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Was würden Sie mit einem Sack voller Geld machen? Wie gräbt man einen Acker um, ohne einen Finger zu rühren? Was ist das höchste Ideal? Und was das größte Laster? Wie schützt man sich gegen Hass? Warum ist Spucken gesund für die Seele? Kann man Zeit nutzen? Was braucht eine Kuh, um glücklich zu sein? Der kleine Herr Lu Chi, 70 Jahre alt, bescheiden, lebenserfahren und neugierig wie ein Kind, hat seine ganz eigene Sicht auf die Welt. Seine alltäglichen und verblüffenden, skurrilen und liebevollen Weisheiten helfen nicht nur beim Blick über den Tellerrand.
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Seitenzahl: 60
Veröffentlichungsjahr: 2021
Doris Bewernitz
Der kleine Herr Lu Chi
Geschichten von der Weisheit des Lebens
Verlag am Eschbach
COVER
HAUPTTITEL
Inhalt
Derselbe
Ein Morgen
Glaube und Zweifel
Allein sein
Die Gerechtigkeit
Der beste Klassenraum
Ideale
Der Acker
Die Drossel
Die Streithähne
Das Kind
Die Kuh
Heimat
Schmerz
Die große Sehnsucht
Ein Sack voll Geld
Die Behörde
Die drei Feigen
Die Menschheit
Das große Erlebnis
Die Mücke
Gier
Der Gelehrte
Die Frauen
Die Spinne
Die Bahnfahrt
Die Suche nach Gott
Das Alter
Liebe
Im Schlaf
Sicherheitshalber
Luxus
Die Lilie
Sinn und Unsinn
Der Käfer
Die Hitze
Die Geburtstagsfeier
Der Urlaub
Das größte Laster
Schlaflos
Was man so braucht
Das Huhn
Besuch
Eine besondere Freude
Das Ganze
Kunst
Zu viel
Die drei Männer
Die Kröten
Regen
Erziehung
Die Brille
Das Paradies
Die Fliege
Die beiden Eulen
Das Messer
Der Fremde
Die Regeln
Die Gießkanne
Wofür Nacktschnecken gut sind
Die Kraft der Träume
Hass
Gelernt ist gelernt
Lärm
Das schönste Geschenk
Der gelobte Tag
In der Nacht
Der Baum
Die Schönheit
Was es kostet
Wut
Die Socken
Etwas Neues
Leben und Tod
Ein Weiser ist krank
Zeitverschwendung
Das Wichtige zuerst
Die Katze
Auferstehen
Die Pause
ÜBER DIE AUTORIN
ÜBER DAS BUCH
IMPRESSUM
HINWEISE DES VERLAGS
Der kleine Herr Lu Chi war von Geburt an ziemlich klein geraten. Schon früh war er deshalb oft von anderen Kindern gehänselt worden. Seine Frau Liu Xing, mit der er seit nun fünfzig Jahren verheiratet war, überragte ihn um Kopfeslänge. Darum wurde er von allen im Dorf nur der kleine Lu Chi genannt. Doch die Leute achteten ihn, weil er ein großzügiger und freundlicher Mensch war, der nicht mit seiner Weisheit geizte. Auch kamen oft Schüler von weit her zu ihm, die mit seiner Hilfe ebenfalls weise werden wollten.
Eines Tages hörte Lu Chi ein Klopfen an der Tür seiner Hütte. Er öffnete. Vor ihm stand ein junger Mann, der mindestens zwei Meter groß war.
Sie wünschen?, fragte Lu Chi.
Der junge Mann sah verächtlich auf ihn herunter. Führe mich umgehend zum großen Lu Chi, sagte er, ich will sein Schüler werden.
Wenn Sie auch mit dem kleinen Lu Chi vorlieb nehmen, sagte Lu Chi, ließe sich das einrichten. Aber keine Sorge, es ist derselbe.
Der kleine Herr Lu Chi trat aus seiner Hütte. Er sah sich um, und seine Augen begannen zu strahlen.
Das ist ja ein Baum, rief er. Er lief hin und umarmte den Baum.
Und das ist ja eine Blume, rief er, kniete nieder und hielt seine Nase an den Blütenkelch.
Und das ist eine Kuh, rief er, lief zu ihr
und streichelte sie.
Hinter dem Zaun stand sein Nachbar Min Yi.
Lu Chi, fragte er, geht es dir gut?
Mir geht es sehr gut, erwiderte Lu Chi.
Ich dachte, du bist vielleicht ein wenig durchgedreht, sagte Min Yi. Hast du noch nie einen Baum gesehen? Oder eine Blume? Oder eine Kuh? Du benimmst dich ja wie ein Kind.
Danke für das Kompliment, erwiderte Lu Chi. Wie ein Kind? So fühle ich mich auch. Ich sehe an jedem neuen Morgen alles zum ersten Mal.
Geht es dir denn nicht so?
Einer seiner Schüler kam zu Lu Chi und fragte: Meister, glaubst du an Gott?
Ja, sagte Lu Chi. Warum diese Frage? Plagen dich Zweifel?
So ist es, erwiderte der Schüler. Früher war mein Glaube einfach. Doch nun wird er ausgerechnet von all den Theorien angefochten, die ihn stärken sollen. Mein Kopf beschäftigt sich mit den Dogmen, und davon wird mein Glaube krank.
Wie schade, sagte Lu Chi. Sag, glaubst du an die Schönheit?
Ja, sagte der Schüler.
Und an die Liebe?, fragte Lu Chi.
Ja, sagte der Schüler.
Und an die Vollkommenheit, die alles Menschliche übertrifft?
Ja, sagte der Schüler.
Lu Chi lächelte. Dann mach dir mal keine Sorgen, sagte er. Menschen brauchen oft Erklärungen, wenn sie die Leere zwischen sich und dem Höchsten ängstigt. Du nicht. Dein Glaube ist stark. Lass dir an ihm genügen.
Liu Xing, die Frau des kleinen Herrn Lu Chi, war für drei Wochen verreist. Sie besuchte eine Freundin.
Du Ärmster, sagte sein Nachbar zu ihm, als sie sich am Zaun trafen.
Warum sagst du das?, erwiderte Lu Chi. Ich bin nicht arm.
Aber nun bist du doch so schrecklich lange allein, entgegnete sein Nachbar, ganze drei Wochen lang.
Lu Chi überlegte.
Dann sagte er: Ich bin ganz gern allein.
Aber warum bist du dann verheiratet?, wollte sein Nachbar wissen.
Ich verstehe deine Frage nicht, erwiderte Lu Chi. Ist das denn ein Widerspruch?
Ein Mann kam zu Lu Chi und beschwerte sich. Die Reichen haben alles, sagte er. Und bekommen immer mehr. Ich aber kann mich abrackern, wie ich will, und habe von Jahr zu Jahr weniger. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Sie ist zu schwach und zu klein, um allein zu kommen, sagte Lu Chi. Sie wartet, dass du ihr ans Licht hilfst.
Manchmal hatte Lu Chi viele Schüler, manchmal wenige. Er hatte den Beruf des Lehrers nicht angestrebt. Die Schüler suchten ihn aus freien Stücken auf und blieben, solange sie wollten. Da ihm unklar war, was sie von ihm erwarteten, hatte er beschlossen, sich einmal am Tag ausgiebig mit ihnen zu unterhalten und auf ihre Fragen einzugehen. Zu diesem Zweck machten sie täglich eine Wanderung.
Einer seiner Schüler, der lieber saß als lief, wollte von ihm wissen, warum sie bei ihren Gesprächen immer herumlaufen müssten.
Weil ich faul bin, antwortete Lu Chi.
Wie soll ich das verstehen?, fragte der Schüler.
Nun, sagte Lu Chi, zum einen ist, wenn wir gehen, unser Geist wacher. Zum anderen ist die Natur der beste Klassenraum. Da gibt es mehr Platz für unsere Gedanken. Und sie bringt die Fragen und Antworten gleich mit. Sie lehrt uns alles.
Einer seiner Schüler weckte Lu Chi vor Tagesanbruch und wollte wissen, welches denn nun das höchste Ideal sei, das es anzustreben gelte.
Oh, sagte der kleine Herr Lu Chi verschlafen, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Eine gute Frage stellst du da. Was soll ich sagen. Es gibt sehr viele Ideale. Und öfter als man denkt sind diese abhängig von momentanen Bedürfnissen. Gerade jetzt zum Beispiel würde ich sagen, ideal wäre ein weiches Kissen, auf das ich meinen Kopf betten kann, dazu eine kühle, stille, sternklare Nacht, eine ungestörte Ruhe und ein friedlicher, ergiebiger Schlaf.