Der kleine Gernhardt - Robert Gernhardt - E-Book

Der kleine Gernhardt E-Book

Robert Gernhardt

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Beschreibung

Von Apokalypse bis Zahnarzt: Robert Gernhardts Autobiographie in Stichworten Der Dichter und Zeichner Robert Gernhardt hat bis zu seinem Tod kontinuierlich in Schulhefte geschrieben und gezeichnet, die legendären »Brunnenhefte«. Aus diesem Fundus schöpfend, hat er noch zu Lebzeiten ein außergewöhnliches Buchprojekt begonnen: eine Autobiographie in alphabetisch geordneten Stichworten. Da Gernhardt das Werk nicht mehr selbst vollenden konnte, hat es die Herausgeberin Andrea Stoll mit weiteren Texten aus den »Brunnenheften« komplettiert. Entstanden ist so ein lebendiges Zeugnis von großer Tiefenschärfe und hellsichtiger Komik im unverfälschten Gernhardt-Sound. Ein Buch, mit dem wir Robert Gernhardt so nah kommen wie nie zuvor.

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Seitenzahl: 152

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Robert Gernhardt

Der kleine Gernhardt

Was war, was bleibt von A bis Z

Herausgegeben von Andrea Stoll

FISCHER E-Books

Inhalt

AlterApokalypseApokalyptischer BlickAutobiographieAutoritätenBahnfahrenBauenBauherrBerühmte und UnberühmteBettelnBildhauerBiographieBrennstoffeBruderBrunnen der VergänglichkeitBuchhändlerDenkenDichtenDichterDichterdivenDichtung und WartenDuzenEheEhreEnttäuschungErinnerungErnstmacherEstablishmentFestung EuropaFeuilletonFleißFluchtFortschrittFototerminGeehrtwerdenGottlosHeilungHeimatHerkunftHimmelHören und SehenHonorarHundefreundeIch und das FernsehenIch und die AnderenIntelligenzJahreswechselJung, JüngerKatzen und KinderKlassikerKollegenKrebsKümmererKünstlerKünstlerlebenKulturpreisKunstbetrachtungKunstfundamentalistenKunst und WahrheitKunsturteilLachenLetzte WorteLiebeLieben und VerliebenMisserfolgMutterNachrufNeidOben und untenPaarPolitikerProblemePunkRettungRivalenRuhmSchlafenSchriftstellerSeinSelbstachtungSelbstzweifelSpurensucheStadtbewohnerStatussymboleSterbenSympathieTäterToscanaTraum (I)Traum (II)VerbesserungVerdachtVergleicheVerschlechterungWahlWeltWochenplanWohnenWohnungZahnarztZeichnenAnhangNachwortEditorische NotizNachweisePersonenverzeichnis

Alter

Schau ich in den Spiegel rein

schaut ein alter Mann mich an.

»Weg, weg, du alter Mann,

geh zu deinesgleichen!«

Seh ich auf den Buchempfang,

schaun mich alte Männer an.

»Oh Entschuldigung. Ich bin

hier wohl fehl am Platze!«

Hör ich in das Radio rein,

mähren sich Senioren aus.

»Wer heut Jugendkult betreibt,

ist morgen altes Eisen.«

Seh ich mir den Fernseh an,

schauen alte Leute raus.

»Mit der Kraft der zwei Herzen

bleibst auch Du fit!«

Apokalypse

Treff mit Polaczek, der sich als ziemlicher Apokalyptiker entpuppt: Wir lebten doch in einer Villa mit 3 Hektar Park, indes direkt am Zaun tausende auf einem Hektar kampierten: Wie lange lassen die den Zaun unangetastet?

Erstmals während der Menschheitsgeschichte gibt es kein Entweichen mehr – das Go west der endgültigen Vergangenheit. Ein kolumbianischer Großholzroder und -fäller habe ihn sehr nachdenklich gemacht – befragt, was er denn tun wolle, wenn der Wald weg und die verbleibende Erde unfruchtbar sei? Habe der geantwortet: Ich lebe noch zwanzig Jahre – das erlebe ich nicht mehr.

Die Ruppigkeit der Taxifahrer am Bahnhof: Der eine bezeichne eine Aktentasche als Gepäck, das in den Kofferraum gehöre, der zweite behauptet, bereits einen Kunden zu haben (der ist noch zehn Meter entfernt), der dritte entpuppt sich als Serbe, der die Schuld am Bosnienkrieg Genscher + den Deutschen in die Schuhe schiebt.

Ich muß zwangsläufig den antiapokalyptischen Part übernehmen: »Für mich ist das Glas nicht halbleer, sondern halbvoll.«

Ich versuche lichte Gegenbilder zu malen: Wie rasch sich die Oliven nach dem großen Frost erholt hätten! (Die Natur ist stärker als wir glauben.) Die Kormoraninsel im Mai. (Die Natur ist anpassungsfähiger als wir annehmen.) Der Fall der Mauer – von niemandem vermutet. (Die Geschichte macht im Gegensatz zur Natur – Sprünge.)

Aber natürlich sind das nur Tropfen auf den heißen Apokalypse-Stein, ja es scheint so, als ob der sich mit jedem beschwichtigend gemeinten Argument noch auflade: Im Wirtschaftssystem, das alle Untüchtigen aussondert! Die steigende Zahl der Obdachlosen und Bettler – in New York wie in Rom wie in F/M! Die Entwurzelung weltweit! Die schmutzigen Strände noch da, wo man sich am Ende der Welt wähnt, auf den Azoren! Das alles trägt er mit leiser, ein wenig leidender Stimme vor, das alles kenne ich natürlich aus der WG.

Spannender wird es dann, wenn er von italienisch-deutschen Querelen auf Journalistenniveau berichtet: Von einer RAI-Korrespondentin, die kein Wort deutsch spricht, die sich weigert, ein Wort deutsch zu lernen, und die sich in Berlin, das sie haßt, aufhält, um dort einen Film über Berlin zu drehen.

Von einem Journalisten-Treffen, in Italien, auf welchem ein deutsches Team die Berichterstattung der RAI beklagte: Von dreißig Beiträgen über Deutschland hätten sich 27 mit Neo-Nazismus und Ausländerfeindlichkeit beschäftigt, zwei mit Wirtschaft, keine mit Kultur. Diese Auflistung sei als Affront des italienischen Journalismus aufgefasst worden: Da habe der häßliche Deutsche mal wieder die Maske fallen lassen. P., als Österreicher, habe sich die Frage erlaubt, was an dieser Auswertung denn so verkehrt sei – keine Antwort.

Apokalyptischer Blick

Der Apokalyptische Blick: Er kann sich auf den Mikro- oder den Makrokosmos richten.

B: Was willst du? Wir haben es doch gut. Sitzen auf unserer Terrasse, essen guten Salat …

A: Guten Salat? Weißt du, welche Schadstoffe solch ein Salat enthält? Blei … Kadmium … etc.

B: Aber der ist doch aus organischem Anbau!

A: Du glaubst an organischen Anbau? Du hältst es im Ernst für möglich, daß inmitten vergifteter Landschaft ein Feld unvergiftet bleiben kann …? Bzw. (makroskopisch gesehen):

A: Lass dir deinen Salat ruhig schmecken. Zwar verhungern laut einer Statistik der Unesco jede Stunde weltweit 2000 Kinder, doch wenn dir der Salat schmeckt … Bitte sehr … lass dich nicht stören …

Der Apokalyptismus ist die Religion der Gottlosen, jener, die dem Gegenüber kein Heil mehr verkaufen wollen, sondern nur noch eine Bösbotschaft verbreiten: Alles ist eitel! Alles geht den Bach runter! Alles ist sterblich – du vor allem bist es! Aber: Lass dir um Himmelswillen den Salat nicht verderben!

Autobiographie

Eine Autobiographie in Stich- und Hauptworten:

Wohnen. Essen. Reden. Lieben. Rauchen. Reisen. Schreiben. Zeichnen. Verlieren. Gewinnen. Scherzen. Trauern. Hassen. Schrumpfen. Wachsen. Kochen. Schlafen. Absondern. Mitmachen. Suchen. Finden.

Das könnte schön finster werden.

Autoritäten

Es ist schon schier unglaublich, was alles in den Heranwachsenden während der 50er Jahre von institutionellen Kreisen gepumpt wurde: Ich war zwei Indoktrinationen ausgesetzt, der kirchlichen und der staatlichen.

Zwölf Jahre hatte die Nazizeit gedauert, und sie dauerte in beiden Indoktrinationen an, bis weit in die 50er Jahre. In der Evangelischen Jugend sangen wir Lieder wie »Aufgesessen, weißer Reiter, pack das scharfe Christusschwert« – also Texte, mittels derer die Kirche gehofft hatte, mit bündischer Jugend und HJ Schritt zu halten.

Die »Junge Schar«, das Unterhaltungs-, Belehrungs- und Informationsblatt der Ev. Jugend wurde von Karl Otto HorchHorch, Karl Otto gestaltet und gefüllt, einem Finstermann, der an Gottesurteile glaubte und empfahl, im Interesse einer sauberen Jugendgruppe keine »faulen Radieschen« als Mitglieder zuzulassen, worunter er Skeptiker und Selbstdenker verstand. Das erinnere ich ohne Einsicht in die damalige Lektüre – sie wäre schwerlich erhellend.

So wie es eine andere Lektüre bereits gewesen ist, dank C.s Bruder ist mir jener Band der »Fackel« in die Hände gefallen, der den Deutschunterricht unseres Abiturjahrgangs begleitet hat – der 3. Fackel-Band, wenn ich nicht irre, da schon 11. und 12. Klasse »Fackel« geprägt waren.

Schwer, ohne Zorn und Eifer über die Fackel-Lektüre zu reden, ich will es versuchen.

Die Herausgeber hätten ihre Haltung wohl als »wertkonservativ« oder »abendländisch« beschrieben, man darf sie ohne Scheu reaktionär nennen. Am deutlichsten wird das bei der Gedichtauswahl, die einem unselig hölderlinisierenden WeinheberWeinheber, Josef breiten Raum gibt und im Impressionismus nicht davor zurückschreckt, die Erscheinungsdaten der jeweiligen Gedichtbände mit 1936 bzw. 1943 o.ä. anzugeben. Dafür fehlt Brecht,Brecht, Bertolt und das erklärt mir, weshalb mich der Brecht-ÜberdrußBrecht, Bertolt der z.B. Jetzt-Generation so wundersam anmutet: Wir mußten den noch selber entdecken. Wie auch den »wahren« Benn,Benn, Gottfried den Expressionisten der Frühzeit, oder den Enthemmten der späten Gedichte – in der »Fackel« fanden sich drei Gedichte der Pathosjahre, die eine tiefe innere Verwandtschaft zu den Fabrikaten der Dichter der heilen Welt aufwiesen: Von Form und Gut und Zucht und Rasse spricht Benn,Benn, Gottfried und ähnlich orgeln auch Hagelstange,Hagelstange, RudolfCarossaCarossa, Hans und Konsorten.

Folgt man der Fackel, so hat eine Moderne ebensowenig stattgefunden wie die Reaktion auf sie, es gab keine Revolution und keinen Nationalsozialismus, keinen Krieg und keinen Zusammenbruch – eines der wenigen Gedichte, die dunkel von dunklen Zeiten in Deutschland reden, stammt von Gertrud von le FortFort, Gertrud von le und mir fehlen die Worte, dieses Elaborat angemessen zu verdammen:

Es sollte einen seinerzeit verdummen und hat es zum Glück nicht geschafft.

Die Fackel bringt Gedichte und reflektierende Texte. Die Gedichtauswahl prätendiert eine ungebrochene Traditionslinie von GoetheGoethe, Johann Wolfgang bis zur Gegenwart; die Auswahl der Essays versammelt weitgehend neuere Namen, fast durchweg Tief- und Großdenker der 1. Jahrhunderthälfte mit einem Hang zum Allgemeinen, meist Verblasenen.

»Besinnung« auf irgendwas wird fast durchgehend gelehrt: Auf die abendländisch-christlichen Werte, auf die conditio des Menschen an sich: Warum das alles eigentlich geleistet werden muß, bleibt im Unklaren, da bestenfalls in Gegensätzen, wie dialektisch verhandelt wird und da selbst das zu Bekämpfende im Interesse der Nichtaufklärung über die Vorgänge der zurückliegenden Zeit nicht beim Namen genannt wird.

Das Werk ist im Vandenhoeck und Ruprecht Verlag Göttingen erschienen, ein Herausgebergremium zeichnet für den Inhalt verantwortlich.

Es wäre sicherlich aufschlußreich, die Viten dieser Herren vor dieser Tätigkeit kennenzulernen – allzu saubere Westen können die nicht gehabt haben. Aber sie hatten den Zeitgeist im Rücken. Und wir Schüler? Wir hatten glücklicherweise noch andere Informationsquellen: Da gab es das »British Centre«, später »Die Brücke«, in welcher sogar DDR-Literatur zu finden war – »Die Westmark fällt weiter« von Erich LoestLoest, Erich z.B. –, und es gab die Stadtbücherei, wo Arno SchmidtSchmidt, Arno und Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul zu finden waren. Aber: Wäre es nach unserer Schule und den zuständigen Lehrern gegangen, allen voran Adolf Kraus – sie hätten uns dumm sterben lassen.

Bahnfahren

In Hamburg fällt das Stellwerk aus, nichts läuft mehr, und das schon seit Stunden.

Im Reisezentrum, in dem ich die Fahrkarte kaufe, verliert niemand ein Wort über diesen Umstand, erste Irritationen, als ich auf der Schalttafel sehe, daß der 13 Uhr 37 immer noch angeführt ist, der 14 Uhr 37 noch nicht. Dann eine ziemlich verhallte Lautsprecherdurchsage: Schaden … Verspätungen auf unbestimmte Zeit …

Mittlerweile ist deutlich, daß der Bahnhof unnormal funktioniert: Unnormal viele Menschen auf Bahnsteigen vor Telefonzellen.

Eine sehr undeutliche Durchsage empfiehlt, mit der S-Bahn nach Harburg zu fahren, dort warte der 37er – nun ein 47er-Zug. In Harburg macht es Schwierigkeiten, den Zug zu finden, schließlich habe ich einen Platz – ohne Probleme, da keine Reservierungen gelten. Mit 40 Minuten Verspätung geht es los, über die Dörfer, der ICE-Zuschlag ist aufgehoben, die Erste Klasse gesteckt voll. Das normalisiert sich etwas in Hannover, dann, in Göttingen passierts: Ein älteres Ehepaar baut sich vor mir und meinem mir unbekannten Gegenüber auf: Sie sitzen auf unseren Plätzen.

– Die Reservierungen gelten nicht.

– Es sind unsere Plätze.

– Da ist nichts reserviert, da alles durcheinandergebracht worden ist. Aber schauen Sie mal hinter Ihnen sind zwei gegenüberliegende Plätze frei – das Pendant zu diesen. Nehmen Sie die.

– Wir hatten aber diese.

– Die kriegen Sie aber nicht.

– Das werden wir nochmal sehn. Das wird der Schaffner entscheiden.

– Setzen Sie sich doch auf die beiden Plätze, sonst tut es ein anderer. Hier ist nichts reserviert.

Schließlich tun sie das, die Frau unter Protest: Also das dürfte es eigentlich nicht geben.

Bauen

Ankunft in Montaio, mit leichter Bänglichkeit wg. des begonnenen Capanna-Ausbaus, und es wiederholt sich, was mir bereits vor 23 Jahren widerfuhr, als ich erstmals das im Sommer renovierte Haupthaus wiedersah: Kein Glücksgefühl, dafür immer wieder starke Abwehr: Wieso ist das denn soundso gemacht worden und nicht soundso, wie abgesprochen? Im Haupthaus waren es die dunklen, hölzernen Tür- und Fensterstürze gewesen, die meinen Widerwillen erregt hatten: Pseudomediterran und Fake-Rustikal. Diesmal ereifern LGehebe-Gernhardt, Almut»L.« → Almut Gehebe-Gernhardt. und ich uns beim ersten Rundgang wg. der Schlafzimmer-Grigliato-Lösung: Wieso nur zwei schmale Fenstersegmente? Wieso keine durchgehende Öffnung? Was soll die gemauerte Wand in der Mitte?! Das muß als erstes geändert werden.

Und wieder geschah, was bereits vor 23 Jahren passierte, nur ging es noch schneller: Während ich die Türstürze nach 3 Tagen nicht mehr schlecht und nach fünfen gut fand, befanden LGehebe-Gernhardt, Almut»L.« → Almut Gehebe-Gernhardt. und ich bereits am Morgen nach der Ankunft, ein durchgehendes Fenster sei bei einem Schlaf + Ruheraum Unsinn: So, mit zwei kleinen wirke der Raum intim + südlich. Ein durchgehendes Innsbruck. Außerdem war die Lösung im Plan verzeichnet – wir hatten ihn nicht sorgfältig gelesen.

Bauherr

Die Capanna präludiert Siena: Es ist eines, sich in gemachte Nester oder gelegte Eier zu setzen, ein anderes, selbst ein solches Nest zu bauen und ein solches Ei darein zu legen: Man kann dafür haftbar gemacht werden: Ach so sieht dem sein Idealnest aus! Ach das stellt er sich unter einem gelegten Ei vor!

Wer baut, hat entweder Interessen finanzieller Art oder Interessen persönlicher Art. Im ersten Fall braucht er eine dicke Haut, im zweiten wäre eine dünne zu begrüßen, in beiden Fällen ist eine Haut vonnöten – wer die nicht hat, traut sich gar nicht zu bauen.

Zumal dann, wenn er dergleichen schon mal veranlaßt hat. Dann weiß er, was ›Bauen‹ bedeutet: Unordnung verbreiten und Tatsachen schaffen.

Wobei die Unordnung noch zu verkraften wäre, die den Tatsachen vorausgeht: Erde wird aufgerissen, Grün wird zerstampft. Abraum häuft sich, Materialien stapeln sich.

Das alles ist reversibel, die Tatsachen sind es nicht: Wo bisher nichts war, ist nun etwas. Wo bisher Aussicht war, ist nun keine. Wo bisher Natur war, ist nun Architektur.

Denn ob Neubau, Umbau oder Ausbau: Anfangs war der Bauherr Herr nicht über den einen Bau, sondern über Baumöglichkeit. Wie immer limitiert seine Möglichkeiten waren, innerhalb der Grenzen waren sie einigermaßen grenzenlos: so unbegrenzt jedenfalls wie die ihm möglichen Lebensentwürfe. Zum Beispiel der Capanna-Ausbau: Ein feststehender Baukörper wird um einen Anbau und eine Terrasse erweitert. Alles klar? Nichts ist klar. Welchen Eindruck soll der Baukörper nach den Eingriffen bieten? Nach wie vor Turmhaus? Durchbrochen? Was meint: Was will der Bewohner? Viel Licht? Viel Mauer? Und so fortan: Welche Materialien? Alte? Pseudoalte? Neue? Was meint: Wie will sich der Bewohner darstellen? Als Liebhaber und Kenner alttoscanischer Bauweisen? Als Mittler zwischen alt und neu? Als jemand, der den harten Schnitt favorisiert: Alt und neu kontrastreich kombiniert?

Wer die Vermutung nahelegt, er wolle, daß ein von ihm veranlaßter Bau soundso aussehe, provoziert die Reaktion: So siehst du aus!

Ertappt! – keine so angenehme Erfahrung für jemanden mit dünner Haut, weshalb er auch das Bauen gerne denen mit dicker Haut überläßt, nur: Was ist damit gewonnen? Auf jeden Fall geht viel verloren: Ein jeder Dickhäutige richtete unendlich mehr Schaden in Sachen Natur und Architektur an als eine Legion Dünnhäutiger, und wenn die alle von ihren Bauvorhaben zurückträten, wäre Platz geschaffen für noch mehr Zerstörung und noch mehr Unsensibilität und noch mehr Häßlichkeit –

Aber für wen schreibe ich eigentlich diese verdrehten Zeilen?

Letzten Endes für jene, die jeden Bauherrn, auch mich, seit jeher mit Mißtrauen beobachtet, ja mit Hass verfolgt haben. ›Hauseigentümer‹, ›Wohnungseigner‹, ›Ferienhausbesitzer‹ gar ›Bauherr‹ – sie alle hatten jenen Rubikon überschritten, der in den 60ern, 70ern die Ausgebeuteten von den Ausbeutern schied, wobei die Ausbeutung bereits damit begann, daß jemand eine wie immer geartete Miete verlangte.

Doch nicht nur das Habenwollen, das schiere Haben bereits beinhaltet Schuld. Und der, der hatte, sollte sein Haben zumindest diskret handhaben, es nicht ausstellen, sondern kaschieren; was ebenfalls zur Folge hatte, daß die Dünnhäutigen sich nichts trauten und daß die Dickhäutigen sich umso ungenierter in Szene setzen konnten: In den 60ern hatte der von AdornoAdorno, Theodor W./SartreSartre, Jean-Paul und Co genährte Zeitgeist alle bürgerlich besetzten Daseinsformen – Kleiden, Wohnen, Bauen – derart in Frage gestellt, daß eine ganze – meine – Generation auf all diese Zumutungen dünnhäutig reagierte: Dann wird sich eben nur quasi uniform gekleidet – Jeans, Parka –, dann wird eben nur basal gewohnt – in Trödel und Sperrmüll –, dann wird eben nicht gebaut – und wenn, dann unter Verzicht auf jede Vision und jeden Profit, zwei Gesichtspunkte, die immer wieder vor den Karren der Architektur gespannt worden sind, ob es sich dabei um Einkaufserlebniswelten oder Firmenselbstdarstellungen handelte: Siehe Las Vegas, siehe Manhattan, siehe die Schneider-Bauten. Bzw. siehe das Gegenteil, jene sozial demokratisch geprägten öffentlichen Räume, die die SPD nicht wollte: B-Ebenen, Unterführungen, Großstadtplätze: alle abstoßend; oder jene Einrichtungen, die sie wollte: Bürgerhäuser, Altenstätten, Kindertagesstätten: alle verhärmt.

Aber warum in die Ferne schweifen: Vor mir steht die Capanna und ist fast – nicht ganz so, wie ich sie mit dem Architekten besprochen und anschließend veranlaßt habe: Nach wie vor ist sie ein Kubus, eine Art Turm, die einen deutlich abgesetzten, teilweise geziegelten Anbau bekommen hat. Ziegel, die mir anfangs, beim ersten Sehen, Probleme bereiteten: Wieso denn Ziegel? Warum nicht, wie sonst auch, Naturstein?

Fragen, die sich übersetzen ließen in: Wieso bringt der Idiot (Bauherr) da auf einmal Ziegel ins Spiel? Er hätte doch bei Naturstein bleiben können! Oder, noch kränkender: Wieso hat sich der Idiot Ziegel aufschwätzen lassen?

Auf all diese noch nicht und vielleicht nie gestellten Fragen habe ich bereits jetzt eine Antwort parat:

Wir sind hier in Valdarno – und das ist, was Case coloniche betrifft zweifellos reine Natur – und Bruchsteingegend. Ziegeln wurde nur rund um Fenster und bei Ecken eingesetzt – zu teuer. Aber wir liegen hier am Rand des Chianti: Die Chiantigiana geht gen Siena und je näher Sie Siena kommen, desto vollständiger schwindet der Bruchstein. An seine Stelle tritt der Ziegel, bis Siena sich den Reisenden als sogut wie vollkommen geziegelt präsentiert – ja. Na ja. Und der geziegelte Abschluß meiner Capanna, der nimmt dieses Geziegelte Sienas in einem kurzen, ziegelhaften Aufleuchten vorweg: Dieser geziegelte Teil präludiert – mit einem Wort –: Siena.

Das kann man so sagen, man muß es freilich nicht glauben. Letzten Endes zeugt jeder von dir verursachte und bezahlte Bau für oder gegen dich – mit persönlichen Erklärungen wie der obigen ist wenig gewonnen und nichts gerettet. Die können lediglich den zeitgenössischen Kritiker erreichen; seine kommenden Kollegen ferner Jahrhunderte werden bar jeder Interpretationshilfe vor dem Objekt – beispielsweise der leicht schiechen, in Ziegelstein übergehenden Capanna – stehen und sich verzweifelt fragen: Was wollte uns der Idiot denn damit nun schon wieder sagen?!

Berühmte und Unberühmte

Es gibt die Berühmten und die Unberühmten, und – Ausnahmen bestätigen die Regel – meist sind die Kritiker nicht zu berühmt.

Zumal dann, wenn sie noch jung sind, der Berühmte jedoch älter: So berühmt, der Berühmte, denken die Jungen, der kann den einen Puff vertragen, so wie der bisher gelobt worden ist. Wäre er denn sonst so berühmt?