leuchtete. Am Fuß der Klippe schlugen die funkelnden Wellen der Bucht ans Land, ein Dunst in Muschelrosa hing vor dem Horizont. Von der See her wurde sie von einer kühlen Böe erwischt, die genügte, um ihr eine Gänsehaut zu bescheren. Sie griff nach ihrer Strickjacke und zog sie über. Dann warf sie einen Blick auf ihr Handy, um sich die Uhrzeit anzeigen zu lassen. Ein wenig überraschte es sie, dass sie schon viel länger hier im Sand saß, als ihr bewusst gewesen war.

Wenn sie den Rückweg zum Haus in gemächlichem Tempo bewältigte, würde sie dort ungefähr zur gleichen Zeit eintreffen wie ihre Eltern. Sollte sie früher daheim sein, konnte sie schon mal mit dem Abendessen loslegen und ihre Eltern mit etwas Leckerem überraschen.

Während sie überlegte, was sie kochen könnte, schüttelte sie das Handtuch aus, auf dem sie gesessen hatte, rollte es zusammen und verstaute es in ihrer Tasche. Sie zog die Denim-Flipflops an und überquerte den Strand in Richtung Promenade. Sie wurde von einer langen Reihe aus Cottages gesäumt, in denen die wichtigsten Geschäfte und Restaurants von Sea Salt Bay untergebracht waren. Die Fenster dieser Häuser wirkten wie Augen, die den Blick hinaus aufs Meer gerichtet hatten. Früher hatten in den Cottages Fischer gelebt, als der Fischfang noch für alle in der Bucht die wichtigste Einnahmequelle gewesen war – zumindest dann, wenn sie nicht gerade versuchten, Fässer mit Rum an den Soldaten des Königs vorbei an Land zu schmuggeln. Das war der kleine Nebenerwerb, von dem man sich nur hinter vorgehaltener Hand erzählte.

Sadie hatte all die alten Klassiker wie Moonfleet und Die Schatzinsel gelesen, in denen Schmuggler als romantische Helden und liebenswürdige Schurken dargestellt wurden. Sie malte sich gern aus, dass es in Sea Salt Bay früher einmal von solchen Männern gewimmelt hatte. Zugleich musste sie aber auch mit einer gewissen Enttäuschung einräumen, dass die Wirklichkeit sehr wahrscheinlich weit weniger romantisch und dafür umso gefährlicher gewesen war. Ihr Dad hatte sich mal mit der Geschichte der Bucht beschäftigt und dabei auch in den alten Archiven gestöbert, denen zufolge das Leben vor einigen hundert Jahren rau und brutal gewesen war. Viele Menschen waren damals zu Schmugglern geworden, weil sie gar keine andere Wahl hatten und ansonsten den Hungertod gestorben wären. An einem Sonntagnachmittag, kurz nachdem sie neunzehn geworden war, hatte sie neben ihrem Vater gesessen und ihm über die Schulter geschaut, weil sie wissen wollte, was er da las. Gleich darauf wünschte sie, sie hätte es bloß nicht getan. Es hatte nur Sadies Verdacht bestätigt, dass die Wirklichkeit deprimierend und düster gewesen war. Doch an einem Tag wie diesem gab sie ihrer eigenen Version der Vergangenheit von Sea Salt Bay den Vorzug, weil die mehr Spaß machte und nicht so finster war.

Beim Anblick der Cottages, von denen jedes in einem anderen Pastellton gestrichen war – Apfelgrün, Kornblumenblau, Zuckergussrosa, blasses Pfirsich, Schlüsselblumengelb, Lavendel und Flieder – und die alle im goldenen Sonnenschein strahlten, fiel es leicht, an Sadies bevorzugte eigene Version der Geschichte zu glauben. In jedem Cottage waren die Schaufenster anders dekoriert: mit Surfzubehör, mit Spielen und Spielzeug für den Strand, mit Postkarten und Souvenirs, mit Bademode und Taucheranzügen. Vor einem Cottage mit offenem Eingangsbereich standen mehrere Kühltruhen mit Eis in jedem erdenklichen Farbton, vor einem anderen hatte der Betreiber Tische aufgestellt, an denen man Fish ’n’ Chips und Muscheln essen konnte, die alle aus der Bucht stammten.

Als sie an diesem Cottage vorbeikam, war Reginald, der immer die Krabbensandwiches zubereitete, soeben damit beschäftigt, auf der Schiefertafel ein Gericht von der Speisekarte zu wischen, das offenbar ausverkauft war. Er schaute sich um, entdeckte Sadie und hob eine Hand.

»Hey, Sadie! Wie geht’s?«

»Danke, gut«, rief sie ihm zu. »Was macht das Geschäft?«

»Könnte besser laufen, aber ich will mich nicht beklagen.«

Sadie lächelte wissend. Seine Antwort fiel immer gleich aus, auch wenn er sich vor Kundschaft kaum retten konnte.

»Grüß deine Eltern von mir«, fügte er noch hinzu.

»Mache ich!«

Am letzten Cottage zweigte die Straße ab, die zum viktorianischen Pier führte. Der Pier war das Kronjuwel von Sea Salt Bay. Er war nichts Besonderes, wenn man ihn mit den Bauwerken in anderen Badeorten verglich, aber er war schrullig und hübsch, und jeder liebte ihn. Das schmiedeeiserne Geländer war in einem zarten Salbeigrün gestrichen, und die alten Holzbohlen ächzten und knarrten bei jedem Schritt, den man auf ihnen machte. Wenn man nach unten sah, konnte man durch jede Spalte zwischen den Bohlen das Meer unter einem sehen. Der Pier war die Heimat einer Spielhalle und einer Ansammlung harmloser Fahrgeschäfte, darunter das Karussell und der Autoscooter. Ganz am Ende des Piers befand sich die Waffelbäckerei von Sea Salt Bay. Das Bauwerk bildete ein perfektes Quadrat mit einem spitzen Dach darauf. Angestrichen war es in rosa und weißen Streifen, die ihm das Aussehen eines großen Lollis verliehen. Die Farbe war mittlerweile verblasst, Wind und Wetter hatten ihr auf Dauer zugesetzt. Die Fensterläden schlossen nicht mehr richtig, und die Plakate in den Fenstern waren durch die Sonne völlig ausgebleicht. Dennoch hatte dieses Lokal einen festen, treuen Kundenstamm. Das Schild vor der Tür besagte, dass es dort die besten Waffeln an der gesamten südlichen Küste gab, und es gab niemanden, der dieser Behauptung widersprechen wollte.

Auf die Waffelbäckerei war Sadie besonders stolz, da sie ihrer Gammy und ihrem Gampy gehörte. Für alle anderen waren die beiden Grandma und Grandpa, doch als kleines Kind hatte Sadie die Aussprache nie so richtig hinbekommen, und so war es letztlich bei den Namen geblieben, die sie ihnen unabsichtlich gegeben hatte. Gammy und Gampy kannte man auch als April und Kenneth Schwartz, die beide noch vor der Geburt von Sadies Vater von Amerika nach England gekommen waren und die Waffelbäckerei fast die ganze Zeit über geleitet hatten. Als sie in den Sechzigern ihr Geschäft eröffneten, waren Waffeln für die meisten, die hier lebten, noch etwas Exotisches gewesen. Dennoch wuchs der Kundenstamm in den Sechzigern und den Siebzigern immer weiter, und die Gäste kamen inzwischen von nah und fern. Mittlerweile waren Waffeln für die Leute etwas Vertrautes. Für Gammy und Gampy hatte sich der Ruf bezahlt gemacht, den sie sich nach und nach erarbeitet hatten. Das Geschäft lief immer noch gut – zumindest aber gut genug, um sie weitermachen zu lassen, auch wenn das Gebäude dringend eine Generalüberholung und einen neuen Anstrich benötigte.

Sadie bog in Richtung Pier ab, weil sie bei ihren Großeltern vorbeischauen und sie fragen wollte, wie es so lief. Und falls sie nach Geschäftsschluss noch Hilfe benötigen sollten, um alles fertig zu machen, würde sie noch mithelfen. Doch sie hatte gerade erst ein paar Schritte getan, da hielt sie inne, weil sie eine Sirene hörte, die rasch näher kam und damit entsprechend lauter wurde. Als sie sich umsah, entdeckte sie einen Rettungswagen, der in hohem Tempo auf der Straße unterwegs war, die zur Promenade führte. Am Gitter vor dem Pier hielt der Wagen an, da ein Weiterfahren nicht möglich war. Zwei Sanitäter sprangen aus dem Fahrzeug und liefen mit großen schwarzen Beuteln beladen über die alten Holzbohlen, während einer von ihnen etwas in ein Funkgerät rief.

Sadie schaute den beiden einen Moment lang hinterher, dabei regte sich Angst in ihrer Magengrube.

Es hatte zwei Vorkommnisse in Sadies Leben gegeben, bei denen sie von dem seltsamen, fast übersinnlichen Gefühl heimgesucht worden war, dass in Kürze etwas geschehen würde. Beim ersten Mal hatte sie vorausgeahnt, dass ihr Hund Binky von einem Auto angefahren werden würde. Ein Nachbar hatte an die Haustür geklopft, um es ihren Eltern zu sagen, doch sie hatte bereits gewusst, was er ihnen zu berichten hatte.

Beim zweiten Vorfall war ein Mädchen aus ihrer Schule in der Bucht ertrunken. Sadie war damals ungefähr vierzehn gewesen. Als der Rektor sie alle zu sich gerufen hatte, um ihnen die traurige Nachricht zu verkünden, hatte sie das auch schon längst gewusst. Es war so, als wäre ihr diese Information geradewegs ins Gehirn gebeamt worden, denn gesagt hatte ihr zuvor niemand etwas davon. Dieses zweite Mal hatte sie tief erschüttert, und sie hatte jahrelang mit der Angst gelebt, dass es wieder passieren könnte. Sie hatte sich niemandem anvertraut, weil sie glaubte, von den anderen für seltsam erklärt zu werden. Außerdem hatte sie sich nicht die Verantwortung aufbürden wollen, die mit einer solchen Gabe oder einem Fluch oder wie man es auch nennen wollte verbunden war. Glücklicherweise war seitdem nie wieder etwas in dieser Art vorgefallen, sodass sie fast schon vergessen hatte, dass es überhaupt passiert war. Bis zu diesem Moment.

Dann brach die Wahrheit über ihr zusammen, als sie erkennen musste, dass der entsetzliche Gedanke sich bestätigte, der ihr nur ein paar Sekunden zuvor durch den Kopf gegangen war. Ihr wurde eiskalt, ihr stockte der Atem. Benommen und unfähig sich zu rühren sah sie mit an, wie die Rettungssanitäter die Waffelbäckerei betraten.

Sie ließ ihre Tasche fallen und begann zu rennen.

Sadie stand an einem der großen Fenster im Wintergarten von Henriette und Graham Schwartz und ließ den Blick über die See wandern, auf deren Wellen sich weiße Schaumkronen bildeten, kurz bevor sie in der Ferne gegen die Felsen der Bucht schlugen. Viel zu häufig sah Sadie es als selbstverständlich an, gemeinsam mit ihren Eltern in einem Haus zu wohnen, das an einer so fantastischen Stelle der Klippe gebaut worden war und einen so wunderbaren Ausblick ermöglichte. Sadies Mutter Henriette hatte mehr als einmal betont, dass sie ohne die (widerwillige) Hilfe ihrer Eltern nie in der Lage gewesen wären, sich ein derart spektakuläres Haus zu leisten. Henriette – oder Henny, wie sie von ihren Freunden genannt wurde – hatte den Wintergarten in ein gemütliches Esszimmer umgewandelt, sodass sie jede Mahlzeit vor dem atemberaubenden Anblick der Bucht zu sich nehmen konnten, von dem andere Menschen nur träumten. Henriette erlaubte am Esstisch weder Fernsehen noch Handys, doch diese Form der Ablenkung benötigte auch niemand, da die Aussicht auf die Küste von Dorset ohnehin jeden in ihren Bann schlug.

Die Sonne versteckte sich heute und hatte Mühe, sich einen Weg durch die niedrig hängende Wolkendecke zu bahnen. Dennoch war es auch um diese Zeit immer noch warm. Der Sommer kam allmählich in Fahrt, und damit näherte sich für Sea Salt Bay die betriebsamste Phase der Tourismussaison. Die komplette Familie Schwartz, einschließlich Sadies Schwester Lucy – die nur zur Beerdigung ihres Großvaters hergekommen war und bald wieder nach New York zurückkehren würde, wo sie inzwischen lebte –, ihrem Bruder Ewan, dessen Frau Kat und den Kindern Freya und Freddie, saß beim gemeinsamen Mittagessen zusammen, was eine Seltenheit darstellte. Sonst fehlte immer irgendeiner von ihnen, weil es Außerplanmäßiges zu erledigen galt, Hobbys gepflegt wurden oder freiwillige Arbeit zu leisten war. Und natürlich hatten Henny, Graham, Ewan und seine Frau Kat ihren jeweiligen Betrieb, sodass es kaum Zeiten gab, zu denen sie mal nicht arbeiten mussten. Keiner von ihnen konnte sich feste Arbeitszeiten leisten, wie es zum Beispiel in einem gewöhnlichen Angestelltenverhältnis möglich war.

Für Sadie war das ein weiterer Grund gewesen, lieber eine Ausbildung zu machen und dann eine Beschäftigung auszuüben, die ihr zumindest ein bisschen Freizeit erlaubte, auch wenn sie immer wieder mal Überstunden machen musste. Ewan und Kat betrieben eine Tauchschule und begaben sich jederzeit ins Wasser, wenn durch die Kundschaft Termine gebucht wurden. Dabei war es egal, welcher Wochentag gerade war. Geschäft war schließlich Geschäft, und sie konnten es sich nicht leisten, auch nur eine Person abzuweisen. Einer der beiden musste zudem immer anwesend sein, um Buchungen anzunehmen, von denen jede Menge eingingen. Henny und Graham mussten in den Sommermonaten jeden Tag mit dem Boot raus, insbesondere an den Wochenenden, weil dann die meisten Besucher nach Sea Salt Bay kamen.

Heute hatten sie entschieden, dass die See zu unruhig war, um rauszufahren, und Ewan war zu dem gleichen Entschluss gekommen: Wenn das Wetter zu schlecht zum Segeln war, dann galt das erst recht für Tauchgänge.

Damit befanden sie sich in der erfreulichen (oder unerfreulichen, abhängig davon, von welcher Seite man es betrachten wollte) Lage, den Sonntag gemeinsam verbringen zu können, was nur äußerst selten einmal möglich war. Es fehlte nur einer am Tisch: Sadies geliebter Gampy Kenneth.

Einen Monat war es jetzt her, seit Sadie den Rettungswagen am Pier hatte anhalten sehen, und noch immer klaffte ein Loch im Herzen der Familie. Ein Loch, das drohte, den Herzschlag zum Erliegen zu bringen, so wie es an jenem Tag bei ihrem Großvater geschehen war. Die Erinnerungen daran kehrten nun zu ihr zurück wie Treibgut bei Flut, und sie sah es wieder ganz genau vor sich, wie sie blindlings über den Pier rannte und wie die Rettungssanitäter versuchten, sie davon abzuhalten, das Lokal zu betreten. Schließlich hatte sie es geschafft, an den beiden vorbeizukommen, und einen Blick auf den Arzt zu werfen, der um das Leben ihres Großvaters gekämpft hatte. Gleich darauf wünschte sie, sie hätte es nicht sehen müssen. Wenn sie jetzt an ihren Großvater dachte, fiel es ihr schwer, diese Bilder von den glücklicheren Erinnerungen an den Mann zu trennen, mit dem sie aufgewachsen war. Es war so, als wären diese Erinnerungen für alle Zeit besudelt.

Sadie wandte den Blick vom Meer ab, das mit seinen Wellen dafür gesorgt hatte, dass ihre Gedanken ziellos umhergedriftet waren, und sah nun zu ihrer Gammy. Die war noch immer das Oberhaupt der Familie – auch wenn sich das auf ihr Alter und ihre Erfahrung beschränkte – und war in diesem Moment vom Lärm und Stimmengewirr einer Familie umgeben, von der sie sehr geliebt wurde. In der warmen Luft hing der Duft von gegrilltem Gemüse und Fleisch, ein leiser Nieselregen legte sich auf die zur Bucht weisenden Fenster.

Obwohl sie alle bei Gammy waren, wirkte die in diesem Moment so einsam, wie Sadie sie noch nie erlebt hatte. Sie erschien ihr klein und unbedeutend und traurig … und völlig verloren. Zwar drängten sich alle um den Tisch, dennoch fühlte es sich so an, als wäre da ein Bereich gleich neben ihr, der von Gampy besetzt sein sollte – von dem Mann, den sie so sehr geliebt hatte. Er war Gammys Schutz gewesen, ihr Puffer, ihr ruhender Anker, und nun war er von ihr gegangen und hatte das alles mitgenommen. Natürlich ging das Leben weiter, selbst wenn das für einen anderen nicht mehr zutraf, aber auch wenn sich die Familie Schwartz alle erdenkliche Mühe gab, nach vorn zu blicken, drohte ein Mitglied – April – dabei ins Hintertreffen zu geraten.

»Gammy …«, sagte Sadie leise. April drehte sich zu ihr um.

»Ja, Darling?«, erwiderte sie und zwang sich zu einem tapferen Lächeln.

»Möchtest du etwas Wein?«

April schüttelte den Kopf. »Wasser genügt mir.«

»Es ist ein guter Wein«, legte Sadie nach.

»Davon bin ich überzeugt. Vielleicht später.«

Sadie sah auf den kleinen Teller, auf dem jedem von ihnen als Vorspeise Melone mit Prosciutto serviert worden war. Alle hatten aufgegessen, nur nicht April.

»Hat dir die Melone nicht geschmeckt?«

»Oh doch, sie war lecker«, antwortete ihre Großmutter. »Ich habe nur nicht viel Hunger.«

Sadie schaute wieder auf den Teller, der nicht danach aussah, dass sie auch nur ein Stück davon probiert hatte. Dennoch ließ sie die Sache auf sich beruhen. Bevor sie dann aber ein anderes Thema anfangen konnte, hatte sich ihre Großmutter bereits zu Graham umgedreht.

Sadie hatte es immer für ein Klischee gehalten, wenn die Leute sagten, dass mit dem Tod eines geliebten Menschen auch ein wenig von den Menschen starb, die ihn am meisten geliebt hatten. Doch seit sie Gampy verloren hatten, konnte sie regelrecht dabei zusehen, wie es geschah. Die schmächtige Gestalt ihrer Großmutter war der Beweis dafür. Früher war sie April Schwartz gewesen, eine beherzte, schlagfertige, offenherzige, kluge und abenteuerlustige Frau, die mit dem Mann an ihrer Seite, den sie liebte, ihren eigenen Weg in einem fremden Land gegangen war. Jetzt dagegen war sie nur noch eine Erinnerung an diese Frau, und selbst die verblasste noch schneller, als Sadie es ertragen konnte.

»Sadie …«

Sie schüttelte hastig den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. »Was?« Sie drehte sich zur Seite und bemerkte, dass Ewan sie erwartungsvoll ansah. Es war nicht zu übersehen, dass er auf eine Antwort wartete, sie die Frage aber überhaupt nicht kannte.

»Salz«, sagte er schließlich. »Kannst du es mir rübergeben?«

»Salz?«, wiederholte sie.

»Salz …«, sagte er langsam. »Noch mehr neben der Spur als sonst? Hast du dich mal wieder übernommen? Eine weitere durchgemachte Nacht mit Wie-heißt-er-noch-gleich?«

»Nein.« Sie reichte ihm den Salzstreuer. »Wie-heißt-er-noch-gleich gehört übrigens der Vergangenheit an.«

»Ach.« Lucy strich sich eine dunkle Locke aus der Stirn und griff nach ihrem Weinglas. »Ich hatte mich nicht getraut, dich auf dein Liebesleben anzusprechen. Aber da Ewan das Thema schon mal angeschnitten hat …«

Ewan grinste sie an und drehte sich wieder zu Sadie um. »Wann ist denn das passiert?«

»Vor ein paar Tagen.« Sadie versuchte, die Worte beiläufig klingen zu lassen. Sie wusste, dass sie von ihrem Bruder massiv gehänselt werden würde. Überhaupt schien er in letzter Zeit an so gut wie allem, was sie tat, etwas zu finden, womit er sie aufziehen konnte. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass es sie in irgendeiner Weise kümmerte. Den Gefallen wollte sie ihm nicht tun.

Ewan sah Kat mit einem spitzbübischen Ausdruck in den Augen an. Seine Augen waren vom gleichen Braunton wie die von Lucy. Ewan und Lucy hatten beide von ihrer Mutter die dichten dunklen Locken und die dunklen Augen geerbt. Lediglich Sadie kam mit ihren grauen Augen und den kastanienbraunen Haaren nach ihrem Vater. Manchmal gab ihr das das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein, die gar nicht richtig dazugehörte. Verstärkt worden war dieser Eindruck schon früh, als sie noch ein Kind war und ihr zum ersten Mal bewusst wurde, wie groß der Altersunterschied zwischen ihr und ihren Geschwistern war. Wenn Ewan gemein zu ihr war, zog er sie oft damit auf, dass sie bloß ein Anhängsel war, ein Kind, das ihre Eltern zu einem Zeitpunkt bekommen hatten, als Kinderkriegen schon lange kein Thema mehr gewesen war. Sadie hatte oft das Gefühl, dass das auch zutraf, obwohl Henny und Graham ihr das niemals bestätigt hätten. Aber Ewan war achtunddreißig und Lucy sechsunddreißig. Dass sie selbst erst sechsundzwanzig war, ließ darauf schließen, dass Ewan mit seinen boshaften Bemerkungen recht hatte.

»Und?«, warf Kat ein, während sie Ewan den Salzstreuer aus der Hand nahm. »Wie sehr macht dir das auf einer Skala von eins bis zehn zu schaffen?«

Sadie goss sich ein Glas Wasser ein und konnte sich ein flüchtiges Lächeln nicht verkneifen. »Fünf, würde ich sagen.«

»Ah«, machte Kat und lachte kurz auf. »Dann hast du den hier also ganz gut leiden können?«

»Wie hieß er noch gleich?«, fragte Lucy. »Jason?«

»Ja, richtig«, rief Kat dazwischen. »Ich bin es so sehr gewohnt, dass Ewan ihn immer Wie-heißt-er-noch-gleich genannt hat, dass ich seinen Namen völlig vergessen habe.«

Sadie lachte leise. »Ich denke, Jason war erträglich.« Sie stellte die Karaffe mit Wasser weg. »Auf jeden Fall war er besser als Ash.«

»Ash war der davor, richtig?«, fragte Lucy. »Ich hab mittlerweile den Überblick verloren. Wie lange hatte er durchgehalten?«

»Hab ich vergessen«, sagte Sadie.

»Ungefähr zehn Minuten«, ergänzte Ewan.

»Nein«, widersprach ihm Kat. »Mindestens zwanzig.«

»Wow«, rief Lucy und lachte dabei leise. Sadie hatte oft den Eindruck, dass ihre ältere Schwester sie für ein bisschen albern hielt. Vielleicht hatte es ja mit dem Altersunterschied zu tun, auf jeden Fall kam es ihr manchmal so vor, als würde Lucy sie für unreif und fehlgeleitet halten. Wenn Sadie dann aber über Lucys Erfolg als Theateragentin in New York nachdachte und sich vor Augen hielt, was für eine starke Persönlichkeit ihre Schwester war, dass sie es in einer so brutalen Branche so weit gebracht hatte, dann konnte Sadie schon nachvollziehen, wieso Lucy so dachte. In der Welt, in der Lucy lebte, blieb keine Zeit zum Faulenzen, man konnte sich keine Unreife leisten, und ganz sicher vergeudete man keine Zeit mit Männern, die nicht zu einem passten.

»Dann war Jason also erträglich? In deiner Welt bedeutet das die wahre Liebe«, stellte Kat fest.

»Nein, tut es nicht«, widersprach Sadie ihr und stimmte in das Geplänkel ein, weil ihr gar keine andere Wahl blieb, als über sich selbst zu lachen. Auch ihr war klar, wie albern es auf jeden anderen wirken musste, dass keiner ihrer Freunde auf Dauer bei ihr blieb. Der Grund dafür war zwar gar nicht so lustig, aber wenn sie nicht darüber lachte, würde sie zu grübeln beginnen, und dann würde sie anfangen zu weinen. »Wahre Liebe ist mindestens eine Acht. Vielleicht eine Sieben, aber das ist hart an der Grenze. Mit Jason war es definitiv nicht die wahre Liebe.«

»Und was ist diesmal verkehrt gelaufen?«, wollte Lucy wissen.

»Eigentlich gar nichts. Ich konnte nur keinerlei Begeisterung aufbringen, um mich mit ihm zu verabreden. Auf was hätte das also hinauslaufen sollen?«

»Auf gar nichts«, stimmte Kat ihr zu. »Gibt es denn überhaupt jemanden, der bei dir Begeisterung auslösen kann? Wenn ich so über deine Punkteskala nachdenke, glaube ich nicht, dass eine Sieben oder Acht überhaupt existiert.«

Sadie zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck. »Ich möchte schon daran glauben, dass es den Einen für mich gibt«, sagte sie, während sie das Glas hinstellte. »Ich weiß nur nicht, ob ich ihn in Sea Salt Bay finden werde.«

»Ich weiß nicht mal, ob du ihn in dieser Hemisphäre finden wirst«, merkte Ewan an.

»Du kannst dein Glück jederzeit in New York versuchen«, sagte Lucy, während sie den leeren Vorspeisenteller Henny überreichte, die alle Teller einsammelte, um Platz für den nächsten Gang zu machen. »Komm mit und bleib ein paar Wochen bei mir, dann verkuppele ich dich mit einem ehetauglichen Junggesellen.«

»New York ist ja okay, um Urlaub zu machen«, sagte Sadie. »Aber ich weiß nicht, ob es mir gefallen würde, da zu leben.«

»Die Welt jenseits der Bucht ist groß«, betonte Lucy.

»Ich weiß«, erwiderte Sadie. »Ich hab sie mir auch schon mal angesehen, weißt du noch?«

Wieder reagierte Lucy mit diesem milden Lächeln. »Ja, ich schätze, es liegt nicht jedem, diese Bucht zu verlassen. Manchmal, wenn ich herkomme, kann ich verstehen, warum du nicht weggehen willst. Mir fehlt das hier nicht, wenn ich in New York bin und ich mich tagein, tagaus auf meine Arbeit konzentrieren muss. Aber wenn ich dann mal wieder zu Hause bin …« Sie hielt inne und starrte einen Moment lang in die Ferne. »Wenn ich wieder zu Hause bin, dann fühle ich mich anders … irgendwie ruhiger. So, als hätte ich einen ganzen Monat in einem Yoga-Camp verbracht. Dann wird mir klar, was für ein Glück ich hatte, hier aufwachsen zu dürfen.«

»Du kannst jederzeit wieder herkommen«, sagte Graham.

Lucy schüttelte den Kopf. »Nachdem ich in New York so hart gearbeitet habe, um dahin zu kommen, wo ich heute bin? So reizend der Gedanke auch ist, müsste ich verrückt sein, so was in die Tat umzusetzen. Zumindest für die nächsten Jahre muss ich noch dort bleiben. Und danach … wer weiß?«

»Ich dachte, du hättest mal den Mann fürs Leben gefunden«, warf April plötzlich ein.

Sadie drehte sich zu ihr um und war fast erstaunt darüber, dass ihre Großmutter nicht nur der Unterhaltung gefolgt war, sondern auch noch etwas dazu beitragen wollte. Sadie gab es oft nicht zu, weil sie es hasste, dass alle anderen das wussten, was sie nicht laut aussprechen wollte. Aber April hatte recht mit dem, was sie gerade gesagt hatte. Die anderen machten einen leicht verlegenen Eindruck und hofften vermutlich, dass April nicht auch noch den Namen des Mannes aussprach, an den sie dachte.

Sadie lächelte verkrampft. Tatsache war, dass sie einmal der Meinung gewesen war, eine Zehn gefunden zu haben, und das auch noch hier in Sea Salt Bay. Sie hatte diesen Mann gehabt, bevor sie zur Universität gegangen war, und sie hatte ihn verloren. Sie war wankelmütig, albern und stur gewesen und hatte erst begriffen, was sie mit ihm gefunden hatte, nachdem sie ihn vergrault hatte. Und das alles nur, weil sie nach noch etwas mehr gesucht hatte, etwas, das sie letztlich gar nicht gebraucht hatte. Etwas, von dem sie geglaubt hatte, es außerhalb von Sea Salt Bay zu finden. Und nun war er mit einer anderen Frau zusammen. Seit drei Jahren hatte eine andere Frau die perfekte Zehn an ihrer Seite, und sie würde ihn auch nicht wieder hergeben. Sadie konnte ihr deshalb keinen Vorwurf machen. Wäre er heute noch bei ihr gewesen, hätte sie ihn auch nicht mehr gehen lassen.

Aber ganz gleich, wie sie diese Sache betrachtete, die Tür hatte sich hinter ihr geschlossen, und damit war dieses Leben für sie unerreichbar geworden. Obwohl sie ihm in der Stadt oft begegnete und sie um der alten Zeiten willen stets einen Scherz parat hatten, würde sie ihm niemals verraten, dass sie sich manchmal fragte, was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn sie ihn nicht hätte gehen lassen. Und erst recht erwähnte sie nie, dass sie manchmal davon träumte, sie hätten sich nicht getrennt und sie würden glücklich und verliebt in einem kleinen Cottage oben auf der Klippe leben. Oft dachte sie darüber nach, dass die Frau, für die er sich entschieden hatte, die völlig falsche war, und manchmal malte sie sich aus, dass sie ihm das auch sagte. Aber es wäre den beiden gegenüber ungerecht, und deshalb konnte sie so etwas nicht sagen, auch wenn sie es allzu gern getan hätte.

»Es führt zu nichts, jetzt noch länger darüber zu reden, nicht wahr, April?«, sagte Kat und lächelte Sadie mitfühlend an. »Du weißt doch, was die Leute sagen: Es ist sinnlos, alte Ruhmestaten wiederaufleben zu lassen.«

»Wer sagt so was?«, wollte Ewan wissen. »Das habe ich noch nie jemanden sagen hören.«

»Keine Ahnung«, konterte Kat sofort. »Ich hab’s mal gehört, also hat es auch jemand gesagt. Ich muss ja wohl nicht erst noch einen Quellennachweis vorlegen, oder?«

Ewan grinste vergnügt, woraufhin Kats gereizter Gesichtsausdruck sofort dahinschmolz.

»Ich will gar nicht länger darüber reden«, sagte April, die einen leicht beleidigten Eindruck machte. »Ich sage nur, wie ich die Dinge sehe. Jeder in der Stadt weiß, dass die beiden füreinander bestimmt waren. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass es ein Fehler war, ihn gehen zu lassen.«

Henny kam aus der Küche zurück und setzte sich wieder an den Tisch. »Letztlich ist das ganz allein Sadies Sache. Und ich persönlich bin froh darüber, dass sie so wählerisch ist«, fügte sie hinzu und gab einen Löffel Preiselbeeren auf den Teller, auf dem Graham soeben das Lammfleisch serviert hatte. »Es gibt für sie keinen Grund, irgendetwas zu überstürzen. Man sollte sich nicht mit dem Zweitbesten zufriedengeben.«

»Niemand hat ihr dazu geraten«, betonte Ewan. »Keiner hier am Tisch hat so was je getan.«

»Ganz genau«, bekräftigte Henny. »Wenn man heiratet, dann aus Liebe.«

Sadie musste prusten, da sie sich fast an ihrem Wasser verschluckt hätte. »Niemand hat hier vom Heiraten gesprochen!«

»Und trotzdem will dich offenbar jeder verheiraten«, merkte Lucy an.

»Also gut«, sagte Henny ein wenig irritiert. »Was ich sagen will, ist, dass sich niemand mit weniger als dem Besten zufriedengeben sollte. Zieht zusammen, wohnt zusammen … und was immer Paare heutzutage machen.«

»Mum«, begann Ewan und grinste ironisch. »Du sagst das so, als wärst du zu einer Zeit auf die Welt gekommen, als Victoria noch auf dem Thron saß.« Er schaufelte sich einen Berg Kartoffelpüree auf den Teller. »Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen schon zusammengezogen sind, als du und Dad jung wart.«

»Wilde Ehe nannte sich das damals«, sagte Graham. »Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, aber eure Mum wollte davon nichts wissen. Dafür war sie sich zu fein. Der Anstand musste gewahrt werden.«

»Oh Junge, ich kann mich noch gut daran erinnern«, sagte April und sah Henny an. »Ich weiß noch, wie Graham dich das erste Mal mit zu uns nach Hause brachte. Wir dachten, er wäre mit dir direkt vom Buckingham Palace rübergekommen.«

Henny verdrehte die Augen. »Zum letzten Mal: Wir waren nicht fein. Wir waren nur …«

»Steinreich?«, entgegnete Ewan.

»Wahnsinnig privilegiert?«, warf Lucy ein.

»Mit echten Blaublütigen verwandt?«, ergänzte Sadie.

»Nur ganz entfernt«, sagte ihre Mutter. Sie wischte mit einer Handbewegung die Bemerkung weg und widmete sich wieder dem Fleisch auf ihrem Teller. Bei genauerem Hinsehen konnte man jedoch einen Anflug von Stolz in ihrer Miene erkennen.

Ihre Familie war mit dem Königshaus vermutlich genauso weitläufig verwandt wie der Rest der Menschheit mit Adam und Eva. Aber Sadies recht hochnäsigen und anstrengenden Großeltern ließen dennoch keine Gelegenheit aus, jedem von diesem Verwandtschaftsverhältnis zu erzählen.

Sadie war es leid, diese Geschichte zu hören. Obwohl in ihren Adern das gleiche Blut floss, war es für sie ohne Bedeutung. Oft kam es ihr so vor, dass die beiden einfach nur ein gewisses Geltungsbedürfnis verspürten und deshalb wieder und wieder die gleiche Geschichte erzählten. Diese Großeltern, die auf einem entlegenen Anwesen in Schottland lebten, wo sie einen Butler, eine Köchin und einen Gärtner hatten, waren das völlige Gegenteil der Großeltern, die hier in Sea Salt Bay zu Hause waren und die kleine Waffelbäckerei auf dem Pier führten. Sie hatten für jeden, der ihnen begegnete, ein Lächeln und ein paar freundliche Worte übrig. Sie waren zudem der völlige Gegensatz zu Sadies Mutter Henny.

Sie konnte nicht sagen, ob sie immer schon so gewesen war oder ob sie sich verändert hatte, nachdem sie Graham begegnet war. Auf jeden Fall war diese Verwandlung in einen ganz normalen Menschen für die Tatsache verantwortlich, dass sie einen Mann überhaupt eines Blickes würdigte, der Welten von ihr entfernt war.

»Wir mussten heiraten«, fuhr Graham fort und sah seine Kinder der Reihe nach an. »Sonst hätten eure Großeltern mich niemals akzeptiert.«

Henny sah von ihrem Essen auf. »Ich hoffe, du willst damit nicht andeuten, dass du mich nicht geheiratet hättest, wenn sie dir eine Wahl gelassen hätten. Falls ja, dann bist du ein bisschen spät dran, mir das zu sagen. Es ist allerdings nicht zu spät dafür, dich deinen Koffer packen zu lassen und dich ins Sea Salt Bay Gästehaus zu schicken.«

»Natürlich nicht«, sagte Graham und lächelte seine Frau milde an. Ihre Nasenflügel blähten sich auf eine Weise auf, die jeden mit Nachdruck daran erinnerte, dass sie früher tatsächlich mal sehr vornehm gewesen war – und dass letztlich der Apfel nie weit vom Stamm fiel. »Du weißt, ich war hoffnungslos in dich verliebt. Jeder wusste das. Du warst diejenige, die Opfer gebracht hat, meine Süße. Du könntest jetzt mit irgendeinem feinen Pinkel verheiratet sein und auf einem Landsitz leben, anstatt jeden Tag mit mir auf dem Boot zu verbringen.«

»Zufälligerweise gefällt es mir, auf dem Boot zu arbeiten«, erwiderte Henny noch immer etwas abweisend, aber es war erkennbar, dass die einschmeichelnden Worte ihres Mannes Wunder gewirkt hatten und die Verärgerung über seine vorangegangene Bemerkung längst verraucht war. »Außerdem hatte ich nie vor, einen feinen Pinkel zu heiraten.«

»Na, dann wäre das ja auch geklärt«, gab Graham gut gelaunt zurück. »Daran wird sich nämlich so bald auch nichts ändern, falls wir nicht im Lotto gewinnen … oder deine Eltern sich entschließen, uns ein bisschen unter die Arme zu greifen.«

»Wir sind nicht auf die Hilfe meiner Eltern angewiesen«, sagte Henny und verfiel wieder in diesen herablassenden Tonfall, der jeden daran erinnerte, aus welchem »guten Stall« sie kam. »An dem Tag, an dem ich zu Hause ausgezogen bin, habe ich ihnen gesagt, dass wir auf eigenen Beinen stehen werden.«

»Wenn ich mich nicht irre«, gab Graham mit flüchtigem Lächeln zurück, »fiel dabei die Aussage, dass sie sich ihr Erbe sonst wohin stecken sollten.«

»Das habe ich gesagt, weil sie sich dir gegenüber so schrecklich verhalten haben«, sagte Henny. »Und das weißt du auch. Wir haben uns nach Ewans Geburt wieder vertragen. Sie haben sich sofort auf den Weg gemacht, um ihn zu sehen. Und sie waren in all unsere Kinder vernarrt. Und vergiss nicht, dass sie uns beim Kauf dieses Hauses unterstützt haben.«

»Als ob ich das vergessen würde«, sagte Graham mit einem unüberhörbar sarkastischen Unterton.

Sadie und Ewan sahen sich an, sagten aber nichts. Vernarrt war wohl ein wenig übertrieben, um zu beschreiben, wie Hennys Eltern zu Sadie und ihren Geschwistern standen. Geduldet war wohl der treffendere Begriff. Sadie konnte sich nicht daran erinnern, von Henriettes Eltern jemals gedrückt oder gelobt worden zu sein oder auch nur mal ein freundliches Wort gehört zu haben, weder als Kind noch irgendwann später.

»Aber auch nach all den Jahren haben sie ihre Meinung über mich nicht geändert«, gab Graham zu bedenken.

»Egal. Wir haben alles aus eigener Kraft geschafft, und wir waren erfolgreich. Wir brauchen auch jetzt ihr Geld nicht, außerdem würde ich sie sowieso nie darum bitten.«

Graham lächelte seine Frau so voller Stolz und Zuneigung an, dass es Sadie ganz warm ums Herz wurde. Womöglich waren ihre Eltern der maßgeblichste Grund dafür, dass sie nicht den richtigen Mann fand. Selbst als sie das eine Mal gefährlich nahe an den »Traummann« herangekommen war, hatte der letztlich doch nicht ihren Ansprüchen genügt. Oder besser gesagt: Sadie war nicht in der Lage gewesen, das perfekte Vorbild zu ignorieren, dem sie um jeden Preis gerecht werden wollte. Die Beziehung ihrer Eltern erschien ihr so vollkommen, so völlig fehlerlos. Und dann hatte sie auch noch so romantisch und so märchenhaft begonnen, dass Sadie mit der Zeit immer fester davon überzeugt war, dass jede große Liebesaffäre wie ein Märchen sein musste. Jedenfalls jede Liebesaffäre, die es wert war, begonnen zu werden.

Wenn da kein Feuerwerk war, wenn es keine Momente à la Romeo und Julia gab, wenn es nicht darum ging, dass eine Liebe sich gegen jeden Widerstand behaupten musste, dann konnte es nicht die einzig wahre Liebe sein, richtig? Diese Überzeugung hatte dann auch noch Bestätigung dadurch erfahren, dass Grandma und Grandpa Schwartz sich gegenseitig regelrecht verehrt hatten – ganz zu schweigen davon, dass ihr Bruder mit Haut und Haar der wunderschönen und praktisch vollkommenen Kat verfallen war.

Sadie konnte nur den Sternen dafür danken, dass die gute alte Lucy sich zwar angeboten hatte, für sie einen reichen New Yorker Junggesellen aufzutreiben, sie selbst aber immer noch als Single rundum glücklich war. Ansonsten hätte sie wohl wirklich geglaubt, dass mit ihr etwas nicht stimmte, weil sie noch immer keine romantische Traumbeziehung führte.

»Ich weiß nicht, wie um alles in der Welt wir überhaupt auf dieses Thema gekommen sind«, sagte Henny. »Wenn wir nur noch eine Minute länger über meine albernen Eltern reden, dann wird sämtliches Essen auf dem Tisch mit einem Schlag schlecht.«

Ewan lachte schnaubend.

»Langsam, Mum«, rief Lucy, musste aber grinsen.

Auch die anderen am Tisch mussten lachen, ausgenommen April, die offenbar nicht mitbekommen hatte, dass jemand einen Witz gemacht hatte. Auch Henny begnügte sich mit einem ironischen Lächeln, das ihrem Sohn galt. Sie liebte ihre Eltern, das wusste jeder. Aber so wie alle anderen am Tisch war auch ihr bewusst, wie schwierig, starrsinnig und unablässig missbilligend sie sein konnten.

»Gib mir bitte den Wein, Graham«, sagte Henny und blickte zu Ewan und Kat, während ihr Mann ihr die Flasche reichte. »Ein wundervoller Jahrgang. Danke, dass ihr den mitgebracht habt.«

Ewan zuckte mit den Schultern. »Er kam uns ein bisschen zu nobel vor, um ihn zu Hause allein zu trinken. Schon witzig, was zufriedene Kundschaft einem einbringen kann. Ich meine, es ist manchmal ein bisschen übertrieben, schließlich lassen wir die Leute nur ein bisschen im Meer rumplanschen, aber warum sollte ich eine nette Flasche Wein ablehnen, die ich für etwas bekomme, was ich ohnehin liebend gern tue?«

»Ich wünschte, mein Job würde mir auch solche Vorteile einbringen«, sagte Sadie.

»Du hast keinen Job«, sagte Ewan und grinste seine jüngere Schwester an. »Was du tust, ist nichts weiter, als die Massen zu bändigen.«

»Sie hat eine Berufung«, sagte Lucy und stellte sich galant auf die Seite ihrer jüngeren Schwester. »Das ist viel mehr als bloß ein Beruf.«

»Ganz genau«, stimmte Sadie ihr zu und rümpfte an Ewan gewandt die Nase.

»Dann hättest du nichts dagegen, mit ihr zu tauschen?«, fragte er Lucy. »Du kannst dich jeden Tag mit einem Rudel Kinder in ein Klassenzimmer setzen? Und Sadie kann sich in schicken Restaurants mit Promis und Broadway-Produzenten treffen?«

Lucy trank einen Schluck Wein. »Um Gottes willen, nein!«, rief sie ausgelassen. »Setz mich für mehr als eine Stunde mit einer Horde Teenager in ein Zimmer, und ich greife zum Valium! Die einzigen Teenager, die ich sehen will, sind die, die ich in der neuesten Produktion von Dear Evan Hansen unterbringen kann!«

»Der durchschnittliche Teenager wird gern schlechtgeredet«, sagte Sadie. »Zugegeben, sie fordern einen heraus, aber ihre Ansichten über unsere Welten können sehr faszinierend sein. Kinder zu unterrichten ist eine Berufung und besser als jeder beliebige Job. Ich helfe dabei mit, kommenden Generationen den Weg zu weisen. Es könnte durchaus sein, dass ich einen künftigen Nobelpreisträger dabei unterstütze, sein ganzes Potenzial zu erkennen und auszuschöpfen.«

»Wenn du das nächste Mal in deinem Kämmerchen hockst und mit der Prüfung der Buchhaltung beschäftigt bist, werde ich dich fragen, ob du das immer noch so siehst, und dann werde ich in der Bucht schwimmen gehen und kassiere für dieses Privileg auch noch Teilnehmergebühren«, hielt Ewan dagegen.

»Sehr witzig«, gab Sadie zurück und tat so, als würde sie eine Grimasse schneiden. »Mit meiner Arbeit kann ich immerhin einen Unterschied bewirken. Jedenfalls wird das so sein, wenn ich meine Qualifikation habe und einen Job bekomme.« Doch dann hielt sie inne, da die alten Vorbehalte gegen die von ihr gewählte Karriere wieder an die Oberfläche kamen. Sofort drängte sie sie zurück, damit sie verstummten. Dies hier war der Weg, für den sie sich entschieden hatte, und den würde sie auch bis zum Schluss gehen. Sie hatte sich für eine Arbeit entschieden, die etwas bedeutete, nicht wahr? Sie würde in dieser Welt einen Unterschied bewirken, richtig?

»Mein Job bewirkt auch was«, sagte Ewan. »Ich mache Menschen glücklich, oder nicht? Ich habe eine Warteliste für Neukunden.«

»Natürlich hast du die«, konterte Sadie und seufzte theatralisch. »Wenn du den Leuten beibringen würdest, wie man Schiffe von Muscheln befreit, dann hättest du ebenfalls eine Warteliste, weil halb Sea Salt Bay dich liebt und …«

»Sadie!«, ging Henny dazwischen. »Erstens: So redest du nicht bei Tisch! Und zweitens: Du kannst so etwas nicht in Gegenwart von Kat sagen!«

»Ja, klar«, meinte Sadie lachend, lief aber wegen der Zurechtweisung ihrer Mutter rot an.

»Ach, Mum, bitte«, mischte sich Lucy ein. »Als ob Kat das nicht längst wüsste!«

»Natürlich weiß ich das«, sagte Kat und lächelte Ewan schüchtern an. »Aber Umsatz ist Umsatz, ganz egal, womit wir den machen. Außerdem stelle ich mich immer gern einer Herausforderung.«

»Bin ich für dich eine Herausforderung?«, fragte Ewan.

»Es ist auf jeden Fall eine Herausforderung, in einer Ehe das Mystische zu bewahren.«

Wieder musste Ewan grinsen. »Oh, ich glaube, auf dem Gebiet schlägst du dich weitaus besser als nur okay …«

»Bratensoße?«, rief Henny energisch in die Runde und schob die Sauciere zwischen Ewan und Kat, um am Esstisch jede Zweideutigkeit zu unterbinden, die sich bei dieser Unterhaltung anbahnen könnte.

»Ich habe genug, danke«, sagte Ewan und hob abwehrend die Hand.

»Ich auch«, ergänzte Kat und sah zu den Kindern, die schweigend dasaßen, während die Eltern sich angeregt unterhielten. Freya war die Älteste, eine ernst dreinblickende Zehnjährige, die meistens die Nase in ein Buch steckte, statt die Tauchausrüstung anzulegen.

Während ihre Eltern die sportlichen Typen waren, die am liebsten draußen unterwegs waren, stellte sie das genaue Gegenteil dar, da sie ihre Zeit lieber in einer Bibliothek als auf einem Tennisplatz verbrachte. Im Moment las sie eine alte Ausgabe von Malory Towers, die Henny ihr überlassen hatte. Keinem anderen Kind wäre es erlaubt, am Esstisch ein Buch zu lesen, aber Henny verwöhnte Freya, wo sie nur konnte. Sie hätte ihr sogar erlaubt, neben dem Essen ein Chemie-Experiment durchzuführen, wenn es ihre Enkelin glücklich machen würde.

Freddie war zwei Jahre jünger als sie, er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

Schon jetzt sah er richtig gut aus, dazu diese braunen Augen, die das kälteste Herz zum Schmelzen bringen konnten, und einen dunklen Lockenkopf. Trotz seines guten Aussehens und seines Charmes war er schwieriger im Umgang als Freya, was womöglich damit zusammenhing, dass er so wie sein Dad etwas zu prahlerisch und aufgedreht war. Ständig handelte er sich irgendwelchen Ärger ein, ständig verletzte er sich irgendwo, und ihn faszinierten immer wieder die Dinge, von denen er sich eigentlich fernhalten sollte. Würde man ihm einen großen roten Startknopf hinstellen und ihn warnen, dass die Welt untergehen würde, sobald er draufdrückte, dann könnte Freddie gar nicht anders, als genau das zu tun – einfach so, um zu wissen, was geschehen würde.

Er begleitete Ewan auch liebend gern beim Tauchen, ganz egal, welches Wetter herrschte oder welche Temperatur das Wasser hatte. Genauso liebte er es, im flachen Gewässer zwischen den Felsen zu schwimmen und auf den kleineren Wellen zu surfen, die sich durch die Bucht bewegten. Mit dem gleichen Eifer betätigte er sich als Läufer und als Bergsteiger. Überhaupt war er wie besessen davon, jede erdenkliche Sportart auszuprobieren. Hauptsache, er musste nicht länger als fünf Minuten stillsitzen.

In diesem Moment betrachtete er sehnsüchtig die aufgewühlte See unter ihnen in der Bucht, auf die man vom Wintergarten aus freie Sicht hatte. Vermutlich träumte er gerade von einem Tag, den er inmitten der Wellen verbracht hatte, anstatt bei einem Essen mit der ganzen Familie am Tisch zu sitzen und die Beine ruhig halten zu müssen.

»Habt ihr zwei genug Sauce?«, fragte Kat die Kinder, die daraufhin beide nickten. Freyas Blick kehrte sofort zurück zu ihrem Buch, während sie gedankenverloren mit der Gabel eine Karotte aufspießte und sie ohne hinzusehen flink in Richtung Mund bewegte. Ihr Benehmen machte deutlich, dass sie beim Essen oft ein Buch las.

Freddie sah wieder hinaus aufs Meer. Hätte jemand aufmerksam genug hingeschaut, dann hätte er sehen können, wie in den großen braunen Augen des Jungen kleine Filme abliefen, die Nachmittage wiedergaben, die er mit Surfen verbracht hatte.

Henny stellte die Sauciere wieder auf den Tisch und griff nach ihrem Besteck.

»Das Fleisch ist herrlich, Dad«, sagte Sadie.

Graham lächelte sie an.

»Sehr zart«, bestätigte April, auch wenn sich Sadie nach einem Blick auf den Teller fragte, woher ihre Großmutter das wissen wollte, da es nicht so aussah, als hätte sie irgendetwas davon probiert. »Das ist es wirklich«, stimmte Ewan ihr zu. »Ich habe schon immer gesagt, dass du einen verdammt guten Braten hinbekommst.«

»Ich habe deine Kochkünste wirklich vermisst«, ergänzte Lucy. »Ich glaube, seit ich hier bin, habe ich bestimmt zehn Pfund zugenommen.«

»Ach, Darling«, sagte April und lächelte Lucy an. »Ich finde, du siehst einfach toll aus. Wenn du noch ein bisschen Polsterung zusätzlich bekommst, wird dir das gut stehen. Du warst so gestresst, als du hier angekommen bist. Ich glaube, du arbeitest zu viel.«

»Ich habe aber auch niemanden, der mich mit diesem liebevoll zubereiteten Essen füttert«, entgegnete Lucy. Es fiel auf, dass sie nicht widersprach, was ihre Arbeit betraf. Vielleicht war ihre Schwester ja sogar selbst der Meinung, dass sie manchmal zu viel arbeitete. Allerdings wusste Sadie auch, dass – falls es so war – Lucy diesen Arbeitsaufwand auch für erforderlich hielt. Lucy war schon immer ehrgeizig und entschlossen gewesen, sie steckte voller Leidenschaft für die Kunst und engagierte sich für die, die damit zu tun hatten. Ursprünglich hatte sie selbst eine Schauspielausbildung machen wollen, doch sie war schon früh zu der Erkenntnis gelangt, dass sie einfach nicht gut genug war. Dann hatte es eine zufällige Begegnung mit einem Theateragenten in London gegeben, der in New York ein Büro eröffnen wollte. Dadurch war sie zu ihrem Job gekommen, den sie jetzt immer noch ausübte und für den sie Sadies Ansicht nach viel besser geeignet war. Sie wusste, Lucy liebte diese Arbeit, und wahrscheinlich brachte die ihr auch mehr Geld ein als die Schauspielerei, auch wenn sie nie damit prahlen würde, wie viel sie verdiente.

»Das ist ja alles schön und gut«, sagte Kat, und mit einem Mal nahm Sadie in ihrem Tonfall einen Hauch von Ungeduld wahr. »Aber auch wenn wir es alle genießen, einfach mal wieder draufloszureden, glaube ich, dass es da wohl etwas gibt, über das wir uns unterhalten sollten.«

Henny nickte bedächtig, ließ ihren Blick kurz zu April schweifen und sah dann wieder Kat an. »Damit dürftest du recht haben.«

»Ich bin froh, dass du das genauso siehst wie ich«, sagte Kat.

Ewan schaute sie irritiert an. »Würde mir jemand freundlicherweise sagen, worum es hier geht? Ich habe ja nicht mal eine Ahnung, in welche Richtung ich blicken soll.«